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Ein Riesenglück, dachte Wexford bei sich, als er
bei Sonnenuntergang die High Street von Kingsmarkham
entlangschlenderte, daß er aus purem Zufall auf einen Busenfreund
von Quentin Nightingale gestoßen und dieser Busenfreund
ausgerechnet Lionel Marriott war. Falls er sich aus seinem riesigen
Bekanntenkreis in der Stadt jemanden hätte aussuchen dürfen, um ihn
über das Privatleben der Nightingales aufzuklären, wäre seine Wahl
mit Sicherheit auf Marriott gefallen. Doch es war ihm nicht in den
Sinn gekommen, Marriott mit dem Herrenhaus in Verbindung zu
bringen, wenn dies vielleicht auch ein Versäumnis war, denn welches
bedeutende Haus in der weiteren Umgebung blieb Marriott schon
verschlossen? Wer auch nur den leisesten Anspruch auf Bildung und
Geschmack erhob, war auf du und du mit ihm. Wer außer einem
Einsiedler konnte die Bekanntschaft mit dem gastfreundlichsten und
klatschsüchtigsten Einwohner Kingsmarkhams leugnen?
Wexford war ihm fünf- oder sechsmal begegnet, und
für Marriott genügte das, um ihn unter seine intimen Freunde zu
zählen und ein seltenes Vorrecht für sich in Anspruch zu nehmen.
Nur wenige in Kingsmarkham kannten den Vornamen des Chief
Inspectors, und noch weniger redeten ihn damit an. Marriott hatte
dies seit ihrem ersten Kennenlernen getan und verlangte dafür von
Wexford, daß dieser ihn Lionel nenne.
Marriotts Leben war ein offenes Buch. Man mochte
vielleicht nicht darin blättern, doch falls man sich allzu diskret
zeigte, blätterte er selbst darin, denn er war ebenso begierig, von
seinem eigenen Privatleben zu berichten wie von dem seines enormen
Freundeskreises.
Er war ungefähr in Wexfords Alter, aber flink und
drahtig, und früher einmal mit einer faden kleinen Frau
verheiratet, die bequemerweise gestorben war, als Marriotts
Gelangweiltsein in ihrem Eheleben gerade den Zenit erreicht hatte.
Marriott sprach von ihr stets als »meine arme Frau« und erzählte
höchst geschmacklose Geschichten von ihr, über die man aber
trotzdem einfach lachen mußte, weil seine arabeskenreiche
Erzählkunst stets die komische Seite aller Mißlichkeiten des
Menschseins hervorhob. Hinterher beschwichtigte man sein Gewissen
mit der Überlegung, daß die Dame besser tot als mit Marriott
verheiratet war, der sich nie lange an jemanden fesseln ließ und
»alles übrige«, wie Shelley meint, »obgleich schön und gut,
schnödem Vergessen anvertraut«.
Denn vor »schnödem Vergessen« oder wenigstens vor
Einsamkeit schien Marriott sich am meisten zu fürchten. Weshalb lud
er sich sonst jeden Abend Gäste ins Haus? Weshalb sollte er sonst
tagsüber am King’s englische Literatur unterrichten, obwohl er über
private Einkünfte verfügte, die selbst für seine Bedürfnisse, seine
Freigebigkeit und Gastfreundschaft ausreichten?
Seit dem Tod seiner Frau hatte er kein
Einsiedlerleben geführt, und jedesmal, wenn Wexford ihm begegnete,
hatte er eine neue Begleiterin, stets attraktive, elegant
gekleidete Frauen in den Vierzigern. Höchstwahrscheinlich, dachte
Wexford, als er in die von der High Street abzweigende Gasse
einbog, die zu Marriotts Haus führte, war jetzt die derzeitige
Favoritin dort, arrangierte Marriotts Blumen in den Vasen, hörte
sich seine Anekdoten an und bereitete die Häppchen für die
unweigerlich folgende Cocktailparty vor.
