7
Die Kinder der Burdens gingen wieder in die
Schule, und aus dem Badezimmer des Bungalows drangen
Würgegeräusche. Am ersten Schultag mußte sich Pat immer erbrechen.
Ihre Eltern standen in der Küche und hörten diese Geräusche mit dem
hilflosen Elend derjenigen, denen allmählich klar wird, daß ihre
Kinder nicht nur Kinder, sondern auch Menschen sind und es einen
Punkt gibt, an dem sie ihnen nicht mehr weiterhelfen können. Dieses
Kind würde sich an jedem ersten Schultag übergeben, vor jedem
Einstellungsgespräch und wahrscheinlich auch am Morgen seiner
Hochzeit.
»Ach, Mike«, sagte Jean Burden,« sollen wir Dr.
Crokker kommen lassen? Manchmal spiele ich sogar mit dem Gedanken,
sie zu einem Psychiater zu schicken.«
»Obwohl du genau weißt, daß sie quietschfidel sein
wird, sobald sie einen Fuß über die Schwelle des Klassenzimmers
setzt? Wir wollen doch aus einer Mücke keinen Elefanten machen,
Liebes.«
»Ich wollte nur, ich könnte ihr helfen. Wir hatten
es nie mit den Nerven. Ich hätte nie gedacht, mein Kind könnte ein
Nervenbündel werden.«
»Ich hab’s nicht mit den Nerven«, sagte John, als
er mit dem Schulranzen und morgendlich strahlender Miene in die
Küche kam. »Falls ich je Kinder habe und sie so ein Affentheater
wie Pat aufführen, kriegen sie von mir eine ordentliche Tracht
Prügel.«
Burden sah seinen Sohn angewidert an. Obwohl sie
nur zwei Jahre auseinander waren und unter der Obhut liebevoller
und glücklich verheirateter Eltern in einem intakten Umfeld der
Mittelklasse aufwuchsen, hatten sich seine Kinder nie vertragen.
Ihre anfänglichen Streitereien, als John noch ein Knirps war und
Pat ihn nur aus dem Kinderwagen heraus anschreien konnte, waren
über handgreifliche Auseinandersetzungen zu dem gegenwärtigen
Zustand ständiger Frotzeleien eskaliert.
In strengem Ton sagte er: »Du sollst aufhören, so
von deiner Schwester zu sprechen. Ich habe es satt, dir das dauernd
sagen zu müssen. Mal angenommen«, begann er, da ihn der Fall, den
er momentan bearbeitete, auf eine Idee gebracht hatte, »mal
angenommen, du und Pat würdet heute getrennt werden und euch nicht
mehr sehen, bis ihr erwachsen seid, wie würdest du dann wohl
darüber denken? Du würdest sehr bedauern, daß du so gemein zu ihr
warst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du sie
vermissen würdest.«
»Ich würde sie nicht vermissen«, erwiderte John.
»Ich wünschte, ich wäre ein Einzelkind.«
»Diese Abneigung ist mir ein Rätsel«, sagte Burden
ratlos. »Sie ist unnatürlich.« Er streckte die Hand aus, als seine
Tochter unter dem schützenden Arm der Mutter mit bleichem Gesicht
und hängendem Kopf hereinkam. »Ich fahre dich zur Schule,
Schätzchen. Ich bringe dich bis vor die Tür.«
“Mich fährst du nie zur Schule«, beschwerte sich
John. »Dabei hab ich’s tierisch weit, fast zwei Kilometer zu
Fuß.«
»»Tierisch sagt man nicht«, wies ihn Burden
automatisch zurecht. »Ich fahre euch beide, aber fangt um Himmels
willen im Auto nicht zu streiten an.«
Im Pausenhof der King’s-Schule wimmelte es von
Jungen. Burden fuhr ruckweise in die Einfahrt und jagte die
lauthals johlenden und grölenden Kleinsten, Johns Altersgenossen,
vor dem Auto auseinander. Die Schüler der Abschlußklasse, die sich
in losen Grüppchen lässig an der Mauer postierten und die verhaßten
Mützen ihrer Schuluniformen zusammengeknüllt in den Taschen trugen,
starrten ihn mit hochmütiger Unverschämtheit an. Ehe der Wagen noch
ganz zum Stillstand kam, sprang John heraus und wurde
augenblicklich von der johlenden Menge verschluckt.
