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Wenn Mike sich auch nur um die kleinste
Entschuldigung bemühte, überlegte Grace, dann würde sie kein Wort
verlieren. Natürlich mußte er arbeiten, und oft konnte er nicht
weg, ohne seinen Job zu gefährden. Sie wußte, was das bedeutete.
Bevor sie hierhergekommen war, um seinen Haushalt zu führen, hatte
sie Freunde gehabt, einige, die einfach Freunde waren, und einige
wenige, die Liebhaber waren, und oft hatte sie eine Verabredung
nicht einhalten können, weil es im Krankenhaus einen Notfall gab.
Aber am nächsten Tag hatte sie immer angerufen oder kurz
geschrieben, weshalb.
Mike war nicht ihr Liebhaber, sondern nur ihr
Schwager. Hieß das, er schuldete ihr nichts, nicht mal normale
Höflichkeit? Und hatte man das Recht, ohne weiteres seine Kinder zu
versetzen, auch wenn der Sohn kurz vor Mitternacht vor Aufregung
zitterte, weil er nicht glauben konnte, daß er seine Algebraaufgabe
richtig hatte, und der alte Parminter, sein Mathematiklehrer, ihn
andernfalls nachsitzen lassen würde?
Sie briet Eier und Schinken für alle und legte im
Eßzimmer ein frisches Tischtuch auf. Nicht zum erstenmal wünschte
sie, ihre Schwester wäre nicht so eine exzellente Hausfrau gewesen,
so korrekt und beinah perfekt in allem, was sie tat, aber zumindest
bequem genug, das Frühstück in der Küche zu servieren. Sich mit
Jean messen zu müssen war nur eine der Bürden, die sie zu tragen
hatte.
Ihr Gesicht wurde hart, als Mike herunterkam, so
etwas wie einen Gruß in Richtung der Kinder grummelte und ohne ein
Wort seinen Platz am Tisch einnahm. Er würde also nichts über
gestern abend sagen. Nun, dann eben sie.
»Deine Algebra war völlig in Ordnung, John.«
Das Gesicht des Jungen hellte sich auf, wie immer,
wenn Burden mit ihm sprach.
»Dachte ich mir. Ist mir eigentlich auch nicht so
wichtig, aber der alte Minty läßt mich nachsitzen, wenn ich’s nicht
richtig habe. Du kannst mich wahrscheinlich nicht mit zur Schule
nehmen.«
»Zu viel zu tun«, sagte Burden. »Der Fußweg tut dir
gut.« Er lächelte, wenn auch nicht allzu freundlich, zu seiner
Tochter hinüber. »Und dir auch, mein Fräulein«, fügte er hinzu.
»Also, ab mit euch. Es ist beinah halb.«
Normalerweise ging Grace nicht mit ihnen bis zur
Tür, aber heute tat sie es, um die Härte ihres Vaters
wiedergutzumachen. Als sie zurückkam, war Burden bei seiner zweiten
Tasse Tee, und bevor sie sich bremsen konnte, war sie in eine lange
Tirade über Johns Nerven und Pats Befremdung und die Art und Weise,
wie er sie alle allein ließ, ausgebrochen.
Er hörte sie bis zu Ende an, dann sagte er:
»Weshalb können Frauen -«, er korrigierte sich, machte die
unvermeidliche Ausnahme -, »die meisten Frauen nicht begreifen, daß
Männer arbeiten müssen? Wenn ich nicht arbeiten würde, Gott weiß,
was dann mit euch allen passieren würde.«
»Hast du auch gearbeitet, als Mrs. Finch dich im
Cheriton Forest in deinem Auto sitzen sah?«
»Mrs. Finch«, brauste er auf, »soll sich um ihre
eigenen verdammten Angelegenheiten kümmern!«
Grace drehte ihm den Rücken zu. Sie merkte, daß sie
langsam bis zehn zählte. Dann sagte sie: »Mike, ich verstehe ja,
ich kann mir vorstellen, was du empfinden mußt.«
»Das bezweifle ich.«
»Nun, ich denke, ich kann es. Aber John und Pat
können es nicht. John braucht dich, und er braucht dich fröhlich
und sachlich und - und wie du früher warst. Mike, könntest du nicht
heute abend mal früh nach Hause kommen? Es gibt einen Film, den die
beiden sehen wollen. Er fängt erst um halb acht an, so daß du nicht
vor sieben hier sein müßtest. Wir könnten alle gemeinsam gehen. Es
würde ihnen so viel bedeuten.«
»Also gut«, sagte er. »Ich werde tun, was ich kann.
