3
Die nächste Parallelstraße hieß Chiltern Avenue, und der Zugang führte über einen Fußweg an Mrs. Mitchells Haus vorbei, zwischen ihrem Garten und dem Feld. Burden klapperte jedes Haus in der Chiltem Avenue ab. Die McDowells wohnten in Nummer 38, und die Zwillinge Stewart und Ian waren noch auf.
Stewart hatte den Mann nie gesehen, denn er hatte fast den ganzen August mit einer Mandelentzündung drin bleiben müssen, und heute war er mit seiner Mutter beim Zahnarzt gewesen. Aber Ian hatte ihn gesehen und sogar mit Gary Dean, seinem speziellen Freund, über ihn gesprochen.
»Er hat sich die ganze Zeit immer unter den Bäumen versteckt«, sagte Ian. »Gary hat gesagt, er ist ein Spion. Gary ist einmal hingegangen und wollte mit ihm reden, aber da ist er in die Mill Lane gerannt.«
Burden bat den Jungen um eine Beschreibung, doch Ian fehlte Mrs. Mitchells Beobachtungsgabe.
»Einfach ein Mann«, sagte er. »So groß wie mein Bruder vielleicht.« Der fragliche Bruder war fünfzehn. Burden fragte nach dem Hinken.
»Was is das, hinken?«
Burden erklärte es ihm. »Weiß ich nich«, meinte Ian.
Weiter die Straße runter, in einem Haus aus derselben Epoche wie das von Mrs. Lawrence, traf er die Rushworths an. Rushworth, wie sich herausstellte, Immobilienmakler in Kingsmarkham, war mit den Suchmannschaften unterwegs, aber seine Frau war mit ihren vier ungebärdigen Sprößlingen, die alle noch auf waren, zu Hause. Warum war sie nicht zur Polizei gegangen, als Mrs. Mitchell sie damals im August gewarnt hatte?
Mrs. Rushworth, eine zierliche Blondine, die mit ihren hochhackigen Schuhen, langen Fingernägeln und einem wippenden Haartuff wie ein zierlicher Beizvogel wirkte, brach in Tränen aus.
»Ich wollte ja«, schluchzte sie. “Ich hatte es fest vor. Aber ich arbeite dermaßen hart. Ich bin bei meinem Mann mit im Büro, wissen Sie. Es bleibt einfach nie ein Augenblick Zeit, um irgendwas zu erledigen!«
Es war inzwischen beinah acht Uhr geworden, und John Lawrence war jetzt seit viereinhalb Stunden verschwunden. Burden fröstelte, weniger von der kühlen Nachtluft als aus dem Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Tragödie heraus, die ihre langen, kalten Schatten vorausschickte. Er ging hinüber zum Dienstwagen und stieg neben Wexford ein.
Der Fahrer des Chief Inspector hatte ihn allein gelassen, und er saß im Fond des schwarzen Dienstwagens, machte keine Notizen, studierte nicht mehr die Karte, sondern war in tiefes Nachdenken versunken. Es war fast dunkel - er hatte die Innenbeleuchtung nicht eingeschaltet -, und im Schatten hätte er eine Figur aus Stein sein können. Von Kopf bis Fuß war er grau - schütteres graues Haar, alter grauer Regenmantel, Schuhe, die immer etwas staubig wirkten. Sein Gesicht war von tiefen Linien durchzogen und sah im Halbdunkel auch grau aus. Er drehte sich etwas, als Burden einstieg, und wandte ihm ein Paar graue Augen zu, das einzig Glänzende und Scharfe an ihm. Burden sagte nichts, und die beiden Männer schwiegen einige Sekunden. Dann meinte Wexford:
»Wenn ich jetzt wüßte, was Sie denken, Mike.«
»Ich hab an Stella Rivers gedacht.«
»Klar haben Sie das. Geht es uns nicht allen so?«
»Sie hatte auch schulfrei«, sagte Bürden. »Sie war das einzige Kind geschiedener Eltern. Sie ist auch in der Mill Lane verschwunden. Es gibt ein Gutteil Ähnlichkeiten.«
»Und ein Gutteil Unähnlichkeiten. Zum einen war sie ein Mädchen und älter. Sie haben nicht so viel von dem Fall Stella Rivers mitbekommen. Sie waren krankgeschrieben, als es passierte.«
Sie hatten gedacht, er bekäme einen Nervenzusammenbruch. Das war im Februar gewesen, als der erste Schock über Jeans Tod langsam abebbte, und Trauer und Panik und das Grauen seiner Situation ihm voll zu Bewußtsein gekommen waren. Er hatte im Bett gelegen, geschlafen, wenn Dr. Crocker ihm Beruhigungsmittel gegeben hatte, und gebrüllt, es sei nur eine Grippe und er müsse aufstehen und zur Arbeit gehen, wenn er bei Bewußtsein war. Doch er war drei Wochen krank gewesen, und als es ihm schließlich besserging, hatte er beinah 7 Kilo abgenommen. Immerhin, er lebte, während Stella Rivers tot oder zumindest vom Antlitz ihrer kleinen Erde verschwunden war.
