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Nicht nur das Gartentor, sondern auch die Haustür
überwucherten Nesseln und ihr Gegengift, der Ampfer. Ehe sie noch
die Möglichkeit hatten, den Türklopfer zu betätigen, hob sich ein
grauer Spitzenvorhang, in den man größere Löcher hineingeschnitten
hatte, und ein Gesicht kam zum Vorschein.
»Ich weiß nicht, was Sie wollen, aber Sie müssen an
die Hintertür kommen.«
Das seitliche Gartentor fiel um, als sie es
aufdrückten. Mit einem Achselzucken legte Wexford es auf ein üppig
sprießendes Unkrautbeet. Der hinter dem Haus gelegene Garten war
ein verwahrlostes Stück Land inmitten einer idyllischen Landschaft;
vor dem Hintergrund des prächtigen Walds hob sich das Fleckchen
Erde mit hüfthohem Gras, Löwenzahn, umgestürzten Wellblechen und
kaputten Hühnerställen wie ein Loch im schwarzen Samt ab. Ein
einigermaßen ordentlicher Schuppen nahm eine der hinteren Ecken des
Grundstücks ein; Lumpenbündel, grüne Glasflaschen und eine
Matratze, die aussah, als hätte man sie als Zielscheibe für
Bajonettübungen benutzt, verbargen seinen Sockel. Zwischen dem
Unkraut entdeckten sie einen Emailnachttopf und mehrere zerbeulte
Kochtöpfe. Wexford fiel auf, daß ein Tor im hinteren Zaun direkt in
den Wald führte.
Die Hintertür ging plötzlich auf, und die Frau, die
am Fenster mit ihnen gesprochen hatte, steckte den Kopf
heraus.
»Was wollen Sie?«
»Mrs. Lovell?«
»Höchstpersönlich. Was wollen Sie?«
»Kurz mit Ihnen reden, wenn’s recht ist«, sagte
Wexford gewandt. “Wir sind Polizeibeamte.«
Sie musterte die beiden mit argwöhnisch
mißtrauischen Blicken. »Geht wohl um die Frau vom Herrenhaus
drüben. Kommen Sie lieber rein. Seine Lordschaft hat gesagt, daß
Polizei in der Gegend ist.«
»Seine Lordschaft?« fragte Burden nach. Gingen die
hohen Kreise, in die sie so unverhofft hineingeraten waren, in noch
höhere Kreise über, zu denen sogar Adlige zählten?
»Mein Sohn, Sean«, erklärte Mrs. Lovell und holte
den Inspector wieder auf den Teppich. »Kommen Sie schon. Sie können
in den Salon gehen, wenn Sie möchten. Hier entlang.«
Dieses euphemistisch als Salon bezeichnete Zimmer
war nicht ganz so schmutzig wie die Küche, doch auch hier roch es
nach Gemüse, einer schon länger undichten Stelle in der Gasleitung
und leicht nach Gin. Die Einrichtung bestand aus einer neuen und
bereits verfleckten hellrosa Sitzgarnitur und einer bunten
Ansammlung alter Möbelstücke und modernen Kitschs. Die Queen
lächelte reserviert von einem Kalender herab, der zwischen Postern
von den Rolling Stones und einem großen Ölschinken an der Wand
hing, auf dem eine römische Dame zu sehen war, die sich
erdolchte.
Vom Gesicht her sah sie Mrs. Lovell nicht
unähnlich, doch was die Leibesfülle anging, konnte sie nicht mit
ihr in Vergleich treten. Mrs. Lovells noch immer hübsches Gesicht
erinnerte durch die Hakennase, die vollen, geschwungenen Lippen und
die schwarzen Augen stark an eine Zigeunerin. Schwarzes, zottiges
Medusenhaar fiel ihr bis auf die Schultern. Das Gesicht hatte ihre
Beleibtheit nicht in Mitleidenschaft gezogen. Man hatte den
Eindruck, das Fett sei bis zum Hals gekrochen, wo es zum Stillstand
gekommen war, vielleicht eingeschüchtert von der in dem energischen
glatten Kinn enthaltenen Drohung.
