3
Die nächste Parallelstraße hieß Chiltern Avenue,
und der Zugang führte über einen Fußweg an Mrs. Mitchells Haus
vorbei, zwischen ihrem Garten und dem Feld. Burden klapperte jedes
Haus in der Chiltem Avenue ab. Die McDowells wohnten in Nummer 38,
und die Zwillinge Stewart und Ian waren noch auf.
Stewart hatte den Mann nie gesehen, denn er hatte
fast den ganzen August mit einer Mandelentzündung drin bleiben
müssen, und heute war er mit seiner Mutter beim Zahnarzt gewesen.
Aber Ian hatte ihn gesehen und sogar mit Gary Dean, seinem
speziellen Freund, über ihn gesprochen.
»Er hat sich die ganze Zeit immer unter den Bäumen
versteckt«, sagte Ian. »Gary hat gesagt, er ist ein Spion. Gary ist
einmal hingegangen und wollte mit ihm reden, aber da ist er in die
Mill Lane gerannt.«
Burden bat den Jungen um eine Beschreibung, doch
Ian fehlte Mrs. Mitchells Beobachtungsgabe.
»Einfach ein Mann«, sagte er. »So groß wie mein
Bruder vielleicht.« Der fragliche Bruder war fünfzehn. Burden
fragte nach dem Hinken.
»Was is das, hinken?«
Burden erklärte es ihm. »Weiß ich nich«, meinte
Ian.
Weiter die Straße runter, in einem Haus aus
derselben Epoche wie das von Mrs. Lawrence, traf er die Rushworths
an. Rushworth, wie sich herausstellte, Immobilienmakler in
Kingsmarkham, war mit den Suchmannschaften unterwegs, aber seine
Frau war mit ihren vier ungebärdigen Sprößlingen, die alle noch auf
waren, zu Hause. Warum war sie nicht zur Polizei gegangen, als Mrs.
Mitchell sie damals im August gewarnt hatte?
Mrs. Rushworth, eine zierliche Blondine, die mit
ihren hochhackigen Schuhen, langen Fingernägeln und einem wippenden
Haartuff wie ein zierlicher Beizvogel wirkte, brach in Tränen
aus.
»Ich wollte ja«, schluchzte sie. “Ich hatte es fest
vor. Aber ich arbeite dermaßen hart. Ich bin bei meinem Mann mit im
Büro, wissen Sie. Es bleibt einfach nie ein Augenblick Zeit, um
irgendwas zu erledigen!«
Es war inzwischen beinah acht Uhr geworden, und
John Lawrence war jetzt seit viereinhalb Stunden verschwunden.
Burden fröstelte, weniger von der kühlen Nachtluft als aus dem
Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Tragödie heraus, die ihre
langen, kalten Schatten vorausschickte. Er ging hinüber zum
Dienstwagen und stieg neben Wexford ein.
Der Fahrer des Chief Inspector hatte ihn allein
gelassen, und er saß im Fond des schwarzen Dienstwagens, machte
keine Notizen, studierte nicht mehr die Karte, sondern war in
tiefes Nachdenken versunken. Es war fast dunkel - er hatte die
Innenbeleuchtung nicht eingeschaltet -, und im Schatten hätte er
eine Figur aus Stein sein können. Von Kopf bis Fuß war er grau -
schütteres graues Haar, alter grauer Regenmantel, Schuhe, die immer
etwas staubig wirkten. Sein Gesicht war von tiefen Linien
durchzogen und sah im Halbdunkel auch grau aus. Er drehte sich
etwas, als Burden einstieg, und wandte ihm ein Paar graue Augen zu,
das einzig Glänzende und Scharfe an ihm. Burden sagte nichts, und
die beiden Männer schwiegen einige Sekunden. Dann meinte
Wexford:
»Wenn ich jetzt wüßte, was Sie denken, Mike.«
»Ich hab an Stella Rivers gedacht.«
»Klar haben Sie das. Geht es uns nicht allen
so?«
»Sie hatte auch schulfrei«, sagte Bürden. »Sie war
das einzige Kind geschiedener Eltern. Sie ist auch in der Mill Lane
verschwunden. Es gibt ein Gutteil Ähnlichkeiten.«
»Und ein Gutteil Unähnlichkeiten. Zum einen war sie
ein Mädchen und älter. Sie haben nicht so viel von dem Fall Stella
Rivers mitbekommen. Sie waren krankgeschrieben, als es
passierte.«
Sie hatten gedacht, er bekäme einen
Nervenzusammenbruch. Das war im Februar gewesen, als der erste
Schock über Jeans Tod langsam abebbte, und Trauer und Panik und das
Grauen seiner Situation ihm voll zu Bewußtsein gekommen waren. Er
hatte im Bett gelegen, geschlafen, wenn Dr. Crocker ihm
Beruhigungsmittel gegeben hatte, und gebrüllt, es sei nur eine
Grippe und er müsse aufstehen und zur Arbeit gehen, wenn er bei
Bewußtsein war. Doch er war drei Wochen krank gewesen, und als es
ihm schließlich besserging, hatte er beinah 7 Kilo abgenommen.