»Siehst du, John ist keine Spur von ängstlich«,
ermutigte Burden seine Tochter. »Du weißt doch, daß euch beiden zu
Hause inzwischen stinklangweilig war, deshalb ist er froh, wieder
bei seinen Freunden zu sein.«
»Ich hasse ihn«, sagte Pat.
»So darfst du nicht von deinem Bruder sprechen.«
Burden fuhr vorsichtig rückwärts, und gerade als er innerhalb des
Schulhofs wendete, sah er sich Denys Villiers Auge in Auge
gegenüber. Er nickte verbindlich und hob leicht die Hand. Villiers
sah durch ihn hindurch, steckte die Hände in die Hosentaschen und
steuerte den neuen Flügel an.
»Halt bitte an, Vati«, sagte Pat, kaum daß sie auf
offener Straße waren. “Ich muß mich wieder übergeben.«
Nachdem er seine Kinder sicher abgeliefert hatte,
quälte sich Burden durch das morgendliche Verkehrsgewühl zum
Polizeirevier. Die Begegnung mit Villiers hatte ihn überrascht,
denn seiner Meinung nach hätte der Lehrer zumindest diese Woche von
der Arbeit fernbleiben müssen, wenn schon nicht vor Trauer, so doch
aus Taktgefühl. Ein seltsamer Mann, dieser Villiers, ein Mann, dem
es anscheinend völlig egal war, was die Leute dachten. Sein
Verhalten Burden gegenüber, den er einfach ignoriert hatte, obwohl
der Polizist am Tag zuvor in seinem Haus gewesen und zudem noch der
Vater eines Schülers der King’s-Schule war, konnte Burden nur als
empörend bezeichnen.
Da er zwanzig Minuten Verspätung hatte und dies
auch wußte, stürzte er in den Aufzug und kam außer Atem in Wexfords
Büro an. Der Chief Inspector saß in einem unsäglichen Anzug, der
noch weit schäbiger als sonst wirkte, an seinem Schreibtisch aus
Rosenholz und blätterte Aktenstapel durch. Hinter ihm am Fenster
stand der Arzt, hauchte das Glas an und zeichnete mit dem Finger
ein Gebilde, das beunruhigende Ähnlichkeit mit einem
Verdauungstrakt aufwies. Burdens Bedarf an Verdauungstrakten war
für diesen Morgen gedeckt.
»Ich bin spät dran, tut mir leid«, sagte er.
»Meiner Tochter wird am ersten Schultag immer übel, deshalb habe
ich gewartet und Pat zur Schule gefahren.« Er nickte dem Arzt zu.
»Jean wollte dich schon kommen lassen.«
»Du wirst einen vielbeschäftigten Mann doch damit
nicht belästigen?« fragte Crocker und grinste faul. »So etwas legt
sich mit der Zeit, glaube mir. Das gehört alles zur Misere des
Menschseins, die deinen Kindern nicht erspart bleiben wird, so hart
das auch sein mag.«
Wexford sah auf und blickte sie finster an.
»Verschone uns bitte mit Philosophie. Ich habe hier einige
Laborberichte vor mir liegen, Mike. Die Asche des Unkrautfeuers
beim Herrenhaus weist klar darauf hin, daß dort Wollstoff verbrannt
wurde. Eine Waffe ist noch nicht aufgetaucht, obwohl unsere Leute
den Wald gestern, bis es dunkel wurde, durchsucht haben und im
Moment noch dabei sind.«
»Sie könnte überall sein«, sagte Burden ratlos. »Im
Fluß, vielleicht liegt sie auch in irgendeinem Garten. Wir wissen
nicht mal, wie sie aussieht.«
»Nein, aber darüber werden wir jetzt mal scharf
nachdenken. Als erstes müssen wir uns darüber klarwerden, ob der
Mord an Mrs. Nightingale geplant war oder ohne Vorsatz begangen
wurde.«
Dr. Crocker wischte die Zeichnung mit der Handkante
aus und ließ sich auf einem von Wexfords wackligen Stühlen nieder.
Das einzige stabile Sitzmöbel war Wexfords Bürostuhl, ein Thron aus
dunklem Holz und Leder, der breit genug war, um Wexfords
Leibesfülle aufzunehmen. Er quietschte, als Wexford sich
zurücklehnte und die Arme ausbreitete.
