10
»Weshalb ich Ihnen verschwiegen habe, daß meine Frau ein Testament gemacht hat? Offen gestanden, Chief Inspector, weil ich es völlig vergessen hatte.« Quentin Nightingale hatte anfangs einen bestürzten Eindruck gemacht, doch nun lächelte er ein wenig spöttisch, als mache man aus einer Mücke einen Elefanten. Er hatte seinen Gang nach Canossa hinter sich und mit leichten Blessuren überstanden. Weshalb ihn nun mit Bagatellen belästigen? »Ich glaube wirklich nicht, daß es rechtsgültig ist. Wissen Sie, das war nur so eine Schnapsidee, die sich meine Frau in den Kopf gesetzt hatte.«
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte Wexford, lehnte die Aufforderung ab, in einem Ledersessel Platz zu nehmen, und blieb statt dessen vor dem Bücherschrank stehen. »Ich denke mir, Leute in Ihrer Position lassen ihre Testamente von Notaren aufsetzen. Wer ist Ihr Notar, Mr. Nightingale?«
»Aber es wurde kein Notar hinzugezogen. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es nur eine Schnapsidee war. Mir ist ein Rätsel, wie Sie überhaupt davon erfahren haben.« Er hielt erwartungsvoll inne, doch als er merkte, daß Wexford nicht die Absicht hatte, ihn darüber aufzuklären, fuhr er in verärgertem Ton fort: »Am besten, ich erzähle es Ihnen.«
»Das wäre schön«, sagte Wexford und lehnte sich mit dem Kopf gegen den harten glatten Einband von Motleys Rise of the Dutch Republic.
»Es war im Sommer letzten Jahres. Meine Frau und ich hatten uns die Bermudas als Urlaubsziel ausgesucht, und selbstverständlich hatten wir vor zu fliegen. Obwohl meine Frau schon früher geflogen war - als sie vor sieben Jahren nach Amerika ging-, flog sie nicht gern, und normalerweise fuhren wir per Schiff und Auto in Urlaub.«
»Sie hatte Angst vorm Fliegen?«
»Na, hören Sie, ‘Angst’ ist doch wohl ein zu großes Wort dafür.«
»Wenn sie ihr Testament gemacht hat«, erwiderte Wexford, »so doch wohl deshalb, weil sie dachte, sie könnte sterben. ‘Angst’ ist keineswegs ein zu großes Wort für Todesahnungen.«
»Sie sehen das viel zu dramatisch«, sagte Quentin wütend. »Ich war ein bißchen bange, doch das hielt sie nicht davon ab, Witze darüber zu machen. Das Testament war auch so ein Witz. Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß ich es nie ernst genommen habe.«
Er verstummte und lauschte einen Moment. Als er die Ohren spitzte, konnte auch Wexford ganz leise weit über ihnen die Musik aus Nellekes Radio hören. Ihre Blicke trafen sich, und Quentin errötete. Rasch fuhr er in ärgerlichem Ton fort. »Eines Tages sagte sie, daß sie ein Testament machen wolle, und ich sah, wie sie etwas auf ein Blatt kritzelte. Ich glaube fast, ich habe es mir nicht einmal angesehen. Ich hielt es für eine dieser romantischen Ideen, wie sie sehr feminine Frauen manchmal überkommen.« Unvermittelt schweifte er ab. »Ich entsinne mich noch, wie sich meine Mutter kurz vor der Geburt meiner jüngsten Schwester fotografieren ließ, damit mein Vater eine letzte Erinnerung an sie hätte, falls die bei der Entbindung sterben sollte, und Abschiedsbriefe an alle ihre anderen Kinder schrieb. Aber sie starb natürlich genausowenig wie Elizabeth...«
»Ihre Frau ist aber gestorben, Mr. Nightingale«, sagte Wexford leise.
Quentin senkte den Blick und rang mit den Händen.
»Ja... Die Sache mit dem Testament, ich hielt es für eine Schnapsidee, wie ich schon sagte. Ich bezweifle, ob es überhaupt von Zeugen unterschrieben wurde.«
»Zumindest von einem Zeugen«, sagte Wexford. »Lionel Marriott.«
Quentin blickte auf, und in seinem Blick lag echte Überraschung.