»Auch sie hat mit ihrer Mutter zusammengelebt«, sagte Wexford, »und ihrem Stiefvater. Am Donnerstag, den 25. Februar, hatte sie eine Reitstunde in der Reitschule ‘Equita’ in Mill Lane kurz vor Forby. Normalerweise ritt sie samstags, aber wegen der schulfreien Tage bekam sie eine Extrastunde. Ihr Stiefvater, Ivor Swan, fuhr sie von zu Hause, von Hall Farm in Kingsmarkham, zu’Equita‘, aber es gab Zweifel, wie sie wieder nach Hause kommen sollte.«
»Was heißt das, Zweifel?«
»Nachdem sie verschwunden war, erklärten Ivor und Rosalind Swan beide, Stella habe ihnen gesagt, sie könne bis Kingsmarkham mit einer Freundin zurückfahren, wie sie es manchmal tat, aber offenbar hatte Stella nichts dergleichen im Sinn und erwartete, daß Swan sie abholte. Als es auf sechs Uhr zuging - die Reitstunde war um Viertel nach vier zu Ende -, rief Rosalind Swan uns an, nachdem sie sich bei der Freundin erkundigt hatte.
Wir fuhren erst zu ’Equita‘und sprachen mit Miss Williams, der Leiterin der Reitschule, und ihrer Assistentin, einer Mrs. Fenn; wir erfuhren, daß Stella um halb fünf allein losgegangen sei. Inzwischen goß es wie aus Kübeln, und der Regen hatte gegen vier Uhr vierzig angefangen. Schließlich machten wir einen Mann ausfindig, der gegen vier Uhr vierzig an Stella vorbeigefahren war und ihr angeboten hatte, sie bis Stowerton mitzunehmen. Zu dem Zeitpunkt war sie die Mill Lane entlang unterwegs in Richtung Stowerton. Sie schlug das Angebot aus, woraus wir schlossen, daß sie ein vernünftiges Mädchen war, das nicht zu einem Fremden ins Auto steigen würde.«
»Sie war zwölf, nicht?« fragte Burden dazwischen.
»Zwölf, zierlich und blond. Der Mann, der ihr anbot, sie mitzunehmen, heißt Walter Hill und ist Leiter der kleinen Filiale der Midland Bank in Forby. Er ist ein ganz seriöser Mann, der nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Wir haben ihn auf Herz und Nieren überprüft. Sonst hat sich kein Mensch gemeldet, der Stella gesehen hat. Sie verließ >Equita< offenbar in dem Glauben, sie würde ihren Stiefvater unterwegs treffen - und löste sich in Luft auf.
Ich kann jetzt nicht alle Details erzählen, aber natürlich haben wir Ivor Swan mit äußerster Sorgfalt unter die Lupe genommen. Abgesehen von der Tatsache, daß er kein vernünftiges Alibi für den Nachmittag hatte, gab es für uns keinen echten Grund zu glauben, daß er Stella Böses wollte. Sie mochte ihn offenbar, ja sie schien sogar irgendwie in ihn vernarrt zu sein. Keiner der Verwandten oder Freunde der Swans konnte uns etwas über Schwierigkeiten im häuslichen Zusammenleben der Familie berichten. Und doch...«
»Und doch was?«
Wexford zögerte. »Sie kennen diese Ahnungen, die ich gelegentlich habe, Mike, diese beinah übernatürlichen Ahnungen, daß etwas nicht ganz - nun, nicht ganz in Ordnung ist?«
Burden nickte. Das kannte er.
