22
Als sie von ihrer Ausfahrt wieder nach Eastover zurückkamen, war die Sonne untergegangen, hatte mit langen feurigen Streifen die purpurfarbenen Wolken zerteilt und die See in kupfriges Gold getaucht. Burden lenkte den Wagen auf einen leeren Parkplatz oben auf den Felsen, und sie saßen schweigend und schauten aufs Wasser und den Himmel und einen einzelnen Kutter, ein winziger, wandernder Punkt am Horizont.
Gemma hatte sich während dieser Tage mehr und mehr in sich zurückgezogen, und manchmal konnte Burden sich des Gefühls nicht erwehren, daß ein Schatten neben ihm herging, mit ihm im Auto saß oder nachts neben ihm im Bett lag. Sie redete kaum. Es war, als sei sie die personifizierte Traurigkeit oder, noch schlimmer, eine Sterbende. Sie wollte sterben, das war ihm klar, wenn sie es ihm auch nicht direkt gesagt hatte. Am Abend zuvor hatte er sie in der Badewanne gefunden, in erkaltendem Wasser, die Augen geschlossen, den Kopf halb ins Wasser geglitten, und obwohl sie es abstritt, wußte er, daß sie eine halbe Stunde vorher Schlaftabletten genommen hatte. Und heute, als sie unterwegs waren, hatte er sie nur im letzten Moment davor bewahren können, direkt vor einem heranbrausenden Auto über die Straße zu laufen.
Morgen mußten sie nach Hause. In einem Monat waren sie verheiratet, und vorher würde er sich um die Versetzung zu einer der Einheiten der Metropolitan Police bemühen müssen. Das hieß neue Schulen für die Kinder finden, ein neues Haus. Was für ein Haus würde er in London für den Betrag bekommen, den ihm sein Bungalow in Sussex einbrachte? Doch es mußte sein. Der gemeine, unentschuldbare Gedanke, daß er jedenfalls nur zwei Kinder ernähren mußte und nicht drei, und daß seine zukünftige Frau in ihrem Zustand nicht wilde Parties feiern oder das Haus mit ihren Freunden bevölkern würde, trieb ihm die Schamröte ins Gesicht.
Er schaute vorsichtig zu Gemma hinüber, doch sie starrte aufs Meer hinaus. Dann folgte er ihrem Blick und sah, daß der Strand nicht länger einsam dalag. Rasch startete er den Wagen und fuhr rückwärts über den Platz zur Straße, landeinwärts. Er sah sie nicht wieder an, aber er wußte, daß sie weinte, daß die Tränen ungehemmt über ihre dünnen, blassen Wangen liefen.
 
“Scotts erster Gedanke«, sagte Wexford nach einer Pause, »war wahrscheinlich, sie einfach stehenzulassen, zu fliehen, den Weg zurück, den er gekommen war, weg von diesen Swans. Man sagt, Mordopfer - doch dies war kein wirklicher Mord - hätten ihr Schicksal selbst herausgefordert. Hat Stella ihn darauf hingewiesen, daß es draußen goß, daß er mit ihnen mitfahren könne? Hat sie womöglich gesagt: ‘Ich rufe nur schnell an, dann ist er in einer Viertelstunde da’? Jedenfalls ist in dem Moment wieder alles über Scott hereingebrochen. Er hatte es nie verwunden. Er mußte sie daran hindern, das Telefon zu benutzen, und dazu mußte er sie festhalten. Zweifelsohne hat sie geschrien. Wie er sie gehaßt haben muß, wenn er daran dachte, was sie dem Mann bedeutete, den er so verabscheute. Ich glaube, das war es, was ihm die Kraft gab, sie allzu fest zu halten, allzu fest mit seinen alten, kräftigen Händen ihren Hals zu packen...«
Der Doktor sagte gar nichts, er starrte Wexford nur noch gespannter an.
