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Nervöser Glückszustand, entschied Wexford, damit
war Burdens derzeitige Verfassung wohl am besten umschrieben. Er
war geistesabwesend, oft untätig, und man konnte beobachten, wie er
blicklos ins Leere starrte und wegen nichts und wieder nichts aus
der Haut fuhr, doch immerhin war es eine Abwechslung nach der
trüben, überempfindlichen Leidensgestalt, als die ihn alle
zunehmend empfunden hatten. Höchstwahrscheinlich war der Grund für
diesen Wandel eine Frau, und Wexford fielen Dr. Crockers Worte ein,
als er seinen Freund und Assistenten am nächsten Morgen im
Fahrstuhl traf.
»Wie geht es denn Miss Woodville so?«
Fleckige, brennende Röte, die sich daraufhin über
Burdens Gesicht ausbreitete, war sein Lohn und befriedigte ihn
irgendwie. Es bestätigte seine Vermutung, daß in letzter Zeit
zwischen den beiden etwas vorgefallen war, etwas wesentlich
Aufregenderes als die Diskussion darüber, ob die kleine Pat fürs
Herbstschuljahr einen neuen Blazer brauchte.
»Meine Frau«, fuhr er unnachgiebig fort, »hat erst
gestern gesagt, welch ein Turm an Stärke Miss Woodville für Sie
gewesen sein muß.« Und als dies keine Reaktion hervorrief, fügte er
hinzu: »Noch besser, wenn dieser Turm an Stärke auch noch
ungewöhnlich hübsch anzusehen ist, was?«
Burden sah mit solcher Intensität durch ihn
hindurch, daß Wexford sich plötzlich ziemlich durchsichtig vorkam.
Der Fahrstuhl hielt. »Wenn Sie mich brauchen, ich bin in meinem
Büro.«
Wexford zuckte die Achseln. Das kann ich auch,
dachte er. Von mir kriegst du keine freundlichen Angebote mehr,
mein Junge. Halsstarriger Prüdling. Was machte er sich überhaupt
Gedanken über Burdens tristes Liebesleben? Er hatte andere Dinge im
Kopf, deretwegen er auch noch schlecht geschlafen hatte. Die halbe
Nacht hatte er wachgelegen und über diesen Brief und Monkey
Matthews und den alten Schlawiner, der bei ihm zu Gast war,
nachgedacht und sich den Kopf zerbrochen, was all das zu bedeuten
hatte.
Elsie war offenbar ein aufgewecktes Früchtchen,
aber völlig ungebildet. Für eine Frau wie sie war jeder
Friedensrichter ein Richter, und den Unterschied zwischen
Assisengericht und einem Friedensgericht kannte sie sicher auch
nicht. War es denkbar, daß der junge Swan damals wegen Mordes oder
Totschlags vor einem Friedensgericht gestanden hatte und die Klage
abgewiesen worden war? Und wenn ja, konnte es sein, daß die
Information über jene Verhandlung aus irgendeinem Grunde in
Wexfords Dossier über Swan nicht enthalten war?
Die Nacht ist die Zeit der Mutmaßungen, der Träume
und verrückten Schlüsse; der Morgen ist die Zeit des Handelns. Das
Hotel lag irgendwo im Lake District, und sobald er in seinem Büro
war, setzte Wexford sich mit der Polizei in Westmorland und
Cumberland in Verbindung. Anschließend wühlte er, ausgehend von der
Vermutung, daß er gleichzeitig mit Monkey in Walton gewesen war,
ein bißchen in der Vergangenheit von Mr. Casaubon, und diese
Folgerung erwies sich, ebenso wie seine Nachforschungen, als
fruchtbar.
Der Name war Charles Albert Catch, und er war 1897
in Limehouse geboren. Zufrieden, daß all seine Vermutungen
zutrafen, erfuhr Wexford, daß Catch drei Gefängnisstrafen wegen
erpresserischer Betätigung abgesessen hatte, seit seinem
fünfundsechzigsten Lebensjahr jedoch auf dem absteigenden Ast war.