Ihr Körper war gewaltig, übte jedoch einen gewissen
derben Reiz aus, da die ungeheuren Fettpolster an den richtigen
Stellen saßen. Der Busen, einer archaischen Göttin würdig und
einhundertfünfzig Zentimeter weit, doch mit einem erkennbaren Spalt
in der Mitte, entsprach dem Umfang der riesigen Hüften. Wie Nelleke
mangelte es auch Mrs. Lovell an Hemmungen, und als sie sich setzte,
rutschte ihre ohnehin schon tief ausgeschnittene Bluse noch fünf
Zentimeter tiefer, was mit dem Höherrutschen des knallengen
schwarzen Rocks über ihre Knie einherging. In der Meinung, für
diesen Nachmittag seinen Bedarf an femininer Fleischesfülle gedeckt
zu haben - außerdem hätte dem Fleisch in diesem Fall ein Bad nichts
geschadet -, sah Wexford zur Seite.
»Wir führen lediglich Routineermittlungen durch,
Mrs. Lovell«, sagte er. »Würden Sie so freundlich sein, mir zu
sagen, wie Ihr Sohn den gestrigen Abend verbracht hat?«
»Er hat seinen Tee getrunken«, erwiderte sie. »Dann
saß er vorm Fernseher. Seine Lordschaft ist ganz wild aufs
Fernsehen, und weshalb auch nicht, schließlich zahlt er die
Gebühren.«
»Ja, weshalb auch nicht? Aber nach halb zehn hat er
nicht mehr ferngesehen nicht wahr?«
Mrs. Lovell sah von Wexford zu Burden. Es war
offensichtlich, daß sie überlegte, ob sie lügen oder die Wahrheit
sagen solle, und wenn sie sich für letzteres entschied, so
vielleicht nur, weil die Wahrheit zu sagen immer einfacher ist.
Ihre ganze Erscheinung und der Zustand des Hauses ließen auf enorme
Faulheit und äußerste Trägheit schließen. Auch mit Worten schien
sie zu geizen. »Er ging aus«, sagte sie schließlich.
»Wohin ist er gegangen?«
»Ich hab ihn nicht gefragt. Ich mische mich nicht
in seinen Kram...« Sie zupfte an einem abgekauten Daumennagel
herum. »... und er mischt sich nicht in meinen. So halte ich’s
schon immer. Vielleicht ist er rüber zum Schuppen gegangen. Er
verbringt ziemlich viel Zeit im Schuppen.«
»Und was tut er da, Mrs. Lovell?«
»Seine Lordschaft hat dort seine Platten.«
»Aber seine Schallplatten kann er doch bestimmt
auch im Haus hören, oder?« fragte Burden.
»Wenn er will, kann er das.« Mrs. Lovell kaute an
einem Niednagel. »Ist mir so oder so egal. Ich misch mich nicht bei
ihm ein und er nicht bei mir.«
»Um wieviel Uhr kam er zurück?«
“Ich hab ihn nicht kommen hören. Gegen sieben kam
mein Freund. Sean und er vertragen sich nicht sonderlich. Deshalb
hat seine Lordschaft sich wohl auch zum Schuppen begeben, schätze
ich. Als mein Freund aus dem Haus ging, war er noch nicht wieder
da, das muß so um halb elf gewesen sein - aber wie ich schon sagte,
ich misch mich nicht bei ihm ein, und er...«
»Ja, ja, verstehe. Ich glaube, Sean hatte Mrs.
Nightingale sehr gern?«
»Sie können glauben, was Sie wollen.« Mrs. Lovell
gähnte herzhaft, wobei kleine spitze Zähne zum Vorschein kamen.
