14
Wexford schlenderte mit seiner Frau zur Kirche und trennte sich von ihr an der Pforte. Obwohl er selbst nicht religiös eingestellt war, besuchte er manchmal den Frühgottesdienst, um ihr eine Freude zu machen. Heute zog ihn sein Büro ebenso unwiderstehlich an wie die Kirchenglocken seine Frau, doch der stille Lockruf war nur für ihn hörbar.
Burden war bereits dort, telefonierte geschäftig und setzte die Fahndung nach Twohey in Gang.
»Geboren in Dublin vor ungefähr fünfzig Jahren«, hörte Wexford ihn sagen. “Dunkelhaarig, irischer Typ, kleine Augen, hat am linken Mundwinkel eine Zyste, falls er sie nicht hat entfernen lassen. Eine Vorstrafe wegen Unterschlagung, 1954 als Hoteldirektor in Manchester. Jawohl, könnte sich in Ihrem Newcastle oder in Newcastle under Lyme aufhalten. Sie bleiben in Verbindung mit uns.« Er legte auf und grinste seinen Vorgesetzten erwartungsvoll an.
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht«, sagte Wexford, als Burden ihm ein Foto des Mannes reichte, den er gerade beschrieben hatte. »Habe ich Sie nicht ausdrücklich angewiesen, Sie sollen sich den Abend freinehmen und Ihr Haus fertigstreichen?«
»Habe ich doch. Außerdem habe ich meine Hausaufgaben nicht gestern abend gemacht, sondern bin heute morgen früh aus den Federn gekrochen. Mrs. Cantrip und ich haben ein Arbeitsfrühstück eingenommen.«
»Hat sie irgendeine Idee, wie das Geld an Twohey ausbezahlt wurde?«
Burden schloß das Fenster. Auf das Glockengeläut legte er keinen gesteigerten Wert. »Sie hatte keine Ahnung davon. Ich glaube nicht, daß sie es wirklich geschluckt hat. Ihre Mrs. Nightingale das Opfer einer Erpressung?«
»Da bleibt einem doch die Spucke weg, das können Sie mir glauben«, ahmte Wexford sie schmunzelnd nach.
»So ähnlich. Sie ist sicher, daß Twohey nicht hier in der Gegend ist, weil seine Frau sie sonst besucht hätte.«
Wexford zuckte mit den Achseln. Den stabilen Drehstuhl hatte Burden in Beschlag genommen, weshalb ihm nichts anderes übrigblieb, als sich mit einem der wackligen Stühle zu begnügen. Er warf dem Inspector einen ungnädigen Blick zu und fragte verstimmt: »Weswegen sollte er hier in der Gegend sein?«
»Wegen dem, daß vielleicht er es war, mit dem sich Mrs. Nightingale im Wald getroffen hat«, antwortete Burden, der mit der Grammatik manchmal auf Kriegsfuß stand.
»Getötet werden Erpresser, nicht ihre Opfer.«
»Mal angenommen, sie hat ihm gesagt, ihre Mittel seien erschöpft? Er könnte sie aus Wut umgebracht haben. Wir sind uns doch darüber einig, daß es ohne Vorsatz geschah, nicht? Gott sei Dank ist das Gebimmel vorbei.« Er öffnete das Fenster wieder und zog die Jalousie hoch, so daß Wexford von der Sonne geblendet wurde. Gereizt rückte der Chief Inspector den Stuhl ein Stück zur Seite. »Oder Sean Lovell hat sie mit ihm zusammen gesehen, sich über den Grund ihres Treffens getäuscht und...«
»Dann schließen Sie den jungen Lovell jetzt also doch nicht mehr aus?«
»Ich habe meine Meinung über ihn geändert, seit er mir erzählt hat, daß er als junger Kerl mit einem Messer auf seine Mutter losgegangen ist, als er sie mit einem ihrer Freunde ertappte. Außerdem ist da noch das Geld, das er bekommt. Ich wette, sie hat ihm gesagt, er erbe ihr gesamtes Vermögen, ohne vielleicht zu erwähnen, wieviel es eigentlich ist. Er könnte gedacht haben, es sei verdammt viel mehr.«
»Vergessen Sie’s, Mike. Entweder hat er sie aus Eifersucht umgebracht oder des Geldes wegen. Beides zusammen geht nicht.« Wexford stand auf. »Jedenfalls gehe ich jetzt ins Olive und gebe Lionel Marriott einen aus.«
Burden nahm wieder den Hörer ab. »Wie schön«, sagte er abweisend. »Leider habe ich dafür zuviel zu tun.«
»Sie hat auch niemand gefragt«, schnauzte ihn Wexford an. Dann schmunzelte er. »Wohl dem, Mike, der nicht sitzt, wo die Spötter sitzen.«
»Na, für gewöhnlich sitzen Sie hier, Sir«, erwiderte Burden zugeknöpft.
