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»Weshalb ich Ihnen verschwiegen habe, daß meine
Frau ein Testament gemacht hat? Offen gestanden, Chief Inspector,
weil ich es völlig vergessen hatte.« Quentin Nightingale hatte
anfangs einen bestürzten Eindruck gemacht, doch nun lächelte er ein
wenig spöttisch, als mache man aus einer Mücke einen Elefanten. Er
hatte seinen Gang nach Canossa hinter sich und mit leichten
Blessuren überstanden. Weshalb ihn nun mit Bagatellen belästigen?
»Ich glaube wirklich nicht, daß es rechtsgültig ist. Wissen Sie,
das war nur so eine Schnapsidee, die sich meine Frau in den Kopf
gesetzt hatte.«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Wexford, lehnte
die Aufforderung ab, in einem Ledersessel Platz zu nehmen, und
blieb statt dessen vor dem Bücherschrank stehen. »Ich denke mir,
Leute in Ihrer Position lassen ihre Testamente von Notaren
aufsetzen. Wer ist Ihr Notar, Mr. Nightingale?«
»Aber es wurde kein Notar hinzugezogen. Ich habe
Ihnen doch gesagt, daß es nur eine Schnapsidee war. Mir ist ein
Rätsel, wie Sie überhaupt davon erfahren haben.« Er hielt
erwartungsvoll inne, doch als er merkte, daß Wexford nicht die
Absicht hatte, ihn darüber aufzuklären, fuhr er in verärgertem Ton
fort: »Am besten, ich erzähle es Ihnen.«
»Das wäre schön«, sagte Wexford und lehnte sich mit
dem Kopf gegen den harten glatten Einband von Motleys Rise of
the Dutch Republic.
»Es war im Sommer letzten Jahres. Meine Frau und
ich hatten uns die Bermudas als Urlaubsziel ausgesucht, und
selbstverständlich hatten wir vor zu fliegen. Obwohl meine Frau
schon früher geflogen war - als sie vor sieben Jahren nach Amerika
ging-, flog sie nicht gern, und normalerweise fuhren wir per Schiff
und Auto in Urlaub.«
»Sie hatte Angst vorm Fliegen?«
»Na, hören Sie, ‘Angst’ ist doch wohl ein zu großes
Wort dafür.«
»Wenn sie ihr Testament gemacht hat«, erwiderte
Wexford, »so doch wohl deshalb, weil sie dachte, sie könnte
sterben. ‘Angst’ ist keineswegs ein zu großes Wort für
Todesahnungen.«
»Sie sehen das viel zu dramatisch«, sagte Quentin
wütend. »Ich war ein bißchen bange, doch das hielt sie nicht davon
ab, Witze darüber zu machen. Das Testament war auch so ein Witz.
Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß ich es nie ernst genommen
habe.«
Er verstummte und lauschte einen Moment. Als er die
Ohren spitzte, konnte auch Wexford ganz leise weit über ihnen die
Musik aus Nellekes Radio hören. Ihre Blicke trafen sich, und
Quentin errötete. Rasch fuhr er in ärgerlichem Ton fort. »Eines
Tages sagte sie, daß sie ein Testament machen wolle, und ich sah,
wie sie etwas auf ein Blatt kritzelte. Ich glaube fast, ich habe es
mir nicht einmal angesehen. Ich hielt es für eine dieser
romantischen Ideen, wie sie sehr feminine Frauen manchmal
überkommen.« Unvermittelt schweifte er ab. »Ich entsinne mich noch,
wie sich meine Mutter kurz vor der Geburt meiner jüngsten Schwester
fotografieren ließ, damit mein Vater eine letzte Erinnerung an sie
hätte, falls die bei der Entbindung sterben sollte, und
Abschiedsbriefe an alle ihre anderen Kinder schrieb. Aber sie starb
natürlich genausowenig wie Elizabeth...«
»Ihre Frau ist aber gestorben, Mr. Nightingale«,
sagte Wexford leise.