»Leben und leben lassen, das ist meine Devise. Die vom Herrenhaus
mischte sich immer gern in fremder Leute Angelegenheiten und wollte
helfen. Setzte seiner Lordschaft ein paar gewaltige Flöhe ins Ohr.«
Sie streckte die Arme über den Kopf, gähnte noch einmal und legte
die Beine aufs Sofa. Wexford mußte an eine dicke behäbige Katze
denken, die sich schnurrend das Fell leckt und nichts merkt von dem
Schmutz, in dem sie lebt.
»Was für Flöhe denn?« fragte er.
“Daß er ins Showgeschäft einsteigen könne, als
Sänger und so was. Ich hab nie darauf geachtet. Vielleicht hatte
sie ihn gern. Ich hab nie gefragt.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir das Haus
durchsuchten?«
Zum erstenmal lächelte sie und legte unvermutet
ironischen Humor an den Tag. »Suchen Sie, soviel Sie wollen«, sagte
sie. »Lieber Sie als ich.«
»Ein deprimierendes Erlebnis«, meinte Wexford, als
sie zum Wagen zurückgingen. Ein ziemlich blasser Bryant folgte
ihnen in einiger Entfernung.
»So etwas ist mir in meiner ganzen Dienstzeit noch
nicht passiert«, ereiferte sich Burden. »Mich juckt’s von oben bis
unten.«Er zappelte in seinem Anzug herum und kratzte sich am
Kopf.
»Ihre junge Freundin hat Sie jedenfalls
gewarnt.«
Darauf ging Burden nicht ein. »Die Betten!« sagte
er. »Und diese Küche!«
»Ich gebe zu, damit habe ich nicht gerechnet«,
pflichtete ihm Wexford bei. »Einigermaßen sauber war nur der
Schuppen. Ist doch seltsam, Mike. Ein Teppich auf dem Boden, ein
paar ordentliche Sessel und ein Plattenspieler. Könnte ein
Liebesnest sein.«
Burden schauderte. »Niemand wird mir je weismachen
können, daß eine Dame wie Mrs. Nightingale sich dort heimlich mit
ihrem Liebhaber traf.«
»Vielleicht haben Sie recht«, gab Wexford
widerwillig zu. »Faktisch haben wir ja nicht viel gefunden. Ein
Messingkerzenständer und eine metallene Wärmflasche. Blut war auf
beiden nicht, und geputzt hat die in den letzten fünfzig Jahren
weiß Gott niemand. Und die Kleidung, die ⊃seine Lordschaft⊂ ihr
zufolge gestern abend angehabt hat, war fast tipptopp. Aber was hat
er dann getan, Mike? Bryant hat in der Dorfkneipe nachgefragt, und
dort war er nicht. Der letzte Bus fährt zwanzig nach neun von
Myfleet, den kann er folglich auch nicht genommen haben. Ein
Bursche wie dieser Sean Lovell zottelt doch nicht durch die Gegend,
um die Schönheiten der Natur zu bewundern. Die hat er den ganzen
lieben langen Tag vor Augen.«
»Niemand«, beharrte Burden hartnäckig, »kann mir
weismachen, daß zwischen ihm und Mrs. Nightingale irgend etwas
ablief. Seine Mutter ist doch nichts anderes als die Dorfschlampe,
wenn Sie mich fragen. »Ich misch mich nicht bei ihm ein« - daß ich
nicht lache. Das ist doch nur eine andere Art zu sagen, daß man
sein Kind schon immer vernachlässigt hat. Mir ist klar, daß Sie
mich für einen altmodischen Puritaner halten, Sir, aber ich weiß
wirklich nicht, wo das mit den Frauen heutzutage noch hinführen
soll. Entweder sind sie schmutzig oder unzuverlässig oder
unmoralisch - oder alles in einem. Erst ist da Mrs. Nightingale,
die sich das Gesicht liften läßt und heimliche Verabredungen hat,
dann kommt diese junge Holländerin, die auch noch stolz auf ihr
wüstes Treiben ist, und was nun Mrs. Lovell betrifft...«
»Ich dachte mir schon, daß Sie so denken«, sagte
Wexford und lächelte freundlich. »Aus diesem Grund habe ich
speziell für Sie etwas Hochanständiges auf dem Programm stehen. Wir
statten nun einer tugendhaften Ehefrau einen Besuch ab, Mrs.