»Solch ein Gefühl hatte ich bei dieser Sache. Aber es war nur ein Gefühl. Leute brüsten sich mit ihren Ahnungen, weil sie sich nur der Fälle erinnern möchten, wo sie recht hatten damit. Ich bemühe mich, niemals die zahllosen Male zu vergessen, wo meine Vorahnungen falsch waren. Wir haben nie auch nur das Geringste gefunden, das wir Swan anhängen konnten. Wir werden den Fall morgen wieder aufleben lassen müssen. Wohin gehen Sie?«
»Zurück zu Mrs. Lawrence«, sagte Burden.
 
Eine besorgt aussehende Mrs. Crantock ließ ihn ein.
“Ich fürchte, ich war keine große Hilfe«, flüsterte sie ihm in der Halle zu. »Wissen Sie, wir stehen uns nicht sehr nahe, wir sind nur Nachbarn, deren Jungen zusammen spielen. Ich wußte nicht, was ich mit ihr reden sollte. Ich meine, normalerweise würden wir über die Kinder sprechen, aber jetzt - nun ja, ich hatte das Gefühl, es sei nicht...« Sie zuckte hilflos die Achseln. »Und über gewöhnliche Sachen kann man mit ihr nicht reden, wissen Sie. Nie kann man das. Nicht über Haushalt, oder was in der Nachbarschaft passiert.« Die ungeheure Anstrengung, Unerklärbares erklären zu wollen, ließ ihre Stirn kraus werden. »Vielleicht, wenn ich über Bücher reden könnte oder - oder so was. Sie ist einfach anders als alle, die ich kenne.«
»Ich bin sicher, Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht«, sagte Burden, der glaubte sehr wohl zu wissen, worüber Mrs. Lawrence gern redete. Ihre Vorstellung von Konversation lief sicher auf eine endlose Analyse von Gefühlen hinaus.
»Also, versucht habe ich es.« Sie hob die Stimme. »Ich gehe jetzt, Gemma, aber wenn Sie wollen, komme ich später wieder.«
Gemma. Eigenartiger Name. Er glaubte nicht, ihn schon mal gehört zu haben. Natürlich, sie mußte einen fremdartigen Namen haben, entweder hatten ihre ebenso exzentrischen Eltern sie damit etikettiert, oder - wahrscheinlicher noch - sie hatte ihn selbst angenommen, weil er so ausgefallen war. Voll plötzlicher Ungeduld mit sich selbst, fragte er sich, weshalb er in dieser ärgerlichen Art und Weise Spekulationen über sie anstellte, weshalb jede neue Information über sie ihm Anlaß zu weiteren Fragen gab. Weil sie in einen Mordfall verwickelt ist oder es demnächst sein wird, sagte er sich. Erfüllt von diesem grellen, wilden und unerhörten Bild, das er sich von ihr zurechtgelegt hatte, stieß er die Tür zum Wohnzimmer auf und stand wie gebannt, verblüfft über das, was er sah. Und doch war es nichts anderes, als was er vorhin zurückgelassen hatte, ein totenblasses, verängstigtes Mädchen, in einem Sessel kauernd und wartend, wartend...
Sie hatte das elektrische Kaminfeuer angeschaltet, was jedoch wenig dazu beitrug, den Raum zu erwärmen, und sie saß in eines der Tücher gehüllt, die er hatte herumliegen sehen, ein schweres, schwarz-goldenes Ding mit langen Fransen. Es war ihm unmöglich, sie sich mit einem Kind vorzustellen, dem sie Gutenachtgeschichten vorlas oder Cornflakes in ein Schüsselchen schüttete. Singend in irgendeinem Club, ja, und dazu Gitarre spielend.
»Möchten Sie gern einen Tee?« fragte sie, ihm zugewandt. »Ein Sandwich? Geht ganz schnell.«
»Machen Sie sich für mich keine Mühe.«
»Hat Ihre Frau denn etwas für Sie, wenn Sie nach Hause kommen?«
»Meine Schwägerin«, sagte er. »Meine Frau ist tot.«
Er sagte das nicht gern. Die Leute waren sofort peinlich berührt, erröteten oder zogen sich sogar etwas zurück, als habe er eine ansteckende Krankheit. Und dann folgten die unbeholfenen, unaufrichtigen Teilnahmsbezeugungen, bedeutungslose Worthülsen, heruntergeplappert und gleich wieder vergessen. Nie hatte er den Eindruck, es berühre die Leute wirklich, nie, bis zu diesem Augenblick.
