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Wexford schlenderte mit seiner Frau zur Kirche und
trennte sich von ihr an der Pforte. Obwohl er selbst nicht religiös
eingestellt war, besuchte er manchmal den Frühgottesdienst, um ihr
eine Freude zu machen. Heute zog ihn sein Büro ebenso
unwiderstehlich an wie die Kirchenglocken seine Frau, doch der
stille Lockruf war nur für ihn hörbar.
Burden war bereits dort, telefonierte geschäftig
und setzte die Fahndung nach Twohey in Gang.
»Geboren in Dublin vor ungefähr fünfzig Jahren«,
hörte Wexford ihn sagen. “Dunkelhaarig, irischer Typ, kleine Augen,
hat am linken Mundwinkel eine Zyste, falls er sie nicht hat
entfernen lassen. Eine Vorstrafe wegen Unterschlagung, 1954 als
Hoteldirektor in Manchester. Jawohl, könnte sich in Ihrem Newcastle
oder in Newcastle under Lyme aufhalten. Sie bleiben in Verbindung
mit uns.« Er legte auf und grinste seinen Vorgesetzten
erwartungsvoll an.
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht«, sagte
Wexford, als Burden ihm ein Foto des Mannes reichte, den er gerade
beschrieben hatte. »Habe ich Sie nicht ausdrücklich angewiesen, Sie
sollen sich den Abend freinehmen und Ihr Haus
fertigstreichen?«
»Habe ich doch. Außerdem habe ich meine
Hausaufgaben nicht gestern abend gemacht, sondern bin heute morgen
früh aus den Federn gekrochen. Mrs. Cantrip und ich haben ein
Arbeitsfrühstück eingenommen.«
»Hat sie irgendeine Idee, wie das Geld an Twohey
ausbezahlt wurde?«
Burden schloß das Fenster. Auf das Glockengeläut
legte er keinen gesteigerten Wert. »Sie hatte keine Ahnung davon.
Ich glaube nicht, daß sie es wirklich geschluckt hat. Ihre Mrs.
Nightingale das Opfer einer Erpressung?«
»Da bleibt einem doch die Spucke weg, das können
Sie mir glauben«, ahmte Wexford sie schmunzelnd nach.
»So ähnlich. Sie ist sicher, daß Twohey nicht hier
in der Gegend ist, weil seine Frau sie sonst besucht hätte.«
Wexford zuckte mit den Achseln. Den stabilen
Drehstuhl hatte Burden in Beschlag genommen, weshalb ihm nichts
anderes übrigblieb, als sich mit einem der wackligen Stühle zu
begnügen. Er warf dem Inspector einen ungnädigen Blick zu und
fragte verstimmt: »Weswegen sollte er hier in der Gegend
sein?«
»Wegen dem, daß vielleicht er es war, mit dem sich
Mrs. Nightingale im Wald getroffen hat«, antwortete Burden, der mit
der Grammatik manchmal auf Kriegsfuß stand.
»Getötet werden Erpresser, nicht ihre Opfer.«
»Mal angenommen, sie hat ihm gesagt, ihre Mittel
seien erschöpft? Er könnte sie aus Wut umgebracht haben. Wir sind
uns doch darüber einig, daß es ohne Vorsatz geschah, nicht? Gott
sei Dank ist das Gebimmel vorbei.« Er öffnete das Fenster wieder
und zog die Jalousie hoch, so daß Wexford von der Sonne geblendet
wurde. Gereizt rückte der Chief Inspector den Stuhl ein Stück zur
Seite. »Oder Sean Lovell hat sie mit ihm zusammen gesehen, sich
über den Grund ihres Treffens getäuscht und...«
»Dann schließen Sie den jungen Lovell jetzt also
doch nicht mehr aus?«
»Ich habe meine Meinung über ihn geändert, seit er
mir erzählt hat, daß er als junger Kerl mit einem Messer auf seine
Mutter losgegangen ist, als er sie mit einem ihrer Freunde
ertappte. Außerdem ist da noch das Geld, das er bekommt. Ich wette,
sie hat ihm gesagt, er erbe ihr gesamtes Vermögen, ohne vielleicht
zu erwähnen, wieviel es eigentlich ist. Er könnte gedacht haben, es
sei verdammt viel mehr.«
»Vergessen Sie’s, Mike. Entweder hat er sie aus
Eifersucht umgebracht oder des Geldes wegen. Beides zusammen geht
nicht.« Wexford stand auf. »Jedenfalls gehe ich jetzt ins
Olive und gebe Lionel Marriott einen aus.«
Burden nahm wieder den Hörer ab. »Wie schön«, sagte
er abweisend. »Leider habe ich dafür zuviel zu tun.«
»Sie hat auch niemand gefragt«, schnauzte ihn
Wexford an. Dann schmunzelte er. »Wohl dem, Mike, der
nicht sitzt, wo die Spötter sitzen.«
»Na, für gewöhnlich sitzen Sie hier, Sir«,
erwiderte Burden zugeknöpft.