Quentin senkte den Blick und rang mit den
Händen.
»Ja... Die Sache mit dem Testament, ich hielt es
für eine Schnapsidee, wie ich schon sagte. Ich bezweifle, ob es
überhaupt von Zeugen unterschrieben wurde.«
»Zumindest von einem Zeugen«, sagte Wexford.
»Lionel Marriott.«
Quentin blickte auf, und in seinem Blick lag echte
Überraschung.
»Mr. Nightingale, ich kann dies nicht einfach auf
sich beruhen lassen. Was ist aus diesem Blatt geworden, auf das
Ihre Frau etwas ‘gekritzelt’ hat?«
»Sie hat es mir gegeben und mich gebeten, es in
meinen Safe zu schließen.«
»Und?«
»Na, das habe ich getan. Elizabeth hat in ihrer
Gegenwart darauf bestanden. Ach, es war wirklich nur Unfug, aber
ich wollte sie nicht aufregen.«
»Liegt es dort noch?«
»Ich nehme an«, erklärte Quentin erstaunt. “Ich
sagte ja bereits, daß ich es ganz vergessen hatte, und vermutlich
hat auch Elizabeth nicht mehr daran gedacht, als wir heil und
gesund zurückkamen.«
»Ich muß Sie leider bitten, den Safe jetzt zu
öffnen, wenn es Ihnen recht ist, Sir«, sagte Wexford in
bedeutungsschwerem Ton.
Quentin nahm ein kleines Ölgemälde- einen Stubbs,
auf dem eine zweispännige Phaeton-Kutsche dargestellt war - von der
Wand des Arbeitszimmers und sah Wexford dabei an, als habe er es
mit einem Verrückten zu tun, den es bei Laune zu halten galt.
Hinter dem Bild befand sich eine in die Wand eingebaute Stahltür.
Im Flüsterton murmelte Quentin die Kombination vor sich hin und
öffnete die Tür, hinter der eine Öffnung vom Format einer großen
Keksdose zum Vorschein kam. Der Safe enthielt einen ordentlich
aufgeschichteten Stapel Papiere, die Wexford für Aktienzertifikate
und persönliche Dokumente hielt, sowie mehrere lederne
Schmuckschatullen. Quentin holte einen kleinen Stapel der Papiere
hervor. Er blätterte sie durch und hielt Wexford dann mit immer
noch belustigter und spöttischer Miene einen langen braunen
Umschlag entgegen.
“Da ist es drin«, sagte er.
»Darf ich?« Wexfords Ton duldete keinen
Widerspruch. Er schlitzte den Umschlag auf und zog ein Blatt teures
blaues Briefpapier mit der aufgedruckten Adresse des Herrenhauses
hervor. Das Papier bedeckte eine kühne, ziemlich männlich wirkende
Handschrift. Wexford drehte das Blatt um, warf einen Blick auf den
unteren Teil der Rückseite und sagte mit dienstlicher Stimme: »Das
Testament ist vollkommen rechtskräftig, Sir, nicht weniger gültig
und verbindlich, als wenn es auf einem Testamentsvordruck oder in
Gegenwart eines Anwalts aufgesetzt worden wäre.«
»Du lieber Himmel!« Quentin ließ die Safetür
offenstehen und setzte sich.
»Als Zeugen haben - Augenblick - Myrtle Annie
Cantrip und Lionel Hepburn Marriott fungiert, und Ihre Frau hat
korrekt unterzeichnet. Sollten Sie versuchen, es anzufechten,
würden Sie sich eine Menge Ärger einhandeln.«
»Ich will es doch gar nicht anfechten.«
»Sie sollten es vielleicht lieber erst einmal
lesen, ehe Sie sich festlegen, Mr. Nightingale.«
»Was steht drin?« Das Lächeln war von Quentins
Gesicht verschwunden, er wirkte nun völlig verwirrt. »Würden Sie es
mir bitte vorlesen, Mr. Wexford?«
»Wie Sie wollen.« Endlich nahm auch Wexford Platz.
