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Martin, Loring und ihre Helfer waren immer noch
dabei, Kaninchenhalter zu befragen, während Bryant, Gates und ein
halbes Dutzend andere die Von-Haus-zu-Haus-Suche in Stowerton
fortsetzten. Constable Peach hatte in Wexfords Abwesenheit einen
Kinderturnschuh mitgebracht, den er in einem Feld bei Flagstone
gefunden hatte, aber es war die falsche Größe, und überhaupt, John
Lawrence hatte keine Turnschuhe angehabt.
Wexford las die Notizzettel auf seinem
Schreibtisch, aber die meisten waren negativ, keinem mußte man
sofortige Aufmerksamkeit widmen. Er ging noch einmal den anonymen
Brief durch und steckte ihn mit einem Seufzer in den Umschlag
zurück.
»Im Stella-Rivers-Fall hätten wir mit den Briefen
die Wände dieses Büros tapezieren können«, sagte er, »und wir sind
allen nachgegangen. Es kamen fünfhundertdreiundzwanzig Anrufe. Was
da bloß alles in den Köpfen der Leute vorgeht, Mike, die Macht
ihrer Einbildung! Fast alle haben sich in bester Absicht gemeldet.
Neunzig Prozent dachten wirklich, sie hätten Stella gesehen,
und...«
Burden unterbrach ihn. »Ich wollte das mit Swans
Alibi wissen.«
»Swan hat Stella nach ‘Equita’ gefahren. Das war um
halb drei. Blöder Name, nicht? Ob das nun was mit Pferden auf
lateinisch oder mit Equivalent zu tun haben soll, könnte ich auch
nicht sagen.«
Burden reagierte immer ungeduldig auf solche
Abschweifungen. »Was für einen Wagen fährt er?«
»Keinen roten Jaguar. Einen ältlichen Ford-Kombi.
Er hat sich am Tor von Stella verabschiedet in dem Glauben, Freunde
würden sie mit zurücknehmen, wie er sagte, und fuhr wieder nach
Hause. Um halb vier ist er selber ausgeritten, mit diesem
Sherry-Untier, und zwar nach Myfleet, um dort, glauben Sie’s oder
nicht, einen Mann wegen eines Hundes aufzusuchen.«
»Sie machen Witze.«
»Würde ich das tun? Über so eine Sache? Da wohnt
ein gewisser Blain in Myfleet, der Pointer züchtet. Swan sah sich
ein paar Welpen an mit dem Hintergedanken, eventuell einen für
Stella zu kaufen. Natürlich hat er keinen gekauft, genausowenig,
wie er je das Pony gekauft hat, das er ihr versprochen hatte, oder
ihren Namen ändern ließ. Swan ist der Typ, der immer ‘gerade auf
dem Weg ist, etwas zu tun’. Ein großer Planer vor dem Herrn, das
ist er.«
»Aber er hat diesen Mann aufgesucht?«
»Blain sagte uns, Swan sei von zehn vor vier bis
Viertel nach vier bei ihm gewesen, aber er kam erst um halb sechs
nach Hall Farm zurück.«
»Und wo war er seinen Angaben nach in diesen
eineinviertel Stunden?«
»Einfach herumgeritten, sagt er. Das Pferd hat
Auslauf gebraucht. Vielleicht mußte es auch gewaschen werden, denn
beide, Reiter und Pferd, waren offenbar bis auf die Haut durchnäßt,
als sie nach Hause kamen. Aber so merkwürdig das auch klingt, es
paßt zu Swan. Er würde tatsächlich hoch zu Roß im Regen
herumtraben. Sein Weg führte ihn, wie er sagt, durch Cheriton
Forest, doch er konnte keine einzige Person nennen, die das
bestätigte. Andererseits hätte er Zeit genug gehabt, zur Mill Lane
zu reiten und Stella zu töten. Aber wenn er das getan hat, warum
hat er es getan? Und was hat er mit der Leiche gemacht? Seine Frau
hat ebenfalls kein Alibi. Sie behauptet, in Hall Farm gewesen zu
sein, und sie kann nicht Auto fahren. Zumindest hat sie keinen
Führerschein.«
Burden verarbeitete all das sorgfältig. Dann
entschied er, daß er mehr über Stellas Weggang von ‘Equita’ wissen
wollte. Er wollte die Einzelheiten wissen, die Wexford ihm aus
Zeitmangel nicht hatte geben können, als sie zusammen im Auto in
der Fontaine Road gesessen hatten.