Sein Haus lag am Ende einer im georgianischen Stil
erbauten Straßenzeile, deren Gebäude alle außer dem ersten in
Geschäfte, Eigentumswohnungen oder Lagerhäuser umgewandelt worden
waren. Im Kontrast zu deren baufälligem Aussehen war sein Haus mit
dem strahlend weißen Außenanstrich, der alle zwei Jahre erneuert
wurde, den hübschen kleinen Blumenkästen auf allen Fensterbänken
und den sechs schmiedeeisernen Balkons an der Fassade herausgeputzt
wie Bauernmädchen am Sonntag. Uneingeweihte hätten hinter dem
Eigentümer dieses Hauses eine finanziell unabhängige alte Jungfer
mit einem Gartentick vermutet. Innerlich lächelnd stieg Wexford die
Stufen zur Haustür hinauf und zog den Kopf ein, um nicht an einen
Hängekorb voller leuchtend bunter Lobelien und feuerwehrroter
Geranien zu stoßen. Ausnahmsweise war die Gasse nicht mit den Autos
von Marriotts Gästen vollgestopft. Doch es war noch früh und ging
gerade erst auf sieben Uhr zu.
Marriott persönlich kam an die Tür, in roter
Samtjacke und Ripsband, in der einen Hand ein Glas
Spargelspitzen.
»Hallo, alter Junge, was für eine nette
Überraschung! Noch vor kaum fünf Minuten habe ich gesagt, wie
unglücklich ich bin, weil du mich so im Stich läßt, und schon
stehst du auf der Matte. Die Antwort auf das Gebet eines armen
Sünders. Wäre es nicht prima, sagte ich gerade, wenn der gute alte
Reg Wexford heute abend aufkreuzen würde?«
Wexford gehörte der Generation und sozialen Schicht
an, die immer fast in Ohnmacht fällt, wenn sie von flüchtigen
Bekannten mit Vornamen angesprochen wird, und er zuckte innerlich
zusammen, doch selbst er mußte zugeben, daß, ganz gleich, welche
Fehler Marriott auch haben mochte, niemand einen so herzlich
empfangen konnte wie er.
»Ich war gerade in der Gegend«, sagte er. »Außerdem
wollte ich sowieso mit dir reden.«
»Und ich habe mich danach gesehnt, wieder mal mit
dir zu reden, womit wir schon zu zweit wären. Herein mit dir, oder
willst du zwischen Tür und Angel reden? Du bleibst doch zu meiner
Party, nicht? Nur eine kleine Feier, ein paar alte Freunde, die
nach den netten Sachen, die ich über dich erzählt habe, alle darauf
brennen, den großen Chief Inspector persönlich
kennenzulernen.«
Wexford sah sich in die Diele gezerrt und in
Richtung von Marriotts Salon geschoben. »Was feiert ihr?« Er holte
tief Luft und brachte den Vornamen über die Lippen. »Was gibt es
denn zu feiern, Lionel?«
»Vielleicht war »feiern« das falsche Wort, alter
Junge. Es handelt sich eher um so etwas wie eine
Die-Todgeweihten-grüßen-dich-Zusammenkunft, wenn du verstehst, was
ich meine.« Er sah Wexford forschend ins Gesicht. »Offenbar nicht.
