19
In seiner Hast, zum Fahrstuhl zu gelangen, drängte Burden Harry Wild aus dem Weg.
»Manieren«, ereiferte sich der Reporter. »Man muß einen ja nicht gleich wegstoßen. Ich habe ein Recht, herzukommen und Fragen zu stellen, wenn ich...«
Die zugleitende Tür schnitt den Rest seiner Bemerkungen ab, die womöglich darauf hinausgelaufen wären, daß er, wäre er nicht so ein bescheidener Mensch und hätte er nicht diese Vorliebe fürs ruhige Leben, in ehrwürdigeren Hallen von seinen Rechten Gebrauch machen würde als denen des Polizeireviers von Kingsmarkham. Burden wollte davon nichts hören. Er wollte nur Bestätigung oder Verneinung von Harrys Aussage, daß man den Jungen gefunden habe.
»Es gibt eine Sondersitzung des Gerichts?« fragte er, als er in Wexfords Büro stürmte.
Der Chief Inspector sah müde aus heute morgen. Wenn er müde war, nahm seine Haut einen stumpfen Grauton an, und seine Augen waren kleiner denn je, aber immer noch stahlgrau unter den geschwollenen Lidern.
»Gestern abend«, sagte er, »habe ich unsern Briefschreiber gefunden, einen gewissen Arnold Charles Bishop.«
»Aber den Jungen nicht?« fragte Burden atemlos.
»Nein, natürlich nicht den Jungen.« Burden konnte es nicht leiden, wenn Wexford so feixte wie jetzt. Sein Blick schien zwei saubere Löcher in Burdens sowieso schon schmerzenden Kopf zu bohren. »Er kennt den Jungen nicht mal. Ich fand ihn in seinem Haus in Sparta Grove, wo er damit beschäftigt war, mir einen weiteren Brief zu schreiben. Seine Frau war zu einem Volkshochschulkurs, die Kinder im Bett. O ja, er hat Kinder, zwei Jungen. Einem von ihnen hat er die Haarlocke abgeschnitten, während der Junge schlief.«
»O Gott«, sagte Burden.
»Er ist ein Pelzfetischist. Soll ich Ihnen seine Aussage vorlesen?«
Burden nickte.
»Ich habe weder John Lawrence noch seine Mutter je gesehen. Ich habe ihn ihrer Obhut als seine rechtmäßige Hüterin nicht entrissen. Am 16. Oktober gegen sechs Uhr abends hörte ich meine Nachbarin, Mrs. Foster, ihrem Mann erzählen, daß John Lawrence vermißt werde und daß man Suchtrupps bilden wolle. Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Fontaine Road und schloß mich einem dieser Suchtrupps an.
Bei drei aufeinanderfolgenden Gelegenheiten im Oktober und November habe ich drei Briefe an Chief Inspector Wexford geschrieben. Ich habe sie nicht unterschrieben. Ich habe ihn einmal angerufen. Ich kann nicht sagen, warum ich all das getan habe. Irgend etwas ist über mich gekommen, und ich mußte es tun. Ich bin glücklich verheiratet und habe selbst zwei Kinder. Ich würde niemals einem Kind etwas zuleide tun, und ich besitze kein Auto. Die Kaninchen habe ich erwähnt, weil ich Pelz liebe. Ich habe drei Pelzmäntel, aber davon weiß meine Frau nichts. Sie weiß überhaupt nicht, was ich getan habe. Wenn sie weggeht und die Kinder schlafen, ziehe ich oft einen meiner Pelzmäntel an, um das Fell zu spüren.