»Vorsätzlich«, erklärte der Arzt knapp. »Sonst wäre
sie nicht auf diese Weise und an diesem Ort umgebracht worden. So
ein Ding wie das, womit sie getötet wurde, nimmt man im allgemeinen
nicht auf längere Spaziergänge mit. Stimmt’s?«
»Du meinst, falls kein Vorsatz dahinterstand, käme
nur eine Todesursache wie beispielsweise Erwürgen in
Betracht?«
»Ja, so ungefähr. Bei einem vorsätzlichen Mord muß
man die Waffe nicht unbedingt mitbringen, wenn man weiß, daß ein
entsprechender Gegenstand zur Verfügung steht. Mal angenommen, A
beabsichtigt, B in Bs Salon zu töten, dann wird er keine Waffe
mitnehmen, weil er weiß, daß der Schürhaken dort steht, wo er immer
steht, beim Kamin. Aber im offenen Gelände gibt es kein
entsprechendes Werkzeug, deshalb bewaffnet er sich, ehe er
aufbricht. Euer Mann hat es genauso gemacht.«
»Muß es denn ein Mann sein?« fragte Wexford.
»Ein Mann oder eine kräftige Frau.«
»Der Meinung bin ich auch. Meines Erachtens war der
Mord geplant, aber das schließt eine Eifersuchtstat nicht aus. Der
Mörder ist ihr gefolgt und rechnete damit, das zu sehen, was er
dann auch wirklich zu Gesicht bekam. Die Waffe hat er mitgebracht,
eben weil er schon einen Verdacht hatte, den er nur noch bestätigt
sehen wollte. Was meinen Sie, Mike?«
»Ohne Vorsatz«, sagte Burden gelassen. »Unser
Mörder trug etwas bei sich, das zwar als Mordwaffe dienen konnte,
primär aber einen anderen Zweck erfüllte. So wie in dem Fall der
Frau, die gerade Brot aufschneidet. Ihr Mann sagt irgendwas zu ihr,
das sie um den Verstand bringt und blindwütig mit dem Brotmesser
auf ihn losgehen läßt. Dennoch war der ursprüngliche Grund, weshalb
sie das Messer eigentlich in der Hand hielt, das
Brotaufschneiden.«
»Ich für meinen Teil bin deshalb auch für
vorgeschnittenes Brot«, witzelte der Arzt.
Der einzige Hinweis, daß Wexford diese Bemerkung
gehört hatte, waren die sich noch tiefer auf seiner Stirn
einfurchenden Runzeln. »Wenn wir für den Augenblick mal bei Mikes
Theorie bleiben, was könnte der Mann - oder die kräftige Frau -
dann bei sich getragen haben? Was nimmt man im allgemeinen mit,
wenn man nachts in den Wald geht?«
»Einen Spazierstock«, sagte Burden wie aus der
Pistole geschossen. »Einen Stock mit einer Spitze aus
Metall.«
Crocker schüttelte den Kopf. »Viel zu dünn. Die
Waffe war überhaupt nichts in der Art. Höchstens ein
Eisstock, aber das ist ziemlich weit hergeholt. Ein
Golfschläger vielleicht?«
Wexford warf ihm einen spöttischen Blick zu.
»Wollte wohl ein paar Bahnen zwischen den Bäumen spielen? Womöglich
noch sein Handicap verbessern? Mein Gott, es ist doch nicht zu
glauben.«
»Jedenfalls schien der Mond«, sagte der Arzt.
»Zumindest, bis der Sturm aufkam. Ein metallener Schuhabsatz
vielleicht?«
»Weshalb ist dann kein Schmutz in der Wunde?«
»Du hast recht. Die Wunde war völlig sauber.«
Wexford zuckte mit den Achseln und versank in
brütendes Schweigen. Ebenso schweigsam zog Burden die Akten unter
Wexfords Hand hervor und vertiefte sich mit unbewegter Miene in die
Lektüre. Plötzlich ruckte Wexford auf dem knarrenden Drehstuhl
herum.