Zuletzt war er verurteilt worden, weil er einen Backstein durchs
Fenster eines Polizeireviers geworfen hatte - ein Trick, um dem
Erpresser, der inzwischen zum ärmlichen Landstreicher verkommen
war, Bett und Dach überm Kopf zu sichern - was er auch bewirkt
hatte.
Wexford verschwendete kein Mitleid an Charly Catch,
doch er fragte sich ernsthaft, weshalb Elsies Information ihren
Onkel damals nicht zu Schritten gegenüber Swan veranlaßt hatte.
Weil tatsächlich keine Beweise da waren? Weil Swan unschuldig war
und es nichts gab, was er verbergen oder dessen er sich schämen
mußte? Die Zeit würde es zeigen. Es hatte keinen Sinn, weiter zu
spekulieren, keinen Sinn, irgend etwas in der Sache zu unternehmen,
bevor er weitere Informationen bekam.
Mit dem Auftrag, die Sache aus diskreter Entfernung
im Auge zu behalten, schickte er Martin und Bryant als Begleiter
von Polly Davies mit ihrer roten Perücke nach Saltram House. Es
regnete wieder, und Polly wurde naß bis auf die Haut, aber niemand
brachte John Lawrence in den Park von Saltram House oder den
Italienischen Garten. Mit dem festen Vorsatz, nicht weiter über
Swan zu grübeln, zerbrach sich Wexford statt dessen den Kopf über
den Anrufer mit der schrillen Stimme, konnte aber nach wie vor
diese Stimme keiner Person zuordnen oder sich an weitere
Einzelheiten erinnern, außer, daß er sie schon irgendwo gehört
hatte.
Burden hielt sie im Dunkeln in seinen Armen. »Sag
mir, daß ich dich glücklicher gemacht habe, daß alles nicht mehr so
schlimm ist, weil ich dich liebe.«
Vielleicht lächelte sie eines ihrer winzigen
Lächeln. Er konnte ihr Gesicht nur als schwachen hellen Fleck
ausmachen. Das Zimmer roch nach dem Parfüm, das sie benutzt hatte,
als sie verheiratet war und zumindest ein bißchen Geld gehabt
hatte. Ihre Kleider waren damit durchtränkt, eine schale,
moschusartige Süße. Er beschloß, ihr morgen eine Flasche Parfüm zu
kaufen.
“Gemma, du weißt, daß ich nicht über Nacht bleiben
kann, so sehr ich es mir auch wünschte, aber ich habe es
versprochen, und...«
»Natürlich mußt du gehen«, sagte sie. »Wenn ich zu
meinen - meinen Kindern wollte, könnte mich nichts zurückhalten.
Lieber, gütiger Mike, ich werde dich doch nicht von deinen Kindern
fernhalten.«
“Wirst du schlafen können?«
»Ich werde ein paar von Dr. Lomax’ Pillen
nehmen.«
Ein kühler Hauch traf seinen warmen Körper. War
nicht befriedigte Liebe das beste Schlafmittel? Wie glücklich hätte
es ihn gemacht, zu hören, daß allein der Sex mit ihm ihr süßen
Schlummer schenken, daß die Gedanken an ihn alles Grauen vertreiben
konnten. Immer das Kind, dachte er, immer dieser Junge, der die
ganze Fürsorge und Leidenschaft seiner Mutter für sich in Anspruch
nahm. Und er stellte sich das Wunder vor, der vermißte, tote Junge
sei wieder lebendig und käme nach Hause ins dunkle Schlafzimmer
gerannt, wo er sich mit seinem ureigenen Licht in die Arme seiner
Mutter warf. Er sah es vor sich, wie sie ihren Liebhaber vergaß, ja
vergessen würde, daß er je existiert hatte in ihrer kleinen Welt,
die nur für eine Frau und ihr Kind gemacht war.
