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Burden sah sich das Blatt Papier an, das Wexford
ihm gegeben hatte. Darauf standen in einer deutlichen großen, aber
kindlichen Handschrift die Namen aller Männer, Frauen und Kinder,
die Gemma Lawrence während der letzten zehn Jahre gekannt
hatte.
»Wann hat sie das alles aufgeschrieben?«
Wexford betrachtete ihn kurz und mit
zusammengekniffenen Augen. »Heute morgen, mit Lorings Hilfe. Sie
sind nicht ihr alleiniger Privatdetektiv, wissen Sie.«
Burden errötete. Wieviel Hunderte von Leuten sie
kannte, und welch außergewöhnliche Namen sie hatten! Künstler und
Modelle und Theaterleute, nahm er an und wurde plötzlich schlecht
gelaunt. »Müssen wir uns diese ganze Bande vornehmen?«
»Die Londoner Kollegen werden uns da helfen. Ich
habe Mrs. Lawrence gebeten, jeden Namen zu notieren, weil ich den
Swans die Liste zeigen möchte.«
»Sie sehen demnach eine Verbindung zwischen den
beiden Fällen?«
Wexford antwortete nicht sofort. Er nahm Burden die
Liste aus der Hand, gab ihm ein anderes Stück Papier und sagte:
»Das hier ist gekommen. Auf Fingerabdrücke ist es schon untersucht
worden. Sie brauchen also beim Anfassen nicht aufzupassen.
Natürlich waren keine Abdrücke drauf.«
‘John Lawrence ist sicher und gut bei mir
aufgehoben’, las Burden. ‘Er spielt so gern mit meinen Kaninchen
auf der Farm. Als Beweis dafür, daß dies kein Schwindel ist, füge
ich eine Locke von ihm bei.’ Der Text war in Blockbuchstaben auf
einem Blatt linierten Papiers geschrieben, und Orthographie und
Interpunktion waren korrekt. ‘Seine Mutter kann ihn Montag
zurückhaben. Ich werde ihn um neun Uhr am Südende von Myfleet Ride
in Cheriton Forest absetzen. Wenn jemand versucht, ihn vor neun Uhr
dreißig abzuholen, werde ich es erfahren, und ich werde John
totschießen. Dies ist eine ernsthafte Warnung. Wenn Sie sich
kooperativ zeigen, werde ich mein Versprechen halten.’
Burden ließ das Blatt voller Widerwillen fallen.
Obgleich er an solche Dinge gewöhnt war, konnte er sie doch nicht
lesen, ohne daß es ihm kalt den Rücken hinunterlief. »War eine
Locke dabei?« wollte er wissen.
»Hier.«
Das Haar war zu einem glatten, weichen Kringel
gedreht wie das Zierlöckchen einer Dame. Burden nahm es mit einer
Pinzette auf und registrierte dabei die Feinheit der rotgoldenen
Strähne, und daß sie nicht so geknickt und spröde war wie
Erwachsenenhaar.
»Es ist Menschenhaar«, sagte Wexford. »Ich habe
Crocker gleich daraufgehetzt. Er sagt, es sei Kinderhaar, aber wir
müssen natürlich noch eine Expertise einholen.«
»Weiß Mrs. Lawrence schon davon?«
“Gott sei Dank, er ist in Sicherheit«, sagte sie,
als sie die ersten Zeilen gelesen hatte. Sie hielt den Brief einen
Augenblick an ihre Brust gepreßt, aber sie weinte nicht. »Er ist
irgendwo auf einer Farm, sicher und gesund. 0 mein Gott! Und was
habe ich mir für Sorgen gemacht! Stellen Sie sich vor, alles
umsonst, und am Montag habe ich ihn wieder.«
Burden verschlug es die Sprache. Er hatte ihr
bereits erklärt, sie dürfe keine allzu großen Hoffnungen in den
Brief setzen, und daß in neunundneunzig von hundert Fällen solche
Briefe nichts als grausamer Schwindel seien. Und sie reagierte, als
habe er nichts dergleichen gesagt.
»Lassen Sie mich das Haar sehen«, sagte sie.