»Die Kinder«, erklärte Wexford, »hatten eine Stunde
Reiten, und dann haben sie sich noch eine Stunde mit den Pferden
beschäftigt. Miss Williams, die Besitzerin von ‘Equita’, die in
einem an die Ställe angrenzenden Haus wohnt, sah Stella zwar an
jenem Nachmittag, sprach aber ihren Angaben nach nicht mit ihr, und
wir haben keinen Grund, ihre Aussage anzuzweifeln. Mrs. Margaret
Fenn hat die Kinder an dem Tag unterrichtet. Sie ist Witwe, so um
die Vierzig, und sie wohnt in dem Häuschen, das als Pförtnerhaus zu
Saltram House gehörte. Kennen Sie es?«
Burden kannte es. Die Ruine von Saltram House und
sein Park, inzwischen zur Wildnis geworden, hatten zu seinen und
Jeans Lieblingsplätzchen gehört. Für sie war es ein romantischer
Ort gewesen, eine verlassene Domäne, wo sie als jungverheiratetes
Paar oft Abendspaziergänge gemacht hatten, und wohin sie später oft
mit ihren Kindern zum Picknick zurückgekehrt waren.
Den ganzen Tag über hatte er kaum an Jean und seine
glückliche Vergangenheit mit ihr gedacht. Sein Elend war durch die
gegenwärtigen aufregenden Ereignisse zurückgedrängt. Doch jetzt sah
er wieder ihr Gesicht vor sich und hörte sie seinen Namen rufen,
als sie die Gärten erkundeten, welche die Zeit in Brachland
verwandelt hatte, und dann Hand in Hand die dunkle, kalte Hausruine
betraten. Ihn fröstelte.
»Sind Sie okay, Mike?« Wexford sah ihn kurz und
besorgt an, dann fuhr er fort: “Stella verabschiedete sich von Mrs.
Fenn und sagte, da ihr Stiefvater - übrigens nannte sie ihn immer
ihren Vater - noch nicht da sei, wolle sie ihm auf der Mill Lane
entgegengehen. Mrs. Fenn ließ das Mädchen nicht gern allein
losziehen, aber es war noch hell, und sie konnte sie nicht
begleiten, da sie noch anderthalb Stunden bleiben mußte, um
aufzuräumen. Sie beobachtete, wie Stella durch das Tor von ‘Equita’
ging und wurde so zum letzten Menschen, der sie sah, bevor sie
verschwand - bis auf einen.«
»Bis auf einen?«
»Vergessen Sie nicht den Mann, der ihr anbot, sie
mitzunehmen. Und nun die Häuser entlang der Mill Lane. Es gibt nur
drei zwischen ‘Equita’ und Stowerton, alle weit voneinander
entfernt: Saltram Lodge und zwei Cottages. Bevor Hill ihr die
Mitfahrgelegenheit anbot, hatte sie schon eins der Cottages hinter
sich gelassen, das eine, das nur an Wochenenden bewohnt ist - und
in dem an diesem Donnerstag deshalb niemand war. Nachdem Hill sie
gesehen hatte, wissen wir nicht, was mit ihr passiert ist, aber
wenn sie unbehelligt weitergegangen wäre, so wäre sie als nächstes
am zweiten Cottage vorbeigekommen, das vermietet ist. Der Mieter,
ein alleinstehender Mann, war zur Arbeit und kam nicht vor sechs
nach Hause. Auch dies ist sorgfältig nachgeprüft worden, denn
sowohl dieses Cottage als auch Saltram Lodge haben Telefon, und
eine der Möglichkeiten, die mir einfielen, war, daß Stella
womöglich zu einem Haus gegangen sein könnte, um dort zu fragen, ob
sie telefonieren könne. Das dritte und letzte Haus ist Saltram
Lodge. Auch dort war niemand, bis Mrs. Fenn um sechs nach Hause
kam. Sie hatte Verwandtenbesuch aus London gehabt, aber der war mit
dem Dreiuhrfünfundvierzigzug von Stowerton nach London abgefahren.