»Mr. Nightingale, ich kann dies nicht einfach auf sich beruhen lassen. Was ist aus diesem Blatt geworden, auf das Ihre Frau etwas ‘gekritzelt’ hat?«
»Sie hat es mir gegeben und mich gebeten, es in meinen Safe zu schließen.«
»Und?«
»Na, das habe ich getan. Elizabeth hat in ihrer Gegenwart darauf bestanden. Ach, es war wirklich nur Unfug, aber ich wollte sie nicht aufregen.«
»Liegt es dort noch?«
»Ich nehme an«, erklärte Quentin erstaunt. “Ich sagte ja bereits, daß ich es ganz vergessen hatte, und vermutlich hat auch Elizabeth nicht mehr daran gedacht, als wir heil und gesund zurückkamen.«
»Ich muß Sie leider bitten, den Safe jetzt zu öffnen, wenn es Ihnen recht ist, Sir«, sagte Wexford in bedeutungsschwerem Ton.
 
Quentin nahm ein kleines Ölgemälde- einen Stubbs, auf dem eine zweispännige Phaeton-Kutsche dargestellt war - von der Wand des Arbeitszimmers und sah Wexford dabei an, als habe er es mit einem Verrückten zu tun, den es bei Laune zu halten galt. Hinter dem Bild befand sich eine in die Wand eingebaute Stahltür. Im Flüsterton murmelte Quentin die Kombination vor sich hin und öffnete die Tür, hinter der eine Öffnung vom Format einer großen Keksdose zum Vorschein kam. Der Safe enthielt einen ordentlich aufgeschichteten Stapel Papiere, die Wexford für Aktienzertifikate und persönliche Dokumente hielt, sowie mehrere lederne Schmuckschatullen. Quentin holte einen kleinen Stapel der Papiere hervor. Er blätterte sie durch und hielt Wexford dann mit immer noch belustigter und spöttischer Miene einen langen braunen Umschlag entgegen.
“Da ist es drin«, sagte er.
»Darf ich?« Wexfords Ton duldete keinen Widerspruch. Er schlitzte den Umschlag auf und zog ein Blatt teures blaues Briefpapier mit der aufgedruckten Adresse des Herrenhauses hervor. Das Papier bedeckte eine kühne, ziemlich männlich wirkende Handschrift. Wexford drehte das Blatt um, warf einen Blick auf den unteren Teil der Rückseite und sagte mit dienstlicher Stimme: »Das Testament ist vollkommen rechtskräftig, Sir, nicht weniger gültig und verbindlich, als wenn es auf einem Testamentsvordruck oder in Gegenwart eines Anwalts aufgesetzt worden wäre.«
»Du lieber Himmel!« Quentin ließ die Safetür offenstehen und setzte sich.
»Als Zeugen haben - Augenblick - Myrtle Annie Cantrip und Lionel Hepburn Marriott fungiert, und Ihre Frau hat korrekt unterzeichnet. Sollten Sie versuchen, es anzufechten, würden Sie sich eine Menge Ärger einhandeln.«
»Ich will es doch gar nicht anfechten.«
»Sie sollten es vielleicht lieber erst einmal lesen, ehe Sie sich festlegen, Mr. Nightingale.«
»Was steht drin?« Das Lächeln war von Quentins Gesicht verschwunden, er wirkte nun völlig verwirrt. »Würden Sie es mir bitte vorlesen, Mr. Wexford?«
»Wie Sie wollen.« Endlich nahm auch Wexford Platz. Er räusperte sich und las mit monoton ausdrucksloser Stimme:
»>Ich, Elizabeth Frances Nightingale, geb. Villiers, setze hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte nachfolgendes Testament auf. Dies ist mein letzter Wille und hebt alle früheren von mir getroffenen letztwilligen Verfügungen auf.«< An dieser Stelle hatten Mrs. Nightingale offenbar ihre Kenntnisse der Rechtssprache verlassen, denn sie schrieb in ungezwungenerem Stil weiter, der allerdings mit einigen Brocken Amtschinesisch durchsetzt war. »>Mein gesamtes Vermögen, einschließlich der Gelder, diemein Gatte für mich angelegt hat, vermache ich Sean Arthur Lovell, wohnhaft in 2 Church Cottages, Myfleet, Grafschaft Sussex, in der Hoffnung, er möge es zur Förderung seiner beruflichen Pläne verwenden... <«
»Lieber Himmel!« sagte Quentin. »Lieber Himmel!«
»>... und meiner Schwägerin, Georgina Villiers, wohnhaft in 55 Kingsmarkham Road, Clusterwell I...<« An dieser Stelle hielt Wexford inne und zog die Augenbrauen hoch. »>...meinen gesamten Besitz an persönlichem Schmuck, damit sie ihrer Lust am schönen Schein frönen kann, wenn ihr Wert als tugendhafte Frau auch mit Edelsteinen nicht aufzuwiegen ist.,«
»Das hat Elizabeth geschrieben?« fragte Quentin mit hohler Stimme.