Er räusperte sich und las mit monoton ausdrucksloser Stimme:
»>Ich, Elizabeth Frances Nightingale, geb.
Villiers, setze hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte
nachfolgendes Testament auf. Dies ist mein letzter Wille und hebt
alle früheren von mir getroffenen letztwilligen Verfügungen
auf.«< An dieser Stelle hatten Mrs. Nightingale offenbar
ihre Kenntnisse der Rechtssprache verlassen, denn sie schrieb in
ungezwungenerem Stil weiter, der allerdings mit einigen Brocken
Amtschinesisch durchsetzt war. »>Mein gesamtes Vermögen,
einschließlich der Gelder, diemein Gatte für mich angelegt hat,
vermache ich Sean Arthur Lovell, wohnhaft in 2 Church
Cottages, Myfleet, Grafschaft Sussex, in der Hoffnung, er möge es
zur Förderung seiner beruflichen Pläne verwenden... <«
»Lieber Himmel!« sagte Quentin. »Lieber
Himmel!«
»>... und meiner Schwägerin, Georgina
Villiers, wohnhaft in 55 Kingsmarkham Road,
Clusterwell I...<« An dieser Stelle hielt Wexford inne und
zog die Augenbrauen hoch. »>...meinen gesamten Besitz an
persönlichem Schmuck, damit sie ihrer Lust am schönen Schein frönen
kann, wenn ihr Wert als tugendhafte Frau auch mit Edelsteinen nicht
aufzuwiegen ist.,«
»Das hat Elizabeth geschrieben?« fragte Quentin mit
hohler Stimme.
»Ja, Sir.«
Sie waren zwar beide überrascht, dachte Wexford bei
sich, aber wahrscheinlich jeder aus anderen Gründen. Was ihn
betraf, so verblüffte ihn, daß die von ihrem Bruder als frivol und
hohlköpfig eingestufte Frau den Verstand und die Findigkeit
besessen hatte, dieses Testament aufzusetzen und ihm eine solch
versteckte Boshaftigkeit zu verleihen. Quentins Verwunderung rührte
vielleicht nur von dieser unvermuteten Boshaftigkeit her. Er war
bleich geworden.
»Ist das alles?« fragte er.
»Ja, das ist alles. Wieviel Geld hinterläßt Ihre
Frau, Sir?«
»Oh, das ist nicht der Rede wert.« Quentin rang
sich ein Lachen ab. »Um die Wahrheit zu sagen, ihr Privatkonto war
sogar überzogen. Es handelt sich praktisch um dreihundert Pfund,
die ich vor Jahren für sie angelegt habe.«
»Hmhm. Die werden Sie dem jungen Lovell sicherlich
nicht mißgönnen. Beunruhigt Sie etwas, Sir?«
»Eigentlich nicht, nur...«
»Mrs. Villiers«, sagte Wexford nachdenklich,
»scheint eine Dame zu sein, die gern Schmuck trägt, wie Ihre Frau -
äh, anklingen ließ. Wollen wir hoffen, daß ein paar schöne Stücke
für sie dabei sind.«
»Ein paar schöne Stücke!« Quentin sprang
unvermittelt auf. »Der Schmuck meiner Frau ist in diesen
Schatullen.« Er streckte die Hände in den Safe. »Über den Daumen
gepeilt, würde ich seinen Wert mit dreißigtausend Pfund
veranschlagen.«
Wexford hatte schon zu viele Edelsteine gesehen,
um von dieser kleinen, aber erlesenen Kollektion geblendet zu
werden. Doch er war ohnehin nicht leicht aus der Fassung zu
bringen, und so blieb seine Miene gelassen und eine Spur
verschlossen, während er Quentin beim Öffnen der drei Schatullen
zusah.
Eine Schatulle war aus weißem Leder, eine aus
grünem und die dritte aus mit Onyx eingelegtem Teakholz. Quentin
hatte sie auf den Schreibtisch gestellt, und als er die Deckel
aufklappte, kamen noch weitere Kästchen zum Vorschein: winzige
Schächtelchen für Ringe und Ohrgehänge, längliche Etuis für
Armbänder und Halsketten.