In der Zeitung habe ich gelesen, daß Mrs. Lawrence rothaarig und ihr Sohn John Lawrence blond ist. Ich habe meinem Sohn Raymond eine Haarsträhne abgeschnitten und sie an die Polizei geschickt. Ich kann nicht erklären, weshalb ich das oder überhaupt diese ganze Sache getan habe, außer, daß ich es tun mußte.«
Mit rauher Stimme meinte Burden: »Dafür kann er höchstens sechs Monate für Behinderung der Polizeiarbeit kriegen.«
“Tja, wessen würden Sie ihn anklagen? Psychoterror? Der Mann ist krank. Ich war gestern abend auch wütend, aber jetzt bin ich’s nicht mehr. Wenn man nicht gerade ein Unmensch oder ein Idiot ist, kann man nicht wütend sein auf einen Mann, der mit einer so grotesken Krankheit leben muß wie Bishop.«
Burden murmelte etwas wie, es sei ja alles gut und schön, solange man nicht persönlich betroffen sei, doch Wexford ging darüber hinweg. »Kommen Sie in ungefähr einer halben Stunde mit rüber ins Gericht?«
»Den ganzen Mist noch mal um und um drehen?«
»Ein Großteil unserer Arbeit besteht nun mal aus Mist, wie Sie’s nennen. Ausmisten, aufräumen, lernen, Mist von anderem Unrat zu unterscheiden, und lernen, damit umzugehen.« Wexford stand auf und stützte sich schwer auf seinen Schreibtisch. »Wenn Sie nicht mitkommen wollen, was machen Sie dann? Hier sitzen und Trübsal blasen, den ganzen Tag lang? Delegieren? Sich vor der Verantwortung drücken? Mike, ich muß das mal sagen, es ist Zeit, daß ich es endlich tue. Ich bin müde, ich versuche, diesen Fall ganz allein zu lösen, weil ich mich auf Sie nicht mehr verlassen kann. Ich kann nicht mit Ihnen reden. Wir haben die Dinge immer gemeinsam auseinanderklamüsert, den Mist gesiebt, wenn Sie so wollen. Aber wenn man jetzt mit Ihnen redet - also, das ist, als wolle man ein vernünftiges Gespräch mit einem Zombie führen.«
Burden sah zu ihm auf. Einen Augenblick dachte Wexford, er würde nicht antworten, sich nicht verteidigen. Er starrte ihn nur mit einem leeren, toten Blick an, so, als sei er viele Tage und viele schlaflose Nächte hindurch verhört worden und könne nicht länger die peinigenden, verwickelten Fäden auseinanderhalten, die zu seinem Unglücklichsein beitrugen. Doch er wußte, daß die Zeit längst vorbei war, wo er Wexford abwimmeln konnte, und in einer Folge abgehackter Sätze stieß er alles heraus.
»Grace geht weg, ich weiß nicht, was mit den Kindern werden soll. Mein Privatleben ist ein einziges Chaos. Ich kann meine Arbeit nicht machen.« Wie ein Aufschrei, den er gar nicht hatte hinauslassen wollen, brach es aus ihm hervor. »Warum mußte sie sterben?« Und dann, weil er nicht wußte, was er machen sollte, weil Tränen, die keiner sehen durfte, unter seinen Lidern brannten, begrub er das Gesicht in den Händen.
Es war sehr still im Zimmer. Bald muß ich den Kopf heben, dachte Burden, muß die Hände von den Augen nehmen und seiner Verachtung begegnen. Er machte keine Bewegung, preßte nur seine Finger noch fester gegen die Augen. Da fühlte er Wexfords schwere Hand auf seiner Schulter.
»Mike, mein guter alter Freund...«
 
Eine emotional geladene Szene zwischen zwei normalerweise wenig emotionalen Männern hat gewöhnlich einen Nachhall tiefer und kläglicher Verlegenheit. Als Burden sich wieder gefaßt hatte, war er in der Tat sehr verlegen, doch Wexford verfiel weder in munteres Herumgetöne, noch machte er einen jener ungeschickten Versuche, das Thema zu wechseln.
»Sie hätten eigentlich dies Wochenende frei, oder, Mike?«
»Wie kann ich denn jetzt auch noch freinehmen?«
»Seien Sie nicht albern. In diesem Zustand sind Sie sowieso mehr als nutzlos. Machen Sie ein langes Wochenende draus, beginnend mit Donnerstag.«
»Grace will mit den Kindern nach Eastbourne fahren...«
»Fahren Sie mit. Sehen Sie zu, ob sie nicht ihre Meinung ändert und vielleicht doch noch bleibt. Es gibt immer zwei Möglichkeiten, Mike, oder? Und jetzt - meine Güte, wie spät ist es? -, wenn ich nicht augenblicklich losgehe, komme ich noch zu spät zum Gericht.«
Burden öffnete das Fenster, stellte sich davor und ließ den feinen Morgendunst über sein Gesicht streichen. Ihm kam es vor, als sei mit der Festnahme Bishops ihre letzte Hoffnung - oder seine letzte Sorge -, John Lawrence zu finden, dahin. Er würde Gemma nicht damit verstören, und Lokalzeitungen las sie nie. Der weiße, durchsichtige Dunst trieb vorbei, wusch sanft über ihn und machte ihn ruhiger. Dunst an der See und lange, leere Strände, verlassen im November, kamen ihm in den Sinn. Wenn sie dort waren, dann wollte er den Kindern und Grace und seiner Schwiegermutter von Gemma erzählen und davon, daß er wieder heiraten würde.