Mit leiser, verhaltener Stimme sagte Gemma Lawrence: »Das tut mir entsetzlich leid. Sie muß noch sehr jung gewesen sein. Das war ein großes Unglück für Sie. Jetzt verstehe ich auch, woher es kommt, daß Sie so gütig mit anderen Unglücklichen umgehen können.«
Er schämte sich, und die Scham ließ ihn stammeln. “Ich - also... ich glaube, ich hätte doch gern ein Sandwich, wenn es keine große Mühe macht.«
»Wie sollte es?« fragte sie verwundert, als sei ihr die höfliche Floskel neu. »Natürlich möchte ich gern etwas tun, als Dank für alles, was Sie für mich tun.«
Sie brachte die Sandwiches nach sehr kurzer Zeit herein. Man sah, daß sie hastig zubereitet waren. Schinkenscheiben rasch zwischen grob geschnittene Brotscheiben geklemmt, Tee in Bechern ohne Untertassen.
Burden war sein Leben lang von Frauen verwöhnt worden, die ihm sein Essen in zartem Porzellangeschirr auf Tabletts mit Spitzendeckchen serviert hatten, und er nahm ohne große Begeisterung ein Sandwich, doch als er hineinbiß, stellte er fest, daß der Schinken schmackhaft und nicht zu salzig und das Brot frisch war.
Sie setzte sich auf den Fußboden und lehnte sich mit dem Rücken an den Sessel ihm gegenüber. Er hatte Wexford gesagt, daß er noch viele Auskünfte von ihr brauchte, und er wagte nun einige Routinefragen, Johns erwachsene Bekannte betreffend, zum Beispiel Eltern von Schulkameraden oder ihre eigenen Freunde. Sie antwortete ruhig und klug, und der Polizistenteil seines Hirns registrierte ihre Antworten automatisch. Gleichzeitig aber widerfuhr ihm etwas Eigenartiges. Er wurde sich mit gewissem Unbehagen einer Tatsache bewußt, die jeder normale Mann schon beim ersten Blick erkannt hätte. Sie war schön. Er mußte wegsehen, als er das Wort dachte, dennoch hatte er dabei ihr Bild vor Augen, wie eingebrannt auf seiner Netzhaut, ein brillantes Bild dieses weißen, schöngeschnittenen Gesichts und, noch beunruhigender, der langen Beine und vollen, festen Brüste.
Ihr Haar sprühte im Feuerschein zinnoberrot, ihre Augen zeigten das klare Wassergrün von Juwelen, wie man sie auf dem Meeresgrund findet. Das Schultertuch gab ihr ein exotisches Aussehen, wie dem Rahmen eines präraffaelitischen Gemäldes entstiegen, verhalten, irreal, ungeeignet für gewöhnliche Alltäglichkeiten. Und doch umgab sie etwas völlig Natürliches und Impulsives. Zu natürlich, allzu real, dachte er, plötzlich alarmiert. Sie ist realer und natürlicher und bewußter, als es einer Frau überhaupt zusteht.
Rasch sagte er: “Mrs. Lawrence, Sie haben John doch sicher eingetrichtert, nie mit Fremden zu reden.«
Das Gesicht wurde ein Spur blasser. »O natürlich.«
»Hat er jemals etwas erzählt, daß ein Mann ihn angesprochen hätte?«
»Nein, nie. Ich bringe ihn zur Schule und hole ihn wieder ab. Er ist nur allein, wenn er zum Spielen rausgeht, und dann sind die anderen Jungen bei ihm.« Sie blickte auf, und jetzt waren alle Anzeichen von Alarm in ihrem Gesicht zu erkennen. »Was meinen Sie damit?«
Warum mußte sie so direkt fragen? »Keiner hat mir gesagt, er habe einen Fremden mit John reden sehen«, sagte er wahrheitsgetreu, »aber ich muß es trotzdem nachprüfen.«
Im gleichen entschiedenen, vernünftigen Tonfall sagte sie: »Mrs. Dean hat mir erzählt, letzten Februar sei ein Kind in Kingsmarkham verschwunden und nie gefunden worden. Sie kam vorbei, während Mrs. Crantock hier war.«
Burden vergaß, daß er Mrs. Dean je in Gedanken zugestimmt hatte. In wildem, wenig polizeineutralem Tonfall brach es aus ihm heraus, bevor er sich noch bremsen konnte. »Warum, zum Teufel, können diese Klatschtanten nicht den Mund halten?« Er biß sich auf die Lippe, verwundert darüber, weshalb ihre Worte solche Heftigkeit bei ihm auslösten, und über den Wunsch, nach nebenan zu gehen und dieser Deanschen eine runterzuhauen. »Das Kind war ein Mädchen«, sagte er dann, »und viel älter. Diese Sorte von - äh - Perversen, die den Drang haben, Mädchen anzugehen, interessieren sich normalerweise nicht für kleine Jungen.« Aber stimmte das auch? Wer konnte schon die Rätsel eines gesunden Hirns verstehen, ganz zu schweigen von denen eines kranken?