Widerstrebend zog er den Umschlag mit der Locke aus
seiner Brieftasche. Sie sog scharf die Luft ein, als sie die kleine
goldene Locke sah. Bis jetzt war sie sorgsam mit Pinzetten angefaßt
worden, aber sie nahm sie, streichelte sie und preßte sie an den
Mund. »Kommen Sie mit rauf.«
Er folgte ihr nach oben in Johns Zimmer und
bemerkte sofort, daß das Bett des Kindes seit seinem Verschwinden
nicht gemacht worden war. Aber das Zimmer war sehr hübsch
ausgestattet, voller Spielzeug und mit einer wunderschönen, teuren
Tapete, auf der sich Dürersche Tiere tummelten. So sehr sie auch
den Rest des Hauses vernachlässigen mochte, dieses Zimmer hatte sie
liebevoll eingerichtet und wahrscheinlich selbst tapeziert. Burdens
Meinung von ihr als Mutter stieg.
Sie ging zu einer kleinen blaugestrichenen Kommode
hinüber und holte Johns Haarbürste. Ein paar feine blonde Härchen
hatten sich zwischen den Borsten verfangen, und mit ernsthafter,
konzentrierter Miene verglich sie sie mit der Locke in ihrer Hand.
Dann wandte sie sich um und lächelte strahlend.
Burden hatte sie noch nie richtig lächeln sehen.
Bisher war ihr Lächeln immer kurz und verwaschen gewesen, wie eine
fahle Sonne, dachte er plötzlich, die nach einem Regen hervorkam.
Solche Metaphern waren ihm normalerweise fremd, zu ausgefallen, und
gar nicht seine Art. Doch das Bild kam ihm jetzt, als er die volle
Macht ihres strahlenden, glücklichen Lächelns zu spüren bekam, und
wieder sah er, wie schön sie war. »Es ist dasselbe, nicht wahr?«
sagte sie, und das Lächeln verschwand, während sie fast flehend
wiederholte: »Nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht.« Es sah sicher sehr ähnlich
aus, doch Burden war sich nicht sicher, ob er wollte, daß es
dasselbe Haar war, oder nicht. Wenn dieser Mann John wirklich bei
sich hatte, und wenn er ihm tatsächlich eine Locke abgeschnitten
hatte, war es dann wahrscheinlich, daß er ihn gehen lassen würde,
ohne ihm etwas anzutun? Würde er riskieren, daß der Junge ihn
identifizieren konnte? Andererseits hatte er kein Geld verlangt...
»Sie sind die Mutter«, murmelte er. »Ich würde mir nicht zutrauen,
zu sagen...«
“Ich weiß, daß er in Sicherheit ist«, sagte sie.
»Ich fühle es. Ich muß nur noch zwei Tage durchstehen.«
Er brachte es nicht übers Herz, danach noch etwas
zu sagen. Nur ein Ungeheuer würde solch strahlendes Glück zerstören
wollen. Damit sie die letzten Zeilen nicht lesen konnte, wollte er
ihr den Brief aus der Hand nehmen, doch sie las zu Ende.
»Ich habe von solchen Fällen gehört«, sagte sie,
und etwas von der früheren Furcht kehrte in ihre Stimme zurück,
während sie ihn anblickte, »und was die Polizei dann macht. Sie
würden nicht - ich meine, Sie würden doch nichts unternehmen, wovor
er Sie warnt? Sie würden nicht versuchen, ihn in eine Falle zu
locken? Weil er John dann...«
»Ich verspreche Ihnen«, sagte er, »daß wir nichts
tun werden, was Johns Leben in irgendeiner Weise gefährden könnte.«
Ihm war aufgefallen, daß sie keine haßerfüllte Bemerkung über den
Briefschreiber gemacht hatte. Andere Frauen an ihrer Stelle hätten
herumgewütet und nach Rache geschrien. Sie war nur von Freude
erfüllt gewesen. »Wir werden am Montag früh um halb zehn hingehen,
und wenn er da ist, werden wir ihn zurückbringen.«
»Er wird dasein«, sagte sie. »Ich traue diesem
Mann. Ich habe das Gefühl, er ist aufrichtig. Wirklich, Mike, das
habe ich.« Sein Vorname aus ihrem Mund trieb ihm das Blut ins
Gesicht. Er merkte, daß seine Wangen brannten. »Wahrscheinlich ist
er furchtbar einsam«, meinte sie sanft. »Ich weiß, was es heißt,
einsam zu sein. Wenn John ihn ein paar Tage aus dieser Einsamkeit
herausgerissen hat, so gönne ich ihm John.«
Es war unglaublich, und Burden konnte es nicht
begreifen. Wäre es sein Sohn, sein John, er hätte den Mann am
liebsten umgebracht, ihn langsam und qualvoll sterben sehen. Ja,
seine Empfindungen dem Briefschreiber gegenüber waren derart
heftig, daß es ihn selbst erschreckte. Wenn ich den zwischen die
Finger bekäme, dachte er, nur ein paar Minuten allein in der Zelle
mit ihm, bei Gott, und wenn es mich den Job kostete... Er riß sich
aus seinen Gedanken und sah, daß ihr Blick auf ihm ruhte, gütig,
sanft und mitfühlend.