Schau nicht so, Grace. Ich werde um sieben dasein.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie tat etwas, was sie
seit seiner Heirat nicht mehr getan hatte, sie beugte sich über ihn
und küßte ihn auf die Wange. Dann fing sie rasch an, den Tisch
abzuräumen. Ihr Rücken war ihm zugekehrt, so daß sie nicht sah, wie
er erschauerte, und wie er die Hand ans Gesicht hob, als sei er
gestochen worden.
Gemma Lawrence hatte saubere Jeans an und dazu
einen sauberen, dicken Pullover. Ihr Haar war mit einem Band
zusammengehalten, und sie roch nach Seife wie ein sauberes, artiges
Kind.
»Ich habe die ganze Nacht geschlafen.«
Er lächelte sie an. »Ein Hoch auf Dr. Lomax«, sagte
er.
»Suchen sie noch?«
»Aber sicher. Hab ich es Ihnen nicht versprochen?
Wir haben eine ganze Armee von Polizisten aus den angrenzenden
Bezirken ausgeliehen.«
»Dr. Lomax war sehr nett. Wissen Sie, was er mir
erzählt hat? Als er noch in Schottland wohnte, bevor er hierherkam,
war sein eigener Sohn mal verschwunden, und sie haben ihn in einer
Schäferhütte schlafend gefunden, den Schäferhund im Arm. Er war
meilenweit gelaufen, und dieser Hund hatte ihn gefunden und sich um
ihn gekümmert wie um ein verlorenes Schaf. Die Geschichte hat mich
an Romulus und Remus und die Wölfin erinnert.«
Burden wußte nicht, wer Romulus und Remus waren,
aber er lachte und sagte: »Sehen Sie, hab ich’s Ihnen nicht
gesagt?« Er würde ihre Hoffnungen nicht zerstören, indem er ihr
erklärte, daß dies hier nicht Schottland sei, mit einsamen Bergen
und freundlichen Hunden. »Was haben Sie heute vor? Ich möchte
nicht, daß Sie allein sind.«
»Mrs. Crantock hat mich zum Essen eingeladen, und
die Nachbarn kommen ständig vorbei. Die Leute sind sehr lieb. Ich
wünschte, ich hätte ein paar engere Freunde hier. All meine Freunde
sind in London.«
»Das beste gegen Angste ist Arbeit«, meinte er.
»Das lenkt ab.«
»Unglücklicherweise habe ich keine Arbeit.«
Er hatte Hausarbeit gemeint, Saubermachen,
Aufräumen, Nähen; Dinge, die er ganz natürlich als Frauenarbeit
ansah, und davon gab es eine Menge. Doch das konnte er ihr kaum
sagen.
»Ich denke, ich werde einfach hier sitzen und
Platten hören«, sagte sie und stellte eine schmutzige Tasse vom
Plattenspieler auf den Fußboden, »oder lesen oder so was.«
»Sobald wir etwas erfahren, komme ich her. Ich
werde herkommen, nicht anrufen.«
Ihre Augen leuchteten. »Wenn ich Premierminister
wäre«, sagte sie, »würde ich Sie befördern.«
Er fuhr zum Cheriton Forest, auf den sich die Suche
inzwischen konzentrierte, und fand Wexford, auf einem Baumstamm
sitzend. Es war ein dunstiger Morgen, und der Chief Inspector war
in einen alten Regenmantel gehüllt, den alten Filzhut hatte er tief
in die Stirn gezogen.
