7
Die Kinder der Burdens gingen wieder in die Schule, und aus dem Badezimmer des Bungalows drangen Würgegeräusche. Am ersten Schultag mußte sich Pat immer erbrechen. Ihre Eltern standen in der Küche und hörten diese Geräusche mit dem hilflosen Elend derjenigen, denen allmählich klar wird, daß ihre Kinder nicht nur Kinder, sondern auch Menschen sind und es einen Punkt gibt, an dem sie ihnen nicht mehr weiterhelfen können. Dieses Kind würde sich an jedem ersten Schultag übergeben, vor jedem Einstellungsgespräch und wahrscheinlich auch am Morgen seiner Hochzeit.
»Ach, Mike«, sagte Jean Burden,« sollen wir Dr. Crokker kommen lassen? Manchmal spiele ich sogar mit dem Gedanken, sie zu einem Psychiater zu schicken.«
»Obwohl du genau weißt, daß sie quietschfidel sein wird, sobald sie einen Fuß über die Schwelle des Klassenzimmers setzt? Wir wollen doch aus einer Mücke keinen Elefanten machen, Liebes.«
»Ich wollte nur, ich könnte ihr helfen. Wir hatten es nie mit den Nerven. Ich hätte nie gedacht, mein Kind könnte ein Nervenbündel werden.«
»Ich hab’s nicht mit den Nerven«, sagte John, als er mit dem Schulranzen und morgendlich strahlender Miene in die Küche kam. »Falls ich je Kinder habe und sie so ein Affentheater wie Pat aufführen, kriegen sie von mir eine ordentliche Tracht Prügel.«
Burden sah seinen Sohn angewidert an. Obwohl sie nur zwei Jahre auseinander waren und unter der Obhut liebevoller und glücklich verheirateter Eltern in einem intakten Umfeld der Mittelklasse aufwuchsen, hatten sich seine Kinder nie vertragen. Ihre anfänglichen Streitereien, als John noch ein Knirps war und Pat ihn nur aus dem Kinderwagen heraus anschreien konnte, waren über handgreifliche Auseinandersetzungen zu dem gegenwärtigen Zustand ständiger Frotzeleien eskaliert.
In strengem Ton sagte er: »Du sollst aufhören, so von deiner Schwester zu sprechen. Ich habe es satt, dir das dauernd sagen zu müssen. Mal angenommen«, begann er, da ihn der Fall, den er momentan bearbeitete, auf eine Idee gebracht hatte, »mal angenommen, du und Pat würdet heute getrennt werden und euch nicht mehr sehen, bis ihr erwachsen seid, wie würdest du dann wohl darüber denken? Du würdest sehr bedauern, daß du so gemein zu ihr warst. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du sie vermissen würdest.«
»Ich würde sie nicht vermissen«, erwiderte John. »Ich wünschte, ich wäre ein Einzelkind.«
»Diese Abneigung ist mir ein Rätsel«, sagte Burden ratlos. »Sie ist unnatürlich.« Er streckte die Hand aus, als seine Tochter unter dem schützenden Arm der Mutter mit bleichem Gesicht und hängendem Kopf hereinkam. »Ich fahre dich zur Schule, Schätzchen. Ich bringe dich bis vor die Tür.«
“Mich fährst du nie zur Schule«, beschwerte sich John. »Dabei hab ich’s tierisch weit, fast zwei Kilometer zu Fuß.«
»»Tierisch sagt man nicht«, wies ihn Burden automatisch zurecht. »Ich fahre euch beide, aber fangt um Himmels willen im Auto nicht zu streiten an.«
Im Pausenhof der King’s-Schule wimmelte es von Jungen. Burden fuhr ruckweise in die Einfahrt und jagte die lauthals johlenden und grölenden Kleinsten, Johns Altersgenossen, vor dem Auto auseinander. Die Schüler der Abschlußklasse, die sich in losen Grüppchen lässig an der Mauer postierten und die verhaßten Mützen ihrer Schuluniformen zusammengeknüllt in den Taschen trugen, starrten ihn mit hochmütiger Unverschämtheit an. Ehe der Wagen noch ganz zum Stillstand kam, sprang John heraus und wurde augenblicklich von der johlenden Menge verschluckt.
