33. Balthasar
Ich stand auf. »Ich habe ein drückendes Geschäft zu erledigen, wir sehen uns im Gastraum.«
Sie nickte. »Es wird bestimmt eine interessante Nacht.«
Ich blieb an der Stiege nach unten stehen und sah zu ihr zurück. »Ich will es nicht hoffen, heute Nacht hätte ich es gerne langweilig.«
Der Abort befand sich in einem Winkel des Gangs zur Schmiede, und allein die Vorstellung, sich in dieser Kälte dorthin zu begeben, war mir zuwider, aber es gab Dinge, die sich nicht ewig aufschieben ließen.
Als ich den Ort wieder verließ, froh, meine Hose wieder zuziehen zu können, sah ich eine Gestalt im Schatten stehen. Janos. Ich erkannte ihn an seinen massigen Schultern. Er lehnte an der Tür zur Schmiede und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
»Was wollt Ihr?«, fragte ich ihn barsch.
»Euch warnen, alter Mann. Haltet Euch zurück, und niemandem wird etwas geschehen. Es ist nicht alles so, wie Ihr denkt, aber wenn das Zeichen zu sehen ist, wird sich alles weisen!«
»Das Zeichen des Wolfs?«, fragte ich ihn, und er sah mich überrascht an.
»Woher wisst Ihr das? Ihr könnt das nicht wissen! Aber es ist wahr, sobald es sichtbar ist, werden sich die Dinge fügen!«
»Ich …« So ganz wusste ich nicht mehr, was ich ihm antworten wollte, irgendetwas in dem Sinne, dass er sich dann besser wohl auch zurückhalten sollte, als der Schrei ertönte. Ich erkannte die Stimme. Sieglinde.
Er schien genauso überrascht wie ich, als er sich von der Wand abstieß und losrannte; ich folgte ihm auf den Fersen. Unter seiner Hand flog die Tür zum Gastraum auf, schlug gegen die Wand und wurde dort von seinem Fuß gehalten, als er in der Tür stehen blieb. Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, ihm von hinten die Kehle durchzuschneiden, wäre ich nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, über seine Schultern hinweg zu erkennen, was sich gerade im Gastraum abspielte.
Zuerst dachte ich, es wären neue Gäste, auch wenn ich keine Erklärung hatte, wo diese herkommen könnten, dann erst erkannte ich den Herrn Baron, seine zwei schüchternen Töchter und die Wachen. Alle waren für den Kampf und eine Reise gewappnet: warme, dunkle Umhänge mit Kettenmänteln darunter, auch die scheinbar scheuen Töchter.
Mit ihnen im Bunde waren die drei anderen Söldner, die sich so still und ruhig verhalten hatten, sowie Janos’ Männer. Sie standen an einer Seite der Gaststube, auf der anderen Seite waren die restlichen Gäste versammelt, ein Haufen Waffen lag auf der Theke. Die beiden »Töchter« hielten leichte Armbrüste in den Händen, die anderen Wachen hielten Schwerter und Äxte bereit. Timothy lag regungslos hinter der Theke, aus meiner Position heraus konnte ich nicht sehen, ob er nur niedergeschlagen worden war oder tödlich verwundet.
Einer von Janos’ Männern hielt Sieglinde an den Haaren an die Wand gedrückt und küsste sie, während sie vergeblich versuchte, ihn zu schlagen und zu treten.
Mit einem weiten Schritt war Janos bei seinem Mann und riss ihn von ihr. »Ich sagte, sie ist mein!«
Der andere taumelte zurück, wischte sich das Blut von den Lippen und grinste. »Du warst nicht da.«
Janos drehte sich zu dem Mann um, der uns als Baron von Klemmfels vorgestellt worden war. »Was soll das? Wir hatten doch vereinbart …«
Der Mann unterbrach ihn. Es war die gleiche nasale Stimme, die wir vom Baron gewöhnt waren, aber ungleich kälter. Jetzt erst erkannte ich die Stimme aus meinem Traum wieder. Es war Balthasar, älter, vielleicht um zwei Dekaden, aber immer noch am Leben. Er war mir deshalb nicht aufgefallen, da der schlanke junge Mann von damals erheblich zugenommen hatte und von einem lästerlichen Leben mit tiefen Furchen gezeichnet worden war. Aber wie konnte das sein? Es waren Jahrhunderte vergangen! Doch die Stimme war unverkennbar.
