18
Der Eindruck, den Swan bei anderen hinterließ, hatte auf subtile Weise Wexfords eigenes Bild von ihm verändert, ihn mit rücksichtsloser Kälte und magnetischer Schönheit ausgestattet, göttergleich in Erscheinung und Macht, so daß er, als der Mann ihm wieder gegenüberstand, Enttäuschung, ja beinah so etwas wie einen Schock verspürte. Denn Swan war einfach nur Swan, immer noch der lässige, gutaussehende junge Mann, der sein träges und zielloses Leben führte. Eigenartig, sich vorzustellen, daß die bloße Erwähnung seines Namens genügen sollte, Mr. Scott umzubringen, und daß er ein Eigenleben in Mr. Frenshams Träumen führte.
“Muß Roz das erfahren?« fragte er, und als Wexford ihn erstaunt ansah, fuhr er fort: »Ich hatte es selbst mehr oder weniger vergessen, nur als ich zu der Verhandlung ging, da fiel es mir wieder ein. Müssen wir darüber reden?«
»Ich fürchte, ja.«
Swan zuckte die Achseln. »Man wird uns nicht hören. Roz ist unterwegs, und Gudrun habe ich mir vom Hals geschafft.«
Wexfords Gesicht zeigte den absurden Effekt, den diese Äußerung auf ihn hatte, und Swan gab ein leises, ironisches Lachen von sich. “Ich habe sie entlassen, gefeuert, meine ich. Was hatten Sie denn gedacht? Daß ich sie um die Ecke gebracht habe? In Ihren Augen ist mein Weg mit Leichen gepflastert, nicht wahr? Roz und ich sind gern allein, und Gudrun war uns im Weg, das ist alles.«
Wieder diese Formulierung. Sie war im Weg...’Wexford fing langsam an, eine Gänsehaut zu bekommen, wenn er sie hörte.
»Möchten Sie was trinken? Allerdings müßten Sie sich mit etwas aus einer Flasche begnügen. Das Tee- und Kaffeekochen ist Rosalinds Domäne, und ich weiß sowieso nicht, wo sie die Sachen aufbewahrt.«
“Ich möchte nichts trinken, ich möchte etwas über Bridget Scott hören.«
»O Gott, es ist so verdammt lange her, schon beinah Geschichte. Ich nehme an, Sie haben bereits eine hervorragende Sammlung tendenziöser Darstellungen.« Swan setzte sich hin und legte sein Kinn in die Hände. “Ich weiß nicht, was Sie hören wollen. Ich bin mit einem anderen Mann und einem Mädchen in dieses Hotel gefahren. Wenn Sie einen Moment Geduld haben, fallen mir auch die Namen wieder ein.«
»Bernard Frensham und Adelaide Turner.« Armer Frensham, dachte Wexford. Swan lebte in seinen Träumen weiter, doch er hatte keinen entsprechenden Platz in Swans Erinnerung.