»Siehst du, John ist keine Spur von ängstlich«, ermutigte Burden seine Tochter. »Du weißt doch, daß euch beiden zu Hause inzwischen stinklangweilig war, deshalb ist er froh, wieder bei seinen Freunden zu sein.«
»Ich hasse ihn«, sagte Pat.
»So darfst du nicht von deinem Bruder sprechen.« Burden fuhr vorsichtig rückwärts, und gerade als er innerhalb des Schulhofs wendete, sah er sich Denys Villiers Auge in Auge gegenüber. Er nickte verbindlich und hob leicht die Hand. Villiers sah durch ihn hindurch, steckte die Hände in die Hosentaschen und steuerte den neuen Flügel an.
»Halt bitte an, Vati«, sagte Pat, kaum daß sie auf offener Straße waren. “Ich muß mich wieder übergeben.«
 
Nachdem er seine Kinder sicher abgeliefert hatte, quälte sich Burden durch das morgendliche Verkehrsgewühl zum Polizeirevier. Die Begegnung mit Villiers hatte ihn überrascht, denn seiner Meinung nach hätte der Lehrer zumindest diese Woche von der Arbeit fernbleiben müssen, wenn schon nicht vor Trauer, so doch aus Taktgefühl. Ein seltsamer Mann, dieser Villiers, ein Mann, dem es anscheinend völlig egal war, was die Leute dachten. Sein Verhalten Burden gegenüber, den er einfach ignoriert hatte, obwohl der Polizist am Tag zuvor in seinem Haus gewesen und zudem noch der Vater eines Schülers der King’s-Schule war, konnte Burden nur als empörend bezeichnen.
Da er zwanzig Minuten Verspätung hatte und dies auch wußte, stürzte er in den Aufzug und kam außer Atem in Wexfords Büro an. Der Chief Inspector saß in einem unsäglichen Anzug, der noch weit schäbiger als sonst wirkte, an seinem Schreibtisch aus Rosenholz und blätterte Aktenstapel durch. Hinter ihm am Fenster stand der Arzt, hauchte das Glas an und zeichnete mit dem Finger ein Gebilde, das beunruhigende Ähnlichkeit mit einem Verdauungstrakt aufwies. Burdens Bedarf an Verdauungstrakten war für diesen Morgen gedeckt.
»Ich bin spät dran, tut mir leid«, sagte er. »Meiner Tochter wird am ersten Schultag immer übel, deshalb habe ich gewartet und Pat zur Schule gefahren.« Er nickte dem Arzt zu. »Jean wollte dich schon kommen lassen.«
»Du wirst einen vielbeschäftigten Mann doch damit nicht belästigen?« fragte Crocker und grinste faul. »So etwas legt sich mit der Zeit, glaube mir. Das gehört alles zur Misere des Menschseins, die deinen Kindern nicht erspart bleiben wird, so hart das auch sein mag.«
Wexford sah auf und blickte sie finster an. »Verschone uns bitte mit Philosophie. Ich habe hier einige Laborberichte vor mir liegen, Mike. Die Asche des Unkrautfeuers beim Herrenhaus weist klar darauf hin, daß dort Wollstoff verbrannt wurde. Eine Waffe ist noch nicht aufgetaucht, obwohl unsere Leute den Wald gestern, bis es dunkel wurde, durchsucht haben und im Moment noch dabei sind.«
»Sie könnte überall sein«, sagte Burden ratlos. »Im Fluß, vielleicht liegt sie auch in irgendeinem Garten. Wir wissen nicht mal, wie sie aussieht.«
»Nein, aber darüber werden wir jetzt mal scharf nachdenken. Als erstes müssen wir uns darüber klarwerden, ob der Mord an Mrs. Nightingale geplant war oder ohne Vorsatz begangen wurde.«
Dr. Crocker wischte die Zeichnung mit der Handkante aus und ließ sich auf einem von Wexfords wackligen Stühlen nieder. Das einzige stabile Sitzmöbel war Wexfords Bürostuhl, ein Thron aus dunklem Holz und Leder, der breit genug war, um Wexfords Leibesfülle aufzunehmen. Er quietschte, als Wexford sich zurücklehnte und die Arme ausbreitete.