»Es ist Zeit zu gehen. Die Zeichen stehen am Himmel, der Tempel ist wieder aktiv.«
Janos nickte widerwillig. »Gut, aber war das hier nötig? Es sind doch nur Schafe …« Er machte eine Geste, die die Situation im Raum einschloss.
»Schon wahr.« Der Baron machte einen Schritt zu den anderen Gästen, griff sich einen der Bergarbeiter und zog ihn zu sich heran. »Aber wenn sie sehen, was ihnen passieren kann, neigen sie zu Panikreaktionen, und das kann unberechenbare Folgen haben.«
Der Baron legte beide Hände an die Schläfen des Mannes, dieser wurde schlagartig still, und seine Augen rollten nach oben. Als der Baron ihn losließ, offenbarte sich uns ein erschreckender Anblick. Der junge Mann stürzte vor dem Baron zu Boden, und noch während er fiel, verwandelte sich sein junges Gesicht in eine alte Fratze, die Totenmaske eines Mannes, der über alle Maßen alt geworden war. Grauer Rauch strömte aus Nase, Mund und Ohren der ausgetrockneten Hülle. Der Baron atmete tief ein und lächelte.
»Nekromant«, sagte Zokora mit Abscheu in der Stimme. Sie war die Erste, die überhaupt reagierte.
Die eine »Tochter« hob ihre Armbrust und drückte ab.
»Nein!«, rief Rigurd und warf sich dem Bolzen in den Weg. Wir sahen alle hilflos zu, wie der Bolzen in seine Brust einschlug und er niedersank. Fäuste wurden geballt, und die Schergen Balthasars erhoben drohend ihre Schwerter.
»Niemand macht Ärger, und niemandem wird etwas geschehen«, sagte Balthasar mit einem Lächeln, das mir das Blut schneller gerinnen ließ als die Kälte. »Ihr werdet erfreut sein zu erfahren, dass wir gehen.«
Zokora hielt Rigurd in den Armen, ihr Blick war kalt und leer, als sie zum Baron aufsah, und ließ selbst mich frösteln. Den Baron berührte es nicht.
Er wandte sich mir zu. »Ach, ja. Ser Havald. Wollt Ihr Heldentaten begehen und das Leben anderer gefährden, oder lasst Ihr uns ziehen?« Er lächelte. »Ihr blockiert die Tür, wisst Ihr?«
»Ich weiß, wer Ihr seid, Balthasar. Ich werde nicht eher ruhen, bis ihr Euer längst überfälliges Ende gefunden habt.« War ich es, der da sprach? Es schien mir selbst nicht so, vielleicht war ich es gar nicht, aber nichtsdestotrotz war es auch mein Schwur.
Seine Augen weiteten sich überrascht, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Es wird amüsant sein zu sehen, wie Ihr das erreichen wollt. Bis dahin seid so gut und legt Eure Waffen auf die Theke und gesellt Euch zu den anderen Schafen.«
Ich wollte etwas erwidern, doch er hob die Hand.
»Wenn Ihr blöken wollt, tut es, nachdem ich gegangen bin. Bis dahin wird Euer Gerede den Tod eines anderen Schafes zur Folge haben.«
Ich nickte, was sollte ich auch anderes tun, und trat langsam in den Raum hinein. Ich hängte Seelenreißer aus und legte es auf den Tisch. Dann begab ich mich in die Ecke vor die Theke, nahe den anderen verschreckten Gästen, aber doch in einigem Abstand zu ihnen. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, und Seelenreißer würde folgen. Ich wartete nur noch auf die richtige Gelegenheit.