Aber ein vielbeschäftigter Mann wie du kann auch kaum wissen, daß
heute der letzte Ferientag ist und es morgen wieder zurück zu den
pickligen Rackern geht.«
»Aber natürlich«, sagte Wexford. Er erinnerte sich
nun wieder, daß Marriott am Ende der Ferien immer eine Party gab
und seine Schüler an der King’s-Schule stets als die »pickligen
Racker« bezeichnete. »Bleiben kann ich aber nicht. Ich fürchte, ich
komme ungelegen und störe dich bei den Vorbereitungen zu der
Party.«
»Kein bißchen! Du weißt gar nicht, wie
überglücklich ich bin, dich zu sehen, aber deine frostige Miene
sagt mir, daß du an etwas Anstoß nimmst.« Marriott breitete in
dramatischer Geste seine kurzen Arme aus. »Sage mir, was habe ich
getan? Was habe ich gesagt?«
Als er in den Salon kam, sah Wexford in einer Ecke
eine improvisierte Bar aufgebaut, und durch den Bogen, der zum
Eßzimmer führte, fiel sein Blick auf eine überladene Tafel, auf der
zwischen achtlos verstreuten weißen Rosen Brathühner, kalter Braten
und ein ganzer Lachs angerichtet waren. »Wie ich sehe«, sagte er,
»habe ich mich wohl geirrt in der Annahme, daß du mit Elizabeth
Nightingale eng befreundet warst.«
Marriotts lebhafte Miene erstarrte und wurde
plötzlich kummervoll, ob aufrichtig, wußte Wexford nicht zu sagen.
»Ich weiß, ich weiß. Ich müßte in Trauer sein und geradezu in Sack
und Asche gehen. Glaube mir, Reg, ich trage die Asche im Herzen.
Aber mal angenommen, ich würde allen diesen lieben Leutchen absagen
und das gebratene Fleisch den Schweinen der Mästerei in Pomfret
vorwerfen, was hätte das für einen Wert? Würde sie dadurch wieder
lebendig? Würde Quentin deshalb eine Träne weniger um sie
weinen?«
»Wahrscheinlich nicht.«
“Lieber Reg, dein Tadel trifft mich schwer. Laß
mich dir etwas zu trinken anbieten. Einen Whisky, einen Pernod oder
einen Champagnercocktail? Und vielleicht ein Scheibchen gebratene
Ente dazu?«
Wexford nahm Platz, wie stets überwältigt. »Dann
eben einen kleinen Whisky, aber nichts zu essen.«
»Ich muß wohl ein Ausgestoßener sein. Du weigerst
dich, mein Salz zu essen.« Marriott trottete kopfschüttelnd an die
Bar, wo er zwei Riesengläser Vat 69 einschenkte. Wexford war sich
im klaren, daß Widerspruch zwecklos war. Innerlich grinsend ließ er
den Blick über das Zimmer schweifen. Obwohl er wußte, daß viele der
Antiquitäten unglaublich kostbar und die Kronleuchter ohnegleichen
waren und jeder in der Stadt, der Geschmack hatte, Marriott um die
Raumausstattung beneidete, erinnerte Wexford sein Salon immer an
eine Kreuzung zwischen der Wallace Collection und einem
italienischen Restaurant in der Old Brompton Road. Die Wände
bedeckte eine flaschengrüne Tapete, die ein smaragdgrünes
Prägemuster zierte und auf der goldgerahmte Spiegel hingen. Auf
sämtlichen Tischen standen Kollektionen von Stiluhren, Tabatieren
und Crown-Derby-Porzellannippes. Ein Gast hätte Angst gehabt, sich
überhaupt zu bewegen, wenn er nicht genau gewußt hätte, daß, ganz
gleich, welchen Schaden er auch anrichtete, Marriott nur ein
Lächeln dafür übrig haben und sagen würde, es spiele überhaupt
keine Rolle, da die Anwesenheit des Gastes mitsamt seiner
Ungeschicklichkeit so überaus viel wertvoller sei als irgendein
unbelebter Gegenstand.
Das Geklapper von Absätzen aus dem Küchenbereich
verriet ihm die Anwesenheit einer dritten Person im Haus, und als
er seinen dreistöckigen Whisky entgegennahm, kam eine Frau mit
einem Tablett zum Vorschein, auf dem noch mehr Essen aufgetürmt
war. Sie war eine große Blonde, etwa Mitte Vierzig, und trug an
beiden Handgelenken Armreife, die bei jeder ihrer Bewegungen wie
Glöckchen gegeneinanderschlugen.
