6
Ein Riesenglück, dachte Wexford bei sich, als er bei Sonnenuntergang die High Street von Kingsmarkham entlangschlenderte, daß er aus purem Zufall auf einen Busenfreund von Quentin Nightingale gestoßen und dieser Busenfreund ausgerechnet Lionel Marriott war. Falls er sich aus seinem riesigen Bekanntenkreis in der Stadt jemanden hätte aussuchen dürfen, um ihn über das Privatleben der Nightingales aufzuklären, wäre seine Wahl mit Sicherheit auf Marriott gefallen. Doch es war ihm nicht in den Sinn gekommen, Marriott mit dem Herrenhaus in Verbindung zu bringen, wenn dies vielleicht auch ein Versäumnis war, denn welches bedeutende Haus in der weiteren Umgebung blieb Marriott schon verschlossen? Wer auch nur den leisesten Anspruch auf Bildung und Geschmack erhob, war auf du und du mit ihm. Wer außer einem Einsiedler konnte die Bekanntschaft mit dem gastfreundlichsten und klatschsüchtigsten Einwohner Kingsmarkhams leugnen?
Wexford war ihm fünf- oder sechsmal begegnet, und für Marriott genügte das, um ihn unter seine intimen Freunde zu zählen und ein seltenes Vorrecht für sich in Anspruch zu nehmen. Nur wenige in Kingsmarkham kannten den Vornamen des Chief Inspectors, und noch weniger redeten ihn damit an. Marriott hatte dies seit ihrem ersten Kennenlernen getan und verlangte dafür von Wexford, daß dieser ihn Lionel nenne.
Marriotts Leben war ein offenes Buch. Man mochte vielleicht nicht darin blättern, doch falls man sich allzu diskret zeigte, blätterte er selbst darin, denn er war ebenso begierig, von seinem eigenen Privatleben zu berichten wie von dem seines enormen Freundeskreises.
Er war ungefähr in Wexfords Alter, aber flink und drahtig, und früher einmal mit einer faden kleinen Frau verheiratet, die bequemerweise gestorben war, als Marriotts Gelangweiltsein in ihrem Eheleben gerade den Zenit erreicht hatte. Marriott sprach von ihr stets als »meine arme Frau« und erzählte höchst geschmacklose Geschichten von ihr, über die man aber trotzdem einfach lachen mußte, weil seine arabeskenreiche Erzählkunst stets die komische Seite aller Mißlichkeiten des Menschseins hervorhob. Hinterher beschwichtigte man sein Gewissen mit der Überlegung, daß die Dame besser tot als mit Marriott verheiratet war, der sich nie lange an jemanden fesseln ließ und »alles übrige«, wie Shelley meint, »obgleich schön und gut, schnödem Vergessen anvertraut«.
Denn vor »schnödem Vergessen« oder wenigstens vor Einsamkeit schien Marriott sich am meisten zu fürchten. Weshalb lud er sich sonst jeden Abend Gäste ins Haus? Weshalb sollte er sonst tagsüber am King’s englische Literatur unterrichten, obwohl er über private Einkünfte verfügte, die selbst für seine Bedürfnisse, seine Freigebigkeit und Gastfreundschaft ausreichten?
Seit dem Tod seiner Frau hatte er kein Einsiedlerleben geführt, und jedesmal, wenn Wexford ihm begegnete, hatte er eine neue Begleiterin, stets attraktive, elegant gekleidete Frauen in den Vierzigern. Höchstwahrscheinlich, dachte Wexford, als er in die von der High Street abzweigende Gasse einbog, die zu Marriotts Haus führte, war jetzt die derzeitige Favoritin dort, arrangierte Marriotts Blumen in den Vasen, hörte sich seine Anekdoten an und bereitete die Häppchen für die unweigerlich folgende Cocktailparty vor.
Sein Haus lag am Ende einer im georgianischen Stil erbauten Straßenzeile, deren Gebäude alle außer dem ersten in Geschäfte, Eigentumswohnungen oder Lagerhäuser umgewandelt worden waren. Im Kontrast zu deren baufälligem Aussehen war sein Haus mit dem strahlend weißen Außenanstrich, der alle zwei Jahre erneuert wurde, den hübschen kleinen Blumenkästen auf allen Fensterbänken und den sechs schmiedeeisernen Balkons an der Fassade herausgeputzt wie Bauernmädchen am Sonntag. Uneingeweihte hätten hinter dem Eigentümer dieses Hauses eine finanziell unabhängige alte Jungfer mit einem Gartentick vermutet. Innerlich lächelnd stieg Wexford die Stufen zur Haustür hinauf und zog den Kopf ein, um nicht an einen Hängekorb voller leuchtend bunter Lobelien und feuerwehrroter Geranien zu stoßen. Ausnahmsweise war die Gasse nicht mit den Autos von Marriotts Gästen vollgestopft. Doch es war noch früh und ging gerade erst auf sieben Uhr zu.