»Vorsätzlich«, erklärte der Arzt knapp. »Sonst wäre sie nicht auf diese Weise und an diesem Ort umgebracht worden. So ein Ding wie das, womit sie getötet wurde, nimmt man im allgemeinen nicht auf längere Spaziergänge mit. Stimmt’s?«
»Du meinst, falls kein Vorsatz dahinterstand, käme nur eine Todesursache wie beispielsweise Erwürgen in Betracht?«
»Ja, so ungefähr. Bei einem vorsätzlichen Mord muß man die Waffe nicht unbedingt mitbringen, wenn man weiß, daß ein entsprechender Gegenstand zur Verfügung steht. Mal angenommen, A beabsichtigt, B in Bs Salon zu töten, dann wird er keine Waffe mitnehmen, weil er weiß, daß der Schürhaken dort steht, wo er immer steht, beim Kamin. Aber im offenen Gelände gibt es kein entsprechendes Werkzeug, deshalb bewaffnet er sich, ehe er aufbricht. Euer Mann hat es genauso gemacht.«
»Muß es denn ein Mann sein?« fragte Wexford.
»Ein Mann oder eine kräftige Frau.«
»Der Meinung bin ich auch. Meines Erachtens war der Mord geplant, aber das schließt eine Eifersuchtstat nicht aus. Der Mörder ist ihr gefolgt und rechnete damit, das zu sehen, was er dann auch wirklich zu Gesicht bekam. Die Waffe hat er mitgebracht, eben weil er schon einen Verdacht hatte, den er nur noch bestätigt sehen wollte. Was meinen Sie, Mike?«
»Ohne Vorsatz«, sagte Burden gelassen. »Unser Mörder trug etwas bei sich, das zwar als Mordwaffe dienen konnte, primär aber einen anderen Zweck erfüllte. So wie in dem Fall der Frau, die gerade Brot aufschneidet. Ihr Mann sagt irgendwas zu ihr, das sie um den Verstand bringt und blindwütig mit dem Brotmesser auf ihn losgehen läßt. Dennoch war der ursprüngliche Grund, weshalb sie das Messer eigentlich in der Hand hielt, das Brotaufschneiden.«
»Ich für meinen Teil bin deshalb auch für vorgeschnittenes Brot«, witzelte der Arzt.
Der einzige Hinweis, daß Wexford diese Bemerkung gehört hatte, waren die sich noch tiefer auf seiner Stirn einfurchenden Runzeln. »Wenn wir für den Augenblick mal bei Mikes Theorie bleiben, was könnte der Mann - oder die kräftige Frau - dann bei sich getragen haben? Was nimmt man im allgemeinen mit, wenn man nachts in den Wald geht?«
»Einen Spazierstock«, sagte Burden wie aus der Pistole geschossen. »Einen Stock mit einer Spitze aus Metall.«
Crocker schüttelte den Kopf. »Viel zu dünn. Die Waffe war überhaupt nichts in der Art. Höchstens ein Eisstock, aber das ist ziemlich weit hergeholt. Ein Golfschläger vielleicht?«
Wexford warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Wollte wohl ein paar Bahnen zwischen den Bäumen spielen? Womöglich noch sein Handicap verbessern? Mein Gott, es ist doch nicht zu glauben.«
»Jedenfalls schien der Mond«, sagte der Arzt. »Zumindest, bis der Sturm aufkam. Ein metallener Schuhabsatz vielleicht?«
»Weshalb ist dann kein Schmutz in der Wunde?«
»Du hast recht. Die Wunde war völlig sauber.«
Wexford zuckte mit den Achseln und versank in brütendes Schweigen. Ebenso schweigsam zog Burden die Akten unter Wexfords Hand hervor und vertiefte sich mit unbewegter Miene in die Lektüre. Plötzlich ruckte Wexford auf dem knarrenden Drehstuhl herum.