Er stand auf und zog sich an. Dann küßte er sie, es
sollte nur ein zärtlicher Kuß sein, doch er wurde leidenschaftlich,
weil er nicht anders konnte. Und er wurde von ihr mit einem ebenso
langen und leidenschaftlichen Kuß belohnt. Damit mußte er zufrieden
sein; damit und mit dem zerknüllten Chiffontuch, das er aufhob, als
er das Zimmer verließ.
Wenn sein Haus nur leer wäre, überlegte er auf der
Heimfahrt. Nur heute nacht, sagte er sich schuldbewußt. Wenn er nur
in Leere und Sorge versinken könnte, frei von Graces sanften,
energischen Anforderungen und Pats Luftschlössern und Johns
Mathematik. Aber wenn er in ein leeres Haus führe, dann würde er
gar nicht fahren.
Grace hatte gesagt, sie wolle etwas mit ihm
besprechen. Die Aussicht darauf war so trübe und so langweilig, daß
er sich verbot, Mutmaßungen darüber anzustellen. Warum sollte er
ein Leiden zweimal ertragen? Er hielt sich zum Trost das duftende
Tuch ans Gesicht, bevor er das Haus betrat, doch statt Trost
bewirkte es nur Sehnsucht.
Sein Sohn saß über den Tisch gebeugt, unbeholfen
mit einem Kompaß hantierend. »Old Minty«, sagte er, als er seinen
Vater sah, »hat uns erzählt, daß ‘mathema’ Wissen heißt
und’pathema’ Leiden, da hab ich vorgeschlagen, man könnte das Fach
doch >Pathematik< nennen.«
Grace lachte ein bißchen zu schrill. Sie hatte
hektische Flecken auf den Wangen, fiel Burden auf, als sei sie
aufgeregt oder ängstlich. Er setzte sich an den Tisch, zeichnete
ordentlich Johns Diagramm und schickte ihn ins Bett. »Ich könnte
auch mal früh schlafen gehen«, meinte er hoffnungsvoll.
»Nur zehn Minuten, Mike. Ich möchte - da ist etwas,
was ich dir sagen möchte. Eine Freundin hat mir geschrieben, wir
waren zusammen in der Ausbildung.« Grace klang jetzt extrem nervös,
so ganz entgegen ihrer sonstigen Art, daß Burden etwas unbehaglich
zumute wurde. Sie hielt den Brief und schien ihn ihm zeigen zu
wollen, änderte jedoch ihr Ansinnen und behielt ihn fest in der
Hand. »Sie hat plötzlich Geld bekommen und möchte ein Pflegeheim
aufmachen, und sie...« Die Worte kamen in einem sich überstürzenden
Schwall heraus. »... sie möchte gern, daß ich mitmache.«
Burden wollte gerade ein gelangweiltes: »Oh, das
ist aber nett« einwerfen, als ihm plötzlich die tatsächliche
Bedeutung ihrer Worte bewußt wurde. Der Schock war zu groß, um noch
höflich oder vorsichtig sein zu können. »Was wird aus den Kindern?«
sagte er.
Sie antwortete nicht unmittelbar. Sie ließ sich
schwer auf einen Stuhl fallen wie eine müde alte Frau. »Wie lange
dachtest du denn, daß ich bleiben würde?«
»Ich weiß nicht.« Er hob hilflos die Hände. »Bis
sie für sich selber sorgen können, nehme ich an.«
»Und wann wird das sein?« Sie glühte jetzt und war
ärgerlich, ihre Nervosität wurde von Empörung weggewischt. »Wenn
Pat siebzehn ist, oder achtzehn? Dann bin ich vierzig.«
»Vierzig ist nicht alt«, meinte ihr Schwager
matt.
»Vielleicht nicht für eine berufstätige Frau, eine
Frau mit einer Karriere, an der sie immer gearbeitet hat. Wenn ich
hier noch weitere sechs Jahre bleibe, dann kann ich jede Karriere
vergessen, dann kann ich froh sein, wenn ich als Schwester irgendwo
in einem Landkrankenhaus angestellt werde.«
»Aber die Kinder?« sagte er wieder.