»Du hast doch gerade etwas gesagt, etwas über den
Mond.«
»So?«
In pedantisch dienstlichem Ton erklärte Burden:
»Dr. Crocker gab an, der Mond habe geschienen, bis der Sturm
aufgekommen sei.« In der Art eines Rechtsanwalts wandte er dem Arzt
sein klares Profil zu. Crocker zog die Augenbrauen hoch.
»Ah, ja. Ich erinnere mich noch daran, weil ich
wegen einer Entbindung in Flagford war. Der Mond schien hell, aber
um elf zogen sich die Wolken schon zusammen, und um halb zwölf war
der Mond nicht mehr zu sehen.«
Ein Grinsen, weniger humorvoll als vielmehr
triumphierend, breitete sich allmählich auf Wexfords Gesicht aus.
»Und was nimmt man in einer solchen Nacht folglich mit in den
Wald?«
»Einen Regenschirm«, sagte der Arzt; Burden aber,
dessen Steifheit einer Art Jagdfieber wich, antwortete: »Eine
Taschenlampe!«
»Eine Taschenlampe?« fragte Quentin Nightingale.
»Unsere stehen im Geräteraum.« Die Haut unter seinen Augen sah
braun und wie Kreppapier aus, vielleicht infolge der zweiten
schlaflos verbrachten Nacht. Seine Hände zitterten nervös, als er
sich an die Stirn faßte, an seiner Krawatte herumfummelte und sie
schließlich hinter dem Rücken versteckte. »Wenn Sie glauben...«,
murmelte er. »Falls Sie hoffen... Ihre Leute haben gestern das Haus
von oben bis unten durchsucht. Was kann da noch...?« Er schien
nicht fähig, seine Sätze zu beenden, sondern ließ sie in
verzweifeltem Ton ausklingen.
»Ich verfolge eine neue Spur«, sagte Wexford
energisch. »Wo ist dieser Geräteraum?«
»Ich führe Sie hin.«
Als sie wieder in die Diele traten, klingelte es an
der Vordertür. Quentin starrte auf die Tür, als erwarte ihn Nemesis
persönlich auf der anderen Seite, doch er machte keine Anstalten,
selbst zu öffnen, sondern nickte nur kraftlos Mrs. Cantrip zu, die
aus der Küche angetrottet kam.
»Wer kann das nun wieder sein?« fragte sie wütend.
»Sind Sie für Besucher zu Hause, Sir?« Seine Apathie rief nicht
Ungeduld bei ihr hervor, sondern weckte ihr Mitleid. »Ich hätte
gute Lust, denen mal ordentlich heimzuleuchten!«
»Sehen Sie lieber mal nach, wer da ist«, sagte
Quentin.
Es waren Georgina Villiers und Lionel Marriott. Die
große, knochige junge Frau, die sich mit unpassendem Modeschmuck
geschmacklos herausgeputzt hatte, und der kleine scharfsinnige Mann
gaben ein seltsames Paar ab. Auf Georginas Gesicht spiegelten sich
gemischte Gefühle wider, Hoffnung, Schüchternheit und unbändige
Neugier. In der Hand hielt sie eine Leinentasche mit Tragbügeln aus
Plastik, die eher zu einer Wanderin paßte als zu einer Frau, die
einen morgendlichen Höflichkeitsbesuch abstattet, und als sie über
die Schwelle trat, stieß sie einen zusammenhanglosen Schwall von
Entschuldigungen und Erklärungen hervor.
»Ich mußte einfach kommen und sehen, wie du es
aufnimmst, Quen. Das alles muß ja schrecklich für dich sein... Mein
Mittagessen hab ich mir mitgebracht, damit Mrs. Cantrip wegen mir
nicht extra kochen muß. Wie geht es dir? Du siehst gar nicht gut
aus. Aber das liegt natürlich an den Strapazen und allem. Ach je,
vielleicht hätte ich besser nicht kommen sollen.«
Quentins Miene war versteinert, um sich nichts von
seiner Unruhe anmerken zu lassen, und machte deutlich, daß er einer
Meinung mit ihr war, aus Höflichkeitsgründen dies aber nicht
aussprechen konnte. “Nein, nein. Nett von dir, daß du dir die Mühe
gemacht hast. Möchtet ihr nicht ins Damenzimmer kommen?« Er
schluckte merklich und wandte sich an Wexford. »Vielleicht kann Sie
Mrs. Cantrip zu dem Raum führen, in dem die Taschenlampen
aufbewahrt werden?« Die Hand, die er ausstreckte und auf die
Schulter seiner Schwägerin legen wollte, um sie in das richtige
Zimmer zu bugsieren, zitterte nun so heftig, daß es schon peinlich
wirkte. Unter Georginas gemurmelten Entschuldigungen steuerten sie
langsam das Zimmer an, in dem Elizabeth Nightingale die Vormittage
verbracht hatte.