»Du hast doch gerade etwas gesagt, etwas über den Mond.«
»So?«
In pedantisch dienstlichem Ton erklärte Burden: »Dr. Crocker gab an, der Mond habe geschienen, bis der Sturm aufgekommen sei.« In der Art eines Rechtsanwalts wandte er dem Arzt sein klares Profil zu. Crocker zog die Augenbrauen hoch.
»Ah, ja. Ich erinnere mich noch daran, weil ich wegen einer Entbindung in Flagford war. Der Mond schien hell, aber um elf zogen sich die Wolken schon zusammen, und um halb zwölf war der Mond nicht mehr zu sehen.«
Ein Grinsen, weniger humorvoll als vielmehr triumphierend, breitete sich allmählich auf Wexfords Gesicht aus. »Und was nimmt man in einer solchen Nacht folglich mit in den Wald?«
»Einen Regenschirm«, sagte der Arzt; Burden aber, dessen Steifheit einer Art Jagdfieber wich, antwortete: »Eine Taschenlampe!«
 
»Eine Taschenlampe?« fragte Quentin Nightingale. »Unsere stehen im Geräteraum.« Die Haut unter seinen Augen sah braun und wie Kreppapier aus, vielleicht infolge der zweiten schlaflos verbrachten Nacht. Seine Hände zitterten nervös, als er sich an die Stirn faßte, an seiner Krawatte herumfummelte und sie schließlich hinter dem Rücken versteckte. »Wenn Sie glauben...«, murmelte er. »Falls Sie hoffen... Ihre Leute haben gestern das Haus von oben bis unten durchsucht. Was kann da noch...?« Er schien nicht fähig, seine Sätze zu beenden, sondern ließ sie in verzweifeltem Ton ausklingen.
»Ich verfolge eine neue Spur«, sagte Wexford energisch. »Wo ist dieser Geräteraum?«
»Ich führe Sie hin.«
Als sie wieder in die Diele traten, klingelte es an der Vordertür. Quentin starrte auf die Tür, als erwarte ihn Nemesis persönlich auf der anderen Seite, doch er machte keine Anstalten, selbst zu öffnen, sondern nickte nur kraftlos Mrs. Cantrip zu, die aus der Küche angetrottet kam.
»Wer kann das nun wieder sein?« fragte sie wütend. »Sind Sie für Besucher zu Hause, Sir?« Seine Apathie rief nicht Ungeduld bei ihr hervor, sondern weckte ihr Mitleid. »Ich hätte gute Lust, denen mal ordentlich heimzuleuchten!«
»Sehen Sie lieber mal nach, wer da ist«, sagte Quentin.
Es waren Georgina Villiers und Lionel Marriott. Die große, knochige junge Frau, die sich mit unpassendem Modeschmuck geschmacklos herausgeputzt hatte, und der kleine scharfsinnige Mann gaben ein seltsames Paar ab. Auf Georginas Gesicht spiegelten sich gemischte Gefühle wider, Hoffnung, Schüchternheit und unbändige Neugier. In der Hand hielt sie eine Leinentasche mit Tragbügeln aus Plastik, die eher zu einer Wanderin paßte als zu einer Frau, die einen morgendlichen Höflichkeitsbesuch abstattet, und als sie über die Schwelle trat, stieß sie einen zusammenhanglosen Schwall von Entschuldigungen und Erklärungen hervor.
»Ich mußte einfach kommen und sehen, wie du es aufnimmst, Quen. Das alles muß ja schrecklich für dich sein... Mein Mittagessen hab ich mir mitgebracht, damit Mrs. Cantrip wegen mir nicht extra kochen muß. Wie geht es dir? Du siehst gar nicht gut aus. Aber das liegt natürlich an den Strapazen und allem. Ach je, vielleicht hätte ich besser nicht kommen sollen.«
Quentins Miene war versteinert, um sich nichts von seiner Unruhe anmerken zu lassen, und machte deutlich, daß er einer Meinung mit ihr war, aus Höflichkeitsgründen dies aber nicht aussprechen konnte. “Nein, nein. Nett von dir, daß du dir die Mühe gemacht hast. Möchtet ihr nicht ins Damenzimmer kommen?« Er schluckte merklich und wandte sich an Wexford. »Vielleicht kann Sie Mrs. Cantrip zu dem Raum führen, in dem die Taschenlampen aufbewahrt werden?« Die Hand, die er ausstreckte und auf die Schulter seiner Schwägerin legen wollte, um sie in das richtige Zimmer zu bugsieren, zitterte nun so heftig, daß es schon peinlich wirkte. Unter Georginas gemurmelten Entschuldigungen steuerten sie langsam das Zimmer an, in dem Elizabeth Nightingale die Vormittage verbracht hatte.