“Schick sie aufs Internat«, sagte sie mit harter
Stimme. »Physisch kümmert man sich dort genauso gut um sie wie
hier, und was die andere Seite ihres Lebens angeht, was kann ich da
schon allein ausrichten? Pat kommt langsam in ein Alter, wo sie
sich gegen ihre Mutter oder jeden Mutterersatz wenden wird. John
hat mich nie sonderlich gemocht.
Wenn dir der Gedanke ans Internat nicht gefällt,
dann bewirb dich um eine Versetzung nach Eastbourne, da könnt ihr
alle bei Mutter wohnen.«
»Da hast du mir ja ganz schön eins vor den Bug
gegeben, Grace, nicht wahr?«
Sie war den Tränen nah. »Marys Brief ist gestern
erst gekommen. Ich wollte gestern mit dir reden, ich habe dich
gebeten heimzukommen.«
»Mein Gott«, sagte er, »das darf doch nicht wahr
sein. Ich dachte, es gefällt dir hier. Ich dachte, du liebst die
Kinder.«
»Nein«, erwiderte sie wild und sah plötzlich so
leidenschaftlich und empört aus wie Jean bei einer ihrer seltenen
Streitereien. »Du hast niemals auch nur im mindesten an mich
gedacht. Du - du hast mich gebeten, herzukommen und zu helfen, und
als ich gekommen bin, hast du mich zu einer Art Hausmütterchen
gemacht, und du warst der lässige Kriminalinspektor, der sich dazu
herabläßt, die armen Waisen ein paarmal die Woche zu
besuchen.«
Darauf wollte er nicht antworten. Er wußte, daß es
stimmte. »Du mußt natürlich tun, was du für richtig hältst«, sagte
er.
»Es geht nicht darum, was ich für richtig halte, es
geht darum, wozu du mich getrieben hast. O Mike, es hätte alles so
anders sein können! Siehst du das denn nicht? Wenn du bei uns
gewesen wärst und deinen Teil beigetragen hättest und mir das
Gefühl gegeben hättest, daß wir gemeinsam etwas Sinnvolles tun.
Sogar jetzt noch, wenn du... Was ich sagen will... Mike, willst du
mir nicht helfen?«
Sie hatte sich ihm zugewandt und streckte die Hände
aus, nicht impulsiv und sehnsüchtig wie Gemma, sondern mit einer
Art bescheidener Schüchternheit, als schäme sie sich. Er erinnerte
sich an Wexfords Worte vom Morgen im Fahrstuhl und wich vor ihr
zurück. Daß es beinah Jeans Gesicht war, das ihn da ansah, Jeans
Stimme, die bittend auf ihn einredete - Dinge auf der Zunge, die
seiner altmodischen Auffassung nach keine Frau je zu einem Mann
sagen sollte -, machte alles nur noch schlimmer.
»Nein, nein, nein! stieß er hervor, nicht laut,
sondern indem er die Wörter in einer Art Zischton flüsterte.
Nie hatte er eine Frau so heftig erröten sehen. Ihr
Gesicht war blutrot, dann wich die Farbe einem kalkigen Weiß. Sie
stand auf und ging, oder besser flüchtete, denn plötzlich hatte sie
all ihre präzise und kontrollierte Grazie verloren. Sie ließ ihn
allein und machte ohne ein weiteres Wort die Tür zu.
Er schlief sehr schlecht in dieser Nacht.
Dreihundert Nächte hatten nicht ausgereicht, ihn zu lehren, wie man
ohne eine Frau schläft, und die beiden voller Glückseligkeit danach
machten ihm mit aller Vehemenz die ganze Einsamkeit des
Einzelbettes deutlich. Wie ein grüner junge hielt er sich das
Halstuch der Frau, die er liebte, gegen das Gesicht. Stunden lag er
so und lauschte durch die Wand dem gedämpften Weinen der Frau, die
er verschmäht hatte.