14
Nervöser Glückszustand, entschied Wexford, damit war Burdens derzeitige Verfassung wohl am besten umschrieben. Er war geistesabwesend, oft untätig, und man konnte beobachten, wie er blicklos ins Leere starrte und wegen nichts und wieder nichts aus der Haut fuhr, doch immerhin war es eine Abwechslung nach der trüben, überempfindlichen Leidensgestalt, als die ihn alle zunehmend empfunden hatten. Höchstwahrscheinlich war der Grund für diesen Wandel eine Frau, und Wexford fielen Dr. Crockers Worte ein, als er seinen Freund und Assistenten am nächsten Morgen im Fahrstuhl traf.
»Wie geht es denn Miss Woodville so?«
Fleckige, brennende Röte, die sich daraufhin über Burdens Gesicht ausbreitete, war sein Lohn und befriedigte ihn irgendwie. Es bestätigte seine Vermutung, daß in letzter Zeit zwischen den beiden etwas vorgefallen war, etwas wesentlich Aufregenderes als die Diskussion darüber, ob die kleine Pat fürs Herbstschuljahr einen neuen Blazer brauchte.
»Meine Frau«, fuhr er unnachgiebig fort, »hat erst gestern gesagt, welch ein Turm an Stärke Miss Woodville für Sie gewesen sein muß.« Und als dies keine Reaktion hervorrief, fügte er hinzu: »Noch besser, wenn dieser Turm an Stärke auch noch ungewöhnlich hübsch anzusehen ist, was?«
Burden sah mit solcher Intensität durch ihn hindurch, daß Wexford sich plötzlich ziemlich durchsichtig vorkam. Der Fahrstuhl hielt. »Wenn Sie mich brauchen, ich bin in meinem Büro.«
Wexford zuckte die Achseln. Das kann ich auch, dachte er. Von mir kriegst du keine freundlichen Angebote mehr, mein Junge. Halsstarriger Prüdling. Was machte er sich überhaupt Gedanken über Burdens tristes Liebesleben? Er hatte andere Dinge im Kopf, deretwegen er auch noch schlecht geschlafen hatte. Die halbe Nacht hatte er wachgelegen und über diesen Brief und Monkey Matthews und den alten Schlawiner, der bei ihm zu Gast war, nachgedacht und sich den Kopf zerbrochen, was all das zu bedeuten hatte.
Elsie war offenbar ein aufgewecktes Früchtchen, aber völlig ungebildet. Für eine Frau wie sie war jeder Friedensrichter ein Richter, und den Unterschied zwischen Assisengericht und einem Friedensgericht kannte sie sicher auch nicht. War es denkbar, daß der junge Swan damals wegen Mordes oder Totschlags vor einem Friedensgericht gestanden hatte und die Klage abgewiesen worden war? Und wenn ja, konnte es sein, daß die Information über jene Verhandlung aus irgendeinem Grunde in Wexfords Dossier über Swan nicht enthalten war?
Die Nacht ist die Zeit der Mutmaßungen, der Träume und verrückten Schlüsse; der Morgen ist die Zeit des Handelns. Das Hotel lag irgendwo im Lake District, und sobald er in seinem Büro war, setzte Wexford sich mit der Polizei in Westmorland und Cumberland in Verbindung. Anschließend wühlte er, ausgehend von der Vermutung, daß er gleichzeitig mit Monkey in Walton gewesen war, ein bißchen in der Vergangenheit von Mr. Casaubon, und diese Folgerung erwies sich, ebenso wie seine Nachforschungen, als fruchtbar.
Der Name war Charles Albert Catch, und er war 1897 in Limehouse geboren. Zufrieden, daß all seine Vermutungen zutrafen, erfuhr Wexford, daß Catch drei Gefängnisstrafen wegen erpresserischer Betätigung abgesessen hatte, seit seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr jedoch auf dem absteigenden Ast war. Zuletzt war er verurteilt worden, weil er einen Backstein durchs Fenster eines Polizeireviers geworfen hatte - ein Trick, um dem Erpresser, der inzwischen zum ärmlichen Landstreicher verkommen war, Bett und Dach überm Kopf zu sichern - was er auch bewirkt hatte.
Wexford verschwendete kein Mitleid an Charly Catch, doch er fragte sich ernsthaft, weshalb Elsies Information ihren Onkel damals nicht zu Schritten gegenüber Swan veranlaßt hatte. Weil tatsächlich keine Beweise da waren? Weil Swan unschuldig war und es nichts gab, was er verbergen oder dessen er sich schämen mußte? Die Zeit würde es zeigen. Es hatte keinen Sinn, weiter zu spekulieren, keinen Sinn, irgend etwas in der Sache zu unternehmen, bevor er weitere Informationen bekam.