»Einen Augenblick«, sagte Wexford und streckte den
Arm aus, um Marriott davon abzuhalten, ihnen nachzugehen. Die Tür
zum Damenzimmer schloß sich. »Was, zum Teufel, hast eigentlich du
hier verloren?« fragte der Chief Inspector zornig. “Ich dachte, du
müßtest in der Schule sein?«
»Ich hatte eine Freistunde, mein Bester, und wie
hätte ich die besser nutzen können, als auf einen Sprung hierher zu
flitzen und den armen Quen zu trösten?«
»Vielleicht kannst du mir mal erklären, wie jemand
ohne Auto in vierzig Minuten von Kingsmarkham nach Myfleet und
wieder zurück ‘flitzt’, wie du das ausdrückst?«
»Georgina hat mich im Auto mitgenommen«, antwortete
Marriott, ohne sich dabei ein triumphierendes Grinsen verkneifen zu
können. »Ich stand gerade am Schultor und war in Gedanken vertieft,
die sich vornehmlich darauf richteten, wie um alles in der Welt ich
das ohne Auto schaffen sollte, weil der Bus nach Myfleet mir doch
praktisch vor der Nase weggefahren war, als plötzlich sie daherkam
und auch zum Herrenhaus wollte. So ein glücklicher Zufall! Im Wagen
haben wir nett miteinander geplaudert und uns überlegt, was wir
Aufmunterndes zu Quen sagen wollen.«
»Dann geht jetzt lieber rein und sagt es.« Wexford
schubste den kleinen Mann sanft auf die Tür zu. »Sagt es und geht
wieder. Ich will dieses Haus noch einmal gründlich durchsuchen
lassen und möchte nicht, daß meinen Leuten dabei scharenweise
fröhliche Schnüffler in die Quere kommen. Aber vergiß nicht«, fügte
er hinzu, »daß wir um sechzehn Uhr eine Verabredung haben.« Er
seufzte und schüttelte den Kopf. »So, Mrs. Cantrip, jetzt gehen wir
zum Geräteraum.«
»Bitte hier den Gang entlang, Sir, und geben Sie
auf die Stufe acht. Sie werden bestimmt sagen, Lauschen gehöre sich
nicht, aber es ließ sich nicht vermeiden, daß ich Ihr Gespräch mit
Mr. Marriott gehört habe. Das mußte ihm mal gesagt werden, hab ich
mir gedacht, wo er doch hier immer herumschnüffelt. Und was diese
Mrs. Villiers angeht... Haben Sie auch gehört, daß sie ihr eigenes
Mittagessen mitgebracht hat? Bestimmt bloß ein paar kümmerliche
belegte Brote. Als ob sie von mir kein schönes Mittagessen bekommen
würde. Sie hätte nur wie eine Dame darum bitten müssen.«
»Ist das der Raum, Mrs. Cantrip? Es ist so dunkel
hier unten.«
»Das müssen Sie mir nicht sagen, Sir. Ich liege Mr.
Nightingale schon dauernd in den Ohren, hier unten eine Lampe
anbringen zu lassen. Vor fünf oder sechs Jahren ist hier ein
schlimmes Unglück passiert, als dieser Twohey über die Stufe
stolperte und dachte, er hätte sich das Bein gebrochen, aber es war
dann bloß ein verstauchter Knöchel. Das kam aber nur, weil er sich
ein bißchen zu ungeniert aus Mr. Nightingales Whiskyflasche bedient
hatte, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Wer ist Twohey?« fragte Wexford und trat beiseite,
um Mrs. Cantrip die Tür öffnen zu lassen. »Ein Freund der
Familie?«
»O nein, Sir, bloß ein Hausangestellter. Er und
seine Frau arbeiteten hier früher, falls man das arbeiten nennen
kann. Sie haben mir das Leben nicht gerade leichter gemacht, das
können Sie mir glauben. Es war wie eine Erlösung für mich, als Mr.