Es war merkwürdig, wie in letzter Zeit alles
Burden in die Hand nahm, dachte Wexford, als er sich an die Brücke
über den Kingsbrook lehnte und wartete, bis das Olive and
Dove öffnete und Marriott kam. Wenn er auf die Ermittlungen der
vergangenen Woche zurückblickte, hatte er den Eindruck, daß die
meisten Nachforschungen Burden durchgeführt hatte, während er sich
von Marriott Geschichtchen erzählen ließ. Vielleicht war das
übertrieben. Aber wie sich immer mehr herausstellte, hatte Burden
mit seinen Hypothesen richtig gelegen. Zum Beispiel, daß es kein
vorsätzlicher Mord war, daß Nelleke auf eine Heirat mit Nightingale
aus und Georgina Villiers nur eine nette, normale Frau war.
Bestimmt würde er schon bald auch mit einer Erklärung für das
Geheimnis aufwarten und mit einer anderen für Seans nicht
vorhandenes Alibi. Er schnippte ein abgesprungenes Stückchen Stein
vom Brückengeländer ins Wasser. Unsere Jünglinge sollen Gesichte
sehen, dachte er, und unsere Alten sollen Träume haben...
»Ich gäb was dafür, wenn ich wüßte, woran du jetzt
denkst«, sagte Marriott und tippte ihm auf die Schulter.
»Ich dachte daran, daß ich alt werde,
Lionel.«
»Aber du bist doch so alt wie ich!«
»Ein bißchen jünger, glaube ich«, verbesserte
Wexford ihn. »Mir ist gerade eingefallen, daß es in diesem Fall nur
so von Menschen wimmelt, die für andere Menschen zu alt sind. Das
ruft mir ins Gedächtnis, daß ich älter bin als sie alle.« Er
blickte zu dem heiteren Himmel über Sussex auf, der sich wolkenlos
und strahlend über ihm wölbte. »Ein alter Mann in einem Monat ohne
Regen«, sagte er. »Ein alter Mann an einem Fall ohne
Hoffnung...«
»Aber kein altes Hotel mit einer Bar ohne Whisky«,
tröstete ihn Marriott. »Na los, Gerontius, trinken wir
einen.«
An sonnigen Tagen konnten die Gäste des Olive die
Drinks im Garten einnehmen. Es war ein staubiger kleiner Garten mit
kümmerlichen Gewächsen, doch wie die meisten Engländer hielten es
auch Wexford und Marriott fast schon für ihre Pflicht, bei
Sonnenschein an den kleinen Tischen im Freien zu sitzen, denn
schönes Wetter gab es so selten und immer nur so kurze Zeit.