Georgina Villiers, die uns - hoffentlich ohne in Ohnmacht zu fallen
oder uns ihrer untröstlichen Hingabe an das selige Angedenken der
Verstorbenen zu versichern - sagen wird, wer Mrs. Nightingales
Freunde waren und was ihr böser Bruder eigentlich verbrochen hat,
daß sie sich nicht ausstehen konnten.«
»Mein Mann ist noch mal zum Herrenhaus gefahren«,
sagte Georgina Villiers. »Er kommt gleich wieder.«
“Wir möchten gern mit Ihnen sprechen.«
»Ach?« Mrs. Villiers wirkte überrascht und ziemlich
bestürzt, als hätten nur wenige Leute je den Wunsch geäußert,
speziell mit ihr zu sprechen. »Na schön.«
Sie führte sie durch eine rauhfasertapezierte Diele
in ein rauhfasertapeziertes Wohnzimmer. Es war ebenso unordentlich
und nichtssagend wie seine Bewohnerin, die verlegen dastand, ehe
sie in dem schroffen Ton einer reizlosen Frau sagte: »Nehmen Sie
Platz.«
»Wir wollen Sie nicht lange aufhalten, Mrs.
Villiers. Wie hat Ihr Mann den Schock heute morgen
überwunden?«
“Ach, deshalb. Es geht ihm jetzt wieder gut.« Mit
einemmal merkte sie, daß ihre Besucher sich nicht setzen würden,
ehe sie selbst Platz nahm, worauf sie nervös auflachend das Zimmer
durchquerte und sich auf einer Sessellehne niederließ. »Du meine
Güte! Die Haustür steht noch offen. Entschuldigen Sie mich, ich
mache sie rasch zu.« Wexford entging nicht, daß sie für eine so
dünne und schmächtige Frau sehr kraftvoll und athletisch
ausschritt. Die Muskeln ihrer unbestrumpften, rötlich braunen Beine
machten einen kräftigen Eindruck.
»Was möchten Sie mich also fragen?« Sie sprach in
brüskem, barschem Tonfall, als sei sie zu befehlen gewohnt, jedoch
nicht, daß ihren Befehlen immer Folge geleistet wurde. Hunderte von
dunkelbraunen Sommersprossen sprenkelten ihre bleiche, empfindliche
Haut. Sie wirkte wie Ende Zwanzig, eine Frau, die nicht wußte, wie
sie sich hübsch machen sollte, sich aber dennoch Mühe gab. Die
Edelweißbrosche an ihrem Blusenkragen und die Spange im Haar
bewiesen, daß sie sich Mühe gab. »Mein Mann - Sie sollten wirklich
lieber mit meinem Mann sprechen. Er kommt gleich wieder.« Sie warf
einen hektischen Blick auf die Uhr.« Quen - mein Schwager, will ich
sagen - wird ihn bestimmt nicht lange aufhalten. Wie auch immer,
was wollten Sie mich denn fragen?«
»Zunächst einmal, Mrs. Villiers«, setzte Burden an,
»sind Sie gestern abend nach Ihrem Besuch im Herrenhaus direkt
hierher gefahren?«
»O ja.«
»Was haben Sie getan, als Sie nach Hause
kamen?«
»Wir gingen zu Bett. Wir legten uns beide gleich
schlafen.«
»Sind Sie in dem Wagen gefahren, der draußen
steht?« warf Wexford ein.