»Janos. Sieh zu, dass niemand Ärger macht! Ihr zwei nehmt die kleine Schlampe mit«, wies er Janos und zwei von seinen Männern an. Sieglinde versuchte sich zu wehren, aber einer der Männer verpasste ihr einen Hieb gegen die Schläfe. Sie sackte zusammen, und er warf sie sich über die Schulter. Janos sah sich das still an, blickte zu Balthasar hinüber und holte tief Luft. Aber wenn er etwas sagen oder tun wollte, so wurde er unterbrochen, als sich hinter mir eine Tür öffnete.
»Und da kommen auch die letzten Gäste. Wir haben euch schon erwartet«, meinte der Baron mit seiner nasalen Stimme und sah zur Tür hinter der Theke. Dort stand Leandra zusammen mit einem kreidebleichen Eberhard. Sie hielt Steinherz in der Hand. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie die Szene im Gastraum studierte. Sie sah mein Schwert auf der Theke liegen und mich waffenlos an der Wand stehen und musterte mich dann mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck. Was hätte ich tun sollen? Ich hätte vielleicht Janos erschlagen können, aber nach dem, was dem Bergarbeiter zugestoßen war, hatte ich keinen Zweifel daran, dass dieser Schuft seine Drohung wahr machte. Das versuchte ich ihr mit meinen Augen mitzuteilen.
»Wie eine große Familie«, sagte Balthasar und lächelte. »Maestra, Wirt, wenn euch am Leben dieser Leute hier etwas liegt, dann legt eure Waffen ab und gesellt euch zu dem alten Mann.«
Sie zögerte einen endlosen Augenblick bis Rigurds Mörderin mit einem vernehmlichen Klicken einen neuen Bolzen auf ihre Armbrust legte.
Kreidebleich gesellte sich der Wirt zu mir, während Leandra ihre Schwerter und zwei Dolche auf die Theke legte und dann ebenfalls zu uns herüberschritt.
»Gut«, meinte der Baron. »Wirt, ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, dass ich Euch die Zeche schuldig bleibe. Schreibt sie mir einfach an. Wenn sich niemand rührt, erlebt Ihr vielleicht noch das Ende des Sturms.«
Vorsichtig bewegten sich die Männer des Barons zur Tür und durch sie hindurch, als Vorletzter folgte der Mann mit Sieglinde auf der Schulter, dann Janos, der nun auch sein Schwert gezogen hatte.
»Was wollt Ihr mit meiner Tochter?«, fragte der Wirt in einem Anfall von Mut.
»Nichts weiter, Wirt, sie ist bloß ein Schlüssel, der uns den Weg freimacht.«
Und mit diesen Worten verschwand der Baron durch die Tür, die sich hinter Janos schloss, und wir hörten, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
»Was meint er damit?«, rief Eberhard angsterfüllt, als Leandra und ich zu unseren Waffen stürzten.
»Er wird sie opfern, um mit ihrer Lebensenergie ein magisches Werk zu vollbringen«, offenbarte Leandra mit kalter Stimme. Sie ergriff Steinherz. »Aber nicht, wenn ich es verhindern kann.«
Indes hatte ich die Tür mit einem Blick fixiert, holte Luft, nahm Anlauf und prallte ab – die Tür zeigte sich von meiner Schulter unbeeindruckt und ließ mich mit einem Fluch und schmerzender Schulter zurücktaumeln. Stabile Türen waren echt ein Ärgernis.
»Zurück«, rief Leandra und unterstrich ihren Befehl mit einer Handbewegung. Es schien, als ob eine riesige Faust gegen die Tür schlug und sie zu tausend kleinen Splittern und Eisenbrocken verarbeitete, die in einer Wolke aus Holz und Metall in den Gang dahinter niederrieselten.