Immerhin, er lebte, während Stella Rivers tot oder zumindest vom
Antlitz ihrer kleinen Erde verschwunden war.
»Auch sie hat mit ihrer Mutter zusammengelebt«,
sagte Wexford, »und ihrem Stiefvater. Am Donnerstag, den 25.
Februar, hatte sie eine Reitstunde in der Reitschule ‘Equita’ in
Mill Lane kurz vor Forby. Normalerweise ritt sie samstags, aber
wegen der schulfreien Tage bekam sie eine Extrastunde. Ihr
Stiefvater, Ivor Swan, fuhr sie von zu Hause, von Hall Farm in
Kingsmarkham, zu’Equita‘, aber es gab Zweifel, wie sie wieder nach
Hause kommen sollte.«
»Was heißt das, Zweifel?«
»Nachdem sie verschwunden war, erklärten Ivor und
Rosalind Swan beide, Stella habe ihnen gesagt, sie könne bis
Kingsmarkham mit einer Freundin zurückfahren, wie sie es manchmal
tat, aber offenbar hatte Stella nichts dergleichen im Sinn und
erwartete, daß Swan sie abholte. Als es auf sechs Uhr zuging - die
Reitstunde war um Viertel nach vier zu Ende -, rief Rosalind Swan
uns an, nachdem sie sich bei der Freundin erkundigt hatte.
Wir fuhren erst zu ’Equita‘und sprachen mit Miss
Williams, der Leiterin der Reitschule, und ihrer Assistentin, einer
Mrs. Fenn; wir erfuhren, daß Stella um halb fünf allein losgegangen
sei. Inzwischen goß es wie aus Kübeln, und der Regen hatte gegen
vier Uhr vierzig angefangen. Schließlich machten wir einen Mann
ausfindig, der gegen vier Uhr vierzig an Stella vorbeigefahren
war und ihr angeboten hatte, sie bis Stowerton mitzunehmen.
Zu dem Zeitpunkt war sie die Mill Lane entlang unterwegs in
Richtung Stowerton. Sie schlug das Angebot aus, woraus wir
schlossen, daß sie ein vernünftiges Mädchen war, das nicht zu einem
Fremden ins Auto steigen würde.«
»Sie war zwölf, nicht?« fragte Burden
dazwischen.
»Zwölf, zierlich und blond. Der Mann, der ihr
anbot, sie mitzunehmen, heißt Walter Hill und ist Leiter der
kleinen Filiale der Midland Bank in Forby. Er ist ein ganz seriöser
Mann, der nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Wir haben ihn
auf Herz und Nieren überprüft. Sonst hat sich kein Mensch gemeldet,
der Stella gesehen hat. Sie verließ >Equita< offenbar in dem
Glauben, sie würde ihren Stiefvater unterwegs treffen - und löste
sich in Luft auf.
Ich kann jetzt nicht alle Details erzählen, aber
natürlich haben wir Ivor Swan mit äußerster Sorgfalt unter die Lupe
genommen. Abgesehen von der Tatsache, daß er kein vernünftiges
Alibi für den Nachmittag hatte, gab es für uns keinen echten Grund
zu glauben, daß er Stella Böses wollte. Sie mochte ihn offenbar, ja
sie schien sogar irgendwie in ihn vernarrt zu sein. Keiner der
Verwandten oder Freunde der Swans konnte uns etwas über
Schwierigkeiten im häuslichen Zusammenleben der Familie berichten.
Und doch...«
»Und doch was?«
Wexford zögerte. »Sie kennen diese Ahnungen, die
ich gelegentlich habe, Mike, diese beinah übernatürlichen Ahnungen,
daß etwas nicht ganz - nun, nicht ganz in Ordnung ist?«
Burden nickte. Das kannte er.