»Aber ich habe dir doch schon alles erzählt, Reg«,
sagte Marriott. »Mehr gibt es einfach nicht.«
»Und das aus deinem Munde?«
»Leider ja, es sei denn, ich soll die Sache mit
meinen eigenen Gedanken ausschmücken.«
Wexford fischte ein Blatt aus seinem Glas und
blickte ungehalten zu dem Baum auf, von dem es abgefallen war. In
schneidendem Ton fragte er: »Hältst du es für möglich, daß Villiers
homosexuell ist?«
»Du meine Güte, das glaube ich kaum.«
»Dennoch hast du gesagt, daß er in der Zeit
zwischen den beiden Ehen keine Freundinnen hatte.«
»Aber auch keine Freunde.«
»Nein? Und was ist mit Quentin Nightingale?«
»Quentin ist bestimmt nicht homosexuell. Ich habe
den starken Verdacht, daß er hinter dieser kleinen Holländerin her
ist. Er ist total verknallt in sie, wenn du mich fragst. Ich gebe
zu, daß Denys nur mittelprächtige Zuneigung für seine Ehefrauen
empfand, doch Quentin war in Elizabeth verliebt, als er sie
kennenlernte, und jetzt ist er wieder verliebt.«
Wexford wollte Nightingales vertrauliche Mitteilung
nicht einmal durch ein zustimmendes Nicken verraten. “Ich habe mir
überlegt, ob Elizabeth vielleicht von der Homosexualität ihres
Bruders wußte und ihn dafür haßte, jedoch bereit war, fast alles zu
tun, um es geheimzuhalten.«
»Bloß verstehe ich dann nicht, weshalb sie deshalb
ermordet werden sollte.«
Als er sein Glas austrank, entschied sich Wexford,
Marriott gegenüber kein Sterbenswörtchen über das erpreßte Geld
verlauten zu lassen. “Nein, wahrscheinlicher ist, daß sie mit einem
Mann im Wald gesehen wurde und die Person, die sie beobachtet hat,
zu ihrem Mörder wurde. Nachdenklich fügte er hinzu: »Mein
kleiner Minnesänger, der einzige echte Nightingale in
Myfleet.«
In übereifrigem Ton sagte Marriott: »Vielleicht ist
er ein uneheliches Kind von Quen. Will Palmer sagt doch immer:
Einen Vater hat der nie gehabt. Wie steht’s damit?«
»Was hast du in letzter Zeit gelesen?« grollte
Wexford. »Mrs. Henry Wood? Die Hochzeit des Figaro?«
»Tut mir leid. War nur so eine Idee.«
»Und als solche mehr als bescheiden. Du bist
vielleicht ein guter Englischlehrer, Lionel, aber als Detektiv bist
du miserabel.« Wexford lächelte trübselig. “Sogar noch schlechter
als ich«, sagte er im Aufstehen, wobei er sich fragte, was Burden
während seiner Abwesenheit wohl herausgefunden hatte.
Marriott blieb noch einen Augenblick am Tisch
sitzen, doch er holte Wexford ein, als der Chief Inspector gerade
über die Brücke ging.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte er atemlos.
»Elizabeth hat immer eine ganze Menge Päckchen verschickt. Ziemlich
kleine, in braunes Packpapier eingewickelte Päckchen. Wenn ich
tagsüber im Herrenhaus war, habe ich auf dem Garderobentisch oft so
ein Päckchen gesehen - aber es lagen immer ein paar Briefe darauf,
die ebenfalls zur Post gingen. Kannst du damit etwas
anfangen?«
»Ich weiß nicht, aber trotzdem vielen Dank.«
»Keine Ursache, mein Bester«, flötete Marriott und
wandte sich zum Gehen. Er blickte über die Schulter und fügte
ziemlich wehmütig hinzu: »Laß mich nicht fallen, Reg, jetzt, wo du
mich ausgequetscht hast.«
»Auch ein Bulle braucht Freunde«, erwiderte
Wexford, dann ging er über die High Street zum Polizeirevier
zurück.
Burden saß hinter dem Schreibtisch aus Rosenholz
und aß ein Sandwich zu Mittag.
»Verziehen Sie sich«, fuhr ihn Wexford an. »Sie
krümeln auf meine Schreibunterlage.«
»Sie krümeln doch auch immer.«
»Schon möglich, aber es ist meine Unterlage und
zufällig auch mein Büro.«
»Tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich Burden.
»Ich dachte, Sie zögen mit Marriott durch die Kneipen.«
Wexford schnaubte unwirsch. Er blies die Krümel weg
und nahm würdevoll Platz. »Gibt’s was Neues?«
»Nein, noch nicht. Beide Newcastles erwiesen sich
als Nieten. Ich habe mich mit Dublin in Verbindung gesetzt.«
»In einem irren Sie sich, Mike. Twohey hat sich mit
Mrs. Nightingale nie im Wald getroffen. Sie hat ihm das Geld in
Päckchen geschickt. Ich weiß nicht, an welche Adresse, aber wir
könnten versuchen, Nelleke danach zu fragen.«
Burden kniff die Lippen zu einem schmalen Strich
zusammen.
