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Als sie von ihrer Ausfahrt wieder nach Eastover
zurückkamen, war die Sonne untergegangen, hatte mit langen feurigen
Streifen die purpurfarbenen Wolken zerteilt und die See in
kupfriges Gold getaucht. Burden lenkte den Wagen auf einen leeren
Parkplatz oben auf den Felsen, und sie saßen schweigend und
schauten aufs Wasser und den Himmel und einen einzelnen Kutter, ein
winziger, wandernder Punkt am Horizont.
Gemma hatte sich während dieser Tage mehr und mehr
in sich zurückgezogen, und manchmal konnte Burden sich des Gefühls
nicht erwehren, daß ein Schatten neben ihm herging, mit ihm im Auto
saß oder nachts neben ihm im Bett lag. Sie redete kaum. Es war, als
sei sie die personifizierte Traurigkeit oder, noch schlimmer, eine
Sterbende. Sie wollte sterben, das war ihm klar, wenn sie es ihm
auch nicht direkt gesagt hatte. Am Abend zuvor hatte er sie in der
Badewanne gefunden, in erkaltendem Wasser, die Augen geschlossen,
den Kopf halb ins Wasser geglitten, und obwohl sie es abstritt,
wußte er, daß sie eine halbe Stunde vorher Schlaftabletten genommen
hatte. Und heute, als sie unterwegs waren, hatte er sie nur im
letzten Moment davor bewahren können, direkt vor einem
heranbrausenden Auto über die Straße zu laufen.
Morgen mußten sie nach Hause. In einem Monat waren
sie verheiratet, und vorher würde er sich um die Versetzung zu
einer der Einheiten der Metropolitan Police bemühen müssen. Das
hieß neue Schulen für die Kinder finden, ein neues Haus. Was für
ein Haus würde er in London für den Betrag bekommen, den ihm sein
Bungalow in Sussex einbrachte? Doch es mußte sein. Der gemeine,
unentschuldbare Gedanke, daß er jedenfalls nur zwei Kinder ernähren
mußte und nicht drei, und daß seine zukünftige Frau in ihrem
Zustand nicht wilde Parties feiern oder das Haus mit ihren Freunden
bevölkern würde, trieb ihm die Schamröte ins Gesicht.
Er schaute vorsichtig zu Gemma hinüber, doch sie
starrte aufs Meer hinaus. Dann folgte er ihrem Blick und sah, daß
der Strand nicht länger einsam dalag. Rasch startete er den Wagen
und fuhr rückwärts über den Platz zur Straße, landeinwärts. Er sah
sie nicht wieder an, aber er wußte, daß sie weinte, daß die Tränen
ungehemmt über ihre dünnen, blassen Wangen liefen.
“Scotts erster Gedanke«, sagte Wexford nach einer
Pause, »war wahrscheinlich, sie einfach stehenzulassen, zu fliehen,
den Weg zurück, den er gekommen war, weg von diesen Swans. Man
sagt, Mordopfer - doch dies war kein wirklicher Mord - hätten ihr
Schicksal selbst herausgefordert. Hat Stella ihn darauf
hingewiesen, daß es draußen goß, daß er mit ihnen mitfahren könne?
Hat sie womöglich gesagt: ‘Ich rufe nur schnell an, dann ist er in
einer Viertelstunde da’? Jedenfalls ist in dem Moment wieder alles
über Scott hereingebrochen. Er hatte es nie verwunden. Er mußte sie
daran hindern, das Telefon zu benutzen, und dazu mußte er sie
festhalten. Zweifelsohne hat sie geschrien. Wie er sie gehaßt haben
muß, wenn er daran dachte, was sie dem Mann bedeutete, den er so
verabscheute. Ich glaube, das war es, was ihm die Kraft gab, sie
allzu fest zu halten, allzu fest mit seinen alten, kräftigen Händen
ihren Hals zu packen...«
Der Doktor sagte gar nichts, er starrte Wexford nur
noch gespannter an.