»Ja, Sir.«
Sie waren zwar beide überrascht, dachte Wexford bei sich, aber wahrscheinlich jeder aus anderen Gründen. Was ihn betraf, so verblüffte ihn, daß die von ihrem Bruder als frivol und hohlköpfig eingestufte Frau den Verstand und die Findigkeit besessen hatte, dieses Testament aufzusetzen und ihm eine solch versteckte Boshaftigkeit zu verleihen. Quentins Verwunderung rührte vielleicht nur von dieser unvermuteten Boshaftigkeit her. Er war bleich geworden.
»Ist das alles?« fragte er.
»Ja, das ist alles. Wieviel Geld hinterläßt Ihre Frau, Sir?«
»Oh, das ist nicht der Rede wert.« Quentin rang sich ein Lachen ab. »Um die Wahrheit zu sagen, ihr Privatkonto war sogar überzogen. Es handelt sich praktisch um dreihundert Pfund, die ich vor Jahren für sie angelegt habe.«
»Hmhm. Die werden Sie dem jungen Lovell sicherlich nicht mißgönnen. Beunruhigt Sie etwas, Sir?«
»Eigentlich nicht, nur...«
»Mrs. Villiers«, sagte Wexford nachdenklich, »scheint eine Dame zu sein, die gern Schmuck trägt, wie Ihre Frau - äh, anklingen ließ. Wollen wir hoffen, daß ein paar schöne Stücke für sie dabei sind.«
»Ein paar schöne Stücke!« Quentin sprang unvermittelt auf. »Der Schmuck meiner Frau ist in diesen Schatullen.« Er streckte die Hände in den Safe. »Über den Daumen gepeilt, würde ich seinen Wert mit dreißigtausend Pfund veranschlagen.«
 
Wexford hatte schon zu viele Edelsteine gesehen, um von dieser kleinen, aber erlesenen Kollektion geblendet zu werden. Doch er war ohnehin nicht leicht aus der Fassung zu bringen, und so blieb seine Miene gelassen und eine Spur verschlossen, während er Quentin beim Öffnen der drei Schatullen zusah.
Eine Schatulle war aus weißem Leder, eine aus grünem und die dritte aus mit Onyx eingelegtem Teakholz. Quentin hatte sie auf den Schreibtisch gestellt, und als er die Deckel aufklappte, kamen noch weitere Kästchen zum Vorschein: winzige Schächtelchen für Ringe und Ohrgehänge, längliche Etuis für Armbänder und Halsketten.
Quentin nahm einen der Ringe heraus, einen in Platin gefaßten Brillanten, und hielt ihn ins Licht.
»Das war ihr Verlobungsring. Manchmal trug sie ihn, wenn...«, mit heiser werdender Stimme beendete er den Satz: »...ich sie ausdrücklich darum bat.« Er blickte zu Wexford. »Vielleicht kann ich ihn Georgina abkaufen.«
“Mochte Ihre Frau sie?« »Ich weiß nicht«, sagte Quentin ratlos und steckte den Ring wieder in das Samtkissen. »Ich habe eigentlich nie darüber nachgedacht. Anscheinend schon... Andererseits aber auch wieder nicht, oder? Man kann nicht jemanden mögen und dann eine so gemeine Bemerkung über ihn machen. Ich begreife das nicht.«
»Wie wir wissen, empfand Mrs. Nightingale eine heftige Abneigung gegen ihren Bruder. Vielleicht schloß diese Abneigung auch seine Frau ein.«
Quentin klappte das Ringkästchen zu. Bedächtig sagte er: »Anscheinend kursiert das Gerücht, meine Frau und ihr Bruder hätten auf Kriegsfuß miteinander gestanden.«
Wexford zog die Augenbrauen nach oben. »Stimmt es denn nicht?«
»Es klingt für einen Ehemann sicher merkwürdig, wenn ich das sage, aber ich weiß es wirklich nicht. Denys hat mir gegenüber niemals ein schlechtes Wort über sie verlauten lassen, und was Elizabeth betrifft... Nun, sie hat ihn nie davon abzuhalten versucht, uns besuchen zu kommen, wenn es auch wahr ist, daß sie mir gegenüber manchmal ziemlich gehässig über ihn sprach. Dabei müssen Sie aber wissen, daß ich sie öfters dabei ertappte, wie sie ihm - nun, fast mitfühlende Blicke zuwarf, wenn wir zu dritt waren. Irgendwelche Anzeichen von echtem Haß sind mir nie aufgefallen.«