»Wir haben einen Hinweis auf das Auto, Mike.«
»Welches Auto?«
»Gestern abend, draußen in den Feldern, hat einer
der Männer von den Suchtrupps Martin erzählt, er habe einen Wagen
in der Mill Lane abgestellt gesehen. Er hatte offenbar im August
eine Woche Urlaub und ist in der Zeit regelmäßig dort mit seinem
Hund spazierengegangen. Dabei ist ihm dreimal ein Wagen
aufgefallen, der in der Mill Lane geparkt war, in der Nähe der
Stelle, wo Mrs. Mitchell den Mann beobachtet hat. Das Auto fiel ihm
auf, weil es die Straße blokkierte, so daß die Fahrbahn nur
einspurig benutzt werden konnte. Ein roter Jaguar. Die Nummer hat
er sich natürlich nicht gemerkt.«
»Hat er den Mann gesehen?«
»Er hat überhaupt niemanden gesehen. Was wir jetzt
brauchen, ist jemand, der diese Straße regelmäßig befährt. Einen
Bäcker vielleicht.«
“Ich kümmere mich drum«, sagte Burden.
Im Laufe des Vormittags machte er einen
Bäckereifahrer ausfindig, der die Strecke täglich fuhr, sowie den
Fahrer eines Getränkelieferwagens, der nur mittwochs und freitags
vorbeikam. Der Bäcker hatte das Auto gesehen, denn eines
Nachmittags, als er gerade um die Ecke bog, war er beinah damit
kollidiert. Ein roter Jaguar, bestätigte er, doch die Nummer hatte
er sich auch nicht gemerkt. Tags zuvor allerdings war er die
Strecke gefahren und um zwei Uhr am Spielplatz vorbeigekommen, ohne
jedoch dem Wagen zu begegnen. Um halb fünf hatten zwei Frauen in
einem Auto ihn gefragt, ob er einen kleinen Jungen gesehen habe,
aber zu dem Zeitpunkt war er schon beinah in Forby gewesen.
Womöglich war der rote Jaguar an ihm vorbeigebraust, und womöglich
hatte ein Kind dringesessen, aber er konnte sich nicht daran
erinnem.
Der Getränkefahrer erwies sich als ein weniger
aufmerksamer Beobachter. Er hatte nie etwas Außergewöhnliches auf
dieser Straße bemerkt, weder kürzlich noch im August.
Burden fuhr zum Revier zurück und aß rasch etwas in
Wexfords Büro. Den Nachmittag verbrachten sie damit, eine triste
kleine Schar von Männern zu interviewen, allesamt verschlagen und
fast alle unter Normalgröße, die irgendwann einmal Kinder belästigt
hatten. Der zurückgebliebene Neunzehnjährige, dessen Spezialität es
war, vor Schulen zu warten; der Volksschullehrer mittleren Alters,
den die Schulbehörden schon vor Jahren suspendiert hatten; der
Angestellte aus dem Textilgeschäft, der in Zugabteile stieg, in
denen ein einzelnes Kind saß; der Schizophrene, der seine eigene
kleine Tochter vergewaltigt hatte und inzwischen aus der
Psychiatrie entlassen worden war.
“Reizender Beruf, den wir haben«, sagte Burden.”Mir
ist zumute, als hätte ich ein Schleimbad genommen.«
»Durch Gottes Gnade nur bin es nicht ich...«,
zitierte Wexford. »Sie könnten auch einer von denen sein, wenn Ihre
Eltern Sie abgelehnt hätten. Oder ich, wenn ich auf die Angebote
eingegangen wäre, die man mir im Umkleideraum der Schule
gelegentlich gemacht hat. Sie stehen im Dunkel, sie sind, wie Blake
oder irgend so ein Klugscheißer gesagt hat, geboren zu endloser
Nacht. Mitleid kostet nichts, Mike, und es ist eine ganze Ecke
erbaulicher als all das Geschrei nach Auspeitschen und Hängen und
Kastrieren und all so was.«
»Ich schreie nicht, Sir. Ich glaube nur schlicht
und einfach an die Kultivierung der Selbstdisziplin. Und mein
Mitleid gilt der Mutter und diesem bedauernswerten Kind.«
»Gut, aber die Beschaffenheit von Mitleid hat
nichts Undurchlässiges. Das Schlimme an Ihnen ist, daß Sie so ein
verstopftes Sieb sind und Ihr Mitleid durch ein paar armselige
kleine Löcher kleckert. Abgesehen davon, keiner dieser erbärmlichen
Außenseiter war gestern in der Nähe von Mill Lane, und ich kann mir
keinen von ihnen in einem roten Jaguar vorstellen.«
Wenn man zehn Monate kein einziges Mal abends aus
gewesen ist, kann einem die Aussicht auf einen Kinobesuch in
Begleitung seines Schwagers und zweier Kinder wie ein Ausflug ins
süße Leben vorkommen. Grace Woodville ging um drei zum Friseur, und
als sie herauskam, fühlte sie sich fröhlicher als an dem Tag, als
Pat sie zum erstenmal von sich aus geküßt hatte. Im Schaufenster
von Morans lag ein hübscher goldbrauner Pullover, und Grace,
die sich seit Monaten nichts zum Anziehen gekauft hatte, beschloß
spontan, ihn zu erstehen.