»Zurück«, rief Zokora, als sie sich an mir vorbeidrückte und hinter Leandra hereilte. Frauen!
Ich biss die Zähne zusammen, renkte meine Schulter wieder ein, griff Seelenreißer und rannte ihnen nach.
Wie kaum anders zu erwarten, waren die Männer des Barons zum Turm unterwegs. Als wir ihn erreichten, stand die Tür offen, genauso wie die Falltür zum Keller.
Ich sah Leandra an der Falltür, einen Finger nach unten streckend, und aus diesem einen gleißenden Blitz feuernd, der mit einem Donnerschlag wieder nach oben schoss und im Gestein des Turms einschlug; er hatte Leandra nur knapp verfehlt. Von unten erschall Gelächter.
Die Leiter, die hinabführte, glühte auf und rieselte als Asche in den Keller, ein silbernes Wabern stand zwischen uns und ihnen.
»Was zur Hölle …?«, fragte ich.
»Eine Energiewand«, erklärte Leandra. »Stark genug, um einem Blitz zu widerstehen.«
»Er hat sich soeben ein Leben genommen. Im Moment ist er stark.« Zokoras Stimme war kalt. Sie stand neben uns und sah mit ausdruckslosem Gesicht nach unten, aber ihre Augen glühten in einem inneren Feuer. Nie waren sich Leandra und sie ähnlicher gewesen. Ich war froh, dass dieser Zorn nicht mir galt.
»Was jetzt?«, fragte ich und blickte von Leandra zu Zokora.
»Wir sind zum Zuschauen verurteilt«, antwortete mir Leandra durch die Zähne. Das rötliche Leuchten ihrer Augen war so stark, dass es fast Schatten warf.
Hinter dem magischen Schirm sah ich, wie Balthasar und seine Leute sich nacheinander durch den Schacht nach unten begaben. Zum Schluss beugte sich der Mann, der Sieglinde trug, nieder, um sie in den Schacht fallen zu lassen.
»Nein!«, rief hinter mir erstickt die Stimme des Wirts. Und genau in diesem Moment wirbelte Janos herum und trennte mit einem Schlag den Kopf seines eigenen Mannes vom Hals, so dass dieser statt ihrer in den Schacht fiel. Janos zerrte Sieglinde von der Öffnung zurück.
Das silberne Wabern verschwand abrupt.
Zokora streckte beide Hände zur Falltür, sie fingen an zu glühen, doch Leandra schob sie zur Seite.
»Nein.«
Es gab ein zischendes Geräusch, als Zokoras Zauber verlöschte, dann wirbelte die Dunkelelfe herum und funkelte Leandra an. »Wieso soll ich ihn verschonen!«
»Seht«, sagte Leandra leise.
Janos hatte Sieglinde ergriffen, sein blutiges Schwert lag unbeachtet neben dem Schacht und dem abgetrennten Kopf. Er hielt sie wie eine zerbrechliche Puppe, als wäre sie kostbar für ihn. Langsam hob er sein Gesicht zu uns.
»Sie lebt. Es ist ihr nichts geschehen!«, rief er zu uns hoch. »Wenn ihr ein Seil findet, kommt herunter.« Er lächelte schief. »Ich warte hier auf euch.« Er zog seinen Umhang aus, wickelte Sieglinde hinein und stand einfach nur da und wartete.
»Wer braucht ein Seil?«, rief Zokora und sprang hinab, um federnd unten anzukommen. Leandra tat es ihr nach. Ich wünschte mir, ich hätte ein Seil, und sprang ebenfalls.
Die Götter waren mit mir, ich kam gut auf, konnte abrollen, ohne mir etwas zu brechen, und war nur etwas außer Atem, als die beiden ungleichen Frauen sich vor Janos aufbauten.
Zokora wirkte, als hielte sie sich nur mit Mühe zurück. Kleine blaue Funken tanzten über ihren Körper, ihre Haare bewegten sich zu einem Wind, den niemand sonst spürte.