Marriott persönlich kam an die Tür, in roter Samtjacke und Ripsband, in der einen Hand ein Glas Spargelspitzen.
»Hallo, alter Junge, was für eine nette Überraschung! Noch vor kaum fünf Minuten habe ich gesagt, wie unglücklich ich bin, weil du mich so im Stich läßt, und schon stehst du auf der Matte. Die Antwort auf das Gebet eines armen Sünders. Wäre es nicht prima, sagte ich gerade, wenn der gute alte Reg Wexford heute abend aufkreuzen würde?«
Wexford gehörte der Generation und sozialen Schicht an, die immer fast in Ohnmacht fällt, wenn sie von flüchtigen Bekannten mit Vornamen angesprochen wird, und er zuckte innerlich zusammen, doch selbst er mußte zugeben, daß, ganz gleich, welche Fehler Marriott auch haben mochte, niemand einen so herzlich empfangen konnte wie er.
»Ich war gerade in der Gegend«, sagte er. »Außerdem wollte ich sowieso mit dir reden.«
»Und ich habe mich danach gesehnt, wieder mal mit dir zu reden, womit wir schon zu zweit wären. Herein mit dir, oder willst du zwischen Tür und Angel reden? Du bleibst doch zu meiner Party, nicht? Nur eine kleine Feier, ein paar alte Freunde, die nach den netten Sachen, die ich über dich erzählt habe, alle darauf brennen, den großen Chief Inspector persönlich kennenzulernen.«
Wexford sah sich in die Diele gezerrt und in Richtung von Marriotts Salon geschoben. »Was feiert ihr?« Er holte tief Luft und brachte den Vornamen über die Lippen. »Was gibt es denn zu feiern, Lionel?«
»Vielleicht war »feiern« das falsche Wort, alter Junge. Es handelt sich eher um so etwas wie eine Die-Todgeweihten-grüßen-dich-Zusammenkunft, wenn du verstehst, was ich meine.« Er sah Wexford forschend ins Gesicht. »Offenbar nicht. Aber ein vielbeschäftigter Mann wie du kann auch kaum wissen, daß heute der letzte Ferientag ist und es morgen wieder zurück zu den pickligen Rackern geht.«
»Aber natürlich«, sagte Wexford. Er erinnerte sich nun wieder, daß Marriott am Ende der Ferien immer eine Party gab und seine Schüler an der King’s-Schule stets als die »pickligen Racker« bezeichnete. »Bleiben kann ich aber nicht. Ich fürchte, ich komme ungelegen und störe dich bei den Vorbereitungen zu der Party.«
»Kein bißchen! Du weißt gar nicht, wie überglücklich ich bin, dich zu sehen, aber deine frostige Miene sagt mir, daß du an etwas Anstoß nimmst.« Marriott breitete in dramatischer Geste seine kurzen Arme aus. »Sage mir, was habe ich getan? Was habe ich gesagt?«
Als er in den Salon kam, sah Wexford in einer Ecke eine improvisierte Bar aufgebaut, und durch den Bogen, der zum Eßzimmer führte, fiel sein Blick auf eine überladene Tafel, auf der zwischen achtlos verstreuten weißen Rosen Brathühner, kalter Braten und ein ganzer Lachs angerichtet waren. »Wie ich sehe«, sagte er, »habe ich mich wohl geirrt in der Annahme, daß du mit Elizabeth Nightingale eng befreundet warst.«
