14. Ein Grab aus Eis
Unter der Treppe, im unsicheren Schein einer Kerze, wäre es wohl auch unserem Wirt nicht aufgefallen, hätte er nur etwas aus dem Vorrat holen wollen. Aber er hatte meinen Rat befolgt und den Vorrat ergänzt, hatte sich länger hier unten aufgehalten – und dann wohl das gesehen, was wir nun bemerkten.
Vielleicht war er auch aufmerksamer, als ich ihm zugestand, er schien sich jedenfalls sicher, dass es erst letzte Nacht geschehen war.
»Was denkt Ihr?«, fragte Lea.
»Ich denke, dass dieser Bau mehr Überraschungen für uns bereithält, als es wünschenswert wäre«, antwortete ich ihr, als ich neben der Platte niederkniete. Ich stellte die Laterne ab. Unter der letzten Stufe lag ein Brecheisen, wie man es verwendete, um Kisten zu öffnen, wahrscheinlich stammte es aus dem Lager. Ich führte die schmale Kante in eine der Fugen ein und drückte … Die Platte hob sich leichter als gedacht, ich verlor das Gleichgewicht, ließ das Eisen los, um die Platte zu halten, und das Eisen verschwand in dem nun sichtbaren Loch, um tief unter uns mit lautem Klirren und Geschepper gegen Stein zu prallen.
»Das ist in der Tat eine Überraschung. Ein Keller unter dem Keller«, sagte Lea. Sie half mir, die Platte beiseite zu schieben, beinahe wäre sie mir auch die Platte in das Loch entglitten, nur ein Sims, etwa fingerbreit auf beiden Seiten, hielt die Platte oben.
Das Licht der Laterne konnte den Boden nicht erreichen; das Einzige, was es uns zeigte, war ein stabiler, leicht verrosteter Haken an der Seite des Schachts, der nach unten führte, sowie ein Seil, an diesem Haken befestigt, das sich in die Dunkelheit unter uns wand und in ihr verschwand.
Das Seil war neu.
Lea sah sich um, fand nichts, griff an ihren Gürtel und förderte aus dem Beutel an ihrer Seite eine Kupfermünze zu Tage, die sie hochhielt, um sie mir zu zeigen. Auf ihren fragenden Blick hin nickte ich, und sie ließ die Münze fallen. Drei bis vier Herzschläge später hörten wir, wie die Münze unten aufkam.
Wir sahen uns gegenseitig an.
»Ich bin noch nie gut im Klettern gewesen«, sagte sie dann mit einem schiefen Lächeln.
»Ich auch nicht.« Ich zog an dem Seil. Es bewegte sich kaum, es war wohl unten festgemacht. Es war ein stabiles, schweres Seil, straff allein durch sein eigenes Gewicht. Hätte ich ein solches Seil hier angebracht, es hätten sich Knoten darin befunden, aber das hatte man wohl nicht als notwendig erachtet.
Es war gar nicht so einfach, an einem Seil herunterzuklettern. Mit Sicherheit war es aber einfacher, als wieder heraufzuklettern. Wenn ich mich nach unten begeben wollte, musste ich den Rückweg beachten.
Ich nahm die Laterne wieder auf und suchte in den Regalen, ob sich hier anderes Seil fand. Oder irgendetwas, was man gebrauchen könnte. Seil fand sich zwar, aber nur in kürzeren Stücken, außerdem entdeckte ich eine Kiste. Sie war offen, zuoberst lag ein altes Schwert, wahrscheinlich das Schwert, von dem Sieglinde mir erzählt hatte, das, mit dem ihr Vater übte. Neben dem Schwert befanden sich noch andere Dinge in der Kiste, Dinge, die Gäste zurückgelassen hatten, sei es als Pfand, sei es, um ihre Zeche zu bezahlen. Ich sah dort einen dichten Fellmantel. Ich entledigte mich meines Umhangs und spürte sofort die Kälte, wie sie sich um mich schlang, und zog meine Rüstung aus.