Nightingale sie an die Luft setzte. Das ist der Geräteraum, Sir,
und hier gibt’s erfreulicherweise auch ein bißchen mehr
Licht.«
Das Licht fiel durch eine Glastür, die in den
Garten führte. Mit teilnahmsloser Miene ließ Wexford den Blick über
den kleinen Raum ohne Teppich schweifen. Die Wände waren getüncht,
an einer davon hingen zwei Schrotflinten, während Golfschläger und
Spazierstöcke in einem langen Regal darunter lagen. Zwei
Tennisschläger in Spannern, ein Netz mit Tennisbällen, ein Spankorb
und eine Schere zum Blumenschneiden lagen ebenfalls auf dem Regal.
Sein Blick fiel auf ein Brett über dem Regal, auf dem eine Reihe
Taschenlampen standen: eine Leuchte mit einem roten Aufsatz an der
Spitze, wie sie von Autofahrern zur Absicherung einer Pannenstelle
benutzt wird, eine größere Sturmlaterne, eine Stablampe und eine
Fahrradlampe.
»Komisch«, sagte Mrs. Cantrip. »Da müßte noch eine
stehen, eine grobe silberfarbene.« Mit einemmal war sie ziemlich
blaß. »Eine Taschenlampe mit großem Lampenkopf und so einem langen
Gehäuse zum Halten. Ich schätze, sie ist ungefähr zwanzig
Zentimeter lang.«
»Sie müßte also dort oben bei den anderen stehen?«
Mrs. Cantrip nickte und biß sich auf die Unterlippe. »Wann haben
Sie sie dort zuletzt gesehen?«
»Oh, das muß schon zwei oder drei Wochen her sein.
In so einem Raum wird ja eigentlich nicht geputzt, wenn Sie
verstehen, was ich meine, Sir. Abgestaubt oder gewischt wird hier
nicht. Hin und wieder kehrt unser Sean mal durch.«
»So?« Wexford zog eine kleine Trittleiter unter dem
Regal hervor, stieg hinauf und sah sich die Stellfläche des Bretts
genau an. Auf dem nicht eingelassenen Holz lag eine ziemlich dicke
Staubschicht. Vorn zwischen der Fahrradlampe und der Sturmlaterne
war ein staubfreier Kreis von ungefähr zehn Zentimetern
Durchmesser.
Er leckte sich über den Finger und legte ihn leicht
auf den Mittelpunkt des sauberen Kreises. Mit Blick auf seine
Fingerspitze sagte er: »Diese Taschenlampe ist gestern oder
vorgestern hier weggenommen worden.« Er wischte den Finger an
seinem Taschentuch ab, wobei er darauf achtete, daß keine Flecken
im Stoff blieben. Sein vager Verdacht hatte sich als begründet
erwiesen.
Das Haus war enorm groß, überlegte er sich, als er
aus dem Gang trat und wieder in der Diele stand, ein großes
Landhaus voller Schränke und Verstecke. Seine Leute hatten die
Anweisung erhalten, nach einem Tatwerkzeug zu suchen, doch nach was
genau sie suchen sollten, hatte man ihnen nicht gesagt. Angenommen,
sie hatten die fehlende Taschenlampe in Nightingales Schlafzimmer
gesehen, wo sie vielleicht ein Stück weit aus der Tasche eines
Regenmantels hervorsah, wäre dann einer so intelligent und besonnen
gewesen, es zu bemerken, zwei und zwei zusammenzuzählen und seine
Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen? Wexford zweifelte daran.
Sie würden sich das Haus noch einmal vornehmen müssen, diesmal mit
einem konkreten fehlenden Gegenstand im Auge.
Er klopfte an die Tür des Damenzimmers und öffnete
sie dann. Das Zimmer war leer. Nur eine Zigarettenkippe, die in
einem blauen Keramikaschenbecher noch glimmte, wies daraufhin, daß
Marriott hier gewesen und Wexfords Anweisung gemäß gegangen
war.