»Warum fragen Sie mich, wenn Sie schon mit ihnen geredet haben?«
“Ich möchte Ihre Version.«
»Über das, was auf dem See passiert ist? Also gut. Ich habe sie ertrinken lassen, aber ich wußte nicht, daß sie ertrinkt.« Swans Gesicht sah verdrießlich aus. In dem diffusen und matten Novemberlicht hätte er wieder neunzehn sein können, aber Wexford konnte keinen Schatten von Weinlaub in seinem Haar feststellen. »Sie hat mich mit ihren Belästigungen fast zur Verzweiflung getrieben«, sagte er, und der verdrossene Ausdruck vertiefte sich. »Sie hing in meiner Nähe herum und versuchte mich zum Schwimmen zu bewegen, wollte mit mir spazierengehen und hat Szenen gemacht, um meine Aufmerksamkeit zu erregen!«
»Was für Szenen?«
»Einmal war sie in einem Ruderboot draußen, und ich bin geschwommen, da fing sie an zu schreien, sie habe ihr Portemonnaie ins Wasser fallen lassen und ob ich danach tauchen würde. Ich hab’s nicht getan, aber - wie hieß er noch? - Frensham ist getaucht, und nachdem wir alle ungefähr zehn Minuten lang herumgesucht hatten, holte sie das Portemonnaie aus dem Boot. Es war alles nur ein Trick. Dann ist sie einmal, als ich nachmittags versuchte, etwas zu schlafen, in mein Zimmer gekommen und hat gesagt, wenn ich nicht mit ihr rede, würde sie schreien, und wenn die Leute kämen, würde sie ihnen erzählen, ich hätte sie belästigt. Eine Elfjährige!«
»So daß Sie glaubten, es sei nur wieder eine neue Kriegslist, um Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als Sie sie um Hilfe rufen hörten?«
»Sicher habe ich das gedacht. Das andere Mal, als sie drohte, zu schreien, hatte ich zu ihr gesagt: ‘Schrei nur los.’ Ich lasse mich von so was nicht beeindrucken. Drauβen im Boot, da wußte ich, daß sie eine Schau abzog. Ich konnte es nicht glauben, als man mir sagte, sie sei ertrunken.«
»Hat es Ihnen leid getan?«
»Ich war ein bißchen aus dem Gleichgewicht«, sagte Swan. »Es hat mich irgendwie beeindruckt, aber es war nicht meine Schuld. Ziemlich lange danach mochte ich Kinder in dem Alter nicht um mich haben. Wenn ich mir’s recht überlege, auch jetzt nicht.«
Ob ihm wohl klar war, was er da gesagt hatte? »Stella war genauso alt, als Sie sie kennenlernten, Mr. Swan«, sagte Wexford.
Doch Swan schien die Anspielung nicht zu bemerken. Er redete weiter und machte alles noch schlimmer. »Sie hat genaugenommen die gleichen Dinge getan, immer versucht, meine Aufmerksamkeit zu erregen.« Der verdrießliche Gesichtsausdruck kam wieder und machte ihn beinah häßlich. »Ob sie einen Hund haben könne? Ob sie ein Pferd haben könne? Immer diese Versuche, mich mit hineinzuziehen. Manchmal habe ich den Eindruck...« Er warf Wexford einen Blick voll wilder Abneigung zu. »Manchmal habe ich den Eindruck, die ganze Welt will sich nur zwischen mich und das, was ich möchte, drängen.«
»Und was möchten Sie?«
»Mit Rosalind allein gelassen werden«, erwiderte Swan schlicht. “Ich will keine Kinder. Nach diesen ganzen Sachen kann ich Kinder nicht ausstehen. Ich möchte hier auf dem Land mit Roz leben, nur wir beide, in Frieden. Sie ist der einzige Mensch, den ich je gekannt habe, der mich so mag, wie ich bin. Sie hat sich kein Bild von mir gemacht, dem ich entsprechen muß, sie möchte mich nicht aufmuntern und ermutigen. Sie liebt mich, sie kennt mich wirklich, und ich stehe bei ihr an erster Stelle, bin das Zentrum ihres Universums. Als sie mich kennengelernt hatte, da kümmerte sie nicht einmal mehr Stella. Wir haben sie nur bei uns behalten, weil ich fand, wir sollten es tun, ich habe Roz gesagt, sie könnte es womöglich sonst eines Tages bereuen. Und sie ist eifersüchtig. Manche Männer würden das nicht mögen, aber mir gefällt es. Es gibt mir ein wunderbares Gefühl von Glück und Sicherheit, wenn Roz mir erklärt, sobald ich eine andere Frau auch nur ansähe, würde sie ihr das Schlimmstmögliche antun. Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für mich bedeutet.«
Ich frage mich eher, was es für mich bedeutet, dachte Wexford. Er sagte nichts, sondern hielt seinen Blick weiterhin auf Swan gerichtet, der plötzlich errötete. »So viel habe ich seit Jahren nicht mit jemandem geredet«, sagte er, »außer mit Roz. Da kommt sie, glaube ich. Sie werden nichts sagen über...? Wenn ihr ein Verdacht käme, ich wüßte nicht, was ich machen sollte.«
Swan hatte das Geräusch eines Autos gehört, es war der Ford Kombi, dessen Reifen draußen auf dem Kies von Hall Farm knirschten.