In seiner Hast, zu Gemma zu kommen, hatte Burden
die Swans ganz vergessen, doch nun fiel ihm ein, daß Wexford gesagt
hatte, der Brief könne helfen, eine Verbindung zwischen den beiden
Fällen herzustellen. Der Chief Inspector war noch in seinem
Büro.
»Swan bewohnt einen Bauernhof«, sagte er. “Ich habe
angerufen, aber er ist bis drei Uhr unterwegs.«
»Hält er Kaninchen?«
»Lassen Sie mich bloß mit Karnickeln in Ruhe. Ich
habe gerade eine Stunde mit dem Sekretär des örtlichen
Kaninchenzüchtervereins hinter mir. Kaninchen! Es wimmelt nur so
von ihnen hier in der Gegend, Old English, Blue Beverens, alles,
was das Herz begehrt. Ich sage Ihnen, Mike, es ist wie in den
Sprüchen Salomos: ‘Kaninchen, ein schwach Volk, dennoch legt’s sein
Haus in den Felsen!’«
»Und alle Züchter sind überprüft?« fragte Burden
unbewegt.
Wexford nickte. »Und bei alledem weiß ich genau,
daß der ganze verdammte Zirkus Schwindel ist«, sagte er. »Ich - und
mit mir Dutzende von Kollegen - werde den besten Teil des
Wochenendes auf der Jagd nach Karnickeln und Bauern und mit der
Überprüfung von Waffenscheinen zubringen, und ich werde
Haarexperten Honig ums Maul schmieren, obwohl ich weiß, daß es sich
um blinden Alarm handelt und ich nichts tue, als Zeit zu
verschwenden.«
»Aber es muß sein.«
»Natürlich muß es sein. Gehen wir essen.«
Im Carousel Café war vom Angebot auf der
Karte nur noch Schinken und Salat übrig. Wexford stocherte ohne
große Begeisterung auf seinem Teller herum, auf dem
Kopfsalatblätter sparsam mit Kohl und Möhrenstreifen umlegt waren.
»Kamickel verfolgen mich ja geradezu«, brummelte er. »Soll ich
Ihnen etwas über Swan und seine Frau erzählen?«
»Ein paar Hintergrundinformationen sollte ich wohl
haben.«
»Normalerweise«, begann Wexford, »empfindet man mit
den Eltern eines vermißten Kindes zu viel Mitleid. Die eigenen
Gefühle kommen mit ins Spiel.« Er ließ den Blick von seinem Teller
zu Burdens Gesicht gleiten und spitzte die Lippen. »Was keine Hilfe
ist«, fuhr er fort. »Also, ich hatte nicht sonderlich viel Mitleid
mit ihnen. Warum, werden Sie gleich verstehen.« Er räusperte sich
und sprach weiter. »Nach Stellas Verschwinden haben wir uns
intensiver mit dem Leben und der Geschichte Ivor Swans beschäftigt,
als es mir jemals bei einem Fall in Erinnerung ist. Ich könnte
seine Biographie schreiben.
Er wurde als Sohn eines gewissen General Sir Rodney
Swan in Indien geboren, zum Schulbesuch nach England und
anschließend nach Oxford geschickt. Im Besitz dessen, was er mit
geringem Privatvermögen bezeichnet, hat er nie direkt eine
berufliche Laufbahn eingeschlagen, sondern in verschiedenen Berufen
herumgestümpert. Eine Zeitlang hat er für jemand Ländereien
verwaltet, aber da ist er bald rausgeflogen. Er hat einen Roman
geschrieben, von dem dreihundert Stück verkauft wurden, so daß er
das Experiment nie wiederholte. Statt dessen versuchte er sich in
Public Relations, und seine Firma verlor in einem Jahr durch ihn
zwanzigtausend Pfund. Totale und tief in seinem Wesen verwurzelte
Faulheit kennzeichnet Ivor Swan. Er ist die fleischgewordene
Trägheit. Ach, und gut aussehen tut er auch noch, überwältigend gut
sogar, warten Sie, bis Sie ihn kennenlernen.«
Burden goß sich ein Glas Wasser ein und schwieg. Er
beobachtete, wie sich Wexfords Gesichtsausdruck belebte und
erwärmte, während er sein Thema verfolgte. Früher war auch er in
der Lage gewesen, sich so begeistert in die Charaktere von
Verdächtigen hineinzuversetzen.