Georgina Villiers schüttelte so heftig den Kopf,
daß ihr Haar nach hinten fiel und unpassende lange Ohrringe zu
sehen waren. »Wir sind mit Denys’ Auto gefahren. Wir haben nämlich
zwei. Als wir vor einem Jahr heirateten, hatte ich ein Auto, und er
hatte auch eins. Es sind zwar ziemlich alte Kisten, aber wir fahren
beide. Man bekommt nicht mehr viel für so ein Auto, wissen Sie.«
Sie brachte ein strahlendes, fieberhaftes Lächeln zustande. »Er ist
jetzt in seinem Wagen unterwegs.«
»Wie ich sehe, ist Ihrer gerade frisch gewaschen«,
sagte Wexford in freundlichem, väterlichem Ton. »Waschen Sie Ihr
Auto immer mittwochs, Mrs. Villiers? Da sind Sie wohl meiner Frau
ähnlich, alles im Haushalt hat seine genau festgelegte Zeit, hm?
Auf diese Weise wird nichts vergessen.«
»Nein, leider mache ich das nicht so. Ich gehe
nicht sehr systematisch vor.« Verwirrt über die plötzliche Wendung
des Gesprächs, blinzelte sie ihn an. »Ich sollte das eigentlich so
machen, ich weiß. Denys würde es gern sehen, wenn... Weshalb fragen
Sie?«
“Ich erkläre es Ihnen, Mrs. Villiers. Wenn Sie sehr
systematisch vorgingen und den Haushalt immer nach Plan erledigten,
hätten Sie sich daran gewöhnt, und in diesem Fall könnte ich
verstehen, daß nicht einmal der gewaltsame Tod Ihrer Schwägerin Sie
davon abbringen konnte, Ihrem Alltagstrott zu folgen. Aber da Sie
nicht systematisch vorgehen und Ihr Auto nur dann waschen, wie ich
vermute, wenn Sie Lust haben oder es dringend nötig ist, warum
haben Sie sich dazu ausgerechnet den heutigen Tag
ausgesucht?«
Sie wurde rot wie eine Tomate. In ihren Augen glomm
Angst auf, die fast an Entsetzen grenzte, dann blinzelte sie noch
einmal und krampfte die Hände zusammen. »Ich weiß nicht, was Sie
meinen. Ich verstehe nicht ganz.«
»Bitte regen Sie sich nicht auf. Vielleicht haben
Sie das Auto gewaschen, gerade weil Sie durcheinander waren. War es
so?« Sie war sehr schwer von Begriff, dachte Wexford, entweder weil
sie zu verängstigt oder zu beschränkt war, um das Hintertürchen zu
sehen, das er ihr offengelassen hatte. Er wurde deutlicher. “Ich
nehme an, Sie waren der durchaus vernünftigen Meinung, daß Arbeit
die beste Medizin ist, um unglückliche oder besorgte Menschen von
ihrem Kummer abzulenken?«
Mit sichtlicher Erleichterung nickte sie
schließlich. »Ja, genau so war es.« Im nächsten Augenblick
verspielte sie den leichten Vorteil wieder, den sie durch ihre
Zustimmung gewonnen hatte. »Ich war nicht sehr durcheinander, nein,
eigentlich nicht. Es handelte sich schließlich nicht um
meine Schwester.«
»Das ist richtig«, sagte Wexford. Er rückte mit dem
Stuhl näher an sie heran, und ihre Blicke trafen sich; wie ein vom
Scheinwerferlicht gebannter Hase sah sie ihm in die Augen.
Plötzlich existierte Burden nicht mehr, die beiden waren allein.