 
Es war merkwürdig, wie in letzter Zeit alles Burden in die Hand nahm, dachte Wexford, als er sich an die Brücke über den Kingsbrook lehnte und wartete, bis das Olive and Dove öffnete und Marriott kam. Wenn er auf die Ermittlungen der vergangenen Woche zurückblickte, hatte er den Eindruck, daß die meisten Nachforschungen Burden durchgeführt hatte, während er sich von Marriott Geschichtchen erzählen ließ. Vielleicht war das übertrieben. Aber wie sich immer mehr herausstellte, hatte Burden mit seinen Hypothesen richtig gelegen. Zum Beispiel, daß es kein vorsätzlicher Mord war, daß Nelleke auf eine Heirat mit Nightingale aus und Georgina Villiers nur eine nette, normale Frau war. Bestimmt würde er schon bald auch mit einer Erklärung für das Geheimnis aufwarten und mit einer anderen für Seans nicht vorhandenes Alibi. Er schnippte ein abgesprungenes Stückchen Stein vom Brückengeländer ins Wasser. Unsere Jünglinge sollen Gesichte sehen, dachte er, und unsere Alten sollen Träume haben...
»Ich gäb was dafür, wenn ich wüßte, woran du jetzt denkst«, sagte Marriott und tippte ihm auf die Schulter.
»Ich dachte daran, daß ich alt werde, Lionel.«
»Aber du bist doch so alt wie ich!«
»Ein bißchen jünger, glaube ich«, verbesserte Wexford ihn. »Mir ist gerade eingefallen, daß es in diesem Fall nur so von Menschen wimmelt, die für andere Menschen zu alt sind. Das ruft mir ins Gedächtnis, daß ich älter bin als sie alle.« Er blickte zu dem heiteren Himmel über Sussex auf, der sich wolkenlos und strahlend über ihm wölbte. »Ein alter Mann in einem Monat ohne Regen«, sagte er. »Ein alter Mann an einem Fall ohne Hoffnung...«
»Aber kein altes Hotel mit einer Bar ohne Whisky«, tröstete ihn Marriott. »Na los, Gerontius, trinken wir einen.«
An sonnigen Tagen konnten die Gäste des Olive die Drinks im Garten einnehmen. Es war ein staubiger kleiner Garten mit kümmerlichen Gewächsen, doch wie die meisten Engländer hielten es auch Wexford und Marriott fast schon für ihre Pflicht, bei Sonnenschein an den kleinen Tischen im Freien zu sitzen, denn schönes Wetter gab es so selten und immer nur so kurze Zeit.