»Ich habe ihr versprochen, dass ihr nichts passiert«, sagte Janos leise. Er sah zu mir herüber. »Ich halte mein Wort.«
»Ihr habt auch versprochen«, sagte ich, als ich meinen Atem wiedergefunden hatte, »dass heute niemand durch das Tor des Todes gehen würde.«
»Ja. Aber es war ein anderer, der mein Wort brach.«
»Wollt Ihr sagen, Ihr habt die Fronten gewechselt?«, fragte Leandra misstrauisch.
Janos nickte. »Ja. Nicht erst eben, sondern schon vorher, im Bad.«
»Ihr hättet es erwähnen können«, meinte ich trocken. »Das hätte geholfen!« Hinter uns wurde eine Leiter heruntergelassen, und Eberhard war der Erste, der herabstürmte; er eilte sofort auf Janos zu. Noch bevor Eberhard etwas sagen konnte, reichte ihm Janos seine Tochter.
Eberhard schlug Janos’ Umhang zur Seite. In ihm lag Sieglinde, ihre rechte Gesichtshälfte blutig, ihr Auge im Begriff zuzuschwellen. »Seht, was man ihr angetan hat!«, rief der Wirt empört und funkelte Janos an.
»Sei froh, dass sie am Leben ist«, sagte Janos leise. Er streckte die Hand aus, als ob er Sieglindes Gesicht berühren wollte, doch der Wirt wich zurück. In diesem Augenblick erscholl aus dem Schacht zu unseren Füßen ein ferner, lang gezogener Todesschrei, gefolgt von einem hellen Blitz und einem Krachen, als bräche die Welt zusammen.
Außer Zokora zuckten wir alle zusammen.
»Was, bei den sieben Höllen, war das?«, fragte ich.
»Er hat jemand anderes geopfert, um die Tür zu öffnen«, erklärte Zokora. »Es war zu erwarten.«
»Was wisst Ihr von der Tür?«
»Genug«, sagte die Dunkelelfe. Ich blinzelte, als ich plötzlich verstand, wer es war, den Leandras Silbermagie nachgezeichnet hatte: Jene schlanke Gestalt, die des Nachts in Leandras magische Falle gelaufen war, war niemand anderes als unsere Dunkelelfe. Im Nachhinein fragte ich mich, wie ich das Geschlecht des silbernen Schattens hatte missdeuten können, jetzt erschien es mir völlig offensichtlich.
»Wer seid Ihr? Was hattet Ihr hier zu suchen?«, fragte ich. Zokora warf mir einen Blick zu. »Neugier ist gefährlich. Ich sagte es schon.«
Ich verlor die Geduld. »Wollt Ihr mir endlich antworten!« Meine Hand lag an Seelenreißers Knauf, und ich war nahe daran, es zu ziehen.
Sie schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand. »Meine Neugier. Ich sah den Baron vorletzte Nacht in den Turm schleichen und wollte wissen, was er suchte, denn als er zurückkam, roch er nach kalten Höhlen, ein Geruch, den ich gut kenne.«
»Ihr wusstet von diesem Raum!«, sagte Leandra anklagend und deutete auf die Tür zur Kammer des alten Kommandanten.
»Ja«, sagte sie. »Ich habe vor etwa vierhundert Jahren schon einmal hier gerastet und ungestört das Gebäude erkundet. Damals lebte hier niemand.« Sie sah zu dem Schacht zu unseren Füßen. »Diesen hier fand ich damals allerdings nicht.«
Ich sah entnervt nach oben, dorthin, wo irgendwann das Reich der Götter anfing. »Bei den Göttern, Ihr hättet uns einen Ton sagen können!«
Sie legte den Kopf zur Seite. »Wozu? Es ging mich nichts an.«
»Und jetzt?«, fragte Leandra.