»Das ist Hypatia, mein Amanuensis«, sagte Marriott
und ergriff ihren Arm. »Du machst dir keine Vorstellung, welch
komische Blicke ich ernte, wenn ich sie so vorstelle. Die Leute
sind eben schlicht ungebildet, nicht? Das ist Chief Inspector
Wexford, Liebes, unser Friedenshüter.«
Von Marriotts Bemerkungen unbeeindruckt, streckte
ihm Hypatia gelassen eine große Hand entgegen.
»Sie wird uns nicht stören«, sagte Marriott, als
wäre sie gar nicht vorhanden. »Sie wird ein Bad nehmen und sich
schöner machen denn je. Nur zu, Patty.«
»Bist du sicher, daß das Essen reicht?« fragte
Hypatia.
»Ganz sicher. Gallenkoliken wie beim letztenmal
wollen wir schließlich nicht noch einmal erleben. Also, Reg, jetzt
kannst du den Großinquisitor spielen. Ich bin zwar untröstlich, daß
du mich nicht nur zum Vergnügen besuchst, aber ich mache mir nichts
vor.« Marriott hob sein Glas. »Trinken wir auf kleine
Gefälligkeiten!«
»Äh - prost«, sagte Wexford. Er wartete, bis die
Frau gegangen war und das Gluckern in den Wasserleitungen an sein
Ohr drang. »Ich möchte etwas über die Nightingales erfahren, alles,
was du mir sagen kannst.« Er grinste. “Ich weiß, von gutem
Geschmack oder dummem Skrupel, wie daß man von Toten nur Gutes
reden soll, wirst du dir keinen Zwang antun lassen.«
»Ich hatte Elizabeth sehr gern«, begann Marriott in
leicht gekränktem Ton. »Wir kannten uns von Kindesbeinen an.
Spielten sozusagen im gleichen Sandkasten.«
»Dann mußt du ein verdammt zurückgebliebenes Kind
gewesen sein«, sagte Wexford spitz. »Sie war gute fünfzehn Jahre
jünger als du, also mach dir nichts vor.«
Marriott rümpfte die Nase. »Offenbar bist du heute
morgen mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.«
»Ob mit dem linken Fuß, weiß ich nicht. Jedenfalls
viel zu früh für meinen Geschmack. Du kanntest sie also, seit sie
geboren wurde? Wo war das?«
»Selbstverständlich hier. Hast du nicht gewußt, daß
sie und Denys hier zur Welt kamen?«
»Ich weiß eigentlich noch gar nichts über
sie.«
»Ah, das hab ich gern. Völlige Unwissenheit. Wie
ich schon immer den pickligen Rackern erkläre, selig sind, die da
hungert und dürstet nach Aufklärung, denn sie sollen satt werden,
und wenn ich’s ihnen mit der Querlatte einprügeln muß. Jedenfalls
kamen sie tatsächlich hier zur Welt, in einer klammen Bruchbude
unten an der Kingsbrookschleuse. Ihre Mutter kam aus London und
stammte aus recht guter Familie, aber ihr Vater war ein waschechter
Kingsmarkhamer. Er arbeitete als Schriftführer bei der
Gemeinde.«
»Also waren sie nicht gerade wohlhabend?«
»Arm wie die Kirchenmäuse, mein Bester. Elizabeth
und Denys besuchten die staatliche Schule, und zweifelsohne würde
ihr Vater heute noch den lieben Gott einen guten Mann sein lassen,
wenn nicht die Bombe dazwischengekommen wäre.«
»Was für eine Bombe?« fragte Wexford, als die Tür
zum Bad zugeschlagen wurde und es im Wasserbehälter weit über ihnen
rauschte.