»Vielleicht sind Sie nicht der Typ, der sehr sensibel auf anderer Leute Beweggründe und Gefühle reagiert.«
»Nein, wohl kaum«, erwiderte Quentin traurig. »Sonst hätte ich gemerkt, daß Elizabeth nicht gern mit Georgina zusammen war, und mir... mir wäre aufgefallen, daß sie nachts heimlich in den Wald ging. Nein, ich schätze, zwischen Elizabeth und Denys bestand eine natürliche Abneigung, ich war nur zu blind, es zu sehen. Vielleicht wollte ich es gar nicht sehen.« Er sprach nun leise und ein wenig verlegen. »Wenn man mehrere Menschen sehr gern hat, will man, daß sie sich auch untereinander gut verstehen, und mit der Zeit redet man sich das eben ein. Mir ist die Vorstellung ein Greuel, irgendwelche Klatschmäuler könnten behaupten, es habe böses Blut zwischen ihnen gegeben.«
Ein kurzes Schweigen trat ein, dann sagte Wexford: »Kommen wir noch einmal auf das Testament zurück, Sir. Offensichtlich haben Sie von der Freundschaft Ihrer Frau mit Sean Lovell nichts geahnt?«
»Ich wußte, daß sie ein gewisses mütterliches Interesse an ihm hatte. Wir selbst hatten keine Kinder. Sie hat mich einmal gebeten, mich bei meinem Freund von der BBC zu verwenden, daß er ihn mal vorsingen läßt, wozu ich jedoch keine rechte Lust hatte - jetzt werde ich mich aber darum kümmern. Das ist das mindeste - und das letzte -, was ich für sie tun kann.«
»Entschuldigen Sie meine Frage - aber ist Ihnen nie der Verdacht gekommen, es könnte sich um mehr als ein nur mütterliches Interesse handeln?«
Quentin verzog angewidert das Gesicht und schüttelte heftig den Kopf. »Mein Gott«, sagte er, »das ist nicht möglich, aber wenn doch... Ich habe nicht das Recht, über sie zu richten, nicht während ich und Nelleke... Mr. Wexford, ich begreife nicht, was da alles unterschwellig mit hineinspielt. Ich begreife rein gar nichts davon.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Wexford grimmig.
Burden machte in der Zwischenzeit eigene Entdeckungen.
Als er aus dem Stammhaus trat und durch das Tor in den Hof ging, begegnete er Mrs. Cantrip, die mit einem Bund Petersilie in der Hand aus dem Küchengarten kam.
»Ach, haben Sie mich erschreckt, Sir«, sagte sie. »Sie gehen so leise. Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Ist es dafür nicht schon ein wenig spät?« fragte Burden mit einem Blick auf die Uhr, auf der es halb sechs war. »Wann machen Sie hier denn Feierabend?«
»Eigentlich um vier, schön wär’s ja, aber wir sind momentan alle ganz schön durcheinander und wissen nicht, wo uns der Kopf steht. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß, Sir. Der Tee wird Ihnen guttun, und Will möchte mal kurz mit Ihnen sprechen.«
»Um was geht es denn?« fragte Burden, während er mit ihr zum Haus schlenderte.
»Mir wollte er es nicht sagen, Sir. Es hat was mit einem Schal zu tun, glaube ich.«
In der Küche saß Will Palmer am Tisch neben dem Mann, den Burden am Gartentor im Gespräch mit Mrs. Lovell bemerkt hatte. Sie tranken Tee aus dunkel lasierten Steingutbechern. Der andere Mann hatte offensichtlich zwei Hasen, vier Ringeltauben und eine Steige Eier gebracht, die eine karierte Arbeitsplatte zum Großteil bedeckten.
Kaum hatte er Burden erblickt, sprang Palmer auf.
»Ich hab da was, das Sie sehen sollten, Sir.«
»Und?« Burden nahm den von Mrs. Cantrip angebotenen Tee und entfernte sich damit so weit es ging von dem toten Wild.
