5
Nicht nur das Gartentor, sondern auch die Haustür überwucherten Nesseln und ihr Gegengift, der Ampfer. Ehe sie noch die Möglichkeit hatten, den Türklopfer zu betätigen, hob sich ein grauer Spitzenvorhang, in den man größere Löcher hineingeschnitten hatte, und ein Gesicht kam zum Vorschein.
»Ich weiß nicht, was Sie wollen, aber Sie müssen an die Hintertür kommen.«
Das seitliche Gartentor fiel um, als sie es aufdrückten. Mit einem Achselzucken legte Wexford es auf ein üppig sprießendes Unkrautbeet. Der hinter dem Haus gelegene Garten war ein verwahrlostes Stück Land inmitten einer idyllischen Landschaft; vor dem Hintergrund des prächtigen Walds hob sich das Fleckchen Erde mit hüfthohem Gras, Löwenzahn, umgestürzten Wellblechen und kaputten Hühnerställen wie ein Loch im schwarzen Samt ab. Ein einigermaßen ordentlicher Schuppen nahm eine der hinteren Ecken des Grundstücks ein; Lumpenbündel, grüne Glasflaschen und eine Matratze, die aussah, als hätte man sie als Zielscheibe für Bajonettübungen benutzt, verbargen seinen Sockel. Zwischen dem Unkraut entdeckten sie einen Emailnachttopf und mehrere zerbeulte Kochtöpfe. Wexford fiel auf, daß ein Tor im hinteren Zaun direkt in den Wald führte.
Die Hintertür ging plötzlich auf, und die Frau, die am Fenster mit ihnen gesprochen hatte, steckte den Kopf heraus.
»Was wollen Sie?«
»Mrs. Lovell?«
»Höchstpersönlich. Was wollen Sie?«
»Kurz mit Ihnen reden, wenn’s recht ist«, sagte Wexford gewandt. “Wir sind Polizeibeamte.«
Sie musterte die beiden mit argwöhnisch mißtrauischen Blicken. »Geht wohl um die Frau vom Herrenhaus drüben. Kommen Sie lieber rein. Seine Lordschaft hat gesagt, daß Polizei in der Gegend ist.«
»Seine Lordschaft?« fragte Burden nach. Gingen die hohen Kreise, in die sie so unverhofft hineingeraten waren, in noch höhere Kreise über, zu denen sogar Adlige zählten?
»Mein Sohn, Sean«, erklärte Mrs. Lovell und holte den Inspector wieder auf den Teppich. »Kommen Sie schon. Sie können in den Salon gehen, wenn Sie möchten. Hier entlang.«
Dieses euphemistisch als Salon bezeichnete Zimmer war nicht ganz so schmutzig wie die Küche, doch auch hier roch es nach Gemüse, einer schon länger undichten Stelle in der Gasleitung und leicht nach Gin. Die Einrichtung bestand aus einer neuen und bereits verfleckten hellrosa Sitzgarnitur und einer bunten Ansammlung alter Möbelstücke und modernen Kitschs. Die Queen lächelte reserviert von einem Kalender herab, der zwischen Postern von den Rolling Stones und einem großen Ölschinken an der Wand hing, auf dem eine römische Dame zu sehen war, die sich erdolchte.
Vom Gesicht her sah sie Mrs. Lovell nicht unähnlich, doch was die Leibesfülle anging, konnte sie nicht mit ihr in Vergleich treten. Mrs. Lovells noch immer hübsches Gesicht erinnerte durch die Hakennase, die vollen, geschwungenen Lippen und die schwarzen Augen stark an eine Zigeunerin. Schwarzes, zottiges Medusenhaar fiel ihr bis auf die Schultern. Das Gesicht hatte ihre Beleibtheit nicht in Mitleidenschaft gezogen. Man hatte den Eindruck, das Fett sei bis zum Hals gekrochen, wo es zum Stillstand gekommen war, vielleicht eingeschüchtert von der in dem energischen glatten Kinn enthaltenen Drohung.