»Da Sie bereits zu Mittag gegessen haben«, sagte
Wexford, »schlage ich vor, Sie übernehmen das.«
Burden ächzte. »Muß das sein?« fragte er im Ton
eines Schuljungen, dem Ton, in dem sein Sohn sprach.
»Soll das ein Witz sein?« brüllte Wexford. »Haben
Sie den Verstand verloren? Sie wird Sie schon nicht gleich
auffressen.«
»Vor dem Aufgefressenwerden habe ich auch keine
Angst«, erwiderte Burden. Er knüllte das Butterbrotpapier zusammen,
warf es in den Papierkorb und ging hinaus, wobei er Wexford mit
einem Blick bedachte, der gespieltes Entsetzen zum Ausdruck
brachte.
Jetzt blieb ihm nichts mehr übrig als abzuwarten,
überlegte Wexford. Er schickte Bryant in die Kantine, um eine
Kleinigkeit zu Mittag für ihn zu holen, und nachdem er gegessen
hatte, übermannte ihn große Müdigkeit. Er beschloß, zum Wachbleiben
etwas zu lesen, und weil außer einem Stapel Berichte, die er in-
und auswendig kannte, der einzige Lesestoff das Buch war, das ihm
Denys Villiers geschenkt hatte, las er das. Oder um es genauer
auszudrücken, er las die ersten drei Absätze, nur um dann
einzunicken und fast vom Stuhl zu fallen, als die Telefonklingel
schrillte.
»Versuchen Sie es mit Eisenwarenhandlungen«,
erklärte er dem Anrufer müde. »Vor allem solche, die während der
letzten vier Jahre den Besitzer wechselten. Er hat vielleicht
seinen Namen geändert.« Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte
er hinzu: »Besonders würde mich ein Laden interessieren, der
Nightingale’s heißt, oder vielleicht Manor
Stores.«
Er wandte sich wieder der Seite eins von Der
verliebte Wordsworth zu, dann blätterte er weiter bis zu einem
Stammbaum. Dort stand der Name, in dicken schwarzen Lettern: George
Gordon Wordsworth. Er war, wie Wexford bemerkte, der Enkel des
Lyrikers gewesen. Und diese Information, die in seinem jüngst
erschienenen Buch bereits enthalten war, hatte Villiers in der
Schulbibliothek nachgeschlagen - zumindest hatte er ihm das
weismachen wollen. Demnach hatte der Mann die Schwäche, seine
Gegner zu unterschätzen.
Es war fast sechs, als Burden zurückkam.
»Sie haben sich weiß Gott Zeit gelassen.«
“Die Holländerin und Nightingale waren nicht zu
Hause. Haben anscheinend ein Picknick gemacht. Ich wartete, bis sie
zurückkamen.«
»Konnte sie sich an die Adresse auf den Päckchen
erinnern?«
»Sie sagt, die von ihr aufgegebenen Päckchen hätten
nur Sachen enthalten, die Mrs. Nightingale nach Holland schickte,
außer letzten Dienstag, dem Tag, an dem Mrs. N. ermordet wurde.
Damals brachte sie zwei Päckchen zur Post, eins für ihre Mutter in
Holland, und noch eines. Auf die Adresse hat sie nicht mal einen
Blick geworfen.«
Wexford zuckte mit den Achseln. »Na ja, einen
Versuch war’s wert, Mike. Tut mir leid, daß Ihr Sonntagnachmittag
dabei draufging. Aber vergewaltigt wurden Sie nicht, oder?«
»Nightingale war die ganze Zeit dabei.«
»Wie Sie von ihm sprechen, könnte man ihn für die
Krankenschwester im Sprechzimmer eines Arztes halten«, sagte
Wexford. »Jedenfalls gehe ich jetzt selbst nach Myfleet, ich will
mich bloß noch mal im Wald umsehen und vielleicht mit Mrs. Cantrip
reden. Ihnen rate ich, nach Hause zu gehen. Falls Anrufe kommen,
kann man die zu Ihnen durchstellen.«
Es mochte Tage dauern, es mochte Wochen dauern,
doch irgendwann würde man Twohey finden. Und dann, dachte Wexford,
als er an der King’s-Schule vorbeifuhr, würde er reden. Er würde in
Wexfords Büro sitzen und durch die Panoramafenster in die Weite des
hellblauen Himmels starren wie Hunderte skrupelloser Gauner vor
ihm, doch im Unterschied zu ihnen würde er keine Veranlassung
haben, den Mund zu halten. Eine lange Haftstrafe erwartete ihn, ob
er nun aussagte oder sich ausschwieg. Wahrscheinlich würde er gern
reden, um sich an der Toten und ihrer ganzen Familie zu rächen,
denn diese Geldquelle war nun versiegt.