»Das ist es.« Mit triumphierender Miene holte Palmer unter dem Tisch eine nasse Plastiktüte hervor, die oben mit Gartenschnur zugebunden war. Burden löste den Knoten und zog einen Stoffetzen heraus. Er war feucht, aber nicht durchnäßt und immer noch auf den ersten Blick als Seidenschal erkennbar. Das aufwendige Muster darauf war jugendstilähnlich, stilisierte goldene Blätter auf blaßgelbem Grund. Über die Mitte des Schals lief ein langer brauner Fleck. Burden runzelte die Stirn.
»Wo haben Sie ihn gefunden?«
»In einem Loch in einer Eiche unten in Cleever’s Vale.«
»Und wo ist Cleever’s Vale, bitte?«
Auf Palmers Gesicht trat verblüfftes Befremden. Offensichtlich war es unvorstellbar für ihn, daß irgend jemand - und schon gar ein Polizist - Cleever’s Vale nicht kannte, das doch ebenso zur Gegend um Myfleet gehörte wie der Wald.
»Es gehört zum Anwesen, Sir«, erklärte Mrs. Cantrip ungehalten. »Wenn Sie von Kingsmarkham zum Herrenhaus fahren, ist es der erste Teil des Parks, an dem Sie vorbeikommen.«
»Ich war dort, weil ich die alten Pilze von der Eiche schnitt«, sagte Palmer, der sich von seiner Verwunderung inzwischen erholt hatte. »Dann bin ich aber auf dieses Loch gestoßen, wahrscheinlich stammt es von einer Eule...«
»Eichhörnchen«, warf der andere Mann lakonisch ein und wischte sich den Mund ab. Er war sehr dunkel im Gesicht und hatte dringend eine Rasur nötig.
»Oder von einem Eichhörnchen, was ich auch noch gesagt hätte, Alf«, erklärte Palmer ärgerlich. »Von einer Eule oder einem Eichhörnchen, für einen Specht war’s nämlich viel zu groß.«
»Verschonen Sie mich mit Ihrer Tierkunde.«
»Schon gut, Sir, brauchen ja nicht gleich aus der Haut zu fahren.« Palmers Miene wurde noch bedeutsamer, als die Tür zum Garten aufging und Sean Lovell hereinkam, um sich ebenfalls an den Küchentisch zu setzen. »Das Loch war auf gleicher Höhe wie mein Kopf, etwa ein Meter achtzig über dem Boden.«
»Einsfünfundsiebzig«, verbesserte ihn der Dunkelhäutige.
Palmer starrte ihn wütend an, ließ sich aber auf keine Diskussion mit ihm ein, sondern fuhr fort: »Rund um das Loch wuchsen jedenfalls diese Pilze. Austernpilze heißen die, Sir, weil ihr Schirm wie eine Auster aussieht. Kein Armeleuteessen, gebraten schmecken die köstlich, das können Sie mir glauben.«
»Geschmort. »
»Geschmort auch, Alf«, sagte Palmer versöhnlicher. »Kurz und gut, ich hab die Hand in das Loch gesteckt und das da gefunden, was in der Tüte ist.«
»In der Tüte? Oder haben Sie den Schal dort hineingetan?«
»Er war in keiner Tüte, Sir. Bloß so zusammengelegt und in das Loch gestopft.«
»Haben Sie ihn schon mal gesehen?«
»Natürlich«, schaltete sich Mrs. Cantrip ein. »Er gehörte der armen Mrs. Nightingale. Sie trug ihn immer so als Kopftuch, wenn sie spazierenging.« Sie beugte sich über den Schal und wich erschreckt zurück. »Ist das ihr Blut, Sir?«
»Ich fürchte, ja.«
Sean Lovell sprang auf. »Mir wird schlecht!« rief er. Mrs. Cantrip bewegte sich schneller, als Burden bei einer Frau ihres Alters für möglich gehalten hätte, und riß die Tür zum Garten auf.