Ein Taxifahrer bestätigte, er habe die Leute zwanzig nach drei
abgeholt.«
»Und das war alles?« fragte Bürden. »Keine weiteren
Hinweise?«
Wexford schüttelte den Kopf. »Nicht das, was man
Hinweise nennen könnte. Die übliche Herde Leute mit den wenig
hilfreichen Beweisen. Eine Frau hatte vor einem der Cottages einen
Kinderhandschuh gefunden, aber es war nicht Stellas. Dann war da
noch ein Anbieter von Mitfahrgelegenheiten, der erklärte, gegen
halb sechs in der Nähe von Saltram Lodge einen älteren Mann
aufgegabelt und nach Stowerton mitgenommen zu haben, doch dieser
Fahrer war ein etwas undurchsichtiger Kerl, der mir den Eindruck
machte, eher vom Typ sensationslüstern zu sein als einer, auf
dessen Wort man sich verlassen kann.
Ein Lastwagenfahrer behauptete, er habe einen
Jungen aus der Hintertür eines der Häuser kommen sehen, und
vielleicht stimmte das auch. Alle lassen in diesem Teil der Welt
ihre Hintertüren offen. Sie glauben, auf dem Lande gäbe es keine
Kriminalität. Aber der Fahrer sagte auch aus, er habe Schreie
hinter der Hecke gleich bei ‘Equita’ gehört, und wir wissen, daß
Stella lebte und unversehrt war bis zu dem Augenblick, wo sie Hills
Mitfahrangebot ausschlug. Ich bezweifle, ob wir je mehr
herausfinden werden.«
Wexford sah müde aus, das schwammige Gesicht
schwerer und schlaffer als gewöhnlich. “Ich werde morgen ein paar
Stunden freinehmen, Mike, und ich rate Ihnen, das auch zu tun. Wir
sind beide total ausgepumpt. Schlafen Sie einfach mal aus.«
Burden nickte abwesend. Er sagte nicht, daß
Schlafen keinen Sinn hat, wenn niemand da ist, mit dem man schlafen
kann, aber er dachte es. Während er erschöpft zu seinem Wagen ging,
kamen ihm jene seltenen, wunderbaren Sonntagvormittage in den Sinn,
wenn Jean, die sonst Frühaufsteherin war, einwilligte, bis neun mit
ihm im Bett zu bleiben. Eng umschlungen hatten sie dann den
Geräuschen gelauscht, die Pat beim Teezubereiten machte, waren
auseinandergefahren und hatten kerzengerade im Bett gesessen, wenn
sie mit dem Tablett hereinkam. Was waren das für Tage gewesen, doch
er hatte es damals nicht geahnt, nicht zu würdigen gewußt, nicht
jeden Augenblick genossen, wie er es hätte tun sollen. Und jetzt
hätte er zehn Jahre seines Lebens für einen einzigen solchen Morgen
gegeben.