»Swan hatte selten ein geregeltes häusliches
Leben.., erzählte Wexford weiter. »Manchmal lebte er eine Weile bei
seiner verwitweten Mutter in ihrem Haus in Bedfordshire, dann
wieder bei einem Onkel, der irgendein hohes Tier bei der Luftwaffe
war. Und, jetzt komme ich zu einem interessanten Punkt, wo immer er
hinkommt, scheint er irgendwelche Katastrophen auszulösen. Nicht
der Dinge wegen, die er tut, sondern der Dinge wegen, die er nicht
tut. Ein böses Feuer brach im Haus seiner Mutter aus, während er
dort wohnte. Swan war mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen.
Dann war da der Verlust in der PR-Firma, weil er nichts tat; der
Rausschmiß bei dem Verwaltungsjob - da hat er ein ganz schönes
Chaos hinterlassen -, alles seiner Bequemlichkeit wegen.
Vor ungefähr zwei Jahren landete er in Karachi.
Damals nannte er sich freiberuflicher Journalist, und der Zweck
seines Besuchs dort war die Untersuchung des angeblichen
Goldschmuggels durch Angehörige der Luftfahrtgesellschaften. Jede
Story, die er zusammengebraut hätte, wäre wahrscheinlich
verleumderisch gewesen, aber - wie es sich ergab - sie wurde nie
geschrieben, jedenfalls hat keine Zeitung sie je veröffentlicht.
Peter Rivers war bei einer Fluggesellschaft in Karachi angestellt,
nicht als Pilot, sondern beim Bodenpersonal, Gepäckabfertigung und
dergleichen, und er lebte mit Frau und Tochter in einem
unternehmenseigenen Haus. Im Laufe seiner Ermittlungen freundete
Swan sich mit Rivers an. Genauer gesagt, mit dessen Frau. »
»Sie meinen, er hat sie ihm abspenstig gemacht?«
warf Burden auf gut Glück ein.
»Wenn man sich vorstellen kann, daß Swan so aktiv
wird, jemandem etwas abspenstig zu machen, ja. Ich würde eher
sagen, die schöne Rosalind - Von Ost bis Nord bis nach Westind ist
kein Juwel wie Rosalind’ - heftete sich an Swan und hielt fest. Das
Ergebnis war schließlich, daß Swan plus Rosalind plus Stella nach
England zurückkehrten, ein Jahr später bekam Rivers sein
Scheidungsurteil.
Die drei wohnten zusammen in einer schäbigen
Mietwohnung, die Swan in Maida Vale nahm, aber nach der Heirat
entschied Swan, oder wahrscheinlicher Rosalind, daß die Bude zu
klein war, und sie zogen hier heraus auf die Hall Farm.«
»Woher hatte er denn das Geld dafür?«
“Na ja, einmal ist es keine Farm, eher ein
aufgeputztes Bauernhaus, dessen gesamte Ländereien verpachtet sind.
Zweitens hat er es nicht gekauft. Es gehört zum Familienbesitz.
Swan streckte Fühler bei seinem Onkel aus, und der überließ ihm
Hall Farm für eine Nominalmiete.«
»Für manche Leute ist das Leben sehr einfach,
nicht?« sagte Burden und dachte dabei an Hypotheken und Abzahlungen
und widerwillig gewährte Bankkredite. »Keine Geldnöte, keine
Wohnprobleme.«
»Sie sind letztes Jahr im Oktober hergezogen.
Stella wurde nach Sewingsbury auf die Klosterschule geschickt -
Schulgeld bezahlte der Onkel -, und Swan ließ sie diese Reitstunden
nehmen. Er reitet selbst und jagt ein bißchen. Nichts weiter
Ernsthaftes, aber er betreibt ja sowieso nichts sonderlich
ernsthaft.