»Vielleicht solltet Ihr Eure Rüstung ebenfalls ablegen«, riet ich Lea, als ich in den Pelzmantel schlüpfte. Er war kalt und klamm, und dieses Gefühl der Kälte reichte, um mich tüchtig frieren zu lassen.
»Nein. Meine Rüstung ist leicht, und wer weiß, was wir dort unten vorfinden werden.«
Früher hätte ich mir auch keine Gedanken darüber gemacht, ob ich kräftig genug wäre, mit Rüstung ein Seil heraufzuklettern, aber das war lange vorbei. Ich band mir mein ledernes Bündel auf den Rücken und benutzte ein kurzes Stück Seil, um eine Schlinge zu fertigen, die ich mir über die Schultern legte. Am freien Ende befestigte ich die Laterne so, dass sie etwas unterhalb meiner Füße hing.
In der Kiste suchte ich nach Handschuhen, fand keine, also wickelte ich mir Lederriemen um die Hände.
»Wünscht mir Glück«, rief ich, als ich mich rückwärts in den tiefen Schacht begab.
»Dann wünscht Ihr Euch, dass ich nicht stürze, denn dann falle ich auf Euch. Ich habe nicht die Absicht, Euch dort allein hinuntergehen zu lassen«, sagte sie, als sie langsam die Laterne an mir vorbei in den Schacht herabließ, bis sie unter meinen Füßen baumelte.
Ich blickte hoch zu ihr. »Vielleicht solltet Ihr dann zuerst hinunterklettern.«
Sie kniete neben dem Schacht, ihr Gesicht war auf gleicher Höhe mit dem meinen. Noch stützte ich mich mit einer Hand am Rand des Schachts ab. Sie beugte sich vor und gab mir einen leichten Kuss auf die Stirn.
»Nein. Denn dann hätte ich Angst, dass Ihr auf mich fallen würdet.«
Ihr lächelndes Gesicht begleitete mich hinunter in die Tiefe. Tatsächlich fand ich mich zuerst mehr geneigt, über den Kuss nachzudenken, als über das, was sich dort unten finden würde.
Das Seil war dick und rau, man konnte es gut greifen, aus Hanf gefertigt, wahrscheinlich Handelsgut, doch trotz der Lederriemen um meine Hände dauerte es nicht lange, bis sie schmerzten. Je tiefer ich mich an dem Seil herabließ, desto kälter erschien es mir; meine Schultern schmerzten, und der Abstieg kam mir endlos vor.
Solange ich mich im Schacht befand, war es nicht so schwierig. Der Schacht war eng genug, um sich in ihm zu verkeilen und meinen schmerzenden Schultern eine kleine Pause zu gönnen. Aber als der Schacht endete, schwebte ich im Freien, und im ersten Moment dachte ich, ich würde über einem endlosen Abgrund hängen.
Doch dann konnte ich schwach im Licht der Laterne den Boden unter mir erkennen, ausgelegt mit den gleichen Platten. Große Steine türmten sich unter mir und versprachen, meine alten Knochen zu brechen, sollte ich auf sie fallen. Es mochten vielleicht drei Mannslängen gewesen sein, die ich frei an dem Seil kletterte, ohne dass ich mich irgendwo abstützen konnte. Aber ich kam tatsächlich ohne Sturz unten an und fühlte mich zu allererst erleichtert.
Ich ließ das Seil los und trat zur Seite. Es war hier unten um einen schweren Steinquader geschlungen, einen Quader, den ein Mann allein kaum anheben konnte: Mehrere Personen hatten geholfen, das Seil zu befestigen.
»Und, könnt Ihr schon etwas erkennen?«
Ja, das konnte ich. Mittlerweile waren meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah, was es zu sehen gab. Es gruselte mich.
»Genug, um Euch zu sagen, dass keine Gefahr besteht.«
Das Seil neben mir wackelte, und ich blickte hoch, konnte bewundern, wie Lea am Seil herabglitt. Sie ließ es einfach aussehen.