Marriotts lebhafte Miene erstarrte und wurde plötzlich kummervoll, ob aufrichtig, wußte Wexford nicht zu sagen. »Ich weiß, ich weiß. Ich müßte in Trauer sein und geradezu in Sack und Asche gehen. Glaube mir, Reg, ich trage die Asche im Herzen. Aber mal angenommen, ich würde allen diesen lieben Leutchen absagen und das gebratene Fleisch den Schweinen der Mästerei in Pomfret vorwerfen, was hätte das für einen Wert? Würde sie dadurch wieder lebendig? Würde Quentin deshalb eine Träne weniger um sie weinen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
“Lieber Reg, dein Tadel trifft mich schwer. Laß mich dir etwas zu trinken anbieten. Einen Whisky, einen Pernod oder einen Champagnercocktail? Und vielleicht ein Scheibchen gebratene Ente dazu?«
Wexford nahm Platz, wie stets überwältigt. »Dann eben einen kleinen Whisky, aber nichts zu essen.«
»Ich muß wohl ein Ausgestoßener sein. Du weigerst dich, mein Salz zu essen.« Marriott trottete kopfschüttelnd an die Bar, wo er zwei Riesengläser Vat 69 einschenkte. Wexford war sich im klaren, daß Widerspruch zwecklos war. Innerlich grinsend ließ er den Blick über das Zimmer schweifen. Obwohl er wußte, daß viele der Antiquitäten unglaublich kostbar und die Kronleuchter ohnegleichen waren und jeder in der Stadt, der Geschmack hatte, Marriott um die Raumausstattung beneidete, erinnerte Wexford sein Salon immer an eine Kreuzung zwischen der Wallace Collection und einem italienischen Restaurant in der Old Brompton Road. Die Wände bedeckte eine flaschengrüne Tapete, die ein smaragdgrünes Prägemuster zierte und auf der goldgerahmte Spiegel hingen. Auf sämtlichen Tischen standen Kollektionen von Stiluhren, Tabatieren und Crown-Derby-Porzellannippes. Ein Gast hätte Angst gehabt, sich überhaupt zu bewegen, wenn er nicht genau gewußt hätte, daß, ganz gleich, welchen Schaden er auch anrichtete, Marriott nur ein Lächeln dafür übrig haben und sagen würde, es spiele überhaupt keine Rolle, da die Anwesenheit des Gastes mitsamt seiner Ungeschicklichkeit so überaus viel wertvoller sei als irgendein unbelebter Gegenstand.
Das Geklapper von Absätzen aus dem Küchenbereich verriet ihm die Anwesenheit einer dritten Person im Haus, und als er seinen dreistöckigen Whisky entgegennahm, kam eine Frau mit einem Tablett zum Vorschein, auf dem noch mehr Essen aufgetürmt war. Sie war eine große Blonde, etwa Mitte Vierzig, und trug an beiden Handgelenken Armreife, die bei jeder ihrer Bewegungen wie Glöckchen gegeneinanderschlugen.
»Das ist Hypatia, mein Amanuensis«, sagte Marriott und ergriff ihren Arm. »Du machst dir keine Vorstellung, welch komische Blicke ich ernte, wenn ich sie so vorstelle. Die Leute sind eben schlicht ungebildet, nicht? Das ist Chief Inspector Wexford, Liebes, unser Friedenshüter.«
Von Marriotts Bemerkungen unbeeindruckt, streckte ihm Hypatia gelassen eine große Hand entgegen.
»Sie wird uns nicht stören«, sagte Marriott, als wäre sie gar nicht vorhanden. »Sie wird ein Bad nehmen und sich schöner machen denn je. Nur zu, Patty.«
»Bist du sicher, daß das Essen reicht?« fragte Hypatia.