»Vom Cottage der Rushworths bis Saltram House braucht man zu Fuß hin und zurück eine halbe Stunde«, resümierte der Chief Inspector. »Von Saltram Lodge ist es näher. Und Scott wußte von den Brunnen und Zisternen. Das hatte ihn sicher interessiert. Er war ja Installateur. Er trug das tote Kind zum Italienischen Garten hinauf und legte es in die Zisterne. Dann ging er zurück zum Häuschen und holte seinen Koffer. Ein vorbeikommender Autofahrer nahm ihn mit zurück nach Stowerton. Sich seinen Zustand vorzustellen fällt einem nicht allzu schwer.«
“Wir wissen«, ergänzte Crocker leise, »daß er einen Schlaganfall bekam.«
»Mrs. Fenn wußte nichts davon, ebensowenig seine Frau. Letzten Mittwoch hatte er einen zweiten Schlaganfall, und der hat ihn umgebracht. Ich glaube - ich fürchte -, es war mein Besuch und die Vermutung, wer ich wirklich war, was ihn tatsächlich letzten Endes getötet hat. Seine Frau konnte sich keinen Reim auf das machen, was er sagte, bevor er starb. Sie glaubte, er phantasierte. Sie hat mir die Worte wiederholt. ‘Ich habe sie zu fest gehalten. Ich mußte an meine Bridget denken.’«
»Aber was, zum Teufel, willst du jetzt machen? Du kannst einen Toten nicht anklagen.«
»Das liegt bei Griswold«, sagte Wexford. »Irgendein unverbindlicher Schmus für die Presse, nehme ich an. Die Swans sind informiert, ebenso Swans Onkel, Group Captain wie hieß er noch. Nicht, daß er die ausgesetzte Belohnung zahlen müßte. Wir werden keinen verhaften.«
Der Doktor sah nachdenklich aus. »Du hast kein Wort über John Lawrence verloren.«
»Weil ich dazu kein Wort zu sagen habe«, erwiderte Wexford.
 
Ihr Hotel hatte keinen Hintereingang, so war es schließlich doch nicht zu umgehen, daß sie über Eastovers kleine Promenade fuhren. Burden hatte inständig gehofft, daß in der Zwischenzeit, in der Dämmerung, der Strand verlassen wäre, doch die beiden, die Gemma die Tränen in die Augen getrieben hatten, waren immer noch da; das Kind, das am Wasser auf und ab rannte, und die Frau bei ihm, die in der einen Hand ein langes Stück Seetang hinter sich herzog. Wäre nicht das leichte Hinken gewesen, Burden hätte sie in ihrer Hose und dem Kapuzenmantel nicht als die Frau wiedererkannt, die er zuvor gesehen hatte - oder überhaupt als Frau. Vergebens versuchte er, Gemmas Aufmerksamkeit landeinwärts auf ein Cottage zu lenken, das sie schon häufig bewundert hatten.
Sie gehorchte - stets fügsam, immer willens, ihn zufriedenzustellen -, doch kaum hatte sie hingeschaut, wandte sie den Blick wieder dem Strand zu. Ihr Arm berührte den seinen, und er merkte, daß sie zitterte.
»Halt an«, sagte sie.
»Aber es gibt nichts zu sehen...«
»Hak an!«
Sie kommandierte niemals. Er hatte sie noch nie so reden hören. »Was, hier?« entgegnete er. “Laß uns zurückfahren. Dir wird nur kalt werden.«
»Bitte halt an, Mike.«
Er konnte sie nicht blind machen, sie nicht ewig abschirmen. Er parkte den Wagen hinter einem roten Jaguar, dem einzigen anderen Auto an der Promenade. Bevor er noch die Zündung abgestellt hatte, öffnete sie die Tür, warf sie hinter sich zu und war auf und davon, die Treppen hinunter.
Absurd, daran zu denken, was sie über das Meer und über einen raschen Tod gesagt hatte, doch er erinnerte sich. Er sprang aus dem Wagen und folgte ihr, mit langen Schritten zuerst, dann rennend. Ihr leuchtendes Haar, sonnenuntergangsrot, wehte hinter ihr. Ihre Schritte machten harte, schmatzende Geräusche auf dem nassen Sand, und die Frau drehte sich um, stand stocksteif, die Seetangliane in ihrer Hand wirbelte plötzlich im Wind wie das Tuch einer Tänzerin.
»Gemma! Gemma!« rief Burden, doch der Wind verwehte seine Worte, oder sie wollte sie nicht hören. Sie schien nur darauf aus zu sein, das Wasser zu erreichen, das zu Füßen des Kindes kräuselte und schäumte. Und nun drehte sich das Kind, das bis zum Rand seiner Gummistiefel in dem flachen Schaum herumgeplatscht hatte, ebenfalls um und starrte sie an, wie Kinder es tun, wenn Erwachsene sich beunruhigend benehmen.