Quentin nahm einen der Ringe heraus, einen in
Platin gefaßten Brillanten, und hielt ihn ins Licht.
»Das war ihr Verlobungsring. Manchmal trug sie ihn,
wenn...«, mit heiser werdender Stimme beendete er den Satz: »...ich
sie ausdrücklich darum bat.« Er blickte zu Wexford. »Vielleicht
kann ich ihn Georgina abkaufen.«
“Mochte Ihre Frau sie?« »Ich weiß nicht«, sagte
Quentin ratlos und steckte den Ring wieder in das Samtkissen. »Ich
habe eigentlich nie darüber nachgedacht. Anscheinend schon...
Andererseits aber auch wieder nicht, oder? Man kann nicht jemanden
mögen und dann eine so gemeine Bemerkung über ihn machen. Ich
begreife das nicht.«
»Wie wir wissen, empfand Mrs. Nightingale eine
heftige Abneigung gegen ihren Bruder. Vielleicht schloß diese
Abneigung auch seine Frau ein.«
Quentin klappte das Ringkästchen zu. Bedächtig
sagte er: »Anscheinend kursiert das Gerücht, meine Frau und ihr
Bruder hätten auf Kriegsfuß miteinander gestanden.«
Wexford zog die Augenbrauen nach oben. »Stimmt es
denn nicht?«
»Es klingt für einen Ehemann sicher merkwürdig,
wenn ich das sage, aber ich weiß es wirklich nicht. Denys hat mir
gegenüber niemals ein schlechtes Wort über sie verlauten lassen,
und was Elizabeth betrifft... Nun, sie hat ihn nie davon abzuhalten
versucht, uns besuchen zu kommen, wenn es auch wahr ist, daß sie
mir gegenüber manchmal ziemlich gehässig über ihn sprach. Dabei
müssen Sie aber wissen, daß ich sie öfters dabei ertappte, wie sie
ihm - nun, fast mitfühlende Blicke zuwarf, wenn wir zu dritt waren.
Irgendwelche Anzeichen von echtem Haß sind mir nie
aufgefallen.«
»Vielleicht sind Sie nicht der Typ, der sehr
sensibel auf anderer Leute Beweggründe und Gefühle reagiert.«
»Nein, wohl kaum«, erwiderte Quentin traurig.
»Sonst hätte ich gemerkt, daß Elizabeth nicht gern mit Georgina
zusammen war, und mir... mir wäre aufgefallen, daß sie nachts
heimlich in den Wald ging. Nein, ich schätze, zwischen Elizabeth
und Denys bestand eine natürliche Abneigung, ich war nur zu blind,
es zu sehen. Vielleicht wollte ich es gar nicht sehen.« Er sprach
nun leise und ein wenig verlegen. »Wenn man mehrere Menschen sehr
gern hat, will man, daß sie sich auch untereinander gut verstehen,
und mit der Zeit redet man sich das eben ein. Mir ist die
Vorstellung ein Greuel, irgendwelche Klatschmäuler könnten
behaupten, es habe böses Blut zwischen ihnen gegeben.«
Ein kurzes Schweigen trat ein, dann sagte Wexford:
»Kommen wir noch einmal auf das Testament zurück, Sir.
Offensichtlich haben Sie von der Freundschaft Ihrer Frau mit Sean
Lovell nichts geahnt?«
»Ich wußte, daß sie ein gewisses mütterliches
Interesse an ihm hatte. Wir selbst hatten keine Kinder. Sie hat
mich einmal gebeten, mich bei meinem Freund von der BBC zu
verwenden, daß er ihn mal vorsingen läßt, wozu ich jedoch keine
rechte Lust hatte - jetzt werde ich mich aber darum kümmern. Das
ist das mindeste - und das letzte -, was ich für sie tun
kann.«
»Entschuldigen Sie meine Frage - aber ist Ihnen nie
der Verdacht gekommen, es könnte sich um mehr als ein nur
mütterliches Interesse handeln?«
Quentin verzog angewidert das Gesicht und
schüttelte heftig den Kopf. »Mein Gott«, sagte er, »das ist nicht
möglich, aber wenn doch... Ich habe nicht das Recht, über sie zu
richten, nicht während ich und Nelleke... Mr. Wexford, ich begreife
nicht, was da alles unterschwellig mit hineinspielt. Ich begreife
rein gar nichts davon.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Wexford grimmig.