Was Rivers angeht, er hatte sowieso schon lange
eine heimliche Beziehung zu einer Stewardeß gehabt und heiratete
ebenfalls wieder. Swan, Rosalind und Stella plus ein
Au-pair-Mädchen machten es sich also auf Hall Farm bequem, und
dann, peng, inmitten all dieser Zuckerseligkeit verschwindet
Stella. Kein Zweifel, daß Stella tot ist, ermordet.«
»Es scheint klar«, sagte Burden, »daß Swan nichts
damit zu tun haben kann.«
Eigensinnig meinte Wexford: »Er hatte kein Alibi.
Und da ist noch etwas, etwas weniger Greifbares, etwas in der
Persönlichkeit des Mannes.«
»Er scheint mir zu faul, um je aggressiv zu
werden.«
»Ich weiß, ich weiß.« Wexford stöhnte die Worte
beinah heraus. »Und mit den Augen des Gesetzes betrachtet, hatte er
ein makelloses Vorleben. Nirgends etwas von Gewalttätigkeit,
geistiger Störung oder gar Hitzköpfigkeit. Er hatte nicht mal den
Ruf, ein Schürzenjäger zu sein. Gelegentliche Freundinnen, ja, aber
bis er Rosalind traf, war er nie verheiratet oder verlobt oder
hatte mit einer Frau zusammengelebt. Aber einen Ruf hatte er doch,
den, Katastrophen anzuziehen. Es gibt da eine Zeile in einem
ziemlich düsteren Sonett: ‘Wer, wo er Macht hat, keine Streiche
führt...« Ich glaube nicht, daß damit gemeint ist, nichts Böses
tun, sondern gar nichts tun. Das ist Swan. Wenn er diesen
Mord nicht auf dem Gewissen hat, so ist er doch seinetwegen
passiert oder durch ihn oder weil er so ist, wie er ist. Glauben
Sie, das ist alles aus der Luft gegriffene Einbildung?«
“Ja”, erwiderte Burden bestimmt.
St. Lukas Little Summer blieb in seinem Glanz
bestehen, zumindest tagsüber. Die Hecken leuchteten in feinstem
Grüngold, und der Frost hatte die Chrysanthemen und späten Astern
in den Gärten noch nicht schwarz gefärbt. Das Jahr neigte sich in
Würde dem Ende entgegen.
Die Zufahrt zu dem Anwesen führte über eine schmale
Straße, die voller welker Blätter lag und von Ranken der
Waldrebenhecke mit ihren flaumigen Fruchtständen überwuchert wurde;
hier und dort hinter den wolligen Massen erhoben sich Kiefern, ihre
Stämme vom Sonnenlicht in ein kräftiges Korallenrosa getaucht. Am
Ende der Zufahrt stand ein langes, niedriges Haus aus Stein und
Schiefer, doch der größte Teil des Gemäuers wurde von dem
flammendroten Laub des wilden Weins verdeckt, der es
berankte.
»Du côté de chez Swan«, sagte Wexford
leise.
Anspielungen auf Proust gingen bei Burden ins
Leere. Er betrachtete den Mann, der gerade mit einem großen braunen
Wallach am Halfter hinter dem Haus hervorgekommen war.
Wexford stieg aus und ging zu ihm hinüber. »Wir
kommen ein bißchen früh, Mr. Swan. Ich hoffe, nicht
ungelegen.«
»Nein«, erwiderte Swan. “Wir sind eher wieder hier
gewesen als erwartet. Ich wollte gerade Sherry ein bißchen bewegen,
aber das hat Zeit.«
»Das ist Inspector Burden.«
»Angenehm«, sagte Swan und streckte die Hand aus.
“Erfreulich, dies sonnige Wetter, nicht? Macht es Ihnen etwas aus,
mit hintenherum zu kommen?«.
Er war ganz sicher ein äußerst gut aussehender
Mann. Burden entschied es, ohne direkt sagen zu können, worin
dieses gute Aussehen eigentlich bestand, denn Ivor Swan war weder
groß noch klein, weder dunkel noch hell, und seine Augen hatten
jene undefinierbare Farbe, die man in Ermangelung einer genaueren
Bezeichnung grau nennt. Seine Gesichtszüge waren nicht von
besonderer Regelmäßigkeit, seine Figur zeigte, obgleich sie drahtig
wirkte, keinerlei athletische Muskelentwicklung. Doch er bewegte
sich mit einer eindeutig männlichen Grazie, strahlte einen vagen,
lässigen Charme aus und verbreitete rundum eine Aura von
Attraktivität, die ihn sofort auffallen ließ.