Sie zog das Tuch enger um sich und sagte: »Wie soll ich die Nacht überstehen?«
»Ich werde Ihnen einen Arzt holen.« Burden trank seinen Tee aus und stand auf. »War nicht in der Chiltern Avenue irgendwo ein Schild?«
»Ja, Dr. Lomax.«
»Also, wir werden diesem Lomax ein paar Schlaftabletten abschwatzen und eine der Frauen bitten, die Nacht über hierzubleiben. Ich sorge dafür, daß Sie nicht allein gelassen werden.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Sie senkte den Kopf, und er sah, daß sie nun schließlich doch angefangen hatte zu weinen. »Sie werden sagen, es sei nur Ihr Beruf und Ihre Pflicht, aber es ist mehr als das. Ich - ich danke Ihnen so sehr. Wenn ich Sie ansehe, dann denke ich, wenn er da ist, kann John nichts zustoßen.«
Sie sah ihn an, wie ein Kind seinen Vater anschauen sollte, doch er konnte sich nicht erinnern, daß seine eigenen Kinder ihn je so angesehen hätten. Solches Vertrauen war eine schreckliche Verantwortung, und er wußte, daß er sie nicht nähren durfte. Die Chancen, daß der Junge tot war, standen inzwischen fünfzig zu fünfzig, und er war nicht Gott, der die Toten lebendig machen konnte. Er sollte vielleicht sagen, daß sie sich keine Sorgen machen, nicht daran denken dürfe - doch wie grausam, wie dumm und wenig einfühlsam! -, und alles, was er angesichts dieser Augen herausbrachte, war: »Ich gehe jetzt zum Arzt, er wird sich darum kümmern, daß Sie eine gute Nacht haben.« Dem war nichts hinzuzufügen, aber er sagte: »Schlafen Sie nicht zu lange, ich bin morgen früh um neun wieder bei Ihnen.«
Dann verabschiedete er sich. Er wollte eigentlich nicht zurückschauen. Irgend etwas drängte ihn. Sie stand in der Haustür, umrahmt von gelbem Licht, eine merkwürdige, fremdländische Gestalt in ihrem Zigeunertuch, ihr Haar so lebendig, daß es in Flammen zu stehen schien. Sie winkte ihm verhalten und etwas scheu zu, mit der anderen Hand wischte sie die Tränen von den Wangen. Er hatte Bilder von solchen Frauen gesehen, jedoch nie eine gekannt, nie mit einer gesprochen. Unwillkürlich fragte er sich, ob er deshalb so leidenschaftlich wünschte, daß das Kind gefunden wurde, weil das bedeutete, daß er sie dann nie mehr sehen mußte. Er wandte sich abrupt ab, der Straße zu, um Dr. Lomax zu verständigen.
 
Blaß und verschwommen, als treibe er in einem Teich, driftete ein riesiger Mond über die Felder. Burden wartete, bis die Suchmannschaften gegen Mitternacht zurückkamen. Sie hatten nichts gefunden.
Grace hatte ihm einen Zettel hingelegt: ‘John hat bis elf auf Dich gewartet, weil Du ihm bei seinen Mathematikaufgaben helfen solltest. Könntest Du mal einen Blick darauf werfen? Er war ziemlich verzweifelt. G.’