»Aber ich habe dir doch schon alles erzählt, Reg«, sagte Marriott. »Mehr gibt es einfach nicht.«
»Und das aus deinem Munde?«
»Leider ja, es sei denn, ich soll die Sache mit meinen eigenen Gedanken ausschmücken.«
Wexford fischte ein Blatt aus seinem Glas und blickte ungehalten zu dem Baum auf, von dem es abgefallen war. In schneidendem Ton fragte er: »Hältst du es für möglich, daß Villiers homosexuell ist?«
»Du meine Güte, das glaube ich kaum.«
»Dennoch hast du gesagt, daß er in der Zeit zwischen den beiden Ehen keine Freundinnen hatte.«
»Aber auch keine Freunde.«
»Nein? Und was ist mit Quentin Nightingale?«
»Quentin ist bestimmt nicht homosexuell. Ich habe den starken Verdacht, daß er hinter dieser kleinen Holländerin her ist. Er ist total verknallt in sie, wenn du mich fragst. Ich gebe zu, daß Denys nur mittelprächtige Zuneigung für seine Ehefrauen empfand, doch Quentin war in Elizabeth verliebt, als er sie kennenlernte, und jetzt ist er wieder verliebt.«
Wexford wollte Nightingales vertrauliche Mitteilung nicht einmal durch ein zustimmendes Nicken verraten. “Ich habe mir überlegt, ob Elizabeth vielleicht von der Homosexualität ihres Bruders wußte und ihn dafür haßte, jedoch bereit war, fast alles zu tun, um es geheimzuhalten.«
»Bloß verstehe ich dann nicht, weshalb sie deshalb ermordet werden sollte.«
Als er sein Glas austrank, entschied sich Wexford, Marriott gegenüber kein Sterbenswörtchen über das erpreßte Geld verlauten zu lassen. “Nein, wahrscheinlicher ist, daß sie mit einem Mann im Wald gesehen wurde und die Person, die sie beobachtet hat, zu ihrem Mörder wurde. Nachdenklich fügte er hinzu: »Mein kleiner Minnesänger, der einzige echte Nightingale in Myfleet.«
In übereifrigem Ton sagte Marriott: »Vielleicht ist er ein uneheliches Kind von Quen. Will Palmer sagt doch immer: Einen Vater hat der nie gehabt. Wie steht’s damit?«
»Was hast du in letzter Zeit gelesen?« grollte Wexford. »Mrs. Henry Wood? Die Hochzeit des Figaro?«
»Tut mir leid. War nur so eine Idee.«
»Und als solche mehr als bescheiden. Du bist vielleicht ein guter Englischlehrer, Lionel, aber als Detektiv bist du miserabel.« Wexford lächelte trübselig. “Sogar noch schlechter als ich«, sagte er im Aufstehen, wobei er sich fragte, was Burden während seiner Abwesenheit wohl herausgefunden hatte.
Marriott blieb noch einen Augenblick am Tisch sitzen, doch er holte Wexford ein, als der Chief Inspector gerade über die Brücke ging.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte er atemlos. »Elizabeth hat immer eine ganze Menge Päckchen verschickt. Ziemlich kleine, in braunes Packpapier eingewickelte Päckchen. Wenn ich tagsüber im Herrenhaus war, habe ich auf dem Garderobentisch oft so ein Päckchen gesehen - aber es lagen immer ein paar Briefe darauf, die ebenfalls zur Post gingen. Kannst du damit etwas anfangen?«
»Ich weiß nicht, aber trotzdem vielen Dank.«
»Keine Ursache, mein Bester«, flötete Marriott und wandte sich zum Gehen. Er blickte über die Schulter und fügte ziemlich wehmütig hinzu: »Laß mich nicht fallen, Reg, jetzt, wo du mich ausgequetscht hast.«
»Auch ein Bulle braucht Freunde«, erwiderte Wexford, dann ging er über die High Street zum Polizeirevier zurück.
Burden saß hinter dem Schreibtisch aus Rosenholz und aß ein Sandwich zu Mittag.
»Verziehen Sie sich«, fuhr ihn Wexford an. »Sie krümeln auf meine Schreibunterlage.«
»Sie krümeln doch auch immer.«
»Schon möglich, aber es ist meine Unterlage und zufällig auch mein Büro.«
»Tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich Burden. »Ich dachte, Sie zögen mit Marriott durch die Kneipen.«
Wexford schnaubte unwirsch. Er blies die Krümel weg und nahm würdevoll Platz. »Gibt’s was Neues?«
»Nein, noch nicht. Beide Newcastles erwiesen sich als Nieten. Ich habe mich mit Dublin in Verbindung gesetzt.«
»In einem irren Sie sich, Mike. Twohey hat sich mit Mrs. Nightingale nie im Wald getroffen. Sie hat ihm das Geld in Päckchen geschickt. Ich weiß nicht, an welche Adresse, aber wir könnten versuchen, Nelleke danach zu fragen.«
Burden kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Da Sie bereits zu Mittag gegessen haben«, sagte Wexford, »schlage ich vor, Sie übernehmen das.«
Burden ächzte. »Muß das sein?« fragte er im Ton eines Schuljungen, dem Ton, in dem sein Sohn sprach.