Seine Stimme klang sanft und wohltönend, und er
sprach seine Worte langsam und wohlartikuliert. Er schien alle Zeit
der Welt zu haben, ein Zauderer, der immer auf morgen verschob,
wozu er sich heute nicht aufraffen konnte. So um die
zweiunddreißig, dreiunddreißig, schätzte Burden, aber er konnte bei
einem oberflächlichen Betrachter leicht für fünfundzwanzig
durchgehen.
Die beiden Polizisten folgten ihm in eine Art
Kammer hinter der Küche, wo einige Gewehre und verschiedenes
Angelgerät über ordentlichen Reihen von Reit- und Gummistiefeln
hingen.
»Sie halten keine Kaninchen, Mr. Swan, oder?«
fragte Wexford.
Swan schüttelte den Kopf. »Ich schieße sie
höchstens oder versuche es, wenn ich sie auf meinem Land
erwische.«
In der eigentlichen Küche waren zwei Frauen mit
Hausarbeit beschäftigt. Die jüngere, ein plumpes, dunkelhaariges
Mädchen, war dabei, ein ‘kontinentales Durcheinander’ vorzubereiten
- so bezeichnete Burden bei sich chauvinistisch die Berge von
Gemüse, Dosen mit Trockenkräutern, Eier und das Hackfleisch auf dem
Küchentisch. In gebührendem Abstand von all dem Schneiden und
Spritzen bügelte eine winzige, puppengleiche Blondine Hemden. Fünf
oder sechs waren schon fertig. Und mindestens noch mal so viele
lagen noch ungebügelt. Burden fiel auf, daß sie sich besondere Mühe
gab, keine horizontalen Falten unter der Passe des Hemdes zu
verursachen, das sie gerade vor sich hatte, ein Fehler, den hastige
oder unachtsame Frauen oft machen, und der das Ausziehen des
Jacketts für den Träger peinlich werden läßt.
»Guten Tag, Mrs. Swan. Können wir Sie ein paar
Minuten stören?«
Rosalind Swan hatte ein mädchenhaftes Gebaren, sie
trug das Haar in einem fedrigen ‘Bovverschnitt’, und nichts in
ihrem Gesicht oder Verhalten deutete daraufhin, daß sie vor acht
Monaten ihr einziges Kind verloren hatte. Sie trug eine weiße,
lange Hose und knallrosa Schnallenschuhe, aber Burden schätzte, sie
war in seinem Alter.
»Ich kümmere mich gern selbst um die Wäsche meines
Mannes«, erklärte sie in einer Art, die Burden nur als fröhlich
bezeichnen konnte, »und von Gudrun kann man kaum erwarten, daß sie
seinen Hemden dieses kleine Extra der liebevollen Ehefrau gibt,
nicht wahr?«
Aus langer Erfahrung wußte Burden, daß ein Mann,
wenn er ein Verhältnis mit einer anderen Frau hat und seine eigene
Frau in deren Beisein eine ungewöhnlich kokette und absurde
Bemerkung macht, meist unwillkürlich einen abfälligen Blick mit
seiner Mätresse tauscht. Er hatte keinen Grund anzunehmen, Gudrun
sei mehr als nur eine Angestellte für Swan - eine Schönheit war sie
sicher nicht -, aber er beobachtete die beiden trotzdem bei Mrs.
Swans Worten. Gudrun sah nicht hoch, und Swans Blick war auf seine
Frau gerichtet. Es war ein bewundernder, liebevoller Blick, und er
schien nichts Lächerliches an ihren Worten zu finden.
»Du kannst meine Hemden später bügeln,
Rozzy.«
Burden hatte den Eindruck, daß Swan solche
Bemerkungen öfter machte. Alles konnte auf einen anderen Tag oder
eine andere Zeit verschoben werden. Bequemlichkeit oder ein
Gespräch hatten immer Vorrang vor irgendwelchen Aktivitäten. Er
dachte, er höre nicht ganz richtig, als Mrs. Swan munter
sagte:
»Sollen wir in den Salon gehen,
Herzliebster?«
Wexford sah ihn nur an, sein Gesicht zeigte
keinerlei Ausdruck.