»Vom Cottage der Rushworths bis Saltram House
braucht man zu Fuß hin und zurück eine halbe Stunde«, resümierte
der Chief Inspector. »Von Saltram Lodge ist es näher. Und Scott
wußte von den Brunnen und Zisternen. Das hatte ihn sicher
interessiert. Er war ja Installateur. Er trug das tote Kind zum
Italienischen Garten hinauf und legte es in die Zisterne. Dann ging
er zurück zum Häuschen und holte seinen Koffer. Ein vorbeikommender
Autofahrer nahm ihn mit zurück nach Stowerton. Sich seinen Zustand
vorzustellen fällt einem nicht allzu schwer.«
“Wir wissen«, ergänzte Crocker leise, »daß er einen
Schlaganfall bekam.«
»Mrs. Fenn wußte nichts davon, ebensowenig seine
Frau. Letzten Mittwoch hatte er einen zweiten Schlaganfall, und der
hat ihn umgebracht. Ich glaube - ich fürchte -, es war mein Besuch
und die Vermutung, wer ich wirklich war, was ihn tatsächlich
letzten Endes getötet hat. Seine Frau konnte sich keinen Reim auf
das machen, was er sagte, bevor er starb. Sie glaubte, er
phantasierte. Sie hat mir die Worte wiederholt. ‘Ich habe sie zu
fest gehalten. Ich mußte an meine Bridget denken.’«
»Aber was, zum Teufel, willst du jetzt machen? Du
kannst einen Toten nicht anklagen.«
»Das liegt bei Griswold«, sagte Wexford. »Irgendein
unverbindlicher Schmus für die Presse, nehme ich an. Die Swans sind
informiert, ebenso Swans Onkel, Group Captain wie hieß er noch.
Nicht, daß er die ausgesetzte Belohnung zahlen müßte. Wir werden
keinen verhaften.«
Der Doktor sah nachdenklich aus. »Du hast kein Wort
über John Lawrence verloren.«
»Weil ich dazu kein Wort zu sagen habe«, erwiderte
Wexford.
Ihr Hotel hatte keinen Hintereingang, so war es
schließlich doch nicht zu umgehen, daß sie über Eastovers kleine
Promenade fuhren. Burden hatte inständig gehofft, daß in der
Zwischenzeit, in der Dämmerung, der Strand verlassen wäre, doch die
beiden, die Gemma die Tränen in die Augen getrieben hatten, waren
immer noch da; das Kind, das am Wasser auf und ab rannte, und die
Frau bei ihm, die in der einen Hand ein langes Stück Seetang hinter
sich herzog. Wäre nicht das leichte Hinken gewesen, Burden hätte
sie in ihrer Hose und dem Kapuzenmantel nicht als die Frau
wiedererkannt, die er zuvor gesehen hatte - oder überhaupt als
Frau. Vergebens versuchte er, Gemmas Aufmerksamkeit landeinwärts
auf ein Cottage zu lenken, das sie schon häufig bewundert
hatten.
Sie gehorchte - stets fügsam, immer willens, ihn
zufriedenzustellen -, doch kaum hatte sie hingeschaut, wandte sie
den Blick wieder dem Strand zu. Ihr Arm berührte den seinen, und er
merkte, daß sie zitterte.
»Halt an«, sagte sie.
»Aber es gibt nichts zu sehen...«
»Hak an!«
Sie kommandierte niemals. Er hatte sie noch nie so
reden hören. »Was, hier?« entgegnete er. “Laß uns zurückfahren. Dir
wird nur kalt werden.«
»Bitte halt an, Mike.«
Er konnte sie nicht blind machen, sie nicht ewig
abschirmen. Er parkte den Wagen hinter einem roten Jaguar, dem
einzigen anderen Auto an der Promenade. Bevor er noch die Zündung
abgestellt hatte, öffnete sie die Tür, warf sie hinter sich zu und
war auf und davon, die Treppen hinunter.
Absurd, daran zu denken, was sie über das Meer und
über einen raschen Tod gesagt hatte, doch er erinnerte sich. Er
sprang aus dem Wagen und folgte ihr, mit langen Schritten zuerst,
dann rennend. Ihr leuchtendes Haar, sonnenuntergangsrot, wehte
hinter ihr. Ihre Schritte machten harte, schmatzende Geräusche auf
dem nassen Sand, und die Frau drehte sich um, stand stocksteif, die
Seetangliane in ihrer Hand wirbelte plötzlich im Wind wie das Tuch
einer Tänzerin.
»Gemma! Gemma!« rief Burden, doch der Wind verwehte
seine Worte, oder sie wollte sie nicht hören. Sie schien nur darauf
aus zu sein, das Wasser zu erreichen, das zu Füßen des Kindes
kräuselte und schäumte. Und nun drehte sich das Kind, das bis zum
Rand seiner Gummistiefel in dem flachen Schaum herumgeplatscht
hatte, ebenfalls um und starrte sie an, wie Kinder es tun, wenn
Erwachsene sich beunruhigend benehmen.