»Soll das ein Witz sein?« brüllte Wexford. »Haben Sie den Verstand verloren? Sie wird Sie schon nicht gleich auffressen.«
»Vor dem Aufgefressenwerden habe ich auch keine Angst«, erwiderte Burden. Er knüllte das Butterbrotpapier zusammen, warf es in den Papierkorb und ging hinaus, wobei er Wexford mit einem Blick bedachte, der gespieltes Entsetzen zum Ausdruck brachte.
Jetzt blieb ihm nichts mehr übrig als abzuwarten, überlegte Wexford. Er schickte Bryant in die Kantine, um eine Kleinigkeit zu Mittag für ihn zu holen, und nachdem er gegessen hatte, übermannte ihn große Müdigkeit. Er beschloß, zum Wachbleiben etwas zu lesen, und weil außer einem Stapel Berichte, die er in- und auswendig kannte, der einzige Lesestoff das Buch war, das ihm Denys Villiers geschenkt hatte, las er das. Oder um es genauer auszudrücken, er las die ersten drei Absätze, nur um dann einzunicken und fast vom Stuhl zu fallen, als die Telefonklingel schrillte.
»Versuchen Sie es mit Eisenwarenhandlungen«, erklärte er dem Anrufer müde. »Vor allem solche, die während der letzten vier Jahre den Besitzer wechselten. Er hat vielleicht seinen Namen geändert.« Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte er hinzu: »Besonders würde mich ein Laden interessieren, der Nightingale’s heißt, oder vielleicht Manor Stores.«
Er wandte sich wieder der Seite eins von Der verliebte Wordsworth zu, dann blätterte er weiter bis zu einem Stammbaum. Dort stand der Name, in dicken schwarzen Lettern: George Gordon Wordsworth. Er war, wie Wexford bemerkte, der Enkel des Lyrikers gewesen. Und diese Information, die in seinem jüngst erschienenen Buch bereits enthalten war, hatte Villiers in der Schulbibliothek nachgeschlagen - zumindest hatte er ihm das weismachen wollen. Demnach hatte der Mann die Schwäche, seine Gegner zu unterschätzen.
Es war fast sechs, als Burden zurückkam.
»Sie haben sich weiß Gott Zeit gelassen.«
“Die Holländerin und Nightingale waren nicht zu Hause. Haben anscheinend ein Picknick gemacht. Ich wartete, bis sie zurückkamen.«
»Konnte sie sich an die Adresse auf den Päckchen erinnern?«
»Sie sagt, die von ihr aufgegebenen Päckchen hätten nur Sachen enthalten, die Mrs. Nightingale nach Holland schickte, außer letzten Dienstag, dem Tag, an dem Mrs. N. ermordet wurde. Damals brachte sie zwei Päckchen zur Post, eins für ihre Mutter in Holland, und noch eines. Auf die Adresse hat sie nicht mal einen Blick geworfen.«
Wexford zuckte mit den Achseln. »Na ja, einen Versuch war’s wert, Mike. Tut mir leid, daß Ihr Sonntagnachmittag dabei draufging. Aber vergewaltigt wurden Sie nicht, oder?«
»Nightingale war die ganze Zeit dabei.«
»Wie Sie von ihm sprechen, könnte man ihn für die Krankenschwester im Sprechzimmer eines Arztes halten«, sagte Wexford. »Jedenfalls gehe ich jetzt selbst nach Myfleet, ich will mich bloß noch mal im Wald umsehen und vielleicht mit Mrs. Cantrip reden. Ihnen rate ich, nach Hause zu gehen. Falls Anrufe kommen, kann man die zu Ihnen durchstellen.«
Es mochte Tage dauern, es mochte Wochen dauern, doch irgendwann würde man Twohey finden. Und dann, dachte Wexford, als er an der King’s-Schule vorbeifuhr, würde er reden. Er würde in Wexfords Büro sitzen und durch die Panoramafenster in die Weite des hellblauen Himmels starren wie Hunderte skrupelloser Gauner vor ihm, doch im Unterschied zu ihnen würde er keine Veranlassung haben, den Mund zu halten. Eine lange Haftstrafe erwartete ihn, ob er nun aussagte oder sich ausschwieg. Wahrscheinlich würde er gern reden, um sich an der Toten und ihrer ganzen Familie zu rächen, denn diese Geldquelle war nun versiegt.