»Solch ein Gefühl hatte ich bei dieser Sache. Aber
es war nur ein Gefühl. Leute brüsten sich mit ihren Ahnungen, weil
sie sich nur der Fälle erinnern möchten, wo sie recht hatten damit.
Ich bemühe mich, niemals die zahllosen Male zu vergessen, wo meine
Vorahnungen falsch waren. Wir haben nie auch nur das Geringste
gefunden, das wir Swan anhängen konnten. Wir werden den Fall morgen
wieder aufleben lassen müssen. Wohin gehen Sie?«
»Zurück zu Mrs. Lawrence«, sagte Burden.
Eine besorgt aussehende Mrs. Crantock ließ ihn
ein.
“Ich fürchte, ich war keine große Hilfe«, flüsterte
sie ihm in der Halle zu. »Wissen Sie, wir stehen uns nicht sehr
nahe, wir sind nur Nachbarn, deren Jungen zusammen spielen. Ich
wußte nicht, was ich mit ihr reden sollte. Ich meine, normalerweise
würden wir über die Kinder sprechen, aber jetzt - nun ja, ich hatte
das Gefühl, es sei nicht...« Sie zuckte hilflos die Achseln. »Und
über gewöhnliche Sachen kann man mit ihr nicht reden, wissen Sie.
Nie kann man das. Nicht über Haushalt, oder was in der
Nachbarschaft passiert.« Die ungeheure Anstrengung, Unerklärbares
erklären zu wollen, ließ ihre Stirn kraus werden. »Vielleicht, wenn
ich über Bücher reden könnte oder - oder so was. Sie ist einfach
anders als alle, die ich kenne.«
»Ich bin sicher, Sie haben Ihre Sache sehr gut
gemacht«, sagte Burden, der glaubte sehr wohl zu wissen, worüber
Mrs. Lawrence gern redete. Ihre Vorstellung von Konversation lief
sicher auf eine endlose Analyse von Gefühlen hinaus.
»Also, versucht habe ich es.« Sie hob die Stimme.
»Ich gehe jetzt, Gemma, aber wenn Sie wollen, komme ich später
wieder.«
Gemma. Eigenartiger Name. Er glaubte nicht, ihn
schon mal gehört zu haben. Natürlich, sie mußte einen
fremdartigen Namen haben, entweder hatten ihre ebenso exzentrischen
Eltern sie damit etikettiert, oder - wahrscheinlicher noch - sie
hatte ihn selbst angenommen, weil er so ausgefallen war. Voll
plötzlicher Ungeduld mit sich selbst, fragte er sich, weshalb er in
dieser ärgerlichen Art und Weise Spekulationen über sie anstellte,
weshalb jede neue Information über sie ihm Anlaß zu weiteren Fragen
gab. Weil sie in einen Mordfall verwickelt ist oder es demnächst
sein wird, sagte er sich. Erfüllt von diesem grellen, wilden und
unerhörten Bild, das er sich von ihr zurechtgelegt hatte, stieß er
die Tür zum Wohnzimmer auf und stand wie gebannt, verblüfft über
das, was er sah. Und doch war es nichts anderes, als was er vorhin
zurückgelassen hatte, ein totenblasses, verängstigtes Mädchen, in
einem Sessel kauernd und wartend, wartend...
Sie hatte das elektrische Kaminfeuer angeschaltet,
was jedoch wenig dazu beitrug, den Raum zu erwärmen, und sie saß in
eines der Tücher gehüllt, die er hatte herumliegen sehen, ein
schweres, schwarz-goldenes Ding mit langen Fransen. Es war ihm
unmöglich, sie sich mit einem Kind vorzustellen, dem sie
Gutenachtgeschichten vorlas oder Cornflakes in ein Schüsselchen
schüttete. Singend in irgendeinem Club, ja, und dazu Gitarre
spielend.
»Möchten Sie gern einen Tee?« fragte sie, ihm
zugewandt. »Ein Sandwich? Geht ganz schnell.«
»Machen Sie sich für mich keine Mühe.«
»Hat Ihre Frau denn etwas für Sie, wenn Sie nach
Hause kommen?«
»Meine Schwägerin«, sagte er. »Meine Frau ist
tot.«
Er sagte das nicht gern. Die Leute waren sofort
peinlich berührt, erröteten oder zogen sich sogar etwas zurück, als
habe er eine ansteckende Krankheit. Und dann folgten die
unbeholfenen, unaufrichtigen Teilnahmsbezeugungen, bedeutungslose
Worthülsen, heruntergeplappert und gleich wieder vergessen. Nie
hatte er den Eindruck, es berühre die Leute wirklich, nie, bis zu
diesem Augenblick.