»Ich hatte den Eindruck, Sie könnten nicht Auto fahren, Mrs. Swan«, sagte Wexford, als sie hereinkam.
»So? Mein Führerschein war abgelaufen, während ich in Karachi war, aber letzten Monat habe ich die Prüfung noch einmal gemacht.«
Sie war einkaufen gewesen. In London vielleicht, jedenfalls ein exquisiteres Pflaster als Kingsmarkham. Schwarzes Papier mit weißer Aufschrift war um ihre Päckchen, und scharlachrotes mit Gold. Aber sie hatte nicht für sich eingekauft.
»Eine Krawatte für dich, Herzliebster. Schau auf den Schriftzug.« Swan schaute hin und Wexford ebenso. Jacques Fath stand da. »Und russische Zigaretten und ein Buch und... Es sieht nicht sehr viel aus, jetzt, wo ich es hier rausnehme. Ach, ich wünschte, wir wären reich.«
»Damit du alles für mich ausgeben könntest?« sagte Swan.
»Für wen denn sonst? Hast du daran gedacht, den Elektriker anzurufen, Liebling?«
»Dazu bin ich gar nicht gekommen«, erwiderte Swan. »Es ist mir einfach entfallen.«
»Macht nichts, mein Herz. Ich kümmere mich darum. Und jetzt mache ich dir einen schönen Tee. Warst du einsam ohne mich?«
»Ja. Sehr.«
Sie hatte kaum von Wexford Notiz genommen. Er untersuchte den Mord an ihrem einzigen Kind, doch sie beachtete ihn kaum. Ihr Blick, ihre Aufmerksamkeit waren allein auf ihren Mann gerichtet. Und er war es, der jetzt, wo jemand, der ihn zubereitete, da war, ziemlich widerwillig vorschlug, Wexford könne ja mit ihnen Tee trinken.
»Nein danke«, sagte der Chief Inspector. “Ich möchte Ihnen nicht im Weg sein.«
 
Die Haarlocke stammte weder von John Lawrence noch von Stella Rivers, aber es war Kinderhaar. Jemand hatte sie vom Kopf eines Kindes abgeschnitten. Das hieß, der Briefschreiber hatte Zugang zu einem blonden Kind. Und mehr als das. Man konnte nicht einfach mitten auf der Straße zu einem Kind gehen und ihm eine Locke abschneiden, ohne Ärger zu kriegen. Technisch gesehen wäre das ein ‘tätlicher Angriff’ Der Briefschreiber, der’Pelz-Mann’, mußte also in so enger Verbindung zu einem Kind stehen, daß er ihm eine Locke abschneiden konnte, entweder während es schlief oder mit dessen Einverständnis.
Aber was fing er damit an, überlegte Wexford. Er konnte nicht jedes goldblonde Kind in Sussex ausfragen. Er konnte diese Kinder nicht mal bitten, sich zu melden, denn die Person, die in so enger Verbindung’ stand - Vater? Onkel? -, würde das eine wichtige Kind daran hindern, sich zu melden.
Obwohl es nicht die verordnete Zeit war, schluckte Wexford zwei Blutdrucktabletten und spülte mit einigen Schlucken Kaffee nach. Er würde sie brauchen, wenn er den Rest des Tages damit verbringen mußte, in Stowerton herumzujagen. Mrs. Thetford zuerst, um zu erfahren, ob sie die Geschichte von Johns Verschwinden womöglich doch in der Stadt verbreitet hatte. Dann vielleicht Rushworth. Mit Rushworth womöglich stundenlang herumsitzen, ihn wenn nötig dazu bringen, sich zu erinnern, ihn seine Mitsucher beschreiben lassen, der Sache heute auf den Grund gehen.
 
Das Klima, in dem Burden und seine Schwägerin inzwischen lebten, war kaum dazu angetan, Vertraulichkeiten auszutauschen. Es war beinah eine Woche her, seit sie ihn zuletzt angelächelt oder mehr gesagt hatte als »Kälter heute« oder»Gib mal bitte die Butter rüber«. Doch er würde ihr von seiner bevorstehenden Heirat erzählen müssen, auch den Kindern, vielleicht mußte er sogar um deren Erlaubnis bitten.