Und was würde er sagen? Daß Villiers’ Liebe zu
seinem Schwager von der Sorte war, wie sie ihre engstirnige
Gesellschaft nicht tolerieren konnte? Daß Elizabeth eine Reihe von
Geliebten gehabt hatte, die dem Alter nach Kinder von ihr hätten
sein können? Oder daß Villiers und Elizabeth vor langer Zeit in ein
Verbrechen verwickelt gewesen waren?
Plötzlich mußte Wexford an das ausgebombte Haus
denken, in dem ihre Eltern umgekommen waren. Damals waren sie noch
Kinder gewesen, aber auch Kinder hatten schon Morde begangen...
Zwei Menschen, unter Trümmern begraben, aber noch am Leben, Eltern,
die dem Fortkommen ihrer Kinder im Wege standen. Villiers hatte
gewiß einen großen Vorteil durch ihren Tod gehabt. Seine Schwester
nicht. Lag darin der Schlüssel zum Ganzen?
Twohey würde es wissen. Der Gedanke, Twohey könnte
möglicherweise der einzige sein, der noch am Leben war und es
wußte, und sich nun in aller Gemütsruhe verkriechen, war
schrecklich frustrierend für Wexford. Und es mochte Tage dauern,
vielleicht Wochen...
Weiter nach Myfleet. Die Kirchenglocken von
Clusterwell läuteten zur Abendandacht, und kaum waren ihre Schläge
hinter ihm verklungen, hörte er vor sich das Geläut von Myfleet,
acht Glocken, deren dröhnendes Wechselläuten die Abendluft
erfüllte.
An Mrs. Cantrips Haustür hing ein Zettel:
Bin zur Kirche. Komme um 19.30 zurück. Für jeden
Einbrecher die reinste Einladung, dachte Wexford, nur konnte er
sich nicht entsinnen, daß in den letzten zehn Jahren jemals in
Myfleet eingebrochen worden war. Die umstehenden Bäume verbargen
Verbrechen von größerer Tragweite. Er wandte sich um, und die
gelbbraune Katze, die ausgesperrt war und zwischen den Blumen
herumstrich, schmiegte sich an seine Beine. Tief atmete er den Duft
der den ganzen Tag über von der Sonne überfluteten Kiefern ein.
Wexford ging in den Wald. Er schlug den Weg ein, den Elizabeth
Nightingale an jenem Abend gegangen war, und er folgte ihm bis zu
der Lichtung, auf der sie sich Burdens Ansicht nach mit Twohey
getroffen hatte und Wexfords Ansicht nach - ja, was getan
hatte?
Vielleicht hatte Burden trotz allem wieder recht.
Diese Päckchen waren vielleicht nicht mit der Post geschickt,
sondern persönlich übergeben worden. Beträge von dieser
Größenordnung hätte sie wohl kaum lose mit sich in der Handtasche
herumgetragen. Außerdem hatte sie keine Handtasche mit, nur einen
Mantel und eine Taschenlampe... Er starrte auf den mit Flechten
bewachsenen Baumstamm, auf dem sie gesessen hatte. Auf dem
trockenen Sandboden und in den von vier scharrenden Füßen
aufgehäuften Kiefernnadeln waren noch die Kratzspuren von vier
Schuhen sichtbar.
Wenn Twohey ihr Begleiter gewesen war - mit dem sie
vielleicht Sean gesehen hatte, der den Zweck ihrer Zusammenkunft
mißverstanden hatte -, woher war Twohey dann gekommen? Aus Pomfret,
über den mit Tannen bewaldeten Hügel? Oder hatte er den Weg
genommen, der an den Schrebergärten von Myfleet vorbeiführte und
schließlich - wohin führte? Wexford beschloß, ihn zu
erkunden.