Und was würde er sagen? Daß Villiers’ Liebe zu seinem Schwager von der Sorte war, wie sie ihre engstirnige Gesellschaft nicht tolerieren konnte? Daß Elizabeth eine Reihe von Geliebten gehabt hatte, die dem Alter nach Kinder von ihr hätten sein können? Oder daß Villiers und Elizabeth vor langer Zeit in ein Verbrechen verwickelt gewesen waren?
Plötzlich mußte Wexford an das ausgebombte Haus denken, in dem ihre Eltern umgekommen waren. Damals waren sie noch Kinder gewesen, aber auch Kinder hatten schon Morde begangen... Zwei Menschen, unter Trümmern begraben, aber noch am Leben, Eltern, die dem Fortkommen ihrer Kinder im Wege standen. Villiers hatte gewiß einen großen Vorteil durch ihren Tod gehabt. Seine Schwester nicht. Lag darin der Schlüssel zum Ganzen?
Twohey würde es wissen. Der Gedanke, Twohey könnte möglicherweise der einzige sein, der noch am Leben war und es wußte, und sich nun in aller Gemütsruhe verkriechen, war schrecklich frustrierend für Wexford. Und es mochte Tage dauern, vielleicht Wochen...
Weiter nach Myfleet. Die Kirchenglocken von Clusterwell läuteten zur Abendandacht, und kaum waren ihre Schläge hinter ihm verklungen, hörte er vor sich das Geläut von Myfleet, acht Glocken, deren dröhnendes Wechselläuten die Abendluft erfüllte.
An Mrs. Cantrips Haustür hing ein Zettel: Bin zur Kirche. Komme um 19.30 zurück. Für jeden Einbrecher die reinste Einladung, dachte Wexford, nur konnte er sich nicht entsinnen, daß in den letzten zehn Jahren jemals in Myfleet eingebrochen worden war. Die umstehenden Bäume verbargen Verbrechen von größerer Tragweite. Er wandte sich um, und die gelbbraune Katze, die ausgesperrt war und zwischen den Blumen herumstrich, schmiegte sich an seine Beine. Tief atmete er den Duft der den ganzen Tag über von der Sonne überfluteten Kiefern ein. Wexford ging in den Wald. Er schlug den Weg ein, den Elizabeth Nightingale an jenem Abend gegangen war, und er folgte ihm bis zu der Lichtung, auf der sie sich Burdens Ansicht nach mit Twohey getroffen hatte und Wexfords Ansicht nach - ja, was getan hatte?
Vielleicht hatte Burden trotz allem wieder recht. Diese Päckchen waren vielleicht nicht mit der Post geschickt, sondern persönlich übergeben worden. Beträge von dieser Größenordnung hätte sie wohl kaum lose mit sich in der Handtasche herumgetragen. Außerdem hatte sie keine Handtasche mit, nur einen Mantel und eine Taschenlampe... Er starrte auf den mit Flechten bewachsenen Baumstamm, auf dem sie gesessen hatte. Auf dem trockenen Sandboden und in den von vier scharrenden Füßen aufgehäuften Kiefernnadeln waren noch die Kratzspuren von vier Schuhen sichtbar.
Wenn Twohey ihr Begleiter gewesen war - mit dem sie vielleicht Sean gesehen hatte, der den Zweck ihrer Zusammenkunft mißverstanden hatte -, woher war Twohey dann gekommen? Aus Pomfret, über den mit Tannen bewaldeten Hügel? Oder hatte er den Weg genommen, der an den Schrebergärten von Myfleet vorbeiführte und schließlich - wohin führte? Wexford beschloß, ihn zu erkunden.
Die Kirchenglocken waren verstummt; Totenstille hatte sich im Wald ausgebreitet. Er ging zwischen den geradwüchsigen schmalen Kiefernstämmen hindurch, warf mal einen Blick nach oben zu den silberhellen Himmelsflecken, mal rund um sich in den Wald hinein, der so düster und bis in Kopfhöhe so kahl war, daß kein Vogel zwitscherte und die einzige Spur von Leben die tanzenden Mückenschwärme waren.