Er wunderte sich, warum der Gedanke daran ihn frostiger berührte als die kühle Herbstluft. Weil sie die fremdartigste Nachfolgerin für Jean war, die er aus seiner Welt hätte herauspicken können? Früher hatte er manchmal über Männer gestaunt, die aus Selbstlosigkeit oder aus einer vorübergehenden Verliebtheit heraus eine verkrüppelte oder blinde Frau heirateten. War er nicht im Begriff, genau das zu tun, eine Frau zu heiraten, die in ihrem Herzen und ihrer Persönlichkeit verkrüppelt war? Und er kannte sie nur so. Wie würde sie sein, wenn ihre Deformationen abgeheilt waren?
Absurd, monströs, Gemma als deformiert zu bezeichnen. Voller Zärtlichkeit und mit sehnsüchtigem, schmerzhaftem Herzzucken rief er sich ihre Schönheit und die Liebesnächte mit ihr ins Gedächtnis. Dann schloß er abrupt das Fenster; er wußte, er würde nicht mit Grace nach Eastbourne fahren.
 
Bishop wurde einem Arzt überstellt. Die Seelenknacker würden ihn sich schon vornehmen, dachte Wexford. Vielleicht würde es etwas bewirken, doch eher nicht. Wenn er nur das geringste Vertrauen zu Psychologen gehabt hätte, dann hätte er Burden empfohlen, zu einem zu gehen. Immerhin, ihre Aussprache vorhin hatte zur Reinigung der Luft beigetragen. Wexford fühlte sich besser danach, und er hoffte, Burden ging es ebenso. Jedenfalls war er jetzt auf sich allein gestellt. Ohne Hilfe mußte er den Mörder der Kinder finden - oder sich an den Yard wenden.
Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn von Mr. und Mrs. Rushworth abgelenkt. Jetzt dachte er erneut über sie nach. Rushworth trug einen Dufflecoat, Rushworth stand im Verdacht, ein Kind belästigt zu haben, aber wenn er der Mann auf dem Spielplatz gewesen wäre, hätte Mrs. Mitchell ihn dann nicht als einen ihrer Nachbarn erkannt? Überdies war jeder Mann im Umkreis von Fontaine Road nach John Lawrences Verschwinden genauestens überprüft worden, auch Rushworth.
Wexford ging noch einmal sämtliche Berichte durch. Am Nachmittag des 16. Oktober hatte Rushworth angegeben, in Sewingbury gewesen zu sein, wo er einem Klienten ein Haus zeigen sollte. Der Klient war nicht aufgekreuzt, wie Wexford sah. Damals im Februar hatte man Rushworth gar nicht erst befragt. Warum auch? Nichts deutete auf eine Verbindung zwischen ihm und Stella Rivers, und niemand hatte gewußt, daß er der Besitzer des vermieteten Häuschens in Mill Lane war. Zu dem Zeitpunkt schien es unerheblich, wem das Cottage gehörte.
Er würde Rushworth noch nicht aufsuchen. Erst mußte er sich über den Charakter und die Glaubwürdigkeit des Mannes informieren.
 
»Bloß hier wegkommen!« sagte Gemma. »Nur einfach für ein Weilchen aus diesem Haus weg.« Sie legte die Arme um Burdens Hals und hing an ihm. »Wohin wollen wir?«
»Entscheide du.«
»Ich würde gern nach London gehen. Da kann man sich so richtig verlieren, einfach in einer wunderbaren, riesigen Menschenmenge verlieren. Und die ganze Nacht über sind Lichter an, und es ist etwas los und...« Sie hielt inne und biß sich auf die Lippen, vielleicht, weil Burden so ein entsetztes Gesicht machte. »Nein, es würde dir nicht gefallen. Wir sind nicht sehr ähnlich, Mike, stimmt’s?«
Er antwortete nicht. Er wollte es nicht laut zugeben. »Warum nicht irgendwo ans Meer?« sagte er.
»Ans Meer?« Sie war Schauspielerin gewesen, wenn auch keine sehr erfolgreiche, doch sie legte all die Einsamkeit und Tiefe und Weite der See in diese beiden Wörter. Er fragte sich, weshalb sie erschauerte. Dann sagte sie: »Es macht mir nichts aus, wenn du gern möchtest. Aber nicht in einen großen Ferienort, wo vielleicht - vielleicht Familien, Leute mit - mit Kindern sind.«
»Ich dachte an Eastover. Wir haben November, da sind keine Kinder dort.«
»Also gut.« Sie erwähnte nicht, daß er sie gebeten hatte zu entscheiden. »Fahren wir nach Eastover.« Ihre Lippen zitterten. »Es wird bestimmt lustig«, sagte sie.
