18. Ein kleiner Zauber
Als wir den Gastraum verließen, drehte ich mich aus einem Impuls heraus um. »Ich wünsche eine Gute Nacht!«, rief ich. »Mögen die Götter euch einen angenehmen Schlaf schicken und über euch wachen.« Überraschte Gesichter sahen auf, manche lächelten, einige nickten mir zu.
Ich sah Leas Blick. »Höflichkeiten schaden selten.«
»Ja«, stimmte sie zu. »Ein paar Worte, und man erntet ein Lächeln. Ich bin nur etwas überrascht.«
»Wir sind hier gemeinsam eingesperrt. Es kann nicht schaden, die Leute kennen zu lernen und Sympathien zu erhalten.«
»Ich bemerkte, dass Ihr die Knechte nach ihren Namen gefragt habt.«
»Vielleicht werden wir noch jeden guten Mann brauchen. Es könnte von Vorteil sein, wenn man sie kennt.«
»So spricht ein Anführer.«
Darauf antwortete ich nicht. Ich wollte nie mehr Anführer sein. Sie blieb im Gang zum Turm stehen. »Wart Ihr ein guter Anführer?«
»Nein.«
»Ich schätze, dass man Euch loyal folgte. Ihr habt etwas, das Vertrauen schenkt.«
Ich drehte mich zu ihr um. »Sera«, sagte ich. »Das Vertrauen, von dem Ihr sprecht, beinhaltet, dass der Anführer einem eine Chance zum Überleben gibt. Alles Vertrauen der Weltenscheibe nützt nichts, wenn man das Unglück nicht verhindern kann.«
»Warum seid Ihr bloß so verbittert?«
Ich packte sie fest an den Schultern. »Wartet es ab. Wenn die Truppen von Thalak mordend und plündernd durch unsere Lande ziehen, wenn Ihr die Leichenberge seht, die ein Krieg hinterlässt … Geht nach Kelar und schaut, was dort geschah. Wenn Euch das nicht berührt, habt Ihr zu Recht Steinherz an Euch gebunden. Nur ein Herz, das kalt wie Stein ist, wird nicht verbittert. Es wird nichts fühlen.«
»Ser, ich habe Euch nicht das Recht gegeben, Hand an mich zu legen«, sagte sie mit funkelnden Augen.
Ich küsste sie.
Ich küsste sie, als ob mein Leben davon abhinge, oder mehr noch, ihr Leben. Ich küsste sie, als ob durch diesen Kuss die Sonne in ihrer Bahn geführt würde, als ob dieser Kuss allein die Weltenscheibe halten könnte.
Irgendwann musste ich atmen und ließ von ihr ab. Ich trat sogar einen Schritt von ihr zurück. Sie sah mich an, der Ausdruck in ihren Augen unergründlich. Langsam hob sie die Hand und berührte ihre Lippen, die noch feucht waren von den meinen.
»Oh«, sagte sie leise.
Ich war ein Tor. Ich wusste es, aber es half mir nichts. Dieser Kuss war ein Fehler. Sie trug Steinherz.
Ein Räuspern. Ich sah von ihr weg zu Eberhard, der in der Tür zu seinem Turm stand und verlegen lächelte.
»Ich dachte, ich hätte Stimmen gehört«, sagte er.
»Schon gut. Habt Ihr alles, was die Sera braucht?«
»Ja.«
Ich warf einen Blick zu Lea hinüber. »Können wir anfangen?«
Sie blinzelte einmal, zweimal, dann nickte sie. »Wir können.« Sie warf mir noch einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, dann schritt sie an mir vorbei und betrat den Turm mit hoch erhobenem Haupt, wie eine Königin.
Lea inspizierte die Dinge, die sie von Eberhard verlangt hatte. Dann fing sie an, in jener alten Sprache zu sprechen, und legte mit Ingwer und Silber ein kompliziertes Muster um die Falltür herum aus, immer wieder unterbrochen von einigen schnellen Passagen, bei denen sie den Silberstaub in die Luft warf, wo dieser für einen Moment zu verharren schien, um dann langsam zu Boden zu sinken.