Mit leiser, verhaltener Stimme sagte Gemma
Lawrence: »Das tut mir entsetzlich leid. Sie muß noch sehr jung
gewesen sein. Das war ein großes Unglück für Sie. Jetzt verstehe
ich auch, woher es kommt, daß Sie so gütig mit anderen
Unglücklichen umgehen können.«
Er schämte sich, und die Scham ließ ihn stammeln.
“Ich - also... ich glaube, ich hätte doch gern ein Sandwich, wenn
es keine große Mühe macht.«
»Wie sollte es?« fragte sie verwundert, als sei ihr
die höfliche Floskel neu. »Natürlich möchte ich gern etwas tun, als
Dank für alles, was Sie für mich tun.«
Sie brachte die Sandwiches nach sehr kurzer Zeit
herein. Man sah, daß sie hastig zubereitet waren. Schinkenscheiben
rasch zwischen grob geschnittene Brotscheiben geklemmt, Tee in
Bechern ohne Untertassen.
Burden war sein Leben lang von Frauen verwöhnt
worden, die ihm sein Essen in zartem Porzellangeschirr auf Tabletts
mit Spitzendeckchen serviert hatten, und er nahm ohne große
Begeisterung ein Sandwich, doch als er hineinbiß, stellte er fest,
daß der Schinken schmackhaft und nicht zu salzig und das Brot
frisch war.
Sie setzte sich auf den Fußboden und lehnte sich
mit dem Rücken an den Sessel ihm gegenüber. Er hatte Wexford
gesagt, daß er noch viele Auskünfte von ihr brauchte, und er wagte
nun einige Routinefragen, Johns erwachsene Bekannte betreffend, zum
Beispiel Eltern von Schulkameraden oder ihre eigenen Freunde. Sie
antwortete ruhig und klug, und der Polizistenteil seines Hirns
registrierte ihre Antworten automatisch. Gleichzeitig aber
widerfuhr ihm etwas Eigenartiges. Er wurde sich mit gewissem
Unbehagen einer Tatsache bewußt, die jeder normale Mann schon beim
ersten Blick erkannt hätte. Sie war schön. Er mußte wegsehen, als
er das Wort dachte, dennoch hatte er dabei ihr Bild vor Augen, wie
eingebrannt auf seiner Netzhaut, ein brillantes Bild dieses weißen,
schöngeschnittenen Gesichts und, noch beunruhigender, der langen
Beine und vollen, festen Brüste.
Ihr Haar sprühte im Feuerschein zinnoberrot, ihre
Augen zeigten das klare Wassergrün von Juwelen, wie man sie auf dem
Meeresgrund findet. Das Schultertuch gab ihr ein exotisches
Aussehen, wie dem Rahmen eines präraffaelitischen Gemäldes
entstiegen, verhalten, irreal, ungeeignet für gewöhnliche
Alltäglichkeiten. Und doch umgab sie etwas völlig Natürliches und
Impulsives. Zu natürlich, allzu real, dachte er, plötzlich
alarmiert. Sie ist realer und natürlicher und bewußter, als es
einer Frau überhaupt zusteht.
Rasch sagte er: “Mrs. Lawrence, Sie haben John doch
sicher eingetrichtert, nie mit Fremden zu reden.«
Das Gesicht wurde ein Spur blasser. »O
natürlich.«
»Hat er jemals etwas erzählt, daß ein Mann ihn
angesprochen hätte?«
»Nein, nie. Ich bringe ihn zur Schule und hole ihn
wieder ab. Er ist nur allein, wenn er zum Spielen rausgeht, und
dann sind die anderen Jungen bei ihm.« Sie blickte auf, und jetzt
waren alle Anzeichen von Alarm in ihrem Gesicht zu erkennen. »Was
meinen Sie damit?«
Warum mußte sie so direkt fragen? »Keiner hat mir
gesagt, er habe einen Fremden mit John reden sehen«, sagte er
wahrheitsgetreu, »aber ich muß es trotzdem nachprüfen.«
Im gleichen entschiedenen, vernünftigen Tonfall
sagte sie: »Mrs. Dean hat mir erzählt, letzten Februar sei ein Kind
in Kingsmarkham verschwunden und nie gefunden worden. Sie kam
vorbei, während Mrs. Crantock hier war.«
Burden vergaß, daß er Mrs. Dean je in Gedanken
zugestimmt hatte. In wildem, wenig polizeineutralem Tonfall brach
es aus ihm heraus, bevor er sich noch bremsen konnte. »Warum, zum
Teufel, können diese Klatschtanten nicht den Mund halten?« Er biß
sich auf die Lippe, verwundert darüber, weshalb ihre Worte solche
Heftigkeit bei ihm auslösten, und über den Wunsch, nach nebenan zu
gehen und dieser Deanschen eine runterzuhauen. »Das Kind war ein
Mädchen«, sagte er dann, »und viel älter. Diese Sorte von - äh -
Perversen, die den Drang haben, Mädchen anzugehen, interessieren
sich normalerweise nicht für kleine Jungen.« Aber stimmte das auch?