»Sie war natürlich die Schwester Ihres Mannes, nur eine
Schwägerin.« Ein mürrischer und verschlossener Ausdruck trat auf
ihr Gesicht. »Sie mochten sich wohl nicht sonderlich?«
»Nein.« Einen kurzen Moment zögerte sie und
rutschte wie unwillkürlich von der Lehne in den Sessel, ohne dabei
jedoch den Blick von Wexfords Gesicht abzuwenden. »Sie kamen gar
nicht gut miteinander aus. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen,
Denys konnte sie nicht ausstehen.«
»Merkwürdig, Mrs. Nightingale schien doch sonst mit
allen auszukommen.«
»Glauben Sie? Ach, Sie meinen mit den Leuten hier
in der Gegend.« Sie seufzte tief und leise, dann fuhr sie rasch mit
tonloser Stimme fort: »Wirkliche Freunde hatte Elizabeth keine.
Mein Mann glaubt, sie sei von einem Verrückten umgebracht worden,
so einem Triebtäter, der Frauen anfällt. So wird es wohl gewesen
sein. Sie muß den Verstand verloren haben, nachts allein in den
Wald zu gehen. Sie hat es ja förmlich herausgefordert.«
»Möglich«, sagte Wexford. Er lächelte jovial, um
eine entspanntere Atmosphäre zu schaffen. Georgina Villiers war nun
ruhiger. Sie ließ ihre Hände los, atmete flach und blickte nach
unten. »Wissen Sie, weshalb Ihr Mann nicht mit seiner Schwester
auskam?
»Sie hatten eben gar nichts gemeinsam.«
Und was, fragte sich Wexford, hat eine
begriffsstutzige und spießige Frau wie du mit einem Intellektuellen
wie Villiers gemeinsam, einem Lehrer für klassische Philologie,
einer Kapazität als Wordsworth-Forscher?
»Ich glaube, er hielt sie für ziemlich dumm und
verschwenderisch.«
»War sie das denn, Mrs. Villiers?«
»Jedenfalls hatte sie eine Menge Geld, nicht? Es
gab keinen anderen Grund für ihn, sie nicht zu mögen, falls Sie das
meinen. Sie und Quen waren im Grunde sehr unkomplizierte Menschen.
Natürlich nicht die Art Menschen, mit denen ich früher Umgang
pflegte. Vor meiner Heirat hatte ich mit solchen Leuten keinen
Kontakt.«
»Sind Sie gut mit ihnen ausgekommen?«
»Quen ist immer sehr nett gewesen.« Georgina
Villiers drehte an ihrem Ehering und schob ihn am Finger auf und
ab. »Wissen Sie, er mochte mich meinem Mann zuliebe. Er und mein
Mann sind wirklich gute Freunde.« Sie senkte den Blick und biß sich
nervös auf die Unterlippe. »Ich glaube aber, daß er mich mit der
Zeit um meiner selbst willen mochte. Aber egal«, fügte sie
plötzlich in schrillem und ärgerlichem Ton hinzu. »Weshalb sollte
ich mir daraus etwas machen? Für einen Mann sollte an erster Stelle
seine Frau stehen. Er sollte mehr auf sie als auf Außenstehende
geben und seiner Arbeit nicht in fremder Leute Häuser
nachgehen.«
»Waren Sie der Meinung, daß Mr. Nightingale zuviel
Einfluß auf Ihren Mann ausübte?«
»Ich mag nicht, wenn sich Fremde in anderer Leute
Angelegenheit einmischen.« Georgina zog an ihren Ohrringen und
lockerte an einem die Schraube. »Ich war Sportlehrerin«, sagte sie
stolz, »bevor ich heiratete, dann habe ich meinen Beruf an den
Nagel gehängt. Finden Sie nicht auch, daß eine Frau zu Hause
bleiben und sich um ihren Mann kümmern sollte? Das ist das beste
für Leute wie uns, ein schönes Heim und eine Familie haben ohne
große anderweitige Interessen.«
Wexford warf Burden, der beifällig nickte, einen
mißbilligenden Blick zu und sagte: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn
wir uns ein wenig umschauen?«
Georgina zögerte, dann schüttelte sie mit dem
Kopf.
Der Bungalow verfügte über ein weiteres Wohnzimmer
und zwei Schlafzimmer, von denen das kleinere unmöbliert war und
keinen Teppichboden hatte.