Eberhard und ich beobachteten sie dabei gebannt. Wir hielten uns beide in der Nähe der Tür auf, um ihre Magie nicht zu stören. Zum Schluss bat sie mich in den mehrfachen Zirkel hinein, der nun am Boden sichtbar war, und stäubte sowohl sich als auch mir etwas Silber auf den Kopf.
Wir verließen den Zirkel zusammen und achteten darauf, dass die dünnen Pulverspuren nicht gestört wurden. Sie schritt noch einmal um den Kreis herum, musterte ihn intensiv, ging einmal sogar auf die Knie, um die Kreise aus nächster Nähe zu betrachten. Dann nickte sie zufrieden, hob die Hände hoch, ballte sie zu Fäusten und zog sie ruckartig nach unten. Mit einem silbernen Blitz verschwand jedes Zeichen der von ihr gewirkten Magie, und der Boden erschien wieder unberührt.
»Darf ich fragen, Sera, was Ihr getan habt? Kann es mir gefährlich werden, wenn ich nun den Keller betrete?«, fragte der Wirt.
Lea schaute zu uns herüber; zum dritten Mal sah ich dieses Glühen in ihren Augen. Sie blickte durch uns hindurch.
»Nein«, sagte sie leise. Sie erschien mir, als ob sie von einer langen Reise zurückgekehrt wäre. »Aber wenn sich heute Nacht jemand hier zu schaffen macht, dann werden wir es morgen wissen.« Sie nickte Eberhard zu. »Gute Nacht.« Und damit drehte sie sich auf dem Absatz um und ging davon.
»Gute Nacht, Meister Eberhard«, wünschte ich dem Wirt.
Er sah mich verständnisvoll an. »Lasst Euch nicht davon unterkriegen«, sagte er dann überraschend. »Frauen sind so. Ich habe drei Töchter, ich weiß, wovon ich rede. Möge der Götter Frieden mit Euch sein, Ser. Und mit der Sera.«
»Achte auf dich, Wirt. Sichere die Treppe.« Er warf einen Blick zur heruntergelassenen Stiege hinüber und nickte. »Ich könnte sonst nicht schlafen. Ich bat meine Knechte, sich heute Nacht um den Hof zu kümmern. Sie haben strikte Anweisung, diesen Trakt nicht zu verlassen, aber ich mache mir Sorgen um sie.«
»Bis wir den Morgen erleben, mache ich mir Sorgen um uns alle.« Darauf gab es wohl wenig zu erwidern. Ich verließ den Turm, hörte, wie er hinter mir abschloss, und begab mich langsam zu unserem Zimmer.
Diesmal war die Tür nicht verschlossen. Als ich den Raum betrat, fühlte ich die Wärme ihres Zaubers. Das Feuer im Kamin prasselte fröhlich vor sich hin, sogar die Eisblumen an der Außenwand waren verschwunden. Es war angenehm warm.
Sie saß am Tisch und hielt einen Becher in der Hand. Als ich die Tür hinter uns schloss, blickte sie auf, machte ein Zeichen in die Luft, und ich spürte, wie die Tür unter meiner Hand erstarrte.
Sie sah meinen Blick. »Es ist einfacher geworden. Ich erklärte es Euch. Die Tür ist jetzt verschlossen.«
»Ja.« Ich sah sie an. »Muss ich auf Knien um Eure Verzeihung bitten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig.« Ihr Blick suchte und fand meine Augen. »Ich wusste nur nicht, was ein Kuss auslösen kann. Nun bin ich weiser. Deshalb bitte ich Euch, es für heute bei diesem Kuss zu belassen. Ich will heute Nacht nicht verführt werden.«
»Könnte ich das?«, fragte ich sanft.
»Ja. Deshalb bitte ich Euch, es nicht zu tun.«
»Ihr habt mein Wort.«
Als ich diesmal neben ihr lag, brauchte ich lange, um einzuschlafen.