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Burden sich die Tatsache klargemacht hatte, daß sein eigener Sohn ebenfalls John hieß. Er schaute sich die Hausaufgabe an, und soweit er sehen konnte, war die Algebra in Ordnung. Viel Lärm um nichts. Diese kleinen, nörgeligen Zettel von Grace wurden ein bißchen viel in letzter Zeit. Er öffnete die Tür zum Zimmer seines Sohnes und sah, daß er fest schlief. Grace und Pat schliefen in dem Zimmer, das seins und Jeans gewesen war - undenkbar als sein Schlafzimmer nach ihrem Tod -, und er konnte nicht gut hineinschauen. In seinem eigenen Bett, vorher Pats kleine Klause, wo Balletteusen über die Wände hüpften, wie es zu einer Elfjährigen gehörte, setzte er sich aufs Bett und merkte, wie die Müdigkeit von ihm abfiel und er so hellwach wurde, als sei es früh um acht. Er konnte erschöpft sein bis kurz vor dem Zusammenbruch, doch sobald er hier drin und mit sich allein war, überkam ihn unvermittelt dieser grauenerregende, demütigende Drang.
Er legte den Kopf in die Hände. Alle glaubten, er vermisse Jean als Kameraden, als jemanden zum Reden und Unannehmlichkeiten teilen. Das tat er auch, sehr sogar. Aber was ihn am allermeisten belastete, Tag und Nacht ohne Unterlaß, waren sexuelle Wünsche, die sich, seit zehn Monaten ohne Erfüllung, zu einem verkapselten, quälenden, sexuellen Wahn gesteigert hatten.
Er wußte sehr wohl, wie alle über ihn dachten. Für sie war er ein kalter Fisch, streng angesichts von Zügellosigkeit, der nur um Jean trauerte, weil er sich an die Ehe gewöhnt hatte und, wie Wexford es nannte, ‘total verheiratet’ war. Wahrscheinlich stellten sie sich vor, falls sie überhaupt je darüber nachgedacht hatten, er und Jean seien alle vierzehn Tage einmal im Dunkeln zusammen unter die Decke gekrochen. Genau so schätzten einen die Leute ein, wenn man vor schmutzigen Witzen zurückschreckte und diese tabufreie Gesellschaft als verrottet bezeichnete.
Es schien ihnen nicht im Traum einzufallen, daß man Freizügigkeit und Ehebruch womöglich einfach deswegen verabscheute, weil man wußte, was Verheiratetsein bedeuten konnte, und es zu solch einem Grad der Vollendung erfahren hatte, daß alles andere Hohn war, eine armselige Imitation. Es war ein Glück, ja, aber... Ach, Gott, es war auch ein Unglück! Ans Land geworfen wie ein Fisch und krank war man, wenn es vorüber war. Jean war unberührt gewesen, als er sie geheiratet hatte, und er ebenso. Die Leute sagten immer - dumme Leute, und die dummen Dinge, die sie behaupteten-, das erschwere es, wenn man heirate, aber für ihn und Jean war es nicht so gewesen. Geduldig und hingebungsvoll und voller Liebe waren sie miteinander umgegangen, und sie waren beide so reich belohnt worden, daß Burden jetzt, wo er wie aus einer öden Wüste darauf zurückblickte, kaum glauben konnte, daß es beinah von Anfang an so gut gewesen war, ohne Versagen, ohne Enttäuschungen. Und doch glaubte er es, denn er wußte es und erinnerte sich und litt.
Und wenn sie wüßten? Ihm war klar, was sie ihm dann raten würden. Nimm dir eine Freundin, Mike. Nichts Ernstes. Einfach ein nettes, unkompliziertes Mädchen, mit der man ein bißchen Spaß haben kann. Vielleicht konnte man das, wenn man gewohnt war, über die Stränge zu schlagen. Er war nie Liebhaber irgendeiner anderen Frau außer Jean gewesen. Sex war für ihn gleichbedeutend mit Jean. Sie machten sich nicht klar, daß ihr Ratschlag, sich eine andere Frau zu nehmen, das gleiche war, als würden sie Gemma Lawrence raten, sich ein anderes Kind anzuschaffen.
Er zog seine Sachen aus und legte sich bäuchlings aufs Bett, die Fäuste sorgsam geballt unter das Kissen geschoben. Er zweifelte nicht im geringsten daran, wie die Nacht vergehen würde. Alle Nächte waren gleich. Erst das Wachliegen und das Begehren, die tatsächliche, physische Pein, als sei sein Körper ein einziger Schrei ohne einen Auslaß für diesen Schrei; dann schließlich der Schlaf mit dem langen, schweren, orgiastischen Traum, der kurz vor dem Morgengrauen kommen würde.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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