Mike sollte ein besonderes Essen bekommen heute,
Curryhähnchen. Jean hatte es nie gekocht, weil sie es nicht mochte,
aber Mike und die Kinder mochten es. Sie kaufte ein Hähnchen, und
als John und Pat nach Hause kamen, war das Haus erfüllt vom
würzigen Duft nach Curry und süß-saurer Ananas.
Um sechs hatte sie den Tisch gedeckt und den neuen
Pullover angezogen. Kurz vor sieben saßen sie alle im Wohnzimmer,
aufgeputzt und ziemlich unsicher, eher wie Leute, die darauf
warten, zu einer Party abgeholt zu werden, als wie eine Familie
kurz vor einem Gang ins örtliche Kino.
Die Telefonanrufe hatten eingesetzt. Sie
erreichten das Polizeirevier von Kingsmarkham nicht nur aus der
näheren Umgebung, nicht nur aus Sussex, sondern aus Birmingham und
Newcastle und dem Norden Schottlands. Alle Anrufer behaupteten,
John Lawrence allein oder mit einem Mann oder mit zwei Männern oder
zwei Frauen gesehen zu haben. Eine Frau aus Carlisle hatte ihn, wie
sie angab, zusammen mit Stella Rivers gesehen; ein Ladenbesitzer
aus Cardiff hatte ihm ein Eis verkauft. Ein Lastwagenfahrer hatte
ihn und seinen Begleiter, einen älteren Mann, nach Grantham
mitgenommen. All diese Aussagen mußten überprüft werden, obwohl sie
alle wenig fundiert schienen.
Die Leute strömten ins Revier mit Geschichten von
verdächtigen Personen und Autos, die sie angeblich in Mill Lane
beobachtet haben wollten. Inzwischen waren nicht nur rote Jaguars
verdächtig, sondern schwarze und grüne ebenso wie schwarze und
dreirädrige Lieferwagen. Und in der Zwischenzeit ging die mühselige
Suche weiter. Ohne Pause im Einsatz setzte Wexfords Mannschaft ihre
systematische Von-Haus-zu-Haus-Ermittlungsarbeit fort, wobei
insbesondere jede männliche Person über sechzehn befragt
wurde.
Fünf Minuten vor sieben stand Burden vor dem Olive
and Dove Hotel in Kingsmarkham High Street, gegenüber dem
Kino, und die Verabredung mit Grace und den Kindern fiel ihm ein.
Gleichzeitig erinnerte er sich daran, daß er sich erkundigen mußte,
wie es Gemma Lawrence ging, bevor er Feierabend machte.
Die Telefonzelle vor dem Hotel war besetzt, und
eine kleine Schlange von Leuten stand noch davor. Bis die alle
fertig waren, überlegte Burden, wären gut zehn Minuten vergangen.
Er schaute noch einmal zum Kino hinüber und sah, daß zwar die
Vorstellung um halb acht anfing, der Hauptfilm aber erst eine
Stunde später. Also nicht nötig, Grace anzurufen, wo er doch ganz
leicht eben nach Stowerton rüberfahren und sich erkundigen konnte,
wie die Dinge bei Mrs. Lawrence standen, und dann Viertel vor acht
zu Hause sein konnte. Grace würde nicht erwarten, daß er pünktlich
war. Sie kannte das schon. Und bestimmt wollten nicht mal seine
beiden sich einen Vorfilm über »Touring in East Anglia«, die
Wochenschau und all die anderen Anhängsel ansehen.
Diesmal stand die Eingangstür nicht offen. Die
Straße war leer, beinah jedes Haus hell erleuchtet. In jeder
Hinsicht erschien es, als sei gestern nichts geschehen, was den
Frieden dieser ruhigen, ländlichen Straße stören könnte. Das Leben
ging weiter, Männer und Frauen lachten und unterhielten sich,
arbeiteten und sahen fern und sagten: Was kann man machen? So ist
eben das Leben.