»Alle werden glauben, ich bin mit Grace und den Kindern nach Eastbourne gefahren. Das ist mir gerade recht.«
»Damit man dich nicht erreichen kann?« Sie nickte mit der verständigen Unschuld eines Kindes. »Ich verstehe. Du erinnerst mich an Leonie. Sie sagt den Leuten immer, sie fährt da und da hin, und in Wirklichkeit fährt sie ganz woanders hin, damit man sie nicht mit Briefen und Anrufen belästigt.«
»Das ist es gar nicht«, sagte Burden. »Es ist nur - na ja -, ich möchte nicht, daß jemand... Nicht bevor wir nicht verheiratet sind, Gemma.«
Sie lächelte verständnislos, mit großen Augen. Er sah, daß sie überhaupt nicht verstand, die Notwendigkeit, respektabel zu sein, den Dingen ein anständiges Gesicht zu geben, nicht einsah. Sie sprachen nicht dieselbe Sprache.
 
Es war Mittwoch nachmittag, und Mrs. Mitchell, ein Gewohnheitstier, war dabei, ihr Flurfenster zu putzen. Während sie sich unterhielten, umklammerte sie mit der einen Hand ein pinkfarbenes Staubtuch, mit der anderen eine Flasche Fensterputzmittel, und da sie sich weigerte, sich hinzusetzen, mußte auch Wexford stehen bleiben.
»Natürlich hätte ich Mr. Rushworth erkannt«, sagte sie. »Sein eigener kleiner Sohn, Andrew, hat doch mit den anderen da gespielt. Außerdem ist Mr. Rushworth ziemlich groß, und der Mann, den ich gesehen habe, war klein, zierlich gebaut. Ich habe Ihrem Kollegen erzählt, was er für kleine Hände hatte. Mr. Rushworth würde auch keine Blätter aufheben.«
»Wie viele Kinder hat er?«
»Vier. Da ist Paul - er ist fünfzehn - und zwei kleine Mädchen und Andrew. Wohlgemerkt, ich würde nicht gerade sagen, daß sie meiner Vorstellung von guten Eltern entsprechen, die Rushworths. Diese Kinder können tun und lassen, was ihnen gefällt, und Mrs. Rushworth hat sich kein bißchen darum gekümmert, als ich ihr das mit dem Mann erzählt habe, aber so was...! Nein, da sind Sie ganz sicher auf der falschen Fährte.«
Vielleicht war er das. Wexford überließ Mrs. Mitchell ihrer Fensterputzerei und überquerte die Schaukelwiese. Das Jahr war nun schon zu weit fortgeschritten, als daß noch Kinder hier gespielt hätten, und mehr Möchtegernsommertage würde es auch nicht geben. Das Karussell sah aus, als habe es sich nie um seine feuerrote Achse gedreht, und auf der Wippe hatte sich Schimmel breitgemacht. Kaum noch ein Blatt hing an den Eichen und Eschen und Platanen, die zwischen dem Feld und Mill Lane wuchsen. Er berührte die unteren Äste und meinte hier und dort zu sehen, wo ein Zweig abgerissen worden war. Dann kletterte er, sicherlich wesentlich ungeschickter als der Blattklauber und sein jugendlicher Begleiter, die Böschung hinunter.
Energisch schritt er die Straße entlang, gleichermaßen aus gesundheitlichen wie aus Pflichtgründen, sagte er sich. Er hatte nicht erwartet, in dem Cottage jemanden anzutreffen, aber Harry Wilds Freund war einer Erkältung wegen nicht bei der Arbeit. Als er eine Viertelstunde später wieder ging, fürchtete Wexford, sein Besuch hatte lediglich dazu beigetragen, die Temperatur des Mannes in die Höhe zu treiben, so sehr hatte er sich über das Thema Rushworth ereifert - ein offenbar weit vom idealen Vermieter entfernter Zeitgenosse. Wenn der Bericht des Mieters nicht übertrieben war, so hatte die gesamte Familie Rushworth die Angewohnheit, bei ihm hereinzuschneien, wann immer es ihr paßte, sich aus dem Garten zu bedienen und gelegentlich sogar kleinere Möbelstücke mitzunehmen, für deren Fehlen dann erklärende Zettelchen dalagen. Rushworth hatte einen Schlüssel einbehalten, doch der Mann zahlte eine so geringe Miete, daß er nicht den Mut hatte, sich zu beschweren.