»O nein, nicht in meiner Küche!«
Mit der gleichmütigen Griesgrämigkeit des englischen Bauern verfolgten der alte Gärtner und der Wildbretlieferant, wie er hinaustorkelte, und lauschten dann mit angeregterem, aber immer noch teilnahmslosem Interesse auf die Würgegeräusche. Der bislang einsilbige Alf hob zu einer für seine Verhältnisse langen Rede an:
»Altes Familienleiden - keinen Mumm in den Knochen.« Er lachte. »Möchte so’n Popsänger werden. Übergeschnappt, wenn Sie mich fragen.«
Mrs. Cantrip räumte seine Tasse ab und stellte sie in die Spülmaschine. Als der Mann keine Anstalten zum Gehen machte, wurde sie deutlicher. »Schönen Abend auch noch, Alf. Eier brauchen wir übrigens erst wieder Montag.«
 
Nachdem sie das Herrenhaus durch die Vorder- beziehungsweise Hintertür verlassen hatten, begegneten sich Wexford und Burden auf der Dorfstraße. Sie tauschten ihre neuesten Erkenntnisse aus und wollten sich gerade auf eine ihrer üblichen erbitterten, aber nützlichen Diskussionen einlassen, als Mrs. Cantrip, ganz außer Atem vom Laufen, sie einholte.
»O Sir«, sagte sie zu Burden, »da bin ich aber froh, daß ich Sie noch erwischt habe. Ich muß mich fast dafür entschuldigen, wie die beiden sich aufgeführt haben, der alte Will und dieser Alf. Will ist so geschwätzig, und was Alf Tawney angelangt... Er hat schon von Haus aus keine Manieren. Stört es Sie, wenn ich Sie ein Stück begleite?«
»Aber gar nicht«, sagte Wexford freundlich. Bei dem Dienstwagen blieb er stehen und gab Bryant Anweisung, zurück zum Revier zu fahren. »Wer ist Alf Tawney?«
»Nur der Mensch, von dem wir Gemüse, Hühner und so was beziehen, Sir. Er haust in einem Wohnwagen auf seinen Feldern in Clusterwell.« Mrs. Cantrips Gesicht nahm einen verschlossenen, prüden Ausdruck an, so wie Burden manchmal aussah, wenn ein Thema angeschnitten wurde, das er für »anzüglich« hielt. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Alf von Interesse für Sie ist.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Wexford. »Für uns ist jeder von Interesse, der mit Mrs. Nightingale Umgang pflegte, selbst wenn er nur ihr Gemüselieferant war.«
»Umgang pflegte Mrs. Nightingale mit ihm nicht, Sir.« Die Vorstellung schien Mrs. Cantrip zu schockieren. »Falls sie überhaupt von ihm wußte, dann nur durch Sean.« Sie seufzte, als bleibe ihr eine schmerzhafte Entscheidung nicht erspart. »Ich kann es Ihnen ja ruhig erzählen, denn der Dorftratsch handelt praktisch von nichts anderem. Alf hat ein Verhältnis mit Seans Mutter.«
»Meine Güte«, sagte Wexford. »Das ist schlimm.«
»Manche geben nicht Alf die Schuld dafür, weil er doch schon verwitwet ist, seit sein Junge zwölf Jahre alt war, und niemand hat, der ihm das Essen kocht und sich um ihn kümmert. Nein, für mich hat sie schuld. Denn schon in der Bibel steht, Sir, daß die Frau den Mann in Versuchung führt, da läßt sich nicht dran rütteln.«
»Stimmt«, pflichtete Wexford ihr aus vollem Herzen bei.
»Nicht daß ich sonderlich viel für Sean übrig hätte, aber niemand kann bestreiten, daß Mrs. Lovell ihn schändlich vernachlässigt hat. Eigentlich hat er nie eine richtige Mutter gehabt.«
»Und Mrs. Nightingale nie einen Sohn.«
Mrs. Cantrip sah ihm ins Gesicht. Wie schon zuvor, als das Gespräch auf ein Thema gekommen war, das sie für tabu erklärt hatte, wirkte sie empfindlich und zurückhaltend. »Sean hätte sich nie getraut, so etwas von der gnädigen Frau zu denken. Es gibt schließlich gewisse Grenzen. Und zudem-Mrs. Nightingale sah so jung und hübsch aus. Sie hatte es nicht gern, wenn die Leute ihr Alter wußten. Manchmal gab es mir einen richtigen Stich ins Herz, was sie alles tat, damit Sean und Nelke glauben sollten, sie sei so alt wie sie. Und als Sean sagte - es gehörte sich ja nicht, Sir, aber er weiß es eben nicht besser -, sie sei keine von diesen Spießern, und einmal sogar behauptete, was gutes Aussehen angehe, könne ihr von den Damen im Umkreis niemand das Wasser reichen, wirkte sie so glücklich und zufrieden.«
»Er ist ein sehr gutaussehender junger Mann«, sagte Wexford.