Mit dem Auftrag, die Sache aus diskreter Entfernung im Auge zu behalten, schickte er Martin und Bryant als Begleiter von Polly Davies mit ihrer roten Perücke nach Saltram House. Es regnete wieder, und Polly wurde naß bis auf die Haut, aber niemand brachte John Lawrence in den Park von Saltram House oder den Italienischen Garten. Mit dem festen Vorsatz, nicht weiter über Swan zu grübeln, zerbrach sich Wexford statt dessen den Kopf über den Anrufer mit der schrillen Stimme, konnte aber nach wie vor diese Stimme keiner Person zuordnen oder sich an weitere Einzelheiten erinnern, außer, daß er sie schon irgendwo gehört hatte.
Burden hielt sie im Dunkeln in seinen Armen. »Sag mir, daß ich dich glücklicher gemacht habe, daß alles nicht mehr so schlimm ist, weil ich dich liebe.«
Vielleicht lächelte sie eines ihrer winzigen Lächeln. Er konnte ihr Gesicht nur als schwachen hellen Fleck ausmachen. Das Zimmer roch nach dem Parfüm, das sie benutzt hatte, als sie verheiratet war und zumindest ein bißchen Geld gehabt hatte. Ihre Kleider waren damit durchtränkt, eine schale, moschusartige Süße. Er beschloß, ihr morgen eine Flasche Parfüm zu kaufen.
“Gemma, du weißt, daß ich nicht über Nacht bleiben kann, so sehr ich es mir auch wünschte, aber ich habe es versprochen, und...«
»Natürlich mußt du gehen«, sagte sie. »Wenn ich zu meinen - meinen Kindern wollte, könnte mich nichts zurückhalten. Lieber, gütiger Mike, ich werde dich doch nicht von deinen Kindern fernhalten.«
“Wirst du schlafen können?«
»Ich werde ein paar von Dr. Lomax’ Pillen nehmen.«
Ein kühler Hauch traf seinen warmen Körper. War nicht befriedigte Liebe das beste Schlafmittel? Wie glücklich hätte es ihn gemacht, zu hören, daß allein der Sex mit ihm ihr süßen Schlummer schenken, daß die Gedanken an ihn alles Grauen vertreiben konnten. Immer das Kind, dachte er, immer dieser Junge, der die ganze Fürsorge und Leidenschaft seiner Mutter für sich in Anspruch nahm. Und er stellte sich das Wunder vor, der vermißte, tote Junge sei wieder lebendig und käme nach Hause ins dunkle Schlafzimmer gerannt, wo er sich mit seinem ureigenen Licht in die Arme seiner Mutter warf. Er sah es vor sich, wie sie ihren Liebhaber vergaß, ja vergessen würde, daß er je existiert hatte in ihrer kleinen Welt, die nur für eine Frau und ihr Kind gemacht war.
Er stand auf und zog sich an. Dann küßte er sie, es sollte nur ein zärtlicher Kuß sein, doch er wurde leidenschaftlich, weil er nicht anders konnte. Und er wurde von ihr mit einem ebenso langen und leidenschaftlichen Kuß belohnt. Damit mußte er zufrieden sein; damit und mit dem zerknüllten Chiffontuch, das er aufhob, als er das Zimmer verließ.
Wenn sein Haus nur leer wäre, überlegte er auf der Heimfahrt. Nur heute nacht, sagte er sich schuldbewußt. Wenn er nur in Leere und Sorge versinken könnte, frei von Graces sanften, energischen Anforderungen und Pats Luftschlössern und Johns Mathematik. Aber wenn er in ein leeres Haus führe, dann würde er gar nicht fahren.
Grace hatte gesagt, sie wolle etwas mit ihm besprechen. Die Aussicht darauf war so trübe und so langweilig, daß er sich verbot, Mutmaßungen darüber anzustellen. Warum sollte er ein Leiden zweimal ertragen? Er hielt sich zum Trost das duftende Tuch ans Gesicht, bevor er das Haus betrat, doch statt Trost bewirkte es nur Sehnsucht.
Sein Sohn saß über den Tisch gebeugt, unbeholfen mit einem Kompaß hantierend. »Old Minty«, sagte er, als er seinen Vater sah, »hat uns erzählt, daß ‘mathema’ Wissen heißt und’pathema’ Leiden, da hab ich vorgeschlagen, man könnte das Fach doch >Pathematik< nennen.«
Grace lachte ein bißchen zu schrill. Sie hatte hektische Flecken auf den Wangen, fiel Burden auf, als sei sie aufgeregt oder ängstlich. Er setzte sich an den Tisch, zeichnete ordentlich Johns Diagramm und schickte ihn ins Bett. »Ich könnte auch mal früh schlafen gehen«, meinte er hoffnungsvoll.
»Nur zehn Minuten, Mike. Ich möchte - da ist etwas, was ich dir sagen möchte. Eine Freundin hat mir geschrieben, wir waren zusammen in der Ausbildung.« Grace klang jetzt extrem nervös, so ganz entgegen ihrer sonstigen Art, daß Burden etwas unbehaglich zumute wurde. Sie hielt den Brief und schien ihn ihm zeigen zu wollen, änderte jedoch ihr Ansinnen und behielt ihn fest in der Hand. »Sie hat plötzlich Geld bekommen und möchte ein Pflegeheim aufmachen, und sie...« Die Worte kamen in einem sich überstürzenden Schwall heraus. »... sie möchte gern, daß ich mitmache.«
Burden wollte gerade ein gelangweiltes: »Oh, das ist aber nett« einwerfen, als ihm plötzlich die tatsächliche Bedeutung ihrer Worte bewußt wurde. Der Schock war zu groß, um noch höflich oder vorsichtig sein zu können. »Was wird aus den Kindern?« sagte er.