Den letzten Meter sprang sie und landete neben mir sicher in der Hocke, Steinherz seitlich weggestreckt, als ob sie damit rechnete, im nächsten Moment kämpfen zu müssen.
»Götter!«, murmelte sie.
»Ja.«
Der Raum, in dem wir uns befanden, war achteckig, etwa zehn Mannslängen breit und tief. Vier Säulen, jeweils eine Mannslänge von der Wand entfernt, stützten das Gewölbe, an ihnen entdeckte ich Ölschalen etwa auf Schulterhöhe. Ich sah nach und hatte Glück: Die Ölschalen waren noch gefüllt. Das Öl war zwar alt, in der Kälte steif, aber nach einigen Versuchen brannten sie alle und erhellten nun den Raum in aller Deutlichkeit.
»Was ist hier geschehen?« Lea sprach leise, auch mir war nicht danach, die Ruhe der Toten zu stören.
»Das wird sich bald herausstellen«, antwortete ich ihr, genauso leise. In all meinen Jahren hatte ich selten etwas so Unheimliches gesehen. Der Raum hatte vier schwere Türen aus Bronze. Jede Tür hatte zwei Flügel, und diese Flügel waren mit einem Relief verziert. Die erste Tür zeigte einen Greifen. Die zweite einen Berglöwen. Die dritte einen Kriegshammer, die vierte und letzte Tür etwas, was wie eine große Spinne aussah, die jedoch einen menschlichen Oberkörper besaß.
Jene letzte Tür war von dieser Seite mit schweren Quadern verbarrikadiert. In der Mitte des Raums, dort, wo wir standen, war noch das Fundament der Konstruktion zu sehen, von dem die Quader stammen mochten. Eine Plattform, ein Altar, etwas dergleichen. Doch bevor diese Tür verbarrikadiert worden war, hatte hier ein Kampf stattgefunden.
Die Kämpfer befanden sich alle noch hier. Zwei von ihnen lagen in ihre Bettrollen gehüllt neben den Resten einer Feuerstelle. Drei andere saßen mit dem Rücken an die Wand gelehnt, einer hatte sein Schwert über den Knien und sah aus, als grübelte er über etwas intensiv nach. Drei weitere waren in einer Reihe ausgelegt, ihnen hatte man Decken über die Gesichter gezogen.
Von diesem Lager so weit wie möglich entfernt, in einer anderen Ecke, lagen vier andere Leichen, deutlich kleiner als ein Mensch, aber in der Breite ihnen in nichts nachstehend. Sie lagen in schwere eiserne Fesseln gebunden.
Die Kälte hier unten war so intensiv, dass meine Zähne schmerzten, wenn ich atmete. Diese Kälte verlor sich wohl auch kaum im Sommer. Sie hatte im Lauf der Jahre über die Kämpfer ein Leichentuch aus Frost gelegt und sie uns so erhalten, nach einer Zeit, die Jahre sein konnten oder aber in Jahrhunderten zu messen war, denn dieser Raum vermittelte einem das Gefühl von hohem Alter.
»Ja«, sagte Lea. »Die hier«, sie wies auf die menschlichen Streiter, »flohen aus jenem Gang in diesen Raum.« Sie musterte die Tür mit dem Spinnenmenschen mit hochgezogenen Brauen, »verfolgt von diesen … Zwergen. Es kam zum Kampf. Die Zwerge unterlagen, die anderen verschlossen die Tür. Und fanden sich in einer Falle wieder.«
Sie warf einen Blick nach oben, und ich hob die Laterne. Im Licht der Lampe war das Loch des Schachts nur schwer zu erkennen.
»Aber warum?« Ich studierte den Boden unter uns genauer. Überall gab es eine daumendicke Eisschicht, und unter dieser fand ich, was ich vermutete. Ein Seil, ebenfalls vom Frost erhalten und mit dem Zeichen einer längst vergangenen Schandtat.