In ihrem Haus brannte kein Licht. Er klopfte an die
Tür, und keiner kam. Sie mußte ausgegangen sein. Wo ihr einziges
Kind verschwunden, vielleicht ermordet war? Er mußte an ihren
Aufzug denken und wie das Haus aussah. Ein Mädchen für
Vergnügungen, dachte er, als Mutter nicht sonderlich geeignet.
Wahrscheinlich war einer jener Freunde angetanzt, und sie waren
zusammen ausgegangen.
Er klopfte noch einmal, und dann hörte er etwas,
eine Art Schlurfen. Schritte schleppten sich zur Tür,
verhielten.
»Mrs. Lawrence«, rief er, »ist alles in
Ordnung?«
Ein leiser Ton kam als Antwort, halb Schluchzer,
halb Stöhnen. Die Tür zitterte, dann schwang sie nach innen.
Ihr Gesicht sah verwüstet und verschwollen aus,
aufgedunsen vom Weinen. Sie weinte auch jetzt, sie schluchzte, und
Tränen strömten ihr über die Wangen. Er machte die Tür hinter sich
zu und knipste das Licht an.
»Was ist geschehen?«
Sie wandte sich von ihm ab und warf sich gegen die
Wand, hämmerte mit ihren Fäusten darauf herum. »O Gott, was soll
ich nur tun?«
»Ich weiß, es ist hart«, sagte er hilflos, »aber
wir tun alles Menschenmögliche. Wir...«
»Ihre Leute«, schluchzte sie, »den ganzen Tag sind
sie rein und raus, haben gesucht - und - mich Sachen gefragt. Sie
haben das Haus durchsucht! Und die Anrufe, entsetzliche Anrufe.
Eine Frau - eine Frau... Oh, mein Gott! Sie hat gesagt, John
ist tot, und sie hat beschrieben, wie er gestorben ist, und sie hat
gesagt, es sei alles meine Schuld! Ich kann es nicht ertragen, ich
kann es nicht ertragen, ich bringe mich um, ich stecke den Kopf in
den Gasofen, ich schneide mir die Pulsadern auf...«
»Sie müssen sofort damit aufhören«, schrie er. Sie
drehte sich zu ihm um und kreischte ihm ins Gesicht. Er hob die
Hand und schlug sie scharf auf die Wange. Sie würgte, schluckte und
brach zusammen, sank gegen ihn. Um sie vor dem Fallen zu bewahren,
legte er beide Arme um sie, und einen Moment lang klammerte sie
sich an ihn wie in einer Umarmung, ihr nasses Gesicht gegen seinen
Hals gepreßt. Dann trat sie zurück, das rote Haar flog, als sie
sich schüttelte.
»Verzeihen Sie mir«, sagte sie. Ihre Stimme war
rauh vom Weinen. “Ich muß verrückt sein. Ich glaube, ich werde
verrückt.«
»Kommen Sie hier herein und erzählen Sie. Sie waren
doch so optimistisch.«
»Das war heute morgen.« Sie sprach jetzt leise, mit
dünner, brüchiger Stimme. Nach und nach, und nicht sehr
zusammenhängend, erzählte sie ihm, wie die Polizisten ihre Schränke
durchsucht hatten und über ihren Dachboden getrampelt waren, wie
sie das Unkraut weggerissen hatten, das die Wurzeln der alten Bäume
in ihrem verwilderten Garten bedeckte. Atemlos berichtete sie von
den obszönen Anrufen und den Briefen, die, angeregt durch die
Geschichte in den Abendzeitungen, mit der zweiten Post gekommen
waren.
»Sie sollten keinen Brief öffnen, dessen
Handschrift Sie nicht erkennen«, sagte er. »Alles andere sehen erst
wir uns an. Und die Telefonate...«
»Ihr Sergeant sagt, es gibt eine Möglichkeit, mein
Telefon zu überwachen.« Sie seufzte tief auf, ruhiger jetzt, aber
die Tränen flossen noch immer.