»Eine von der Bombenserie, die ein deutsches
Flugzeug hier auf dem Weg zur Küste abwarf. Es war ein Volltreffer,
der Villiers père und mere auf einen Schlag ins
Jenseits beförderte.«
»Wo waren die Kinder?«
“Denys war beim Fischen, und Elizabeth hatte man
losgeschickt, um ihn nach Hause zu holen. Es geschah am frühen
Abend, so gegen sieben. Die Kinder der Villiers’, Elizabeth und
Denys, waren vierzehn beziehungsweise elf.«
»Was ist aus ihnen geworden?«
»Es wurde eine ziemlich seltsame und höchst
ungerechte Übereinkunft für sie getroffen«, sagte Marriott. »Denys
kam zu dem Bruder seiner Mutter und schnitt dabei sehr gut ab.
Dieser Onkel war ein nicht unvermögender Rechtsanwalt und schickte
Denys zunächst auf eine Privatschule und dann nach Oxford. Die arme
Elizabeth blieb aber bei ihrer Tante, der Schwester ihres Vaters,
die sie mit fünfzehn aus der Schule nahm und bei Moran’s anfangen
ließ, dem Textilgeschäft.«
Auf Wexfords Miene spiegelte sich das Staunen, das
Marriott erhofft hatte. »Mrs. Nightingale war Verkäuferin in einem
Textilgeschäft?«
»Ich dachte mir schon, daß dich das vom Hocker
reißt. Diese alte Hexe Priscilla Larkin-Smith tratscht bei ihren
Bekannten immer noch von den Zeiten, als Elizabeth Villiers ihr
Korsetts anpaßte.«
»Wie hat sie Nightingale kennengelernt?«
“Oh, das kam erst viel später«, sagte Marriott.
»Elizabeth blieb nicht lange bei Moran’s. Sie riß nach London aus
und suchte sich einen Job, das schlaue junge Ding. Möchtest du noch
einen Scotch, Süßer?«
»Nein, wirklich nicht. Weißt du, Lionel, ohne diese
Dingsda oben und ihre Vorgängerinnen könnte man bei dir fast - wie
soll ich mich ausdrücken - gewisse absonderliche Neigungen
vermuten. Du drückst dich manchmal reichlich zweideutig aus.«
Marriott lächelte affektiert, als er das hörte,
schien jedoch keinen Anstoß daran zu nehmen. “Als Tunte bin ich gar
nicht übel, was? Ich werde immer wieder darauf angesprochen. Reine
Pose, das kann ich dir versichern. Komm, laß mich
nachschenken.«
»Na, von mir aus.« Das Wasser wurde aus der Wanne
gelassen, und das Tappen von Hypatias Füßen im oberen Stock war zu
hören. »Haben sich die Geschwister in London getroffen?«
Marriott zündete sich eine russische Zigarette an
und blies Rauchringe in die Luft. »Damit kann ich leider nicht
dienen.« Er wirkte geknickt. Wexford wußte, wie er es haßte, wenn
er zugeben mußte, daß ihm irgendeine Einzelheit aus dem Privatleben
eines Freundes unbekannt war. »Ich habe keinen von ihnen
wiedergesehen, bis ich erfuhr, daß Quentin das Herrenhaus gekauft
hat.« Er schenkte ihnen noch einmal ein und ging zu seinem Sessel
zurück. »Als wir hörten, es seien neue Leute in das Herrenhaus
gezogen, habe ich meine Frau natürlich mal bei ihnen vorbeischauen
lassen. Du kannst dir vorstellen, wie überglücklich ich war, als
ich erfuhr, wer diese Mrs. Nightingale war.«
»Ich weiß nicht so recht, ob ich mir das vorstellen
kann«, meinte Wexford. »Schließlich war sie ein fünfzehnjähriges
Kind und du in den Dreißigern, als ihr euch das letzte Mal gesehen
hattet.«
»Du legst aber auch jedes impulsive Wort von mir
gleich auf die Goldwaage! Selbstverständlich wollte ich damit nur
sagen, daß es nett war, jemand wiederzusehen, den ich von früher
her kannte, außerdem war Elizabeth stets eine sehr amüsante
Gesellschafterin. Eine echte Schönheit, verstehst du, und welchen
Stil sie hatte! Ich liebe diese klassischen englischen
Blondinen.«
»Du solltest wieder heiraten«, sagte Wexford.