Sie antwortete nicht unmittelbar. Sie ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen wie eine müde alte Frau. »Wie lange dachtest du denn, daß ich bleiben würde?«
»Ich weiß nicht.« Er hob hilflos die Hände. »Bis sie für sich selber sorgen können, nehme ich an.«
»Und wann wird das sein?« Sie glühte jetzt und war ärgerlich, ihre Nervosität wurde von Empörung weggewischt. »Wenn Pat siebzehn ist, oder achtzehn? Dann bin ich vierzig.«
»Vierzig ist nicht alt«, meinte ihr Schwager matt.
»Vielleicht nicht für eine berufstätige Frau, eine Frau mit einer Karriere, an der sie immer gearbeitet hat. Wenn ich hier noch weitere sechs Jahre bleibe, dann kann ich jede Karriere vergessen, dann kann ich froh sein, wenn ich als Schwester irgendwo in einem Landkrankenhaus angestellt werde.«
»Aber die Kinder?« sagte er wieder.
“Schick sie aufs Internat«, sagte sie mit harter Stimme. »Physisch kümmert man sich dort genauso gut um sie wie hier, und was die andere Seite ihres Lebens angeht, was kann ich da schon allein ausrichten? Pat kommt langsam in ein Alter, wo sie sich gegen ihre Mutter oder jeden Mutterersatz wenden wird. John hat mich nie sonderlich gemocht.
Wenn dir der Gedanke ans Internat nicht gefällt, dann bewirb dich um eine Versetzung nach Eastbourne, da könnt ihr alle bei Mutter wohnen.«
»Da hast du mir ja ganz schön eins vor den Bug gegeben, Grace, nicht wahr?«
Sie war den Tränen nah. »Marys Brief ist gestern erst gekommen. Ich wollte gestern mit dir reden, ich habe dich gebeten heimzukommen.«
»Mein Gott«, sagte er, »das darf doch nicht wahr sein. Ich dachte, es gefällt dir hier. Ich dachte, du liebst die Kinder.«
»Nein«, erwiderte sie wild und sah plötzlich so leidenschaftlich und empört aus wie Jean bei einer ihrer seltenen Streitereien. »Du hast niemals auch nur im mindesten an mich gedacht. Du - du hast mich gebeten, herzukommen und zu helfen, und als ich gekommen bin, hast du mich zu einer Art Hausmütterchen gemacht, und du warst der lässige Kriminalinspektor, der sich dazu herabläßt, die armen Waisen ein paarmal die Woche zu besuchen.«
Darauf wollte er nicht antworten. Er wußte, daß es stimmte. »Du mußt natürlich tun, was du für richtig hältst«, sagte er.
»Es geht nicht darum, was ich für richtig halte, es geht darum, wozu du mich getrieben hast. O Mike, es hätte alles so anders sein können! Siehst du das denn nicht? Wenn du bei uns gewesen wärst und deinen Teil beigetragen hättest und mir das Gefühl gegeben hättest, daß wir gemeinsam etwas Sinnvolles tun. Sogar jetzt noch, wenn du... Was ich sagen will... Mike, willst du mir nicht helfen?«
Sie hatte sich ihm zugewandt und streckte die Hände aus, nicht impulsiv und sehnsüchtig wie Gemma, sondern mit einer Art bescheidener Schüchternheit, als schäme sie sich. Er erinnerte sich an Wexfords Worte vom Morgen im Fahrstuhl und wich vor ihr zurück. Daß es beinah Jeans Gesicht war, das ihn da ansah, Jeans Stimme, die bittend auf ihn einredete - Dinge auf der Zunge, die seiner altmodischen Auffassung nach keine Frau je zu einem Mann sagen sollte -, machte alles nur noch schlimmer.
»Nein, nein, nein! stieß er hervor, nicht laut, sondern indem er die Wörter in einer Art Zischton flüsterte.
Nie hatte er eine Frau so heftig erröten sehen. Ihr Gesicht war blutrot, dann wich die Farbe einem kalkigen Weiß. Sie stand auf und ging, oder besser flüchtete, denn plötzlich hatte sie all ihre präzise und kontrollierte Grazie verloren. Sie ließ ihn allein und machte ohne ein weiteres Wort die Tür zu.
Er schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Dreihundert Nächte hatten nicht ausgereicht, ihn zu lehren, wie man ohne eine Frau schläft, und die beiden voller Glückseligkeit danach machten ihm mit aller Vehemenz die ganze Einsamkeit des Einzelbettes deutlich. Wie ein grüner junge hielt er sich das Halstuch der Frau, die er liebte, gegen das Gesicht. Stunden lag er so und lauschte durch die Wand dem gedämpften Weinen der Frau, die er verschmäht hatte.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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