Burden machte in der Zwischenzeit eigene
Entdeckungen.
Als er aus dem Stammhaus trat und durch das Tor in
den Hof ging, begegnete er Mrs. Cantrip, die mit einem Bund
Petersilie in der Hand aus dem Küchengarten kam.
»Ach, haben Sie mich erschreckt, Sir«, sagte sie.
»Sie gehen so leise. Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Ist es dafür nicht schon ein wenig spät?« fragte
Burden mit einem Blick auf die Uhr, auf der es halb sechs war.
»Wann machen Sie hier denn Feierabend?«
»Eigentlich um vier, schön wär’s ja, aber wir sind
momentan alle ganz schön durcheinander und wissen nicht, wo uns der
Kopf steht. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß, Sir. Der Tee wird
Ihnen guttun, und Will möchte mal kurz mit Ihnen sprechen.«
»Um was geht es denn?« fragte Burden, während er
mit ihr zum Haus schlenderte.
»Mir wollte er es nicht sagen, Sir. Es hat was mit
einem Schal zu tun, glaube ich.«
In der Küche saß Will Palmer am Tisch neben dem
Mann, den Burden am Gartentor im Gespräch mit Mrs. Lovell bemerkt
hatte. Sie tranken Tee aus dunkel lasierten Steingutbechern. Der
andere Mann hatte offensichtlich zwei Hasen, vier Ringeltauben und
eine Steige Eier gebracht, die eine karierte Arbeitsplatte zum
Großteil bedeckten.
Kaum hatte er Burden erblickt, sprang Palmer
auf.
»Ich hab da was, das Sie sehen sollten, Sir.«
»Und?« Burden nahm den von Mrs. Cantrip angebotenen
Tee und entfernte sich damit so weit es ging von dem toten
Wild.
»Das ist es.« Mit triumphierender Miene holte
Palmer unter dem Tisch eine nasse Plastiktüte hervor, die oben mit
Gartenschnur zugebunden war. Burden löste den Knoten und zog einen
Stoffetzen heraus. Er war feucht, aber nicht durchnäßt und immer
noch auf den ersten Blick als Seidenschal erkennbar. Das aufwendige
Muster darauf war jugendstilähnlich, stilisierte goldene Blätter
auf blaßgelbem Grund. Über die Mitte des Schals lief ein langer
brauner Fleck. Burden runzelte die Stirn.
»Wo haben Sie ihn gefunden?«
»In einem Loch in einer Eiche unten in Cleever’s
Vale.«
»Und wo ist Cleever’s Vale, bitte?«
Auf Palmers Gesicht trat verblüfftes Befremden.
Offensichtlich war es unvorstellbar für ihn, daß irgend jemand -
und schon gar ein Polizist - Cleever’s Vale nicht kannte, das doch
ebenso zur Gegend um Myfleet gehörte wie der Wald.
»Es gehört zum Anwesen, Sir«, erklärte Mrs. Cantrip
ungehalten. »Wenn Sie von Kingsmarkham zum Herrenhaus fahren, ist
es der erste Teil des Parks, an dem Sie vorbeikommen.«
»Ich war dort, weil ich die alten Pilze von der
Eiche schnitt«, sagte Palmer, der sich von seiner Verwunderung
inzwischen erholt hatte. »Dann bin ich aber auf dieses Loch
gestoßen, wahrscheinlich stammt es von einer Eule...«
»Eichhörnchen«, warf der andere Mann lakonisch ein
und wischte sich den Mund ab. Er war sehr dunkel im Gesicht und
hatte dringend eine Rasur nötig.