»Ganz sicher. Gallenkoliken wie beim letztenmal wollen wir schließlich nicht noch einmal erleben. Also, Reg, jetzt kannst du den Großinquisitor spielen. Ich bin zwar untröstlich, daß du mich nicht nur zum Vergnügen besuchst, aber ich mache mir nichts vor.« Marriott hob sein Glas. »Trinken wir auf kleine Gefälligkeiten!«
»Äh - prost«, sagte Wexford. Er wartete, bis die Frau gegangen war und das Gluckern in den Wasserleitungen an sein Ohr drang. »Ich möchte etwas über die Nightingales erfahren, alles, was du mir sagen kannst.« Er grinste. “Ich weiß, von gutem Geschmack oder dummem Skrupel, wie daß man von Toten nur Gutes reden soll, wirst du dir keinen Zwang antun lassen.«
»Ich hatte Elizabeth sehr gern«, begann Marriott in leicht gekränktem Ton. »Wir kannten uns von Kindesbeinen an. Spielten sozusagen im gleichen Sandkasten.«
»Dann mußt du ein verdammt zurückgebliebenes Kind gewesen sein«, sagte Wexford spitz. »Sie war gute fünfzehn Jahre jünger als du, also mach dir nichts vor.«
Marriott rümpfte die Nase. »Offenbar bist du heute morgen mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.«
»Ob mit dem linken Fuß, weiß ich nicht. Jedenfalls viel zu früh für meinen Geschmack. Du kanntest sie also, seit sie geboren wurde? Wo war das?«
»Selbstverständlich hier. Hast du nicht gewußt, daß sie und Denys hier zur Welt kamen?«
»Ich weiß eigentlich noch gar nichts über sie.«
»Ah, das hab ich gern. Völlige Unwissenheit. Wie ich schon immer den pickligen Rackern erkläre, selig sind, die da hungert und dürstet nach Aufklärung, denn sie sollen satt werden, und wenn ich’s ihnen mit der Querlatte einprügeln muß. Jedenfalls kamen sie tatsächlich hier zur Welt, in einer klammen Bruchbude unten an der Kingsbrookschleuse. Ihre Mutter kam aus London und stammte aus recht guter Familie, aber ihr Vater war ein waschechter Kingsmarkhamer. Er arbeitete als Schriftführer bei der Gemeinde.«
»Also waren sie nicht gerade wohlhabend?«
»Arm wie die Kirchenmäuse, mein Bester. Elizabeth und Denys besuchten die staatliche Schule, und zweifelsohne würde ihr Vater heute noch den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, wenn nicht die Bombe dazwischengekommen wäre.«
»Was für eine Bombe?« fragte Wexford, als die Tür zum Bad zugeschlagen wurde und es im Wasserbehälter weit über ihnen rauschte.
»Eine von der Bombenserie, die ein deutsches Flugzeug hier auf dem Weg zur Küste abwarf. Es war ein Volltreffer, der Villiers père und mere auf einen Schlag ins Jenseits beförderte.«
»Wo waren die Kinder?«
“Denys war beim Fischen, und Elizabeth hatte man losgeschickt, um ihn nach Hause zu holen. Es geschah am frühen Abend, so gegen sieben. Die Kinder der Villiers’, Elizabeth und Denys, waren vierzehn beziehungsweise elf.«
»Was ist aus ihnen geworden?«
»Es wurde eine ziemlich seltsame und höchst ungerechte Übereinkunft für sie getroffen«, sagte Marriott. »Denys kam zu dem Bruder seiner Mutter und schnitt dabei sehr gut ab. Dieser Onkel war ein nicht unvermögender Rechtsanwalt und schickte Denys zunächst auf eine Privatschule und dann nach Oxford. Die arme Elizabeth blieb aber bei ihrer Tante, der Schwester ihres Vaters, die sie mit fünfzehn aus der Schule nahm und bei Moran’s anfangen ließ, dem Textilgeschäft.«
Auf Wexfords Miene spiegelte sich das Staunen, das Marriott erhofft hatte. »Mrs. Nightingale war Verkäuferin in einem Textilgeschäft?«
»Ich dachte mir schon, daß dich das vom Hocker reißt. Diese alte Hexe Priscilla Larkin-Smith tratscht bei ihren Bekannten immer noch von den Zeiten, als Elizabeth Villiers ihr Korsetts anpaßte.«
»Wie hat sie Nightingale kennengelernt?«
“Oh, das kam erst viel später«, sagte Marriott. »Elizabeth blieb nicht lange bei Moran’s. Sie riß nach London aus und suchte sich einen Job, das schlaue junge Ding. Möchtest du noch einen Scotch, Süßer?«
»Nein, wirklich nicht. Weißt du, Lionel, ohne diese Dingsda oben und ihre Vorgängerinnen könnte man bei dir fast - wie soll ich mich ausdrücken - gewisse absonderliche Neigungen vermuten. Du drückst dich manchmal reichlich zweideutig aus.«
Marriott lächelte affektiert, als er das hörte, schien jedoch keinen Anstoß daran zu nehmen. “Als Tunte bin ich gar nicht übel, was? Ich werde immer wieder darauf angesprochen. Reine Pose, das kann ich dir versichern. Komm, laß mich nachschenken.«