Seine Erinnerungen stürzten ihn in ein dumpfes
Elendsgefühl; sein einziger Trost dabei war, daß er bald in
Gesellschaft eines Menschen sein würde, dem es ebenso schlecht ging
wie ihm, doch als er auf die stets offene Tür zuging, hörte er sie
so fröhlich und vertraut rufen, als seien sie alte Freunde. “Ich
bin am Telefon, Mike. Gehen Sie rein und setzen Sie sich. Machen
Sie sich’s gemütlich.«
Das Telefon war offenbar im Eßzimmer. Er setzte
sich in den anderen Raum, ihm war unbehaglich zumute, denn
Unordnung rief immer Unbehagen bei ihm hervor. Verwundert fragte er
sich, wie ein so schönes und charmantes Wesen es in solch einem
Chaos aushalten konnte; und er war noch mehr verwundert, als sie
hereinkam, denn sie wirkte völlig verändert, fast elegant und mit
einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht.
»Sie hätten meinetwegen nicht aufzulegen brauchen«,
sagte er und bemühte sich, nicht allzu auffällig auf ihr kurzes,
königsblaues Kleid zu stieren, auf die langen Silberketten um ihren
Hals und den silbernen Kamm in ihrem hochaufgetürmten Haar.
»Das war Matthew«, sagte sie. »Man hat ihm ein
Telefon gebracht, und er hat mich von seinem Krankenbett aus
angerufen. Er ist sehr beunruhigt wegen John, aber ich habe ihm
gesagt, es sei schon gut. Am Montag sei alles wieder in Ordnung. Er
hat so viele Sorgen, der arme Junge. Er liegt im Krankenhaus, und
seine Frau erwartet ein Baby, und er ist arbeitslos, und jetzt auch
noch das.«
»Arbeitslos? Was macht er denn beruflich?«
Sie setzte sich ihm gegenüber und schlug die
attraktivsten Beine übereinander, die Burden je meinte gesehen zu
haben. Er schaute intensiv auf einen Punkt am Fußboden neben ihren
Füßen.
»Er ist Fernsehschauspieler, jedenfalls, wenn er
Arbeit kriegen kann. Er wünscht sich so sehr, ein fester Begriff
bei den Leuten zu werden. Das Dumme ist nur, sein Gesicht ist nicht
richtig dafür. Oh, ich meine nicht, daß er nicht gut aussieht. Er
ist nur zu spät geboren. Er sieht genau aus wie Valentino, und das
ist heutzutage nicht gefragt. John wird mal ebenso aussehen wie er,
er sieht ihm jetzt schon sehr ähnlich.«
Matthew Lawrence... Irgendwie klingelte es entfernt
bei dem Namen. »Ich glaube, ich habe sein Bild mal in der Zeitung
gesehen«, sagte Burden.
Sie nickte ernsthaft. »Als Begleiter von Leonie
West, nehme ich an. Sie wurde ja fotografiert, wo sie ging und
stand.«
»Ich kenne sie. Eine Ballettänzerin. Meine Tochter
ist ganz verrückt auf Ballett. Ja, ich glaube, genau da habe ich
Ihren Exmann schon gesehen, auf Bildern mit Leonie West.«
»Matthew und Leonie waren jahrelang liiert. Dann
lernte er mich kennen. Ich war damals auf der Schauspielschule und
hatte eine kleine Rolle in einer Fernsehserie, in der er spielte.
Bei unserer Heirat hat er mir versprochen, den Kontakt zu Leonie
abzubrechen, aber er hat mich nur geheiratet, weil er ein Kind
wollte. Leonie konnte keine Kinder bekommen, sonst hätte er sie
geheiratet.«
All das hatte sie mit sehr kühler, sachlicher
Stimme gesagt, doch nun seufzte sie und schwieg. Burden wartete, er
war gar nicht mehr müde, ja sogar interessierter als gewöhnlich an
fremden Lebensgeschichten, obgleich diese ihn auf seltsame Weise
verwirrte.