»Oder von einem Eichhörnchen, was ich auch noch
gesagt hätte, Alf«, erklärte Palmer ärgerlich. »Von einer Eule oder
einem Eichhörnchen, für einen Specht war’s nämlich viel zu
groß.«
»Verschonen Sie mich mit Ihrer Tierkunde.«
»Schon gut, Sir, brauchen ja nicht gleich aus der
Haut zu fahren.« Palmers Miene wurde noch bedeutsamer, als die Tür
zum Garten aufging und Sean Lovell hereinkam, um sich ebenfalls an
den Küchentisch zu setzen. »Das Loch war auf gleicher Höhe wie mein
Kopf, etwa ein Meter achtzig über dem Boden.«
»Einsfünfundsiebzig«, verbesserte ihn der
Dunkelhäutige.
Palmer starrte ihn wütend an, ließ sich aber auf
keine Diskussion mit ihm ein, sondern fuhr fort: »Rund um das Loch
wuchsen jedenfalls diese Pilze. Austernpilze heißen die, Sir, weil
ihr Schirm wie eine Auster aussieht. Kein Armeleuteessen, gebraten
schmecken die köstlich, das können Sie mir glauben.«
»Geschmort. »
»Geschmort auch, Alf«, sagte Palmer versöhnlicher.
»Kurz und gut, ich hab die Hand in das Loch gesteckt und das da
gefunden, was in der Tüte ist.«
»In der Tüte? Oder haben Sie den Schal dort
hineingetan?«
»Er war in keiner Tüte, Sir. Bloß so zusammengelegt
und in das Loch gestopft.«
»Haben Sie ihn schon mal gesehen?«
»Natürlich«, schaltete sich Mrs. Cantrip ein. »Er
gehörte der armen Mrs. Nightingale. Sie trug ihn immer so als
Kopftuch, wenn sie spazierenging.« Sie beugte sich über den Schal
und wich erschreckt zurück. »Ist das ihr Blut, Sir?«
»Ich fürchte, ja.«
Sean Lovell sprang auf. »Mir wird schlecht!« rief
er. Mrs. Cantrip bewegte sich schneller, als Burden bei einer Frau
ihres Alters für möglich gehalten hätte, und riß die Tür zum Garten
auf.
»O nein, nicht in meiner Küche!«
Mit der gleichmütigen Griesgrämigkeit des
englischen Bauern verfolgten der alte Gärtner und der
Wildbretlieferant, wie er hinaustorkelte, und lauschten dann mit
angeregterem, aber immer noch teilnahmslosem Interesse auf die
Würgegeräusche. Der bislang einsilbige Alf hob zu einer für seine
Verhältnisse langen Rede an:
»Altes Familienleiden - keinen Mumm in den
Knochen.« Er lachte. »Möchte so’n Popsänger werden. Übergeschnappt,
wenn Sie mich fragen.«
Mrs. Cantrip räumte seine Tasse ab und stellte sie
in die Spülmaschine. Als der Mann keine Anstalten zum Gehen machte,
wurde sie deutlicher. »Schönen Abend auch noch, Alf. Eier brauchen
wir übrigens erst wieder Montag.«
Nachdem sie das Herrenhaus durch die Vorder-
beziehungsweise Hintertür verlassen hatten, begegneten sich Wexford
und Burden auf der Dorfstraße. Sie tauschten ihre neuesten
Erkenntnisse aus und wollten sich gerade auf eine ihrer üblichen
erbitterten, aber nützlichen Diskussionen einlassen, als Mrs.
Cantrip, ganz außer Atem vom Laufen, sie einholte.