Er dachte, die Gelegenheit sei da, als Grace, etwas aufgetaut, fragte: »Hast du nicht nächstes Wochenende frei?«
Vorsichtig erwiderte er: »Eigentlich ja, aber wir haben sehr viel zu tun.«
»Mutter hat uns alle vier zum Wochenende eingeladen.«
»Ich glaube nicht...«, fing Burden an. “Ich meine, ich schaffe es nicht. Hör mal, Grace, ich muß dir etwas...«
Grace sprang auf. »Es ist immer etwas. Spar dir die Entschuldigungen. Ich werde allein mit den Kindern fahren, wenn du nichts dagegen hast.«
»Natürlich habe ich nichts dagegen«, sagte Burden, und dann ging er zur Arbeit, oder was man hätte Arbeit nennen können, wenn er in der Lage gewesen wäre, sich zu konzentrieren.
Er hatte halb versprochen, zum Lunch in die Fontaine Road zu kommen. Brot und Käse, nahm er an, in dieser abscheulichen Küche. Sosehr er sich auch danach sehnte, nachts mit Gemma zusammenzusein, ihre Mahlzeiten reizten ihn überhaupt nicht. Da war die Kantine des Reviers beinah vorzuziehen. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, daß bald jede Mahlzeit, die er zu sich nahm, von Gemma zubereitet sein würde.
Wexford war unterwegs. Es hatte Zeiten gegeben, da war der Chief Inspektor nie weggegangen, ohne ihm eine Nachricht zu hinterlassen, doch all das hatte sich nun geändert. Er hatte sich geändert, und seine Veränderung hatte ihn Wexfords Wertschätzung gekostet.
Im Fahrstuhl nach unten hoffte er, er würde Wexford nicht begegnen, und als die Tür zur Seite glitt, war niemand im Foyer außer Camb und Harry Wild, der derzeit schon beinah zum Mobiliar gehörte, Teil des Bildes wie der Tresen und die kleinen roten Stühle. Burden behandelte ihn wie einen Stuhl, er akzeptierte seine Anwesenheit, ignorierte ihn aber ansonsten. Er war fast an der Schwingtür, als sie aufging und Wexford hereintrat.
Außer bei Gemma war das Murmeln zu Burdens normaler Ausdrucksform geworden. Er murmelte einen Gruß und wäre seiner Wege gegangen, hätte Wexford ihn nicht mit dem offiziellen “Mr. Burden!« zurückgehalten, das er gewöhnlich in Gegenwart von Leuten wie Camp und Wild benutzte.
»Sir?« erwiderte Burden gleichermaßen formell.
Leiser sagte Wexford: “Ich habe den Vormittag mit diesem Rushworth verbracht, aber ich konnte nichts aus ihm rauskriegen. Kommt mir ein bißchen dämlich vor, der Mann.«
Mit Mühe versuchte Burden sich auf Rushworth zu konzentrieren. “Ich weiß nicht«, meinte er. »Ich hätte ihn selbst auch nicht als möglichen Verdächtigen in Betracht gezogen, aber immerhin besitzt er einen Dufflecoat, und dann die Sache, als er die Tochter von Crantocks zu Tode erschreckt hat.«
»Was hat er?«
Wexfords Worte kamen als scharfes Zischen heraus. »Das habe ich Ihnen doch erzählt«, sagte Burden. »Es stand in meinem Bericht.« Zögernd und erneut murmelnd, gab er dem Chief Inspector eine Zusammenfassung dessen, was in der Chiltern Avenue geschehen war. »Das muß ich Ihnen erzählt haben«, er stockte. »Ich bin sicher, ich...«
Wexford vergaß Camb und Wild. “Mitnichten haben Sie das!« schrie er. »Sie haben überhaupt keinen verdammten Bericht geschrieben. Und jetzt - jetzt - kriege ich zu hören, daß Rushworth ein Kind belästigt hat?«
Burden hatte keine Worte. Er merkte, wie er blutrot wurde. Es stimmte - er erinnerte sich jetzt-, er hatte keinen Bericht geschrieben, die ganze Sache war ihm entfallen. Liebe und Sehnsucht hatten alles aus seinem Gedächtnis ausgelöscht; denn jene Nacht, in der Stowerton in Nebel gehüllt gelegen hatte, war seine erste Nacht mit Gemma gewesen.