Immerhin wußte Wexford jetzt, wer der Junge war, der an jenem Nachmittag im Februar beim Verlassen des Cottage beobachtet worden war. Es war ganz ohne Zweifel Paul Rushworth gewesen.
Der Tag war trübe und bewölkt gewesen, und nun brach der Abend herein, obwohl es noch nicht fünf war. Wexford spürte die ersten Regentropfen. An ebensolch einem Tag und um ungefähr die gleiche Zeit war Stella die Straße entlanggegangen, der er jetzt folgte, vielleicht hatte sie ihre Schritte beschleunigt und gewünscht, sie hätte etwas mehr als nur das dünne Reitjackett zum Schutz. Oder war sie gar nicht so weit Richtung Stowerton gekommen? Hatte ihr Weg - und ihr Leben - womöglich bei dem Häuschen geendet, das er soeben verlassen hatte?
Er hatte sich so intensiv in Stella hineingedacht, seinen eigenen, alternden, kräftigen Männerkörper in Gedanken in die leichte Gestalt eines zwölfjährigen Mädchens verwandelt, daß er bei dem Geräusch auf den grasigen Rand der Straße trat und hoffnungsvoll lauschte.
Das Geräusch stammte von Pferdehufen. Ein Reiter kam um die Biegung getrabt. Es war Stella, nicht der alte Reg Wexford, allein und ein bißchen ängstlich, und es fing gerade an zu regnen, aber da kam Swan... Zu Pferd? Ein Pferd für zwei Leute? Warum nicht im Auto?
Pferd und Reiter kamen in Sicht. Wexford schüttelte sich und war wieder er selbst. Er rief: »Guten Abend, Mrs. Fenn.«
Die Reitlehrerin zügelte den großen Grauen. »Ist er nicht wunderschön?« sagte sie. »Ich wünschte, es wäre meiner, aber ich muß ihn Mrs. Williams ins ‘Equita’ zurückbringen. Wir hatten so einen schönen Nachmittag draußen, nicht wahr, Silver?« Sie klopfte den Hals des Tieres. »Sie haben noch niemanden - äh - festgenommen, oder? Den Mann, der die arme Stella Swan auf dem Gewissen hat?«
Wexford schüttelte den Kopf.
»Stella Rivers, meine ich. Ich weiß gar nicht, weshalb ich das immer durcheinanderbringe. Schließlich habe ich selbst zwei Namen. Ein Teil meiner Freunde nennt mich Margaret, die anderen beim zweiten Namen. Da sollte ich mir so was wirklich merken können. Muß am Alter liegen.«
Wexford war nicht nach Galanterie zumute, und so fragte er einfach nur, ob sie Rushworth je auf dem Gelände von Saltram House gesehen habe.
»Bob Rushworth? Jetzt, wo Sie mich fragen, fällt mir ein, daß seine Frau und er letzten Winter häufig hier oben waren, und sie hat mich tatsächlich gefragt, ob ich meine, jemand könne was dagegen haben, wenn sie eine der Statuen mitnehmen. Die eine, die im Gras lag, wissen Sie.«
»Darüber haben Sie vorher nie etwas gesagt.«
»Na, bestimmt nicht«, meinte Mrs. Fenn und beugte sich vor, um dem Pferd beruhigend ins Ohr zu flüstern. »Ich kenne doch die Rushworths seit Jahren. Paul sagt Tantchen zu mir. Ich nehme an, sie wollten die Statue für ihren Garten. ‘Es steht mir nicht an, zu entscheiden, ob ihr sie haben könnt oder nicht’, sagte ich ihnen.« Sie setzte sich bequemer im Sattel zurecht. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich muß weiter. Silver ist ein hochgezüchteter Vollblüter und wird nervös, wenn es dunkel wird.« Das Pferd hob den Kopf und ließ ein lautes, zustimmendes Wiehern hören. »Schon gut, mein Schatz«, sagte Mrs. Fenn. “Wir sind bald bei Muttern zu Haus.«
Wexford ging weiter. Der Regen fiel dünn, aber stetig. Er kam an Saltram Lodge vorbei und dann zu jenem Teil der Straße, wo die Bäume am dichtesten standen. Nach zweioder dreihundert Metern wurde es wieder lichter, und der vielgerühmte Blick auf das große Haus kam in Sicht.
Die Parklandschaft lag grau in grau, und das Haus selbst wirkte wie ein schwarzes Skelett mit leeren Augenhöhlen, wie es da aus dem Dunst ragte. Wexford war froh, daß er den Ort nie gekannt oder ihn häufig besucht hatte. Für ihn war es ein Friedhof geworden.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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