»Einen Augenblick«, sagte Wexford und streckte den Arm aus, um Marriott davon abzuhalten, ihnen nachzugehen. Die Tür zum Damenzimmer schloß sich. »Was, zum Teufel, hast eigentlich du hier verloren?« fragte der Chief Inspector zornig. “Ich dachte, du müßtest in der Schule sein?«
»Ich hatte eine Freistunde, mein Bester, und wie hätte ich die besser nutzen können, als auf einen Sprung hierher zu flitzen und den armen Quen zu trösten?«
»Vielleicht kannst du mir mal erklären, wie jemand ohne Auto in vierzig Minuten von Kingsmarkham nach Myfleet und wieder zurück ‘flitzt’, wie du das ausdrückst?«
»Georgina hat mich im Auto mitgenommen«, antwortete Marriott, ohne sich dabei ein triumphierendes Grinsen verkneifen zu können. »Ich stand gerade am Schultor und war in Gedanken vertieft, die sich vornehmlich darauf richteten, wie um alles in der Welt ich das ohne Auto schaffen sollte, weil der Bus nach Myfleet mir doch praktisch vor der Nase weggefahren war, als plötzlich sie daherkam und auch zum Herrenhaus wollte. So ein glücklicher Zufall! Im Wagen haben wir nett miteinander geplaudert und uns überlegt, was wir Aufmunterndes zu Quen sagen wollen.«
»Dann geht jetzt lieber rein und sagt es.« Wexford schubste den kleinen Mann sanft auf die Tür zu. »Sagt es und geht wieder. Ich will dieses Haus noch einmal gründlich durchsuchen lassen und möchte nicht, daß meinen Leuten dabei scharenweise fröhliche Schnüffler in die Quere kommen. Aber vergiß nicht«, fügte er hinzu, »daß wir um sechzehn Uhr eine Verabredung haben.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »So, Mrs. Cantrip, jetzt gehen wir zum Geräteraum.«
»Bitte hier den Gang entlang, Sir, und geben Sie auf die Stufe acht. Sie werden bestimmt sagen, Lauschen gehöre sich nicht, aber es ließ sich nicht vermeiden, daß ich Ihr Gespräch mit Mr. Marriott gehört habe. Das mußte ihm mal gesagt werden, hab ich mir gedacht, wo er doch hier immer herumschnüffelt. Und was diese Mrs. Villiers angeht... Haben Sie auch gehört, daß sie ihr eigenes Mittagessen mitgebracht hat? Bestimmt bloß ein paar kümmerliche belegte Brote. Als ob sie von mir kein schönes Mittagessen bekommen würde. Sie hätte nur wie eine Dame darum bitten müssen.«
»Ist das der Raum, Mrs. Cantrip? Es ist so dunkel hier unten.«
»Das müssen Sie mir nicht sagen, Sir. Ich liege Mr. Nightingale schon dauernd in den Ohren, hier unten eine Lampe anbringen zu lassen. Vor fünf oder sechs Jahren ist hier ein schlimmes Unglück passiert, als dieser Twohey über die Stufe stolperte und dachte, er hätte sich das Bein gebrochen, aber es war dann bloß ein verstauchter Knöchel. Das kam aber nur, weil er sich ein bißchen zu ungeniert aus Mr. Nightingales Whiskyflasche bedient hatte, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Wer ist Twohey?« fragte Wexford und trat beiseite, um Mrs. Cantrip die Tür öffnen zu lassen. »Ein Freund der Familie?«
»O nein, Sir, bloß ein Hausangestellter. Er und seine Frau arbeiteten hier früher, falls man das arbeiten nennen kann. Sie haben mir das Leben nicht gerade leichter gemacht, das können Sie mir glauben. Es war wie eine Erlösung für mich, als Mr. Nightingale sie an die Luft setzte. Das ist der Geräteraum, Sir, und hier gibt’s erfreulicherweise auch ein bißchen mehr Licht.«
Das Licht fiel durch eine Glastür, die in den Garten führte. Mit teilnahmsloser Miene ließ Wexford den Blick über den kleinen Raum ohne Teppich schweifen. Die Wände waren getüncht, an einer davon hingen zwei Schrotflinten, während Golfschläger und Spazierstöcke in einem langen Regal darunter lagen. Zwei Tennisschläger in Spannern, ein Netz mit Tennisbällen, ein Spankorb und eine Schere zum Blumenschneiden lagen ebenfalls auf dem Regal. Sein Blick fiel auf ein Brett über dem Regal, auf dem eine Reihe Taschenlampen standen: eine Leuchte mit einem roten Aufsatz an der Spitze, wie sie von Autofahrern zur Absicherung einer Pannenstelle benutzt wird, eine größere Sturmlaterne, eine Stablampe und eine Fahrradlampe.