Marriott sandte einen verschlagenen Blick gen
Himmel und äußerte sich in Epigrammform: »Ein Mann, der wieder
heiratet, verdient es nicht, daß er seine erste Frau
verliert.«
»Zuweilen schockierst du mich«, sagte Wexford.
»Apropos Ehe, wie klappte denn die der Nightingales?«
»Sie waren ein glückliches Paar. Wenn du und deine
Frau nie über etwas anderes sprechen als über das Wetter, von vorn
und hinten bedient werdet, kinderlos und sexuell gleichermaßen
frigid seid, worüber kann man dann streiten?«
»So war das also mit ihnen? Und darf ich fragen,
wie du darauf kommst, daß sie frigide waren?«
Marriott rückte unruhig in seinem Sessel hin und
her. “Tja, dazu genügt ein Blick auf Quentin... Außerdem mußt du
ein paar Vermutungen schon gelten lassen, Reg.«
»Die Vermutungen überlaß ruhig mir. Kommen wir noch
mal auf früher zurück, vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Wohnte
Villiers damals schon hier?«
»Nein, er tauchte erst ein paar Jahre später auf.
Ich begegnete ihm am ersten Tag des Herbsttrimesters, das ist jetzt
also fast auf den Tag genau vierzehn Jahre her. Im Lehrkörper gab
es zwei Neulinge, einen Naturwissenschaftler und eine Hilfskraft
für die Altphilologie. Das war Denys. Der Direktor machte sie mit
uns alten Hasen bekannt, und ich war natürlich absolut begeistert,
Denys wiederzusehen.«
»Selbstverständlich«, warf Wexford ein.
Marriott sah ihn gekränkt an. »Sein Verhalten kam
mir sehr merkwürdig vor, höchst eigenartig. Denys ist ein
sonderbarer Kauz, ein waschechter Misanthrop. »Was für ein
Glücksfall«,habe ich zu ihm gesagt, »daß du mich kennst. Ich kann
dich einführen und mit allen bekannt machen, die hier wer sind.’
Man hätte doch erwarten sollen, er sei außer sich vor Freude, aber
von wegen. Er sah mich nur angewidert an, doch ich hielt es für das
beste, ein wenig Nachsicht mit ihm zu haben.«
»Weswegen?«
»Schließlich ist er Lyriker, wie du weißt, und
Lyriker sind ein komisches Völkchen. Das ist nun mal so. Aber wie
ich sehe, ist dir das neu. Du meine Güte, ja. Mehrere ganz reizende
Gedichtchen von ihm waren damals im New Statesman
erschienen, und ich hatte gerade seinen Essayband über Wordsworth,
Coleridge und Southey gelesen. Übrigens ein kluges Buch. Wie ich
also schon sagte, war ich nachsichtig mit ihm. »Sie bauen wohl auf
Ihre Schwester, Ihnen hier ein Entree zu verschaffen«, habe ich zu
ihm gesagt. »Vergessen Sie nicht, daß auch sie neu hier ist.«-
»Meine Schwester? Hier?’ erwiderte er und wurde kreidebleich.
»Wollen Sie damit etwa sagen, Sie wußten nichts davon?« - »Herrgott
noch mal«, fluchte er. »Ich dachte, hier an diesem Ort würde sie
sich zuallerletzt blicken lassen.«
»Aber du hast dafür gesorgt, daß sie sich
begegneten?« fragte Wexford.