Nach einer Weile fuhr sie fort. “Ich habe versucht,
unsere Ehe in Gang zu halten, und als John geboren war, dachte ich,
wir hätten eine Chance. Dann fand ich heraus, daß Matthew Leonie
immer noch traf. Schließlich bat er mich um die Scheidung, und ich
habe eingewilligt. Der Richter beschleunigte das Scheidungsurteil,
weil ein Kind unterwegs war.«
»Aber Sie sagten doch, Leonie West konnte
keine...«
»Oh, nicht Leonie. Er hat sie nicht geheiratet. Sie
ist Jahre älter als er. Sie muß inzwischen Mitte Vierzig sein. Er
hat eine Neunzehnjährige geheiratet, die er auf einer Party
kennengelernt hatte.«
»Liebe Güte«, sagte Burden.
»Sie bekam das Baby, aber es lebte nur zwei Tage.
Deshalb drücke ich ihnen jetzt die Daumen. Diesmal muß es einfach
klappen.«
Burden konnte seine Gefühle nicht länger für sich
behalten. “Hegen Sie denn gar keinen Groll?« fragte er.”Ich hätte
angenommen, daß Sie ihn und seine Frau und diese West
hassen?«
Sie zuckte die Achseln. »Arme Leonie. Man könnte
sie inzwischen eher bedauern als hassen. Außerdem mochte ich sie
eigentlich immer ganz gern. Ich hasse auch Matthew nicht oder seine
Frau. Sie konnten nichts dafür. Man konnte ja nicht erwarten, daß
sie alle meinetwegen ihr Leben ruinieren.«
»Es tut mir leid, aber ich bin in solchen Dingen
ziemlich altmodisch«, sagte Burden. “Ich glaube an Selbstdisziplin.
Die haben Ihr Leben ruiniert, oder etwa icht?«
“Oh, nein! Ich habe John, und er macht mich
sehr glücklich.«
»Mrs. Lawrence...«
»Gemma!«
»Cemma«, sagte er unbeholfen. »Ich muß Sie warnen,
sich nicht allzuviel von Montag zu versprechen. Ich glaube, Sie
sollten sich am besten gar nichts davon versprechen. Mein Chef -
Chief Inspector Wexford - hat absolut kein Vertrauen in die
Glaubwürdigkeit dieses Briefes. Er ist sicher, daß es sich um einen
Schwindel handelt.«
Sie wurde etwas blaß und verschränkte ihre Hände
ineinander. »Niemand würde solch einen Brief schreiben«, meinte sie
unschuldig, »wenn es nicht wahr wäre. Niemand könnte so grausam
sein.«
»Aber die Menschen sind grausam. Das sollten Sie
doch wissen.«
»Ich glaube es nicht. Ich weiß, John wird am Montag
dasein. Bitte - bitte verderben Sie es mir nicht. Ich halte daran
fest, es hat mich so glücklich gemacht.«
Er schüttelte hilflos den Kopf. Ihr Blick flehte,
bat ihn um ein ermutigendes Wort. Und dann, zu seinem Entsetzen,
fiel sie vor ihm auf die Knie und umklammerte seine Hände.
»Bitte, Mike, sagen Sie, daß Sie glauben, es geht
alles in Ordnung. Sagen Sie nur, daß es eine Chance gibt. Es könnte
doch sein, oder? Bitte, Mike!«
Ihre Nägel gruben sich in seine Handgelenke. »Es
gibt immer eine Chance...«
»Mehr als das, mehr als das! Lächeln Sie, zeigen
Sie mir, daß es eine Chance gibt.« Er lächelte beinah verzweifelt.
Sie sprang auf. »Bleiben Sie hier. Ich mache Kaffee.«
Der Abend brach herein. Bald würde es ganz dunkel
sein. Er wußte, er sollte eigentlich jetzt gehen, ihr hinaus folgen
und energisch sagen: ‘Also, wenn Sie okay sind, ich muß gehen.’
Hierbleiben war falsch, überschritt völlig die Grenzen seiner
Pflicht. Wenn sie Gesellschaft brauchte, dann sollte es Mrs.
Crantock sein oder einer ihrer seltsamen Freunde.
Er konnte nicht gehen. Es war unmöglich. Was für
ein Heuchler er doch war mit all seinem Gerede von Selbstdisziplin.