Ein Ende des Seils zeigte einen Knoten, ebendieser Knoten war zerschnitten worden. Lea sah von dem Seilende hoch zu dem Schacht, aus dem unser Seil hing. Wir wechselten einen weiteren Blick.
»Auf einmal ist mir gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass dort oben niemand das Seil beschützt.« Sie sprach das aus, was ich dachte.
»Wir sollten uns hier nicht zu lange aufhalten«, stimmte ich ihr zu. Langsam wanderten wir durch den Raum. »Wer sie wohl waren?«, fragte sie und blieb vor dem stehen, der mit seinem Schwert auf den Knien dasaß, so dass er die Tür im Auge behielt. Er hatte einen Verband um die Hand, sonst erkannte ich keine Wunden. Frost hing in Haaren, Wimpern, Rüstung; er sah durch das Eis und mich hindurch in die Ewigkeit.
»Soldaten. Und zwar gute.« Ich musterte die Männer. Sie trugen alle, bis auf kleine Unterschiede, die gleiche Ausrüstung. Es waren schwere Rüstungen, keine Kettenhemden, wie Lea und ich sie trugen, sondern Plattenpanzer. Auch ich hatte schon einmal eine solche Rüstung angehabt, sie wog oft ein Drittel des Gewichts ihres Trägers. Eine Plattenrüstung war eine Präzisionsarbeit, langwierig und extrem teuer. Nur sehr reiche Herren konnten sich so etwas leisten. Was ich unter dem Eis erkennen konnte, war meiner Meinung nach eine exzellente Ausführung. Ich benutzte den Griff meines Dolchs, um das Eis von der Brustplatte des Wachenden zu schlagen. Wie vermutet und schon halb durch das Eis erahnt, trug er das Relief eines Bullen auf seiner linken Brust, ein Motiv, das sich bei einem anderen, den ich zum Teil von seinem Eis befreite, wiederholte.
Ich kehrte zu dem Wachenden zurück und bearbeitete das Eis, bis ich an seinen Gürtel gelangte. Immer wieder musste ich die Arbeit unterbrechen, rieb meine Hände aneinander, hielt sie unter meine Arme, um sie zu wärmen. Endlich konnte ich die lederne Tasche erreichen, die ich unter dem Eis gesehen hatte. Dort, in dieser Tasche, fand sich eine Hand voll Münzen. Goldene und silberne, nur wenig Kupfer. Ich hielt sie hoch und studierte sie.
»Und, erkennt Ihr die Prägung?«, fragte Lea.
Ich schüttelte den Kopf. Ich war weit gereist in all den Jahren, aber eine Prägung wie diese hatte ich bisher nicht gesehen. Es war auf allen Münzen die gleiche, ob Gold, Silber oder Kupfer.
»Sie standen in den Diensten eines großen Reichs«, sagte ich.
»Wieso?«
»Nur eine einzige Währung. Wenn ich in meinen Beutel greife, finde ich Währungen unterschiedlicher Grafschaften, Herzogtümer und Königreiche. Das Land, dem sie dienten, war groß genug, eine Währung zu führen, und wichtig genug, dass im Handel keine fremden Münzen in das Land gelangten.«
Lea trat an mich heran. »Ihr erstaunt mich immer wieder mit Eurem Wissen, Euren Schlussfolgerungen und Vermutungen.« Sie lächelte. »Wir werden wohl nie erfahren, ob Ihr Recht habt. Aber kommt und seht Euch dies an. Vielleicht habt Ihr auch dafür eine gute Erklärung.«
Sie führte mich zu den Zwergen, und diesmal sah ich sofort, was sie meinte.