Wegen der Mücken war er froh, als die Bäume zu seiner Linken allmählich lichter wurden und er schließlich entlang den Gartenzäunen von Myfleet ging. Bald darauf hörte er von vorn leises Musikgesäusel. Es war eine rührselige süßliche Melodie, die er unschwer in den Bereich der Pop- oder Tanzmusik einordnete, und sie erinnerte Wexford an jene sanften und leicht erotischen Klänge, die aus Nellekes Transistorradio an sein Ohr gedrungen waren. Gerade als er dachte, wie angenehm anspruchslos die Musik an einem friedlichen Sommerabend wie heute doch klang, hörte sie auf und wurde von einer entsetzlichen Kakophonie abgelöst, die sich aus dem dröhnenden Zusammenspiel eines Schlagzeugs mit mehreren Saxophonen, Hammondorgeln und Elektrogitarren zusammensetzte.
Wexford streckte den Kopf über den Zaun und starrte auf das rechteckige Stückchen Land, teils Wildnis, teils Müllabladeplatz, das der hintere Garten der Lovells war. Aus dem offenen Küchenfenster führte eine ungefähr fünfzehn Meter lange Leitung zu dem Schuppen, aus dem das Getöse drang. Wexford wich ein Stück zurück und hielt sich die drangsalierten Ohren zu.
Dann ließ er die Hände sinken.
In dem Schuppen sprach jemand. Ton und Timbre der Stimme waren unverkennbar, ihr Akzent künstlich gepflegt. So sprach man in der Gegend zwischen Lands End und New York, dachte Wexford.
Mit wachsender Neugier hörte er zu.
Nachdem er sein unsichtbares, ja, nicht vorhandenes Publikum als »Freaks und Frikadellen« angesprochen hatte, machte Sean Lovell in gewandtem Profijargon eine kurze, abschätzige Bemerkung über das letzte Musikstück und kündigte dann mit etwas mehr Enthusiasmus die nächste Platte an. Diesmal war es das Gedudel einer Big Band, und es klang noch mißtönender als der Titel, der Wexford dazu veranlaßt hatte, sich die Ohren zuzuhalten.
Dann hörte es auf. Sean ergriff wieder das Wort, und als Wexford die ganze Bedeutung des Gesagten klar wurde, stieg tiefes Mitleid in ihm auf. Es gibt kaum etwas Jämmerlicheres, dachte er, als einen Mann zu belauschen, der sich allein mit seinem Tagtraum wähnt, einen Mann, der seinem einzigen, privaten und lächerlichen Laster frönt.
»Und jetzt kommen wir zu dem«, kündigte die körperlose Stimme an, »auf den ihr alle gewartet habt. Ihr habt einen langen Weg hinter euch, um heute abend dabeizusein, und ich kann euch versprechen, ihr werdet nicht enttäuscht sein. Hier ist er, Boys und Girls. Applaus für euren Sean Lovell!«
Ohne Begleitung begann er zu singen. Wexford ging weg, sehr behutsam und leise für einen so stattlichen Mann, fast ohne mit den Füßen auf dem mit Kiefernnadeln bedeckten Waldboden ein Knistern zu verursachen.
Nun wußte er, was Sean an jenem Abend getan hatte, was er allabendlich tat und vielleicht noch jahrelang tun würde, bis ihn sich ein Mädchen schnappte und ihm zeigte, daß Träume Schäume sind und der Sinn des Lebens in der Arbeit im Garten eines reichen Mannes liegt.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
rube_9783641023560_oeb_cover_r1.html
rube_9783641023560_oeb_toc_r1.html
rube_9783641023560_oeb_fm1_r1.html
rube_9783641023560_oeb_fm2_r1.html
rube_9783641023560_oeb_p01_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c01_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c02_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c03_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c04_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c05_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c06_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c07_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c08_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c09_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c10_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c11_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c12_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c13_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c14_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c15_r1.html
rube_9783641023560_oeb_p02_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c16_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c17_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c18_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c19_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c20_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c21_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c22_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c23_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c24_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c25_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c26_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c27_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c28_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c29_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c30_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c31_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c32_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c33_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c34_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c35_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c36_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c37_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c38_r1.html
rube_9783641023560_oeb_cop_r1.html