»Haben Sie so was wie Brandy in diesem - äh -
dieser Behausung?«
»Im Eßzimmer.« Sie brachte ein tränennasses,
schwaches Lächeln zustande. »Eine Großtante von mir lebte hier.
Diese - hm - Behausung, wie Sie es nennen, gehörte ihr. Brandy hält
sich doch Jahre, oder?«
»Die Jahre machen ihn sogar immer besser«, sagte
Burden.
Das Eßzimmer glich einer Höhle, war kalt und roch
staubig. Er fragte sich erneut, welche Verkettung merkwürdiger
Umstände sie wohl hierher verschlagen hatte, und weshalb sie blieb.
Der Brandy war in einem Sideboard, das eher einem hölzernen
Herrenhaus glich als einem Möbel mit all den Ornamenten,
geschnitzten Säulen und Bogen, Nischen und Balkönchen.
»Nehmen Sie sich auch einen«, sagte sie.
Er zögerte. »Na gut. Danke.« Er setzte sich wieder
in den Lehnstuhl, in dem er zuvor gesessen hatte, aber sie hockte
sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Fußboden und blickte mit
einem eigenartigen blinden Vertrauen zu ihm auf. Es brannte nur
eine Lampe, die hinter ihrem Kopf einen sanften goldenen Schimmer
verbreitete.
Sie trank ihren Brandy, und lange Zeit saßen sie
schweigend. Schließlich, erwärmt und beruhigt, begann sie über den
verschwundenen Jungen zu reden, was er gern tat, was er sagte,
seine altklugen kleinen Bemerkungen. Sie sprach von London und
davon, wie fremd ihr und ihrem Sohn Stowerton war. Endlich schwieg
sie, den Blick auf sein Gesicht geheftet, doch das Unbehagen, das
ihr kindlich vertrauter Blick zuerst bei ihm ausgelöst hatte, war
von ihm abgefallen und kehrte auch nicht zurück, als sie mit einer
raschen, impulsiven Geste seine Hand ergriff und sie
festhielt.
Das Unbehagen war weg, aber die Berührung
elektrisierte ihn. Sie versetzte ihm einen derartigen Schock und
wühlte ihn so auf, daß statt der normalen Reaktion eines normalen
Mannes, der die Hand einer hübschen Frau in der seinen hält, das
Gefühl bei ihm aufkam, sein ganzer Körper hielte ihren. Er
erschauerte. Er löste seine Finger und sagte, abrupt das inzwischen
lastende und dumpfe Schweigen brechend: »Sie stammen aus London.
Warum leben Sie hier?«
»Es ist ziemlich scheußlich, nicht?« Alles Rauhe
und alles Grauen waren aus ihrer Stimme verschwunden, und einmal
mehr klang sie sanft und wohltönend. Obwohl er gewußt hatte, daß
sie auf seine Frage antworten und also sprechen mußte, erregte ihn
ihre schöne Stimme, die sich jetzt ganz normal anhörte, beinah so
wie die Berührung ihrer Hand. »Eine gräßliche Last von einem Haus«,
sagte sie.
»Das geht mich nichts an«, murmelte er.
»Es ist aber auch kein Geheimnis. Ich wußte nicht
mal, daß ich diese Tante habe. Sie ist vor drei Jahren hier
gestorben und hat meinem Vater das Haus hinterlassen, aber der war
selbst schwer krebskrank.« Mit einer eigenartig graziösen, doch
gleichzeitig unprätentiösen Bewegung hob sie die Hand und strich
sich die Haarfülle aus dem Gesicht. Der weite, bestickte Ärmel
ihres fremdartigen Gewandes rutschte hoch, und die Haut ihres
bloßen weißen Armes schimmerte wie blaßgoldene Daunen im
Lampenlicht. “Ich habe versucht, das Haus für meinen Vater zu
verkaufen, aber niemand wollte es haben, und dann starb er, und
Matthew - mein Mann - hat mich verlassen. Wo hätte ich sonst
hingehen sollen als hierher? Die Miete für unsere Wohnung konnte
ich nicht mehr aufbringen, und Matthews Geld war alle.« Es schien
Stunden, seit diese Augen begonnen hatten, ihn zu fixieren, jetzt
endlich wandte sie den Blick ab. »Die Polizei dachte«, sagte sie
sehr leise,”Matthew hätte John vielleicht mitgenommen.«
»Ich weiß. Das müssen wir immer überprüfen, wenn
ein Kind von - äh - getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern
vermißt wird.«
»Sie sind zu ihm gegangen oder haben es zumindest
versucht. Er liegt nämlich im Krankenhaus. Blinddarmoperation. Ich
glaube, sie haben mit seiner Frau gesprochen. Er hat wieder
geheiratet, wissen Sie.«
Burden nickte. Es war mehr als die normale Neugier
des Polizisten, die ihn sich leidenschaftlich fragen ließ, ob
dieser Matthew sich hatte von ihr scheiden lassen oder sie sich von
ihm, was er beruflich machte und wie überhaupt alles zugegangen
war. Er konnte sie nicht fragen. Seine Kehle war wie
zugeschnürt.