Ich hatte schon den einen oder anderen Zwerg gesehen. Es waren lebenslustige Gesellen. Sie wirkten, als ob sie kurze Menschen wären, alles an ihnen war in gleicher Proportion, nur kürzer, in der Breite hingegen waren sie normal. Sie waren vielleicht einen Kopf kleiner als ein durchschnittlicher Mensch, dafür aber meistens deutlich stämmiger und kräftiger. Gesellige Burschen, sie lachten und tranken gerne. Nur verärgern sollte man sie nicht, in einer Taverne prügelten sie wie die besten Männer. Diese hier waren anders. Unter dem Eispanzer waren ihre Rüstungen, nicht minder schwer als die ihrer einstigen Gegner, schon stark verrostet. Zwerge waren stolz auf ihre Fähigkeiten im Metallhandwerk, kein Zwerg, den ich je gesehen hatte, würde eine rostige Rüstung tragen.
Während unter dem Eis die Hautfarbe der Soldaten Wachs glich, war die der Zwerge grau. Die Rüstungen waren schwer beschädigt, kaum noch verwendbar, ein Hieb, wohl eine Axt, hatte eine Rüstung weit geöffnet. Dieser Hieb war so stark gewesen, dass er alles durchtrennte, die rostige Unterkette sowie das verrottete Lederwams. Doch die graue Haut unter dem Eis zeigte zwar eine Wunde und das Weiß einer Rippe, aber kein gefrorenes Blut. Sie erschien mir wie altes, dreckiges Leder.
Die Bärte der Zwerge waren ungepflegt, die Haut steingrau, die Augen ohne Iris. Auf der Stirn eines jeden war eine Rune mit einem Brandeisen eingebrannt, mir schienen sie fahl zu leuchten. Jeder der Zwerge bleckte die Zähne und zeigte lange Beißer in grauem Zahnfleisch.
Man konnte an den Rüstungen unschwer erkennen, welche Hiebe aus dieser letzten Schlacht stammten; unter dem Eis glänzte dort der durchtrennte oder verbogene Stahl, während er an anderen Stellen verrostet war. Schwere eiserne Ketten fesselten sie, als ob die tödlichen Wunden nicht genug wären, um sie an ihrem Platz zu halten.
Ich hatte mich auf die Knie herabbegeben, um den einen näher studieren zu können. Nun stand ich auf und wich einen, vielleicht auch zwei Schritte zurück.
»Ihr seid die Maestra«, sagte ich gepresst. »Ihr solltet besser wissen als ich, was diese Runen bedeuten.« Aber ich hatte einen fürchterlichen Verdacht.
Sie nickte langsam, im Licht der Öllampe glich ihre weiße Haut beunruhigend dem Wachs der menschlichen Toten.
»Ich kann mir nicht sicher sein, ich habe solche Runen noch nie gesehen, aber ich hörte von ihnen und stieß auf eine ähnliche in einem Text, der gut verschlossen gehalten wird. Diese armen Kreaturen wurden ausgewählt – als ewige Wächter.«
»Untot«, sagte ich und schluckte.
»Ja. Wahrscheinlich bewachen sie das Grab eines Königs. Niemand sonst ist wichtig genug, um ein derartig abscheuliches Ritual durchführen zu lassen.« Sie sah zu mir auf, ihre Augen wieder schwer zu deuten, aber ich meinte eine tiefe Traurigkeit in ihnen zu entdecken. »Bei dem Ritual, von dem ich gelesen habe, war es notwendig, dass der Wächter während der Zeremonie den Freitod wählte … Diese Zwerge meldeten sich freiwillig, um ihren König in alle Ewigkeit zu beschützen.«
»Bei den Göttern.« Ich sprach leise. »Sind sie …?«
»Ich glaube, ja.« Lea musterte die Zwerge und die Ketten. »Ohne die Kälte … ja, ich glaube, sie sind noch …«, sie schien nach dem Wort zu suchen, »aktiv.«
Die Kälte, die ich nun spürte, hatte nichts mit der Kälte hier im Raum zu tun, sie kam von tief innen und ließ mich schaudern. Ich hatte oft mit meinem Schicksal gehadert, aber das Schicksal dieser hier …
»Lasst uns gehen«, sprach ich.