»Selbstverständlich, mein Bester. Ich hatte Denys
und seine Frau noch am selben Abend hier zu Besuch.«
»Seine Frau?«rief Wexford erstaunt. »Aber er
ist doch erst seit einem Jahr verheiratet.«
»Nun reg dich mal wieder ab, alter Junge. Seine
erste Frau. Das war wohl dein voller Ernst, als du gesagt hast, daß
du nichts über diese Leute weißt. Seine erste Frau, June, eine
ungemein...«
»Hör mal, immer schön der Reihe nach«, stöhnte
Wexford. »Warum war Villiers so aus dem Häuschen, als du ihm
erzählt hast, daß seine Schwester hier sei?«
»Das habe ich nach damals auch gefragt, aber später
waren wir noch oft alle zusammen, und es war offenkundig, daß sie
sich nicht ausstehen konnten. Komisch, wenn man bedenkt, wie
umgänglich Elizabeth mit anderen Leuten war. Offen gestanden, Reg,
sie verhielt sich ihm gegenüber, als hätte er ihr etwas angetan,
und was ihn betrifft... Es war unglaublich, wie unverschämt der
Mann zu ihr war. Aber dem darfst nicht zuviel Bedeutung beimessen.
Denys ist zu allen ekelhaft, mit Ausnahme von Quentin. Ihm
gegenüber verhält er sich ganz anders, und Quen betet ihn förmlich
an. Aber Elizabeth und Denys kamen noch nie gut miteinander aus.
Schon als Kinder lagen sie sich ständig in den Haaren. Ich kann
mich sogar noch entsinnen, daß Mrs. Villiers und meine arme Frau
einmal darüber sprachen, wie unangenehm das sei, du weißt schon,
und wie hilflos sich Mrs. Villiers dadurch vorkommen mußte. Aber
falls du eine Antwort darauf möchtest, weshalb sie diesen Streit
fortsetzten, kann ich dir nicht helfen. Elizabeth sprach nie über
ihren Bruder, wenn es sich vermeiden ließ, und wenn sie sich mir
nicht anvertraute, wem dann? Wir waren sehr eng befreundet,
geradezu intim, könnte man sagen.«
»So?« sagte Wexford nachdenklich. »Könnte man das?«
Er sah Marriott forschend an und hätte in dieser Richtung
nachgehakt, wenn in diesem Moment nicht Hypatia eingetreten wäre,
gebadet, von einem Parfümschleier umgeben und mit Goldlamehosen und
einer schwarzgoldenen Jacke bekleidet.
Wexford begegnete sie mit zurückhaltendem, Marriott
mit mütterlichem Lächeln. »Immer noch beim Schwatzen? Pam und Ian
sind da, Leo. Ich habe gerade ihr Auto in die Gasse einbiegen
sehen.« Zu Wexford gewandt, fragte sie spitz: »Müssen Sie schon
gehen?«
Wexford stand auf und wehrte Marriotts Hand ab, die
ihn zurückhalten wollte. “Gibst du morgen abend wieder eine Party,
Lionel?«
»Also wirklich, Reg, ein solcher Genußmensch bin
ich nun auch nicht. Morgen abend werde ich nach meinen Scharmützeln
mit den Söhnen von Freisassen, Bürgern und besseren Leuten
entkräftet daniederliegen - schwarz wird es mir vor Augen werden,
darauf kannst du Gift nehmen.«
»In diesem Fall«, meinte Wexford grinsend, »werde
ich dich von der Schule abholen und dich nach Hause fahren.«
»Prima«, sagte Marriott, ließ sich zum erstenmal
jedoch ein leises Unbehagen anmerken. Er geleitete Wexford zur Tür,
wo ihnen zwei ältliche Leute entgegenkamen. »Ist ja phantastisch,
daß ihr kommen konntet, meine Lieben. Pam, du siehst einfach zum
Anbeißen aus, Herzchen. Darf ich euch...«
Wexford stahl sich leise davon.