Der ‘Salon’ war mit billigen Stühlen und dubiosen
Antiquitäten angefüllt, und hier und dort hingen Messingutensilien,
deren praktischer Nutzen in einem modernen Haushalt, und wenn man
recht überlegte, auch in einem von früher, zweifelhaft erschien. Er
spiegelte keine definitive Geschmacksrichtung wider, strahlte keine
Individualität aus, und Burden fiel auf, daß Hall Farm
wahrscheinlich mitsamt der Einrichtung an Swan übergeben worden
war, da er sonst nirgendwo ein Zuhause hatte.
Mrs. Swan hakte ihren Mann unter und führte ihn zu
einem Sofa, wo sie, dicht neben ihm sitzend, ihren Arm wegzog und
seinen Arm nahm. Swan ließ all das mit sich geschehen und schien
seine Frau dabei zu bewundern.
»Keiner dieser Namen kommt mir bekannt vor, Chief
Inspector«, sagte er, als er sich die Liste angesehen hatte. »Und
dir, Roz?«
“Ich glaube nicht, Herzliebster.«
Ihr Herzliebster sagte: »Ich habe in der Zeitung
von dem vermißten Jungen gelesen. Glauben Sie, es besteht eine
Verbindung zwischen den beiden Fällen?«
»Sehr wahrscheinlich, Mr. Swan. Sie sagen, keiner
der Namen auf der Liste sei Ihnen bekannt. Kennen Sie denn Mrs.
Gemma Lawrence?«
“Wir kennen kaum jemanden hier in der Gegend«,
erklärte Rosalind Swan. »Man könnte sagen, wir leben noch in den
Flitterwochen.«
Burden fand das eine geschmacklose Äußerung. Die
Frau war mindestens achtunddreißig und ein Jahr verheiratet. Er
wartete, ob sie etwas über das Kind sagen würde, das Kind, das nie
gefunden worden war, irgendeine Gefühlsäußerung, doch Mrs. Swan
blickte mit unermüdlichem Stolz auf ihren Mann. Burden fand es an
der Zeit, seine eigenen Überlegungen einzubringen, und sagte
ausdruckslos:
»Können Sie belegen, was Sie Donnerstag nachmittag
gemacht haben, Sir?«
Der Mann war nicht besonders groß, hatte kleine
Hände, und ein Hinken konnte jeder simulieren. Außerdem hatte
Wexford gesagt, er habe auch für jenen anderen Donnerstag kein
Alibi gehabt...
»Sie haben mich also für die Rolle des Kidnappers
ausersehen, ja?« sagte Swan zu Wexford.
»Mr. Burden hat Sie gefragt«, meinte Wexford
gelassen.
»Ich werde nie vergessen, wie Sie mich gehetzt
haben, als unsere arme kleine Stella verschwand.«
»Arme kleine Stella«, echote Mrs. Swan
friedlich.
»Reg dich nicht auf, Rozzy. Du weißt, ich mag es
nicht, wenn du unglücklich bist. Also, was habe ich am Donnerstag
gemacht? Ich muß wohl jetzt jedesmal, wenn Sie ein neues Opfer auf
Ihre Vermißtenliste setzen, mit dieser Art von Befragung rechnen.
Ich war hier am letzten Donnerstag. Meine Frau war in London, und
Gudrun hatte den Nachmittag frei. Ich war ganz allein. Ich habe ein
bißchen gelesen und mich dann aufs Ohr gelegt.« Ein Anflug von Zorn
erschien auf seinem Gesicht. »Ach, und so gegen vier bin ich nach
Stowerton rübergeritten und habe ein paar Kinder umgebracht, die
die Straße verunzierten.«
»Oh, Ivor, Liebster!«
»So etwas ist nicht komisch, Mr. Swan.”
»Nein, und der Verdacht, ich hätte zwei Kinder
umgebracht, eins davon auch noch das meiner eigenen Frau, ist
ebenfalls nicht komisch.«
Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. »Ich
wollte fragen«, sagte Burden auf der Rückfahrt, »hieß sie
eigentlich weiter Rivers, nachdem ihre Mutter wieder geheiratet
hatte?«
»Mal so, mal so, soweit ich mitbekommen habe. Als
sie vermißt wurde, war sie Stella Rivers für uns, weil das ihr
richtiger Name war. Swan sagte, er habe vorgehabt, den Namen
urkundlich ändern zu lassen, aber unternommen hatte er nichts in
der Richtung. Typisch für ihn.«
»Erzählen Sie mir von dem nicht existierenden
Alibi«, sagte Burden.