Sie rückte näher an ihn heran, griff aber diesmal
nicht nach seiner Hand. Ihr Haar verdeckte ihr Gesicht. “Ich möchte
Ihnen sagen, wie sehr Sie mir geholfen haben. Was Sie mir für eine
Stütze waren. Wenn Sie nicht gekommen wären, dann wäre ich heute
abend völlig zusammengebrochen. Ich hätte wahrscheinlich etwas
Entsetzliches getan.«
»Sie dürfen nicht allein bleiben.«
»Ich habe meine Schlaftabletten«, sagte sie. »Und
Mrs. Crantock kommt um zehn.« Langsam stand sie auf und knipste die
Stehlampe an. »Sie wird jeden Moment hiersein, es ist fünf
vor.«
Ihre Worte und die plötzliche Helligkeit brachten
Burden mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Er blinzelte und
schüttelte sich.
»Fünf vor zehn? Mir fällt eben ein, daß ich mit
meiner Familie heute ins Kino gehen sollte.«
»Und ich habe Sie davon abgehalten? Möchten Sie
anrufen? Bitte tun Sie es. Rufen Sie von hier aus an.«
»Zu spät, fürchte ich.«
»Das tut mir furchtbar leid.«
“Ich glaube, mein Hiersein war wichtiger, meinen
Sie nicht?«
»Es war wichtig für mich. Aber jetzt müssen Sie
gehen. Kommen Sie morgen wieder? Ich meine, Sie selbst?«
Er stand in der Tür, während sie sprach. Sie legte
ganz leicht die Hand auf seinen Arm, und sie standen dicht
zusammen, ihre Gesichter höchstens dreißig Zentimeter voneinander
entfernt. »Ich - ja... Ja, natürlich.« Er stammelte schlimm.
»Natürlich komme ich.«
»Inspector Burden... Nein, ich kann Sie nicht
weiter so nennen. Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Ich glaube, es wäre am besten, wenn Sie...«, fing
er an, und dann, beinah verzweifelt: »Michael. Alle nennen mich
Mike.«
»Mike«, sagte sie, und während sie noch über dem
Namen sann und ihn leise wiederholte, klingelte Mrs.
Crantock.
Grace saß in der Sofaecke zusammengeringelt, und
er sah, daß sie geweint hatte. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was er
getan hatte, überragte einen Augenblick die andere
Ungeheuerlichkeit, die Forderung seines Körpers.
»Es tut mir schrecklich leid«, sagte er und ging zu
ihr hin. »Das Telefonhäuschen war besetzt, und späterhin...«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Wir haben hier
gesessen und auf dich gewartet. Als du um acht noch nicht da warst,
haben wir gegessen, obwohl das Essen inzwischen verdorben war. Ich
sagte: ‘Kommt, wir gehen trotzdem’, und John meinte: ‘Ohne Dad
können wir nicht gehen. Wir können doch nicht riskieren, daß er
nach Hause kommt, und wir sind nicht da.’«
»Ich hab gesagt, daß es mir leid tut«, sagte
Burden.
»Du hättest anrufen können!« sagte Grace wild. »Ich
würde überhaupt nichts sagen, wenn du angerufen hättest. Ist dir
denn nicht klar, daß du - wenn du so weitermachst, wirst du diesen
Kindern unheilbaren Schaden zufügen.«
Sie ging hinaus, die Tür fiel hinter ihr zu, und
Burden blieb seinen Gedanken überlassen, die weder um sie noch um
seine Kinder kreisten.