»Komisch«, sagte Mrs. Cantrip. »Da müßte noch eine stehen, eine grobe silberfarbene.« Mit einemmal war sie ziemlich blaß. »Eine Taschenlampe mit großem Lampenkopf und so einem langen Gehäuse zum Halten. Ich schätze, sie ist ungefähr zwanzig Zentimeter lang.«
»Sie müßte also dort oben bei den anderen stehen?« Mrs. Cantrip nickte und biß sich auf die Unterlippe. »Wann haben Sie sie dort zuletzt gesehen?«
»Oh, das muß schon zwei oder drei Wochen her sein. In so einem Raum wird ja eigentlich nicht geputzt, wenn Sie verstehen, was ich meine, Sir. Abgestaubt oder gewischt wird hier nicht. Hin und wieder kehrt unser Sean mal durch.«
»So?« Wexford zog eine kleine Trittleiter unter dem Regal hervor, stieg hinauf und sah sich die Stellfläche des Bretts genau an. Auf dem nicht eingelassenen Holz lag eine ziemlich dicke Staubschicht. Vorn zwischen der Fahrradlampe und der Sturmlaterne war ein staubfreier Kreis von ungefähr zehn Zentimetern Durchmesser.
Er leckte sich über den Finger und legte ihn leicht auf den Mittelpunkt des sauberen Kreises. Mit Blick auf seine Fingerspitze sagte er: »Diese Taschenlampe ist gestern oder vorgestern hier weggenommen worden.« Er wischte den Finger an seinem Taschentuch ab, wobei er darauf achtete, daß keine Flecken im Stoff blieben. Sein vager Verdacht hatte sich als begründet erwiesen.
Das Haus war enorm groß, überlegte er sich, als er aus dem Gang trat und wieder in der Diele stand, ein großes Landhaus voller Schränke und Verstecke. Seine Leute hatten die Anweisung erhalten, nach einem Tatwerkzeug zu suchen, doch nach was genau sie suchen sollten, hatte man ihnen nicht gesagt. Angenommen, sie hatten die fehlende Taschenlampe in Nightingales Schlafzimmer gesehen, wo sie vielleicht ein Stück weit aus der Tasche eines Regenmantels hervorsah, wäre dann einer so intelligent und besonnen gewesen, es zu bemerken, zwei und zwei zusammenzuzählen und seine Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen? Wexford zweifelte daran. Sie würden sich das Haus noch einmal vornehmen müssen, diesmal mit einem konkreten fehlenden Gegenstand im Auge.
Er klopfte an die Tür des Damenzimmers und öffnete sie dann. Das Zimmer war leer. Nur eine Zigarettenkippe, die in einem blauen Keramikaschenbecher noch glimmte, wies daraufhin, daß Marriott hier gewesen und Wexfords Anweisung gemäß gegangen war.