Es wäre wohl zu einem ernsthaften Zusammenstoß zwischen ihm und Wexford ausgeartet, hätte Harry Wild sich nicht eingemischt. Unsensibel für Atmosphärisches und unfähig, sich vorzustellen, daß er je überflüssig sein könnte, drehte Wild sich um und sagte laut:
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben Bob Rushworth für diese Sache auf dem Kieker?«
»Ich will überhaupt nichts sagen, und Ihnen schon gar nicht«, fuhr Wexford ihn an.
»Sie brauchen nicht gleich so aufzubrausen. Wollen Sie denn keine Hilfe bei Ihrer Untersuchung?«
»Was wissen Sie denn darüber?«
“Na, ich kenne jedenfalls Rushworth«, sagte Wild und schob sich zwischen die beiden Polizisten. »Und ich weiß, daß er ein Ekelpaket ist. Freund von mir hat von ihm ein Cottage in Mill Lane gemietet, und Rushworth hat einen Schlüssel behalten und taucht da auf, wann immer es ihm Spaß macht. Er hat sogar mal alle privaten Papiere von meinem Freund durchgewühlt, ohne auch nur ein Wort der Erklärung, und sein Sohn geht hin und holt sich Äpfel aus dem Garten, einmal hat er eine Flasche Milch geklaut. Ich könnte Ihnen Sachen über Bob Rushworth erzählen, da würden Ihnen die...«
“Ich glaube, Sie haben mir genug erzählt, Harry«, unterbrach Wexford. Ohne die übliche Einladung zum Lunch, ohne auch nur einen Blick auf Burden, verließ er das Revier auf dem gleichen Weg, den er gekommen war.
Weil er sicher war, daß Burden, wenn er ins Carousel ging, hinterherkommen und ihm das Essen mit gewundenen Entschuldigungen verderben würde, fuhr Wexford nach Hause und überraschte seine Frau, die ihn sonst zwischen neun und sechs selten sah, mit dem Wunsch nach Eßbarem. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so schlechte Laune gehabt hatte. Übel aussehende, dunkle Venen standen an seinen Schläfen hervor und alarmierten ihn derart, daß er mit dem Bier, das Mrs. Wexford aus dem Kühlschrank zutage förderte, gleich zwei seiner Blutdrucktabletten hinunterspülte. Burden sollte klüger sein, als ihn so aufzuregen. Kein Wunder, wenn er noch endete wie der arme alte Scott.
Etwas ruhiger, fuhr er gegen drei los, um Mrs. Thetford aufzusuchen. Eine Nachbarin sagte ihm, sie sei noch zum Saubermachen bei Mrs. Dean. Wexford hing herum, bis sie zurückkam, und sah keinen Grund, ihre Einladung zu einer Tasse Tee und einem Stück Fruchtkuchen auszuschlagen. Die Rushworths waren beide den ganzen Tag außer Haus, und er wollte sie lieber gemeinsam befragen, statt ein erneutes Gespräch in Rushworths Büro über sich ergehen zu lassen, wo sie dauernd durch Anrufe von Kunden unterbrochen wurden.
Tee und Kuchen waren leider alles, was Mrs. Thetford ihm zu bieten hatte. Sie wiederholte nur die Geschichte, die er bereits von ihrem Mann kannte. Gegen fünf Uhr habe ihr Mrs. Dean von John Lawrences Verschwinden erzählt, erklärte sie, aber sie habe es niemandem weitererzählt, außer ihrem Mann und ihrem Schwager.
Langsam fuhr er die Straße hinauf und bog in die Sparta Grove. Lomax’ Patientin, Mrs. Foster, war jetzt seine einzige Hoffnung. Sie mußte jemandem berichtet haben, was sie beim Arzt mit angehört hatte. Oder hatte jemand sie belauscht? Es war immerhin eine Möglichkeit, vielleicht die einzige noch verbleibende. Nummer 14 war ihr Haus. Wexford parkte vor der Tür, und dann sah er den Jungen. Er schaukelte auf dem Tor des Nachbarhauses, Nummer 16, und sein ziemlich langes Haar war leuchtend goldblond.