»Na, von mir aus.« Das Wasser wurde aus der Wanne gelassen, und das Tappen von Hypatias Füßen im oberen Stock war zu hören. »Haben sich die Geschwister in London getroffen?«
Marriott zündete sich eine russische Zigarette an und blies Rauchringe in die Luft. »Damit kann ich leider nicht dienen.« Er wirkte geknickt. Wexford wußte, wie er es haßte, wenn er zugeben mußte, daß ihm irgendeine Einzelheit aus dem Privatleben eines Freundes unbekannt war. »Ich habe keinen von ihnen wiedergesehen, bis ich erfuhr, daß Quentin das Herrenhaus gekauft hat.« Er schenkte ihnen noch einmal ein und ging zu seinem Sessel zurück. »Als wir hörten, es seien neue Leute in das Herrenhaus gezogen, habe ich meine Frau natürlich mal bei ihnen vorbeischauen lassen. Du kannst dir vorstellen, wie überglücklich ich war, als ich erfuhr, wer diese Mrs. Nightingale war.«
»Ich weiß nicht so recht, ob ich mir das vorstellen kann«, meinte Wexford. »Schließlich war sie ein fünfzehnjähriges Kind und du in den Dreißigern, als ihr euch das letzte Mal gesehen hattet.«
»Du legst aber auch jedes impulsive Wort von mir gleich auf die Goldwaage! Selbstverständlich wollte ich damit nur sagen, daß es nett war, jemand wiederzusehen, den ich von früher her kannte, außerdem war Elizabeth stets eine sehr amüsante Gesellschafterin. Eine echte Schönheit, verstehst du, und welchen Stil sie hatte! Ich liebe diese klassischen englischen Blondinen.«
»Du solltest wieder heiraten«, sagte Wexford.
Marriott sandte einen verschlagenen Blick gen Himmel und äußerte sich in Epigrammform: »Ein Mann, der wieder heiratet, verdient es nicht, daß er seine erste Frau verliert.«
»Zuweilen schockierst du mich«, sagte Wexford. »Apropos Ehe, wie klappte denn die der Nightingales?«
»Sie waren ein glückliches Paar. Wenn du und deine Frau nie über etwas anderes sprechen als über das Wetter, von vorn und hinten bedient werdet, kinderlos und sexuell gleichermaßen frigid seid, worüber kann man dann streiten?«
»So war das also mit ihnen? Und darf ich fragen, wie du darauf kommst, daß sie frigide waren?«
Marriott rückte unruhig in seinem Sessel hin und her. “Tja, dazu genügt ein Blick auf Quentin... Außerdem mußt du ein paar Vermutungen schon gelten lassen, Reg.«
»Die Vermutungen überlaß ruhig mir. Kommen wir noch mal auf früher zurück, vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Wohnte Villiers damals schon hier?«
»Nein, er tauchte erst ein paar Jahre später auf. Ich begegnete ihm am ersten Tag des Herbsttrimesters, das ist jetzt also fast auf den Tag genau vierzehn Jahre her. Im Lehrkörper gab es zwei Neulinge, einen Naturwissenschaftler und eine Hilfskraft für die Altphilologie. Das war Denys. Der Direktor machte sie mit uns alten Hasen bekannt, und ich war natürlich absolut begeistert, Denys wiederzusehen.«
»Selbstverständlich«, warf Wexford ein.
Marriott sah ihn gekränkt an. »Sein Verhalten kam mir sehr merkwürdig vor, höchst eigenartig. Denys ist ein sonderbarer Kauz, ein waschechter Misanthrop. »Was für ein Glücksfall«,habe ich zu ihm gesagt, »daß du mich kennst. Ich kann dich einführen und mit allen bekannt machen, die hier wer sind.’ Man hätte doch erwarten sollen, er sei außer sich vor Freude, aber von wegen. Er sah mich nur angewidert an, doch ich hielt es für das beste, ein wenig Nachsicht mit ihm zu haben.«
»Weswegen?«
»Schließlich ist er Lyriker, wie du weißt, und Lyriker sind ein komisches Völkchen. Das ist nun mal so. Aber wie ich sehe, ist dir das neu. Du meine Güte, ja. Mehrere ganz reizende Gedichtchen von ihm waren damals im New Statesman erschienen, und ich hatte gerade seinen Essayband über Wordsworth, Coleridge und Southey gelesen. Übrigens ein kluges Buch. Wie ich also schon sagte, war ich nachsichtig mit ihm. »Sie bauen wohl auf Ihre Schwester, Ihnen hier ein Entree zu verschaffen«, habe ich zu ihm gesagt. »Vergessen Sie nicht, daß auch sie neu hier ist.«- »Meine Schwester? Hier?’ erwiderte er und wurde kreidebleich. »Wollen Sie damit etwa sagen, Sie wußten nichts davon?« - »Herrgott noch mal«, fluchte er. »Ich dachte, hier an diesem Ort würde sie sich zuallerletzt blicken lassen.«
»Aber du hast dafür gesorgt, daß sie sich begegneten?« fragte Wexford.