Wexford gab sich freie Hand bei der Erkundung des
Hauses, schaute in den Salon und das Eßzimmer und fand beide
verlassen. Er stieg die Treppe hinauf bis zum ersten Absatz,
zertrat ein paar abgefallene Rosenblätter unter seinen Füßen und
spähte zwischen den karmesinroten Samtvorhängen nach draußen. Auf
dem Rasen stand Georgina Villiers, kaute belegte Brote und sprach
mit Will Palmer. Von Quentin Nightingale keine Spur. Wexford ging
wieder nach unten, trat in das leere Arbeitszimmer und rief Burden
an, den er bat, mit Loring, Bryant, Gates und allen, die er
auftreiben konnte, zum Herrenhaus zu kommen. Er legte den Hörer auf
die Gabel und horchte in die Stille.
Anfangs wirkte die Stille vollkommen. Dann drang
von weit über ihm schwach und leise schrille Radiomusik an sein
Ohr, vielleicht aus Nellekes Zimmer, und aus der Küche, wo Mrs.
Cantrip das Mittagessen zubereitete, das gedämpfte Klirren von
Tellern. Schließlich hörte er Schritte; woher sie kamen, konnte er
nicht feststellen, aber sie kündigten Quentin Nightingales
Erscheinen an.
»Im Geräteraum fehlt eine Taschenlampe«, sagte
Wexford in gelassenem, ruhigem Ton. »Eine große Taschenlampe, sieht
ungefähr so aus.« Mit beiden Händen zeichnete er in der Luft die
Umrisse nach. »Haben Sie die in letzter Zeit irgendwo
gesehen?«
»Am Sonntag war sie noch da. Ich ging in den
Geräteraum, um meine Golfschläger zu holen, und dabei ist sie mir
aufgefallen.«
»Jetzt ist sie jedenfalls nicht mehr da. Mit dieser
Taschenlampe wurde Ihre Frau getötet, Mr. Nightingale.«
Quentin lehnte sich an ein Bücherregal und stützte
den Kopf in die Hände. »Ich glaube wirklich nicht«, flüstere er,
»daß ich noch mehr ertragen kann. Gestern war der schrecklichste
Tag meines Lebens.«
»Das kann ich verstehen. Leider kann ich Ihnen
nicht versprechen, daß der heutige oder morgige Tag besser
wird.«
Aber Quentin schien ihn nicht gehört zu haben. »Ich
glaube, ich werde wahnsinnig«, sagte er. »Ich muß wahnsinnig
gewesen sein, das getan zu haben. Ich würde alles darum geben, wenn
es noch einmal Dienstag abend wäre und ich neu anfangen
dürfte.«
»Soll das heißen, Sie wollen ein Geständnis
ablegen?« fragte Wexford streng und stand auf.
»Nicht so ein Geständnis«, rief Quentin mit
erstickter Stimme. »Es handelt sich um etwas Privates, etwas...« Er
ballte die Hände zu Fäusten und warf den Kopf in den Nacken.
»Zeigen Sie mir«, sagte er heiser, »zeigen Sie mir, wo Ihrer
Meinung nach die Taschenlampe stehen müßte. Vielleicht kann ich...
Zeigen Sie es mir einfach.«
“Na schön. Ich zeige es Ihnen, aber dann werden wir
uns noch einmal ein bißchen unterhalten. Lassen Sie mich zuerst
jedoch eines klarstellen. Niemand, der in einen Mordfall verwickelt
ist, hat noch irgendein Privatleben. Bitte vergessen Sie das
nicht.«
Quentin Nightingale gab keine Antwort, sondern zog
die Schultern hoch und fuhr sich mit zitternder Hand an die Stirn.
Wexford grübelte darüber nach, woher jene heftige Angst wohl
rührte, die aus seinem Gegenüber ein Nervenbündel machte. Hatte er
seine Frau getötet? Oder war diese Qual die Folge irgendeiner
anderen Handlung, einer notwendigerweise läßlicheren Sünde, die
dennoch nicht minder quälende Schuldgefühle hervorrief?
Mit Wexford an der Spitze gingen sie den düsteren
Gang entlang. Vor ihnen wies ein senkrechter Lichtschlitz
daraufhin, daß die Tür des Geräteraums einen Spalt weit
offenstand.
»Ich habe die Tür geschlossen«, erklärte Wexford
bestimmt und stieß sie auf. Auf dem hohen Brett, wo vor einer
halben Stunde nur ein sauberer kreisrunder Fleck in dem Staub
gewesen war, stand eine große, hochkant gestellte, verchromte
Stablampe.