»O Sir«, sagte sie zu Burden, »da bin ich aber
froh, daß ich Sie noch erwischt habe. Ich muß mich fast dafür
entschuldigen, wie die beiden sich aufgeführt haben, der alte Will
und dieser Alf. Will ist so geschwätzig, und was Alf Tawney
angelangt... Er hat schon von Haus aus keine Manieren. Stört es
Sie, wenn ich Sie ein Stück begleite?«
»Aber gar nicht«, sagte Wexford freundlich. Bei dem
Dienstwagen blieb er stehen und gab Bryant Anweisung, zurück zum
Revier zu fahren. »Wer ist Alf Tawney?«
»Nur der Mensch, von dem wir Gemüse, Hühner und so
was beziehen, Sir. Er haust in einem Wohnwagen auf seinen Feldern
in Clusterwell.« Mrs. Cantrips Gesicht nahm einen verschlossenen,
prüden Ausdruck an, so wie Burden manchmal aussah, wenn ein Thema
angeschnitten wurde, das er für »anzüglich« hielt. »Ich kann mir
nicht vorstellen, daß Alf von Interesse für Sie ist.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte
Wexford. »Für uns ist jeder von Interesse, der mit Mrs. Nightingale
Umgang pflegte, selbst wenn er nur ihr Gemüselieferant war.«
»Umgang pflegte Mrs. Nightingale mit ihm nicht,
Sir.« Die Vorstellung schien Mrs. Cantrip zu schockieren. »Falls
sie überhaupt von ihm wußte, dann nur durch Sean.« Sie seufzte, als
bleibe ihr eine schmerzhafte Entscheidung nicht erspart. »Ich kann
es Ihnen ja ruhig erzählen, denn der Dorftratsch handelt praktisch
von nichts anderem. Alf hat ein Verhältnis mit Seans Mutter.«
»Meine Güte«, sagte Wexford. »Das ist
schlimm.«
»Manche geben nicht Alf die Schuld dafür, weil er
doch schon verwitwet ist, seit sein Junge zwölf Jahre alt war, und
niemand hat, der ihm das Essen kocht und sich um ihn kümmert. Nein,
für mich hat sie schuld. Denn schon in der Bibel steht, Sir, daß
die Frau den Mann in Versuchung führt, da läßt sich nicht dran
rütteln.«
»Stimmt«, pflichtete Wexford ihr aus vollem Herzen
bei.
»Nicht daß ich sonderlich viel für Sean übrig
hätte, aber niemand kann bestreiten, daß Mrs. Lovell ihn schändlich
vernachlässigt hat. Eigentlich hat er nie eine richtige Mutter
gehabt.«
»Und Mrs. Nightingale nie einen Sohn.«
Mrs. Cantrip sah ihm ins Gesicht. Wie schon zuvor,
als das Gespräch auf ein Thema gekommen war, das sie für tabu
erklärt hatte, wirkte sie empfindlich und zurückhaltend. »Sean
hätte sich nie getraut, so etwas von der gnädigen Frau zu denken.
Es gibt schließlich gewisse Grenzen. Und zudem-Mrs. Nightingale sah
so jung und hübsch aus. Sie hatte es nicht gern, wenn die Leute ihr
Alter wußten. Manchmal gab es mir einen richtigen Stich ins Herz,
was sie alles tat, damit Sean und Nelke glauben sollten, sie sei so
alt wie sie. Und als Sean sagte - es gehörte sich ja nicht, Sir,
aber er weiß es eben nicht besser -, sie sei keine von diesen
Spießern, und einmal sogar behauptete, was gutes Aussehen angehe,
könne ihr von den Damen im Umkreis niemand das Wasser reichen,
wirkte sie so glücklich und zufrieden.«
»Er ist ein sehr gutaussehender junger Mann«, sagte
Wexford.
»Ich finde das zwar nicht, aber die Geschmäcker
sind verschieden. Hier wohne ich, dann also auf Wiedersehen. Ich
will nur hoffen, Sie nehmen den beiden ihr Verhalten nicht krumm,
Sir.«
Burden und Wexford sahen ihr nach, wie sie zu einem
frisch gestrichenen weißen Cottage ging, dessen kunterbunter Garten
zu denen gehörte, die der Detective Inspector am Nachmittag
bewundert hatte. Sie nahm eine gelbe Katze in die Arme, die ihr zur
Begrüßung entgegengelaufen war, und schloß die Haustür hinter
sich.