Die Kirchenglocken waren verstummt; Totenstille
hatte sich im Wald ausgebreitet. Er ging zwischen den
geradwüchsigen schmalen Kiefernstämmen hindurch, warf mal einen
Blick nach oben zu den silberhellen Himmelsflecken, mal rund um
sich in den Wald hinein, der so düster und bis in Kopfhöhe so kahl
war, daß kein Vogel zwitscherte und die einzige Spur von Leben die
tanzenden Mückenschwärme waren.
Wegen der Mücken war er froh, als die Bäume zu
seiner Linken allmählich lichter wurden und er schließlich entlang
den Gartenzäunen von Myfleet ging. Bald darauf hörte er von vorn
leises Musikgesäusel. Es war eine rührselige süßliche Melodie, die
er unschwer in den Bereich der Pop- oder Tanzmusik einordnete, und
sie erinnerte Wexford an jene sanften und leicht erotischen Klänge,
die aus Nellekes Transistorradio an sein Ohr gedrungen waren.
Gerade als er dachte, wie angenehm anspruchslos die Musik an einem
friedlichen Sommerabend wie heute doch klang, hörte sie auf und
wurde von einer entsetzlichen Kakophonie abgelöst, die sich aus dem
dröhnenden Zusammenspiel eines Schlagzeugs mit mehreren Saxophonen,
Hammondorgeln und Elektrogitarren zusammensetzte.
Wexford streckte den Kopf über den Zaun und starrte
auf das rechteckige Stückchen Land, teils Wildnis, teils
Müllabladeplatz, das der hintere Garten der Lovells war. Aus dem
offenen Küchenfenster führte eine ungefähr fünfzehn Meter lange
Leitung zu dem Schuppen, aus dem das Getöse drang. Wexford wich ein
Stück zurück und hielt sich die drangsalierten Ohren zu.
Dann ließ er die Hände sinken.
In dem Schuppen sprach jemand. Ton und Timbre der
Stimme waren unverkennbar, ihr Akzent künstlich gepflegt. So sprach
man in der Gegend zwischen Lands End und New York, dachte
Wexford.
Mit wachsender Neugier hörte er zu.
Nachdem er sein unsichtbares, ja, nicht vorhandenes
Publikum als »Freaks und Frikadellen« angesprochen hatte, machte
Sean Lovell in gewandtem Profijargon eine kurze, abschätzige
Bemerkung über das letzte Musikstück und kündigte dann mit etwas
mehr Enthusiasmus die nächste Platte an. Diesmal war es das Gedudel
einer Big Band, und es klang noch mißtönender als der Titel, der
Wexford dazu veranlaßt hatte, sich die Ohren zuzuhalten.
Dann hörte es auf. Sean ergriff wieder das Wort,
und als Wexford die ganze Bedeutung des Gesagten klar wurde, stieg
tiefes Mitleid in ihm auf. Es gibt kaum etwas Jämmerlicheres,
dachte er, als einen Mann zu belauschen, der sich allein mit seinem
Tagtraum wähnt, einen Mann, der seinem einzigen, privaten und
lächerlichen Laster frönt.
»Und jetzt kommen wir zu dem«, kündigte die
körperlose Stimme an, »auf den ihr alle gewartet habt. Ihr habt
einen langen Weg hinter euch, um heute abend dabeizusein, und ich
kann euch versprechen, ihr werdet nicht enttäuscht sein. Hier ist
er, Boys und Girls. Applaus für euren Sean Lovell!«
Ohne Begleitung begann er zu singen. Wexford ging
weg, sehr behutsam und leise für einen so stattlichen Mann, fast
ohne mit den Füßen auf dem mit Kiefernnadeln bedeckten Waldboden
ein Knistern zu verursachen.
Nun wußte er, was Sean an jenem Abend getan hatte,
was er allabendlich tat und vielleicht noch jahrelang tun würde,
bis ihn sich ein Mädchen schnappte und ihm zeigte, daß Träume
Schäume sind und der Sinn des Lebens in der Arbeit im Garten eines
reichen Mannes liegt.