Inzwischen war die Schule aus, und Sparta Grove wimmelte von Kindern. Wexford winkte einem Mädchen von ungefähr zwölf, und sie kam mißtrauisch an seinen Wagen.
»Ich soll nicht mit fremden Männern reden.«
»Sehr vernünftig«, sagte Wexford. »Ich bin Polizist.«
»Sie sehen nicht wie einer aus. Zeigen Sie mir Ihren Ausweis.«
“Donnerwetter, du wirst es mal weit bringen, wenn du nicht vorher ausrutscht.« Er zog seinen Ausweis heraus, und das Kind studierte ihn mit riesigem Vergnügen.”Zufrieden?«
»Hmm.« Sie grinste. »Das hab ich im Fernsehen gelernt.«
»Sehr lehrreich, das Fernsehen. Ich frage mich, wozu sie die Schulen noch offenhalten. Siehst du den Jungen mit dem blonden Haar? Wo wohnt der?«
»Wo er is. In dem Haus, wo er auf dem Tor von sitzt.«
Grammatikalisch bedenklich, aber klar. »Du mußt ihm ja nicht sagen, daß ich gefragt habe.« Wexford fischte eine Münze heraus, die er garantiert nicht über Spesen zurückkriegen würde.
»Was soll ich denn sagen?«
“Na hör mal, du hast doch Phantasie. Sag einfach, ich war ein fremder Mann.«
Jetzt war nicht die geeignete Zeit. Er mußte warten, bis alle Kinder im Bett waren. Als das Piebald Pony öffnete, ging er hinein und bestellte sich Sandwiches und ein kleines Bitter. Jeden Moment würden Monkey und Mr. Casaubon auftauchen. Begeistert, ihn zu sehen, würden sie versuchen herauszufinden, wie nah sie ihren Zweitausend schon waren, und es würde ihm Spaß machen, ihnen zu sagen, daß sie nie weiter entfernt gewesen waren. Er würde sogar indiskret werden und seine innerste Überzeugung enthüllen, daß Swans einziges Verbrechen seine Indifferenz war.
Aber es kam keiner. Und um sieben Uhr machte Wexford sich auf den Weg und lief dreiviertel einer ruhigen und schlecht beleuchteten Sparta Grove entlang.
 
Er klopfte an die Haustür von Nummer 16. Nirgends ein Lichtschein. Alle Kinder mußten inzwischen wohlbehalten in ihren Betten liegen. In diesem Haus schlief der goldblonde Junge. Wie es von außen aussah - kein blauweißer Schein von einem Fernsehschirm flimmerte hinter den zugezogenen Vorhängen -, waren seine Eltern ausgegangen und hatten ihn allein gelassen. Wexford hatte keine sonderlich hohe Meinung von Eltern, die so etwas machten, besonders derzeit, besonders hier. Er klopfte noch einmal, diesmal energischer.
Für einen sensiblen, scharfsichtigen Menschen hat ein leeres Haus eine andere Ausstrahlung als ein Haus, das nur leer zu sein scheint, tatsächlich aber jemanden beherbergt, der nicht aufmachen will. Wexford fühlte, daß irgendwo in der Dunkelheit Leben war, bewußtes, vibrierendes Leben, nicht nur ein schlafendes Kind. Jemand war da, ein angespannter Jemand, der das Klopfen hörte und hoffte, das Klopfen würde aufhören und der Klopfende weggehen. Leise schlich er durch den Seiteneingang und zur Rückseite. Das Haus der Fosters nebenan war hell erleuchtet, aber alle Türen und Fenster waren zu. Ein gelber Lichtschein aus Mrs. Fosters Küche zeigte ihm, daß Nummer 16 ein wohlgepflegtes Haus war: gefegte Wege und rote, blankgeputzte Stufen zur Hintertür. Das Dreirad des kleinen Jungen und ein Herrenfahrrad lehnten an der Wand, beide waren mit einem durchsichtigen Plastiküberwurf zugedeckt.