Sie würde sich ins Meer stürzen. Ohne die Frau weiter zu beachten, raste Burden hinter ihr her und hielt plötzlich inne, als sei er blindlings gegen eine Mauer geprallt. Er war nicht mehr als höchstens zehn Meter von ihr entfernt. Mit weit aufgerissenen Augen kam das Kind auf sie zu. Ohne nur eine Sekunde innezuhalten, ohne Zögern, rannte sie ins Wasser und fiel auf die Knie.
Die kleinen Wellen schäumten über ihre Füße, ihre Beine, ihr Kleid. Er sah, wie es sich vollsog, sie bis zur Taille durchnäßte. Er hörte sie schreien - meilenweit konnte man diesen Aufschrei hören, dachte er -, und er wußte nicht, ob er ihm Glück oder Schmerz bedeutete.
»John, John, mein John!«
Sie breitete die Arme aus, und das Kind lief hinein. Immer noch im Wasser kniend, hielt sie ihn eng an sich gedrückt, den Mund fest auf seinen Goldschopf gepreßt.
 
Burden und die Frau sahen sich wortlos an. Er wußte sofort, wer sie war. Das Gesicht hatte ihm aus dem Album seiner Tochter entgegengeblickt. Aber es war inzwischen sehr mitgenommen, verwüstet und gealtert, das schwarze Haar unter der Kapuze war grob abgeschnitten, als habe sie mit der Zerstörung ihrer Karriere auch die Zerstörung ihrer äußeren Erscheinung annehmen und beschleunigen wollen.
Ihre Hände waren winzig. Sie schien Pflanzen aller Art zu sammeln, doch jetzt ließ sie das Stück Seetang fallen. Aus der Nähe konnte man sie nicht mit einem Mann verwechseln, fand Burden, doch aus der Entfernung? Aus der Entfernung konnte selbst eine Frau mittleren Alters wie ein Jugendlicher aussehen, wenn sie schlank war und die Geschmeidigkeit einer Tänzerin besaß.
Was war natürlicher, als daß sie John haben wollte, den Sohn ihres früheren Geliebten, mit dem sie selbst nie hatte ein Kind haben können? Und sie war krank gewesen, seelisch krank, erinnerte er sich. John war sicher ganz willig mit ihr gegangen, zweifellos hatte er sie als eine Freundin seines Vaters wiedererkannt, vielleicht hatte sie ihn mit der beruhigenden Erklärung überredet, seine Mutter habe ihn vorübergehend ihrer Pflege überantwortet. Und die Küste? Welches Kind will nicht gern ans Meer?
Doch jetzt würde etwas passieren. Sobald ihre erste Freude abgeklungen war, würde Gemma diese Frau in Stücke reißen. Es war schließlich nicht die erste Ungeheuerlichkeit, die ihr Leonie West antat. Hatte sie ihr nicht buchstäblich den Mann gestohlen, nachdem Gemma erst ein paar Monate verheiratet war? Und jetzt, noch schlimmerer Frevel, hatte sie ihr Kind gestohlen.
Er sah, wie sie langsam aus dem Wasser aufstand und, Johns Hand in der ihren, den Sandstreifen überquerte, der sie von Leonie West trennte.
 
Die Tänzerin hielt ihre Stellung, ja sie hob den Kopf mit einer pathetischen Trotzgebärde und ballte die kleinen Hände, die Mrs. Mitchell beim Blättersammeln beobachtet hatte, zu Fäusten. Burden trat einen Schritt vor und fand seine Stimme wieder.
»Hör mal, Gemma, das beste wäre...«
Was hatte er sagen wollen? Daß es das beste für alle war, ruhig zu bleiben, die Sache sachlich durchzusprechen? Er erstarrte. Nie hätte er für möglich gehalten - hatte er sie je wirklich gekannt? -, daß sie dies tun würde, das Allerbeste, was sie in seinen Augen beinah zur Heiligen machte.
Ihr Kleid war durchnäßt. Merkwürdigerweise mußte Burden an ein Bild denken, das er einmal gesehen hatte, Vorstellung eines Künstlers, wie die See ihre Toten hergibt. Mit einem sanften, zärtlichen Blick auf den Jungen ließ sie seine Hand los und hob die von Leonie West hoch. Sprachlos blickte die andere sie an, Gemma zögerte nur einen Lidschlag, dann nahm sie die Frau in die Arme.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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