»Jean?« sagte er und ließ ihren Namen prüfend über seine Lippen.
Würde Jean zu Hause auf ihn warten, gäbe es kein Bleiben, wäre
Kontrolle unnötig.
Sie kam mit dem Kaffee, und sie tranken ihn im
schwachen Licht der Dämmerung. Bald konnte er sie kaum noch
erkennen, dennoch war ihre Gegenwart stärker fühlbar. Einerseits
wünschte er, sie würde Licht machen, doch andererseits auch wieder
nicht. Denn damit würde sie die Atmosphäre zerstören: warm, dunkel
und erfüllt von ihrem Duft, gleichzeitig erregend und doch
friedvoll.
Sie goß ihm Kaffee nach, und ihre Hände berührten
sich. “Erzählen Sie mir von Ihrer Frau«, sagte sie.
Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Er
gehörte nicht zu den Männern, die jedem ihr Herz öffnen. Grace
hatte versucht, ihn aus der Reserve zu locken. Dieser Idiot Camb
hatte es versucht, und auf taktvollere Weise auch Wexford. Dabei
hätte er gern mit jemandem darüber geredet, wenn sich nur der
rechte Zuhörer gefunden hätte. Diese schöne, gütige Frau war nicht
der geeignete Zuhörer. Was verstand sie mit ihrer seltsamen
Vergangenheit, ihrer eigenartigen Freizügigkeit von seiner
Vorstellung von Monogamie, seinem auf eine Frau bezogenen Leben?
Wie konnte er ihr von seiner einfachen, sanften Jean erzählen,
ihrem friedlichen Leben und ihrem schrecklichen Tod?
»Das ist jetzt alles vorbei«, sagte er kurz. »Am
besten vergesse ich es.« Zu spät wurde ihm klar, welch einen
Eindruck seine Worte hinterlassen mußten.
»Auch wenn Sie nicht besonders glücklich waren«,
sagte sie, »es ist nicht die Person, die Ihnen fehlt, Ihnen fehlt
Liebe.«
Er sah die Wahrheit darin. Sogar für ihn stimmte
das. Aber Liebe war nicht ganz das Wort. In diesen Träumen, die er
hatte, war keine Liebe, und Jean kam nie darin vor. Wie um seine
eigenen Gedanken zu leugnen, sagte er schroff: »Es heißt, man könne
einen Ersatz finden, aber es geht nicht. Ich kann es nicht.«
»Keinen Ersatz. Das ist das falsche Wort. Aber
jemand anders für eine andere Art von Liebe vielleicht.«
»Ich weiß es nicht. Ich muß jetzt gehen. Machen Sie
kein Licht.« Die grelle Helligkeit würde zu sehr enthüllen, was
sich nach dem unterdrückten Schmerz auf seinem Gesicht abspielte
und, schlimmer noch, den Hunger nach ihr, den er nicht länger
verbergen konnte. »Machen Sie kein Licht!«
»Das wollte ich auch nicht«, sagte sie sanft.
»Kommen Sie her.«
Es war ein flüchtiger, kleiner Kuß auf die Wange,
den sie ihm gab, wie eine Frau ihn einem Mann gibt, den sie seit
Jahren kennt, dem Mann einer Freundin vielleicht, und er wollte ihn
eigentlich in derselben Weise erwidern, indem er ihre Wange
berührte, kameradschaftlich, beruhigend. Doch er fühlte sein Herz
klopfen und ihres daneben, als habe er zwei eigene Herzen. Ihre
Lippen trafen sich, und seine lang aufrechterhaltene Kontrolle
brach zusammen.
Er küßte sie mit seiner ganzen Kraft, preßte sie in
seinen Armen und drängte sie gegen die Wand, während seine Zunge in
ihren Mund fuhr.
Als er sie losließ und zitternd zurücktrat, stand
sie mit gesenktem Kopf still da und sagte nichts. Er machte die Tür
auf und rannte, ohne sich noch einmal umzusehen.