Er hämmerte mit der Faust an die Hintertür. Schweigen. Dann probierte er ganz heimlich die Klinke aus, aber die Tür war zugeschlossen. Ohne Durchsuchungsbefehl war hier kein Hineinkommen, und mit seinen mageren Beweismitteln konnte er sich keinen erhoffen.
Leise und vorsichtig ging er - feuchten Torf unter den Schuhen - weiter ums Haus herum. Da überflutete ihn von hinten unvermittelt ein Lichtstrahl, und er hörte Mrs. Foster so deutlich, als stände sie neben ihm, sagen: “Vergiß bitte nicht, die Mülltonne rauszustellen, Lieber, ja? Wo die Müllabfuhr jetzt nur noch alle zwei Wochen kommt, wäre es ärgerlich, wenn wir sie verpassen würden.«
Genau, wie er es sich gedacht hatte. Jedes Wort, das im Garten von Nr. 14 gesprochen wurde, konnte man in diesem Garten hier hören. Mrs. Foster hatte ihn nicht gesehen. Er wartete, bis sie wieder in ihrer Küche verschwunden war, bevor er weiterging.
Dann sah er es: ein hauchdünner Lichtstreifen, feiner als der Strahl einer Bleistifttaschenlampe, der von einer Terrassentür aus quer übers Gras verlief. Auf Zehenspitzen ging er auf die Lichtquelle zu, einen winzigen Spalt zwischen vorgezogenen Vorhängen.
Es war schwierig, überhaupt etwas zu sehen. Dann merkte er, daß der Rand des Vorhangs direkt in der Mitte der Tür an einem Riegel hängengeblieben war. Er ging in die Hocke, aber noch immer konnte er nichts sehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich flach hinzulegen. Glücklicherweise war kein Beobachter in der Nähe, der mit ansah, wie schwer es ihm fiel, etwas zu tun, das eigentlich zu den natürlichsten Bewegungen eines Menschen gehören sollte.
Platt auf dem Bauch liegend, linste er mit einem Auge durch das vorhanglose Dreieck. Der Raum tat sich vor ihm auf. Er war klein, ordentlich und von einer putzwütigen Hausfrau konventionell möbliert, rote Couchgarnitur, dreiteilig, Beistelltische, Wachsgladiolen und Nelken, deren Blütenblätter täglich mit einem feuchten Tuch abgewischt wurden.
Der Mann, der schreibend an einem Sekretär saß, war jetzt ganz entspannt und voll auf seine Aufgabe konzentriert. Der unerwünschte Besucher war endlich weggegangen und hatte ihn dem ganz besonderen Frieden und der Intimität überlassen, die er brauchte. In seinem Gesicht war es wahrscheinlich zu sehen, dachte Wexford bei sich, dieser schreckliche, einsame Egoismus, diese Selbstvergessenheit, aber das Gesicht konnte er nicht sehen, nur die nackten Beine und Füße, und er ahnte die entrückte Versunkenheit des Mannes. Unter seinem Pelzmantel war er Wexfords Vermutung nach ganz nackt.
Wexford beobachtete ihn einige Minuten, sah zu, wie er gelegentlich innehielt und mit dem dicken, flauschigen Ärmel über Nase und Mund fuhr. Es ließ ihn erschauern, denn er wußte, daß er etwas Intimeres belauschte als ein heimliches Gespräch oder einen Liebesakt oder eine Beichte. Dieser Mann da war nicht allein mit sich, sondern mit seinem zweiten Ich, einer gesonderten Persönlichkeit, die womöglich bis jetzt noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte.
Zeuge dieses Phänomens zu sein, dieses intensiven, intimen Phantasierens in einem Raum, der so ausgesprochen die Normalität verkörperte, erschien Wexford eine ungeheuerliche Einmischung. Doch dann fielen ihm die ergebnislosen Verabredungen im Wald wieder ein und Gemma Lawrences Hoffnung und Verzweiflung. Ärger verdrängte die Scham. Er rappelte sich hoch und klopfte hart gegen die Glasscheibe.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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