»Der arme vernachlässigte Junge«, sagte Wexford
nachdenklich, »wurde von Mrs. Nightingale in ihrem Testament mit
dreihundert Pfund bedacht. Ich frage mich, ob er davon weiß und es
für wert hielt, deswegen einen Mord zu begehen. Aber lassen wir das
mal für den Augenblick und statten der Haupterbin einen Besuch
ab.«
»Sir?« Burden sah ihn fragend an.
»Ich erzähle es Ihnen im Wagen.« Wexford grinste
breit. »Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der
Freudenboten!«
Wexford war gespannt, wie sie die Nachricht wohl
aufnehmen würde. Freudig überrascht? Oder ängstlich, weil die
Polizei von dem Testament erfahren hatte? Möglicherweise hatte sie
von seinem Inhalt oder auch nur von seinem Vorhandensein gar nichts
gewußt.
Er teilte ihr ohne Umschweife mit, daß Mrs.
Nightingale ein Testament zu ihren Gunsten hinterlassen habe, und
achtete genau auf ihre Reaktionen. Sie waren enttäuschend. Georgina
Villiers zuckte die Achseln und sagte: »Das überrascht mich. Ich
hatte keine Ahnung.« Wie gewöhnlich trug sie ihre Kette, die
Armreifen und Ohrringe, die ihr so unentbehrlich waren wie einer
anderen Frau vielleicht Strümpfe und Lippenstift, und nicht einmal
ein kleiner Funke Habgier in ihren Augen verriet, daß sie sich
freuen würde, den Schmuck durch echte Steine zu ersetzen. Ihr
Gesichtsausdruck wirkte apathisch und teilnahmslos, beinahe
schläfrig, als hätte sie vor kurzem eine Tortur überstanden, die
ihr gesamtes Empfindungsvermögen völlig aufgezehrt hatte.
»War Ihnen bekannt, daß sie ein Testament gemacht
hatte? Oder wissen Sie nicht, was sie Ihnen hinterlassen
hat?«
»Nein, weder noch«, sagte Georgina. Sie setzte sich
auf eine Sessellehne. Ihre Bluse war ärmellos, und Wexford fielen
die kräftigen Muskeln an ihren Schultern und Oberarmen auf. Solche
Muskeln hatte er in seinem Leben nur einmal an den Armen einer Frau
gesehen, und diese Frau war Ringerin gewesen.
»Sie erben den gesamten Schmuck von Mrs.
Nightingale«, sagte er.
»So. Als sie sagten, das Testament sei zu meinen
Gunsten, dachte ich schon, daß es etwas in der Art sein muß.
Elizabeth besaß kein eigenes Vermögen, und ihr Taschengeld hatte
sie immer schon durchgebracht, noch ehe das nächste in Aussicht
war. Sie war schrecklich verschwenderisch.«
“Mrs. Villiers, die Umstände des Todes Ihrer
Schwägerin erscheinen dadurch in ganz neuem Licht.«
»Wirklich? Ich fürchte, ich verstehe nicht
ganz.«
»Dann lassen Sie mich erklären.« Wexford hielt
inne, als die Tür aufging und Denys Villiers hereinkam, sein
unlängst erschienenes Buch aufgeschlagen in der Hand.
»Ah, da bist du ja, Denys«, sagte seine Frau und
stand auf. Ihre Stimme klang weiterhin dumpf und tonlos, als sie
sagte: “Stell dir vor, Elizabeth hat ein Testament gemacht und mir
alle ihre Ringe und Ketten vermacht.«
Villiers steckte den Daumen zwischen die
Buchseiten, um die Stelle zu markieren, und blickte belustigt in
die strengen Mienen der beiden Polizisten. Daraufhin brach er
völlig unerwartet in hysterisches Gelächter aus.