Wexford gab sich freie Hand bei der Erkundung des Hauses, schaute in den Salon und das Eßzimmer und fand beide verlassen. Er stieg die Treppe hinauf bis zum ersten Absatz, zertrat ein paar abgefallene Rosenblätter unter seinen Füßen und spähte zwischen den karmesinroten Samtvorhängen nach draußen. Auf dem Rasen stand Georgina Villiers, kaute belegte Brote und sprach mit Will Palmer. Von Quentin Nightingale keine Spur. Wexford ging wieder nach unten, trat in das leere Arbeitszimmer und rief Burden an, den er bat, mit Loring, Bryant, Gates und allen, die er auftreiben konnte, zum Herrenhaus zu kommen. Er legte den Hörer auf die Gabel und horchte in die Stille.
Anfangs wirkte die Stille vollkommen. Dann drang von weit über ihm schwach und leise schrille Radiomusik an sein Ohr, vielleicht aus Nellekes Zimmer, und aus der Küche, wo Mrs. Cantrip das Mittagessen zubereitete, das gedämpfte Klirren von Tellern. Schließlich hörte er Schritte; woher sie kamen, konnte er nicht feststellen, aber sie kündigten Quentin Nightingales Erscheinen an.
»Im Geräteraum fehlt eine Taschenlampe«, sagte Wexford in gelassenem, ruhigem Ton. »Eine große Taschenlampe, sieht ungefähr so aus.« Mit beiden Händen zeichnete er in der Luft die Umrisse nach. »Haben Sie die in letzter Zeit irgendwo gesehen?«
»Am Sonntag war sie noch da. Ich ging in den Geräteraum, um meine Golfschläger zu holen, und dabei ist sie mir aufgefallen.«
»Jetzt ist sie jedenfalls nicht mehr da. Mit dieser Taschenlampe wurde Ihre Frau getötet, Mr. Nightingale.«
Quentin lehnte sich an ein Bücherregal und stützte den Kopf in die Hände. »Ich glaube wirklich nicht«, flüstere er, »daß ich noch mehr ertragen kann. Gestern war der schrecklichste Tag meines Lebens.«
»Das kann ich verstehen. Leider kann ich Ihnen nicht versprechen, daß der heutige oder morgige Tag besser wird.«
Aber Quentin schien ihn nicht gehört zu haben. »Ich glaube, ich werde wahnsinnig«, sagte er. »Ich muß wahnsinnig gewesen sein, das getan zu haben. Ich würde alles darum geben, wenn es noch einmal Dienstag abend wäre und ich neu anfangen dürfte.«
»Soll das heißen, Sie wollen ein Geständnis ablegen?« fragte Wexford streng und stand auf.
»Nicht so ein Geständnis«, rief Quentin mit erstickter Stimme. »Es handelt sich um etwas Privates, etwas...« Er ballte die Hände zu Fäusten und warf den Kopf in den Nacken. »Zeigen Sie mir«, sagte er heiser, »zeigen Sie mir, wo Ihrer Meinung nach die Taschenlampe stehen müßte. Vielleicht kann ich... Zeigen Sie es mir einfach.«
“Na schön. Ich zeige es Ihnen, aber dann werden wir uns noch einmal ein bißchen unterhalten. Lassen Sie mich zuerst jedoch eines klarstellen. Niemand, der in einen Mordfall verwickelt ist, hat noch irgendein Privatleben. Bitte vergessen Sie das nicht.«
Quentin Nightingale gab keine Antwort, sondern zog die Schultern hoch und fuhr sich mit zitternder Hand an die Stirn. Wexford grübelte darüber nach, woher jene heftige Angst wohl rührte, die aus seinem Gegenüber ein Nervenbündel machte. Hatte er seine Frau getötet? Oder war diese Qual die Folge irgendeiner anderen Handlung, einer notwendigerweise läßlicheren Sünde, die dennoch nicht minder quälende Schuldgefühle hervorrief?
Mit Wexford an der Spitze gingen sie den düsteren Gang entlang. Vor ihnen wies ein senkrechter Lichtschlitz daraufhin, daß die Tür des Geräteraums einen Spalt weit offenstand.
»Ich habe die Tür geschlossen«, erklärte Wexford bestimmt und stieß sie auf. Auf dem hohen Brett, wo vor einer halben Stunde nur ein sauberer kreisrunder Fleck in dem Staub gewesen war, stand eine große, hochkant gestellte, verchromte Stablampe.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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