Wer konnte schon die Rätsel eines gesunden Hirns verstehen, ganz zu
schweigen von denen eines kranken?
Sie zog das Tuch enger um sich und sagte: »Wie soll
ich die Nacht überstehen?«
»Ich werde Ihnen einen Arzt holen.« Burden trank
seinen Tee aus und stand auf. »War nicht in der Chiltern Avenue
irgendwo ein Schild?«
»Ja, Dr. Lomax.«
»Also, wir werden diesem Lomax ein paar
Schlaftabletten abschwatzen und eine der Frauen bitten, die Nacht
über hierzubleiben. Ich sorge dafür, daß Sie nicht allein gelassen
werden.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
Sie senkte den Kopf, und er sah, daß sie nun schließlich doch
angefangen hatte zu weinen. »Sie werden sagen, es sei nur Ihr Beruf
und Ihre Pflicht, aber es ist mehr als das. Ich - ich danke Ihnen
so sehr. Wenn ich Sie ansehe, dann denke ich, wenn er da ist, kann
John nichts zustoßen.«
Sie sah ihn an, wie ein Kind seinen Vater anschauen
sollte, doch er konnte sich nicht erinnern, daß seine eigenen
Kinder ihn je so angesehen hätten. Solches Vertrauen war eine
schreckliche Verantwortung, und er wußte, daß er sie nicht nähren
durfte. Die Chancen, daß der Junge tot war, standen inzwischen
fünfzig zu fünfzig, und er war nicht Gott, der die Toten lebendig
machen konnte. Er sollte vielleicht sagen, daß sie sich keine
Sorgen machen, nicht daran denken dürfe - doch wie grausam, wie
dumm und wenig einfühlsam! -, und alles, was er angesichts dieser
Augen herausbrachte, war: »Ich gehe jetzt zum Arzt, er wird sich
darum kümmern, daß Sie eine gute Nacht haben.« Dem war nichts
hinzuzufügen, aber er sagte: »Schlafen Sie nicht zu lange, ich bin
morgen früh um neun wieder bei Ihnen.«
Dann verabschiedete er sich. Er wollte eigentlich
nicht zurückschauen. Irgend etwas drängte ihn. Sie stand in der
Haustür, umrahmt von gelbem Licht, eine merkwürdige, fremdländische
Gestalt in ihrem Zigeunertuch, ihr Haar so lebendig, daß es in
Flammen zu stehen schien. Sie winkte ihm verhalten und etwas scheu
zu, mit der anderen Hand wischte sie die Tränen von den Wangen. Er
hatte Bilder von solchen Frauen gesehen, jedoch nie eine gekannt,
nie mit einer gesprochen. Unwillkürlich fragte er sich, ob er
deshalb so leidenschaftlich wünschte, daß das Kind gefunden wurde,
weil das bedeutete, daß er sie dann nie mehr sehen mußte. Er wandte
sich abrupt ab, der Straße zu, um Dr. Lomax zu verständigen.
Blaß und verschwommen, als treibe er in einem
Teich, driftete ein riesiger Mond über die Felder. Burden wartete,
bis die Suchmannschaften gegen Mitternacht zurückkamen. Sie hatten
nichts gefunden.
Grace hatte ihm einen Zettel hingelegt: ‘John hat
bis elf auf Dich gewartet, weil Du ihm bei seinen
Mathematikaufgaben helfen solltest. Könntest Du mal einen Blick
darauf werfen? Er war ziemlich verzweifelt. G.’