»Jetzt geht es mich etwas an. Er ließ Rigurd töten.«
»Ich dachte, Ihr mögt keine Menschen!«
Zokora fuhr zu mir herum, ihre Augen glühten im gleichen verhängnisvollen Rot wie die von Leandra. »Das habe ich nie gesagt! Ihr habt eure Fehler, es ist mein Recht, sie euch zu nennen, aber ich habe nie gesagt, dass ich euch nicht mag! Im Gegenteil, es sind die Menschen, die mein Herz erreichen und erwärmen können, und nicht meine Brüder und Schwestern!«
»Ihr habt Rigurd gemocht?«, fragte ich leise.
»Ja«, sagte sie, »und ich hätte ihn auch lieben können. Er lernte, und wir unterhielten uns, er schien zu verstehen. Und er gab sein Leben für mich. Die Frau, die den Bolzen abschoss, gehört mir.«
Dann bückte sie sich und ergriff das Seil im Schacht.
»Nicht jetzt«, sagte Janos leise. »Nicht ohne Vorbereitung. Ich traue ihm zu, dass er etwas zurückgelassen hat. Wir rüsten uns aus und folgen später.«
»Das hört sich so an, als ob Ihr Euch auch rächen wollt«, stellte Leandra überrascht fest.
»Ja.« Janos nickte bestätigend. »Er hat mich betrogen.« Er blickte zu Sieglinde hinüber, die immer noch ohnmächtig in seinen Umhang gehüllt in den Armen ihres Vaters lag.
»Ihr habt sie gerettet, dennoch werdet Ihr Euch von meiner Tochter fern halten, denn Ihr habt sie erst in diese Lage gebracht«, sagte Eberhard bestimmt.
Janos sah ihn lange an. »Das gefällt mir zwar nicht, aber es ist Eure Entscheidung.« Dann bückte er sich, um sein blutiges Schwert aufzunehmen, und hielt inne, als Leandra die Hand hob.
»Ihr fürchtet, ich könne Euch in den Rücken fallen?« Er richtete sich auf und fixierte sie. »Gut. Wollt Ihr mich vielleicht gleich hängen?«
»Wie sollen wir sicher sein, dass …«
Er unterbrach sie. »Sera, ich schwöre beim Geist meines Vaters, dass ich meine Klinge nicht gegen Euch erheben werde, solange Ihr mich nicht angreift!«
»Schwört, dass Ihr uns ein Waffengefährte sein werdet, bis dieser Mann, der Baron, tot ist. Wir wiederum schwören, dass wir Euch eine Woche Zeit geben werden, bevor wir Euch jagen«, sagte Leandra kalt.
Janos nickte ernst. »So soll es sein. Ich schwöre beim Geist meines Vaters.«
»Ihr traut ihm?«, fragte Eberhard entgeistert.
ch musterte Janos. »Wisst Ihr«, antwortete ich dem Wirt, »ich bin selbst überrascht, aber ja, ich traue ihm.«
»Pah, wenn er beim Geist schwört, ist der Vater bereits tot, was nützt dann ein solcher Eid!«, rief Zokora aufgebracht und funkelte Janos an.
»In diesem Fall«, sagte ich und sah dabei Janos in die Augen, »ist es ein bindender Schwur.«
Zokora betrachtete Janos und mich und nickte dann widerwillig. »Dein Wort gilt«, meinte sie dann zu mir und ging zur Leiter. Ich nahm Leandra beim Arm und zog sie zur Seite.
»Hast du mir etwas zu erklären? Dieser Blitz erschien mir ganz und gar nicht harmlos, ich dachte, du beherrschst solche Magie nicht?«
Sie sah zu mir hoch, schmiegte sich an mich, und das Glühen in ihren Augen schwand. »Ich war sauer. Das ist alles.«
»Ich hoffe, du wirst nie so wütend auf mich.«
»Gib mir einfach keine Gelegenheit. Sei immer nett zu mir.«
»Das«, sagte ich, als ich sie umdrehte und zur Leiter schob, »werde ich dir bestimmt nicht versprechen.«