Sie würde sich ins Meer stürzen. Ohne die Frau
weiter zu beachten, raste Burden hinter ihr her und hielt plötzlich
inne, als sei er blindlings gegen eine Mauer geprallt. Er war nicht
mehr als höchstens zehn Meter von ihr entfernt. Mit weit
aufgerissenen Augen kam das Kind auf sie zu. Ohne nur eine Sekunde
innezuhalten, ohne Zögern, rannte sie ins Wasser und fiel auf die
Knie.
Die kleinen Wellen schäumten über ihre Füße, ihre
Beine, ihr Kleid. Er sah, wie es sich vollsog, sie bis zur Taille
durchnäßte. Er hörte sie schreien - meilenweit konnte man diesen
Aufschrei hören, dachte er -, und er wußte nicht, ob er ihm Glück
oder Schmerz bedeutete.
»John, John, mein John!«
Sie breitete die Arme aus, und das Kind lief
hinein. Immer noch im Wasser kniend, hielt sie ihn eng an sich
gedrückt, den Mund fest auf seinen Goldschopf gepreßt.
Burden und die Frau sahen sich wortlos an. Er
wußte sofort, wer sie war. Das Gesicht hatte ihm aus dem Album
seiner Tochter entgegengeblickt. Aber es war inzwischen sehr
mitgenommen, verwüstet und gealtert, das schwarze Haar unter der
Kapuze war grob abgeschnitten, als habe sie mit der Zerstörung
ihrer Karriere auch die Zerstörung ihrer äußeren Erscheinung
annehmen und beschleunigen wollen.
Ihre Hände waren winzig. Sie schien Pflanzen aller
Art zu sammeln, doch jetzt ließ sie das Stück Seetang fallen. Aus
der Nähe konnte man sie nicht mit einem Mann verwechseln, fand
Burden, doch aus der Entfernung? Aus der Entfernung konnte selbst
eine Frau mittleren Alters wie ein Jugendlicher aussehen, wenn sie
schlank war und die Geschmeidigkeit einer Tänzerin besaß.
Was war natürlicher, als daß sie John haben wollte,
den Sohn ihres früheren Geliebten, mit dem sie selbst nie hatte ein
Kind haben können? Und sie war krank gewesen, seelisch krank,
erinnerte er sich. John war sicher ganz willig mit ihr gegangen,
zweifellos hatte er sie als eine Freundin seines Vaters
wiedererkannt, vielleicht hatte sie ihn mit der beruhigenden
Erklärung überredet, seine Mutter habe ihn vorübergehend ihrer
Pflege überantwortet. Und die Küste? Welches Kind will nicht gern
ans Meer?
Doch jetzt würde etwas passieren. Sobald ihre erste
Freude abgeklungen war, würde Gemma diese Frau in Stücke reißen. Es
war schließlich nicht die erste Ungeheuerlichkeit, die ihr Leonie
West antat. Hatte sie ihr nicht buchstäblich den Mann gestohlen,
nachdem Gemma erst ein paar Monate verheiratet war? Und jetzt, noch
schlimmerer Frevel, hatte sie ihr Kind gestohlen.
Er sah, wie sie langsam aus dem Wasser aufstand
und, Johns Hand in der ihren, den Sandstreifen überquerte, der sie
von Leonie West trennte.
Die Tänzerin hielt ihre Stellung, ja sie hob den
Kopf mit einer pathetischen Trotzgebärde und ballte die kleinen
Hände, die Mrs. Mitchell beim Blättersammeln beobachtet hatte, zu
Fäusten. Burden trat einen Schritt vor und fand seine Stimme
wieder.
»Hör mal, Gemma, das beste wäre...«
Was hatte er sagen wollen? Daß es das beste für
alle war, ruhig zu bleiben, die Sache sachlich durchzusprechen? Er
erstarrte. Nie hätte er für möglich gehalten - hatte er sie je
wirklich gekannt? -, daß sie dies tun würde, das Allerbeste, was
sie in seinen Augen beinah zur Heiligen machte.
Ihr Kleid war durchnäßt. Merkwürdigerweise mußte
Burden an ein Bild denken, das er einmal gesehen hatte, Vorstellung
eines Künstlers, wie die See ihre Toten hergibt. Mit einem sanften,
zärtlichen Blick auf den Jungen ließ sie seine Hand los und hob die
von Leonie West hoch. Sprachlos blickte die andere sie an, Gemma
zögerte nur einen Lidschlag, dann nahm sie die Frau in die
Arme.