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Burden sich die
Tatsache klargemacht hatte, daß sein eigener Sohn ebenfalls John
hieß. Er schaute sich die Hausaufgabe an, und soweit er sehen
konnte, war die Algebra in Ordnung. Viel Lärm um nichts. Diese
kleinen, nörgeligen Zettel von Grace wurden ein bißchen viel in
letzter Zeit. Er öffnete die Tür zum Zimmer seines Sohnes und sah,
daß er fest schlief. Grace und Pat schliefen in dem Zimmer, das
seins und Jeans gewesen war - undenkbar als sein Schlafzimmer nach
ihrem Tod -, und er konnte nicht gut hineinschauen. In seinem
eigenen Bett, vorher Pats kleine Klause, wo Balletteusen über die
Wände hüpften, wie es zu einer Elfjährigen gehörte, setzte er sich
aufs Bett und merkte, wie die Müdigkeit von ihm abfiel und er so
hellwach wurde, als sei es früh um acht. Er konnte erschöpft sein
bis kurz vor dem Zusammenbruch, doch sobald er hier drin und mit
sich allein war, überkam ihn unvermittelt dieser grauenerregende,
demütigende Drang.
Er legte den Kopf in die Hände. Alle glaubten, er
vermisse Jean als Kameraden, als jemanden zum Reden und
Unannehmlichkeiten teilen. Das tat er auch, sehr sogar. Aber was
ihn am allermeisten belastete, Tag und Nacht ohne Unterlaß, waren
sexuelle Wünsche, die sich, seit zehn Monaten ohne Erfüllung, zu
einem verkapselten, quälenden, sexuellen Wahn gesteigert
hatten.
Er wußte sehr wohl, wie alle über ihn dachten. Für
sie war er ein kalter Fisch, streng angesichts von Zügellosigkeit,
der nur um Jean trauerte, weil er sich an die Ehe gewöhnt hatte
und, wie Wexford es nannte, ‘total verheiratet’ war. Wahrscheinlich
stellten sie sich vor, falls sie überhaupt je darüber nachgedacht
hatten, er und Jean seien alle vierzehn Tage einmal im Dunkeln
zusammen unter die Decke gekrochen. Genau so schätzten einen die
Leute ein, wenn man vor schmutzigen Witzen zurückschreckte und
diese tabufreie Gesellschaft als verrottet bezeichnete.
Es schien ihnen nicht im Traum einzufallen, daß man
Freizügigkeit und Ehebruch womöglich einfach deswegen verabscheute,
weil man wußte, was Verheiratetsein bedeuten konnte, und es zu
solch einem Grad der Vollendung erfahren hatte, daß alles andere
Hohn war, eine armselige Imitation. Es war ein Glück, ja, aber...
Ach, Gott, es war auch ein Unglück! Ans Land geworfen wie ein Fisch
und krank war man, wenn es vorüber war. Jean war unberührt gewesen,
als er sie geheiratet hatte, und er ebenso. Die Leute sagten immer
- dumme Leute, und die dummen Dinge, die sie behaupteten-, das
erschwere es, wenn man heirate, aber für ihn und Jean war es nicht
so gewesen. Geduldig und hingebungsvoll und voller Liebe waren sie
miteinander umgegangen, und sie waren beide so reich belohnt
worden, daß Burden jetzt, wo er wie aus einer öden Wüste darauf
zurückblickte, kaum glauben konnte, daß es beinah von Anfang an so
gut gewesen war, ohne Versagen, ohne Enttäuschungen. Und doch
glaubte er es, denn er wußte es und erinnerte sich und litt.
Und wenn sie wüßten? Ihm war klar, was sie ihm dann
raten würden. Nimm dir eine Freundin, Mike. Nichts Ernstes. Einfach
ein nettes, unkompliziertes Mädchen, mit der man ein bißchen Spaß
haben kann. Vielleicht konnte man das, wenn man gewohnt war, über
die Stränge zu schlagen. Er war nie Liebhaber irgendeiner anderen
Frau außer Jean gewesen. Sex war für ihn gleichbedeutend mit Jean.
Sie machten sich nicht klar, daß ihr Ratschlag, sich eine andere
Frau zu nehmen, das gleiche war, als würden sie Gemma Lawrence
raten, sich ein anderes Kind anzuschaffen.
Er zog seine Sachen aus und legte sich bäuchlings
aufs Bett, die Fäuste sorgsam geballt unter das Kissen geschoben.
Er zweifelte nicht im geringsten daran, wie die Nacht vergehen
würde. Alle Nächte waren gleich. Erst das Wachliegen und das
Begehren, die tatsächliche, physische Pein, als sei sein Körper ein
einziger Schrei ohne einen Auslaß für diesen Schrei; dann
schließlich der Schlaf mit dem langen, schweren, orgiastischen
Traum, der kurz vor dem Morgengrauen kommen würde.