»Ja, sogleich. Ich würde nur gerne wissen, was diejenigen suchten, die gestern hier heruntergeklettert sind. Es sieht alles unangetastet aus.«
Sie hatte Recht. Die Toten waren nicht angerührt worden, die Türen auch nicht. Nur der Quader, an dem das Seil befestigt war, war erst kürzlich bewegt worden.
»Ich glaube«, sagte ich schließlich, »sie bereiteten nur den Weg. Sie hatten wohl nicht viel Zeit.«
»Vielleicht.« Sie sah sich immer noch suchend um. »Hier. Der Packen ist durchwühlt worden.«
Eines der Bündel der Toten war geöffnet worden. Das Eis war nur an der Seite gebrochen, hielt die lederne Klappe immer noch in einem Panzer, deshalb hatte ich es nicht gesehen. Oder meine Augen waren nicht mehr das, was sie einmal waren.
Ich öffnete den Packen, fand dort aber nichts Besonderes. Ein Satz Kleidung, steif gefroren durch die Kälte, ließ allerdings einen Raum frei, als ob dort etwas gewesen wäre. Faustgroß müsste es in etwa sein. Aber was es sein mochte, ließ sich nicht erkennen.
»Gehen wir«, drängte Lea. Ich nickte und löschte die Ölschalen. Das Licht der Laterne erschien auf einmal unzureichend, im Flackern der kleinen Flamme glaubte ich zu sehen, wie die Toten sich bewegten, mich anstarrten, als ob sie mir etwas sagen oder zeigen wollten. Die Reliefs an den Türen taten es ihnen gleich, auch sie schienen nunmehr auf unwirkliche Art lebendig zu werden und nur darauf zu warten, über mich herzufallen.
»Ja, gehen wir«, sagte ich. Meine Stimme klang brüchig, also räusperte ich mich. Irgendwie ließ das Echo es so erscheinen, als wäre es der Wachende gewesen, der sich räusperte, und nicht ich.
Sie stand schon am Seil. In ihrem Gürtel sah ich das Brecheisen, das ich fallen gelassen hatte. Sie hatte auch daran gedacht. Ich sah ihr nach, wie sie sich scheinbar mühelos am Seil nach oben zog, nur durch die Kraft ihrer Arme, und folgte ihr dann wesentlich weniger graziös, elegant oder schnell. Meine Befürchtungen waren berechtigt, der Aufstieg ging beinahe über meine Kräfte hinaus; ich fürchtete schon, dass ich hinabfallen würde in diesen eiskalten Raum der Toten. Das Grauen, das mich bei diesem Gedanken durchfuhr, ließ mich den Schacht weiter erklimmen, obwohl meine Kräfte schon längst aufgebraucht waren.
Am oberen Ende angekommen, war ich für ihre Hilfe dankbar, als sie mich heraufzog. Meine Schultern brannten wie Feuer, und meine Hände bluteten – ich war zweimal abgerutscht, als mein Griff unsicher wurde. Keuchend rollte ich mich zur Seite, lag auf dem kalten Boden des Turmkellers und schwitzte unter dem alten Fellmantel. Verglichen mit der Kälte dort unten war es hier warm.
Ich blieb liegen, zu ermattet, um auch nur einen Finger zu bewegen, und sah Leandra zu, wie sie die Platte wieder an ihren Ort brachte, den Schacht verschloss und auch das Brecheisen dahin zurücklegte, wo ich es gefunden hatte.
Dann hielt sie mir die Hand hin. Mit ihrer Hilfe stand ich auf und fühlte mich steif, alt und wertlos.
Ich brauchte erneut ihren Rückhalt, um meinen Kettenmantel anzulegen. Sie sagte nichts, half nur. Ab und zu sah ich, wie ihr Blick nachdenklich auf mir ruhte.
Der Aufstieg zum Turmraum war wie eine Erlösung. Wir folgten dem Beispiel des Wirts. Der Riegel wurde sicher vorgelegt und die Fässer wieder auf die Falltür gerollt.