»Selbstverständlich, mein Bester. Ich hatte Denys und seine Frau noch am selben Abend hier zu Besuch.«
»Seine Frau?«rief Wexford erstaunt. »Aber er ist doch erst seit einem Jahr verheiratet.«
»Nun reg dich mal wieder ab, alter Junge. Seine erste Frau. Das war wohl dein voller Ernst, als du gesagt hast, daß du nichts über diese Leute weißt. Seine erste Frau, June, eine ungemein...«
»Hör mal, immer schön der Reihe nach«, stöhnte Wexford. »Warum war Villiers so aus dem Häuschen, als du ihm erzählt hast, daß seine Schwester hier sei?«
»Das habe ich nach damals auch gefragt, aber später waren wir noch oft alle zusammen, und es war offenkundig, daß sie sich nicht ausstehen konnten. Komisch, wenn man bedenkt, wie umgänglich Elizabeth mit anderen Leuten war. Offen gestanden, Reg, sie verhielt sich ihm gegenüber, als hätte er ihr etwas angetan, und was ihn betrifft... Es war unglaublich, wie unverschämt der Mann zu ihr war. Aber dem darfst nicht zuviel Bedeutung beimessen. Denys ist zu allen ekelhaft, mit Ausnahme von Quentin. Ihm gegenüber verhält er sich ganz anders, und Quen betet ihn förmlich an. Aber Elizabeth und Denys kamen noch nie gut miteinander aus. Schon als Kinder lagen sie sich ständig in den Haaren. Ich kann mich sogar noch entsinnen, daß Mrs. Villiers und meine arme Frau einmal darüber sprachen, wie unangenehm das sei, du weißt schon, und wie hilflos sich Mrs. Villiers dadurch vorkommen mußte. Aber falls du eine Antwort darauf möchtest, weshalb sie diesen Streit fortsetzten, kann ich dir nicht helfen. Elizabeth sprach nie über ihren Bruder, wenn es sich vermeiden ließ, und wenn sie sich mir nicht anvertraute, wem dann? Wir waren sehr eng befreundet, geradezu intim, könnte man sagen.«
»So?« sagte Wexford nachdenklich. »Könnte man das?« Er sah Marriott forschend an und hätte in dieser Richtung nachgehakt, wenn in diesem Moment nicht Hypatia eingetreten wäre, gebadet, von einem Parfümschleier umgeben und mit Goldlamehosen und einer schwarzgoldenen Jacke bekleidet.
Wexford begegnete sie mit zurückhaltendem, Marriott mit mütterlichem Lächeln. »Immer noch beim Schwatzen? Pam und Ian sind da, Leo. Ich habe gerade ihr Auto in die Gasse einbiegen sehen.« Zu Wexford gewandt, fragte sie spitz: »Müssen Sie schon gehen?«
Wexford stand auf und wehrte Marriotts Hand ab, die ihn zurückhalten wollte. “Gibst du morgen abend wieder eine Party, Lionel?«
»Also wirklich, Reg, ein solcher Genußmensch bin ich nun auch nicht. Morgen abend werde ich nach meinen Scharmützeln mit den Söhnen von Freisassen, Bürgern und besseren Leuten entkräftet daniederliegen - schwarz wird es mir vor Augen werden, darauf kannst du Gift nehmen.«
»In diesem Fall«, meinte Wexford grinsend, »werde ich dich von der Schule abholen und dich nach Hause fahren.«
»Prima«, sagte Marriott, ließ sich zum erstenmal jedoch ein leises Unbehagen anmerken. Er geleitete Wexford zur Tür, wo ihnen zwei ältliche Leute entgegenkamen. »Ist ja phantastisch, daß ihr kommen konntet, meine Lieben. Pam, du siehst einfach zum Anbeißen aus, Herzchen. Darf ich euch...«
Wexford stahl sich leise davon.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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