»Ich finde das zwar nicht, aber die Geschmäcker sind verschieden. Hier wohne ich, dann also auf Wiedersehen. Ich will nur hoffen, Sie nehmen den beiden ihr Verhalten nicht krumm, Sir.«
Burden und Wexford sahen ihr nach, wie sie zu einem frisch gestrichenen weißen Cottage ging, dessen kunterbunter Garten zu denen gehörte, die der Detective Inspector am Nachmittag bewundert hatte. Sie nahm eine gelbe Katze in die Arme, die ihr zur Begrüßung entgegengelaufen war, und schloß die Haustür hinter sich.
»Der arme vernachlässigte Junge«, sagte Wexford nachdenklich, »wurde von Mrs. Nightingale in ihrem Testament mit dreihundert Pfund bedacht. Ich frage mich, ob er davon weiß und es für wert hielt, deswegen einen Mord zu begehen. Aber lassen wir das mal für den Augenblick und statten der Haupterbin einen Besuch ab.«
»Sir?« Burden sah ihn fragend an.
»Ich erzähle es Ihnen im Wagen.« Wexford grinste breit. »Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten!«
Wexford war gespannt, wie sie die Nachricht wohl aufnehmen würde. Freudig überrascht? Oder ängstlich, weil die Polizei von dem Testament erfahren hatte? Möglicherweise hatte sie von seinem Inhalt oder auch nur von seinem Vorhandensein gar nichts gewußt.
Er teilte ihr ohne Umschweife mit, daß Mrs. Nightingale ein Testament zu ihren Gunsten hinterlassen habe, und achtete genau auf ihre Reaktionen. Sie waren enttäuschend. Georgina Villiers zuckte die Achseln und sagte: »Das überrascht mich. Ich hatte keine Ahnung.« Wie gewöhnlich trug sie ihre Kette, die Armreifen und Ohrringe, die ihr so unentbehrlich waren wie einer anderen Frau vielleicht Strümpfe und Lippenstift, und nicht einmal ein kleiner Funke Habgier in ihren Augen verriet, daß sie sich freuen würde, den Schmuck durch echte Steine zu ersetzen. Ihr Gesichtsausdruck wirkte apathisch und teilnahmslos, beinahe schläfrig, als hätte sie vor kurzem eine Tortur überstanden, die ihr gesamtes Empfindungsvermögen völlig aufgezehrt hatte.
»War Ihnen bekannt, daß sie ein Testament gemacht hatte? Oder wissen Sie nicht, was sie Ihnen hinterlassen hat?«
»Nein, weder noch«, sagte Georgina. Sie setzte sich auf eine Sessellehne. Ihre Bluse war ärmellos, und Wexford fielen die kräftigen Muskeln an ihren Schultern und Oberarmen auf. Solche Muskeln hatte er in seinem Leben nur einmal an den Armen einer Frau gesehen, und diese Frau war Ringerin gewesen.
»Sie erben den gesamten Schmuck von Mrs. Nightingale«, sagte er.
»So. Als sie sagten, das Testament sei zu meinen Gunsten, dachte ich schon, daß es etwas in der Art sein muß. Elizabeth besaß kein eigenes Vermögen, und ihr Taschengeld hatte sie immer schon durchgebracht, noch ehe das nächste in Aussicht war. Sie war schrecklich verschwenderisch.«
“Mrs. Villiers, die Umstände des Todes Ihrer Schwägerin erscheinen dadurch in ganz neuem Licht.«
»Wirklich? Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«
»Dann lassen Sie mich erklären.« Wexford hielt inne, als die Tür aufging und Denys Villiers hereinkam, sein unlängst erschienenes Buch aufgeschlagen in der Hand.
»Ah, da bist du ja, Denys«, sagte seine Frau und stand auf. Ihre Stimme klang weiterhin dumpf und tonlos, als sie sagte: “Stell dir vor, Elizabeth hat ein Testament gemacht und mir alle ihre Ringe und Ketten vermacht.«
Villiers steckte den Daumen zwischen die Buchseiten, um die Stelle zu markieren, und blickte belustigt in die strengen Mienen der beiden Polizisten. Daraufhin brach er völlig unerwartet in hysterisches Gelächter aus.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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