Ihr Körper war gewaltig, übte jedoch einen gewissen derben Reiz aus, da die ungeheuren Fettpolster an den richtigen Stellen saßen. Der Busen, einer archaischen Göttin würdig und einhundertfünfzig Zentimeter weit, doch mit einem erkennbaren Spalt in der Mitte, entsprach dem Umfang der riesigen Hüften. Wie Nelleke mangelte es auch Mrs. Lovell an Hemmungen, und als sie sich setzte, rutschte ihre ohnehin schon tief ausgeschnittene Bluse noch fünf Zentimeter tiefer, was mit dem Höherrutschen des knallengen schwarzen Rocks über ihre Knie einherging. In der Meinung, für diesen Nachmittag seinen Bedarf an femininer Fleischesfülle gedeckt zu haben - außerdem hätte dem Fleisch in diesem Fall ein Bad nichts geschadet -, sah Wexford zur Seite.
»Wir führen lediglich Routineermittlungen durch, Mrs. Lovell«, sagte er. »Würden Sie so freundlich sein, mir zu sagen, wie Ihr Sohn den gestrigen Abend verbracht hat?«
»Er hat seinen Tee getrunken«, erwiderte sie. »Dann saß er vorm Fernseher. Seine Lordschaft ist ganz wild aufs Fernsehen, und weshalb auch nicht, schließlich zahlt er die Gebühren.«
»Ja, weshalb auch nicht? Aber nach halb zehn hat er nicht mehr ferngesehen nicht wahr?«
Mrs. Lovell sah von Wexford zu Burden. Es war offensichtlich, daß sie überlegte, ob sie lügen oder die Wahrheit sagen solle, und wenn sie sich für letzteres entschied, so vielleicht nur, weil die Wahrheit zu sagen immer einfacher ist. Ihre ganze Erscheinung und der Zustand des Hauses ließen auf enorme Faulheit und äußerste Trägheit schließen. Auch mit Worten schien sie zu geizen. »Er ging aus«, sagte sie schließlich.
»Wohin ist er gegangen?«
»Ich hab ihn nicht gefragt. Ich mische mich nicht in seinen Kram...« Sie zupfte an einem abgekauten Daumennagel herum. »... und er mischt sich nicht in meinen. So halte ich’s schon immer. Vielleicht ist er rüber zum Schuppen gegangen. Er verbringt ziemlich viel Zeit im Schuppen.«
»Und was tut er da, Mrs. Lovell?«
»Seine Lordschaft hat dort seine Platten.«
»Aber seine Schallplatten kann er doch bestimmt auch im Haus hören, oder?« fragte Burden.
»Wenn er will, kann er das.« Mrs. Lovell kaute an einem Niednagel. »Ist mir so oder so egal. Ich misch mich nicht bei ihm ein und er nicht bei mir.«
»Um wieviel Uhr kam er zurück?«
“Ich hab ihn nicht kommen hören. Gegen sieben kam mein Freund. Sean und er vertragen sich nicht sonderlich. Deshalb hat seine Lordschaft sich wohl auch zum Schuppen begeben, schätze ich. Als mein Freund aus dem Haus ging, war er noch nicht wieder da, das muß so um halb elf gewesen sein - aber wie ich schon sagte, ich misch mich nicht bei ihm ein, und er...«
»Ja, ja, verstehe. Ich glaube, Sean hatte Mrs. Nightingale sehr gern?«
»Sie können glauben, was Sie wollen.« Mrs. Lovell gähnte herzhaft, wobei kleine spitze Zähne zum Vorschein kamen. »Leben und leben lassen, das ist meine Devise. Die vom Herrenhaus mischte sich immer gern in fremder Leute Angelegenheiten und wollte helfen. Setzte seiner Lordschaft ein paar gewaltige Flöhe ins Ohr.« Sie streckte die Arme über den Kopf, gähnte noch einmal und legte die Beine aufs Sofa. Wexford mußte an eine dicke behäbige Katze denken, die sich schnurrend das Fell leckt und nichts merkt von dem Schmutz, in dem sie lebt.
»Was für Flöhe denn?« fragte er.