»Ich frage mich, was er wohl mit seinem Geld
anfängt«, flüsterte Wexford. »Er hat einen guten Job und schreibt
diese Bücher.«
Burden zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er
verschwenderisch wie seine Schwester. Aber er wird sich ändern. Er
hat eine gute Frau.«
»O mein Gott!«
Während er die spärlich gefüllten Schränke
durchsuchte, erwiderte Burden zugeknöpft: »Jedenfalls habe ich es
zur Abwechslung ganz angenehm gefunden, mal mit einer einfachen,
anständigen Frau zu sprechen.«
»Einfach und anständig mag sie ja sein. Dumm genug
ist sie weiß Gott dazu. Hier ist nichts, kein Blut, auch nichts,
das als Waffe in Frage käme.« Als nächstes nahmen sie sich die
Küche vor, wo Wexford den Deckel des altmodischen Kohleboilers
hochhob. “Lodert fröhlich vor sich hin«, sagte er. »In so einem
Ding läßt sich praktisch alles verbrennen, und sie hatte
stundenlang Zeit dazu.«
Georgina wartete im Wohnzimmer auf sie, saß
apathisch in einem Sessel und starrte die Wand an.
»Ich weiß einfach nicht, wo mein Mann so lang
bleibt. Man sollte doch meinen, er würde hier bei mir sein wollen.
Man sollte...« Sie erstarrte und horchte konzentriert. »Jetzt kommt
er.«
Sie sprang aus dem Sessel auf, stürmte in die Diele
und warf hinter sich die Tür zu. Während er mit halbem Ohr der
geflüsterten Unterhaltung zwischem dem Ehepaar folgte, sagte
Burden: »Sie ist das reinste Nervenbündel. Fast könnte man glauben,
sie hätte damit gerechnet, daß wir etwas finden. Ich frage mich,
ob...«
»Psst!« machte Wexford.
Denys Villiers trat in das Zimmer und sprach über
die Schulter hinweg mit seiner Frau. »Ich kann mich nicht
zerreißen, Georgina. Quen ist ziemlich elend dran. Als ich ging,
war Lionel Marriott bei ihm.«
Burdens Blick begegnete Wexfords. Der Chief
Inspector stand auf und zog angenehm überrascht die Augenbrauen
hoch.
»Habe ich richtig gehört, Sie sprachen von Lionel
Marriott?«
»Falls Sie zugehört haben, ja«, erwiderte Villiers
schroff. Er sah immer noch wesentlich älter als achtunddreißig aus,
jedoch nicht ganz so krank wie am Morgen. »Wieso, kennen Sie
ihn?«
»Er ist Lehrer an der gleichen Schule wie Sie«,
sagte Wexford. »Um die Wahrheit zu sagen, sein Neffe ist mit meiner
ältesten Tochter verheiratet.«
Villiers maß ihn mit beleidigendem Blick.
»Bemerkenswert«, sagte er, und sein Ton ließ keinen Zweifel daran,
daß Marriott, ein gebildeter Mann und Kollege von ihm, sich in
seinen Augen durch die Verbindung mit der Familie des Chief
Inspectors entschieden verschlechtert hatte.
Wexford schluckte seinen Zorn hinunter. »Ist er ein
Freund Ihres Schwagers?«
»Von Zeit zu Zeit läßt er sich im Herrenhaus
blicken.« Gefühllos befreite Villiers seinen Arm aus dem
Klammergriff seiner Frau und ließ sich in einen Sessel plumpsen.
Aus Verzweiflung oder vielleicht nur aus schlichter Erschöpfung
schloß er die Augen. »Ich will einen Drink«, sagte er, und als
Georgina sich mit baumelnden Ohrringen über ihn lehnte, setzte er
hinzu: »Irgendwo muß noch eine Flasche Gin sein. Geh und hol sie
bitte.«