“Daß er ins Showgeschäft einsteigen könne, als Sänger und so was. Ich hab nie darauf geachtet. Vielleicht hatte sie ihn gern. Ich hab nie gefragt.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir das Haus durchsuchten?«
Zum erstenmal lächelte sie und legte unvermutet ironischen Humor an den Tag. »Suchen Sie, soviel Sie wollen«, sagte sie. »Lieber Sie als ich.«
 
»Ein deprimierendes Erlebnis«, meinte Wexford, als sie zum Wagen zurückgingen. Ein ziemlich blasser Bryant folgte ihnen in einiger Entfernung.
»So etwas ist mir in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht passiert«, ereiferte sich Burden. »Mich juckt’s von oben bis unten.«Er zappelte in seinem Anzug herum und kratzte sich am Kopf.
»Ihre junge Freundin hat Sie jedenfalls gewarnt.«
Darauf ging Burden nicht ein. »Die Betten!« sagte er. »Und diese Küche!«
»Ich gebe zu, damit habe ich nicht gerechnet«, pflichtete ihm Wexford bei. »Einigermaßen sauber war nur der Schuppen. Ist doch seltsam, Mike. Ein Teppich auf dem Boden, ein paar ordentliche Sessel und ein Plattenspieler. Könnte ein Liebesnest sein.«
Burden schauderte. »Niemand wird mir je weismachen können, daß eine Dame wie Mrs. Nightingale sich dort heimlich mit ihrem Liebhaber traf.«
»Vielleicht haben Sie recht«, gab Wexford widerwillig zu. »Faktisch haben wir ja nicht viel gefunden. Ein Messingkerzenständer und eine metallene Wärmflasche. Blut war auf beiden nicht, und geputzt hat die in den letzten fünfzig Jahren weiß Gott niemand. Und die Kleidung, die ⊃seine Lordschaft⊂ ihr zufolge gestern abend angehabt hat, war fast tipptopp. Aber was hat er dann getan, Mike? Bryant hat in der Dorfkneipe nachgefragt, und dort war er nicht. Der letzte Bus fährt zwanzig nach neun von Myfleet, den kann er folglich auch nicht genommen haben. Ein Bursche wie dieser Sean Lovell zottelt doch nicht durch die Gegend, um die Schönheiten der Natur zu bewundern. Die hat er den ganzen lieben langen Tag vor Augen.«
»Niemand«, beharrte Burden hartnäckig, »kann mir weismachen, daß zwischen ihm und Mrs. Nightingale irgend etwas ablief. Seine Mutter ist doch nichts anderes als die Dorfschlampe, wenn Sie mich fragen. »Ich misch mich nicht bei ihm ein« - daß ich nicht lache. Das ist doch nur eine andere Art zu sagen, daß man sein Kind schon immer vernachlässigt hat. Mir ist klar, daß Sie mich für einen altmodischen Puritaner halten, Sir, aber ich weiß wirklich nicht, wo das mit den Frauen heutzutage noch hinführen soll. Entweder sind sie schmutzig oder unzuverlässig oder unmoralisch - oder alles in einem. Erst ist da Mrs. Nightingale, die sich das Gesicht liften läßt und heimliche Verabredungen hat, dann kommt diese junge Holländerin, die auch noch stolz auf ihr wüstes Treiben ist, und was nun Mrs. Lovell betrifft...«
»Ich dachte mir schon, daß Sie so denken«, sagte Wexford und lächelte freundlich. »Aus diesem Grund habe ich speziell für Sie etwas Hochanständiges auf dem Programm stehen. Wir statten nun einer tugendhaften Ehefrau einen Besuch ab, Mrs. Georgina Villiers, die uns - hoffentlich ohne in Ohnmacht zu fallen oder uns ihrer untröstlichen Hingabe an das selige Angedenken der Verstorbenen zu versichern - sagen wird, wer Mrs. Nightingales Freunde waren und was ihr böser Bruder eigentlich verbrochen hat, daß sie sich nicht ausstehen konnten.«
 
»Mein Mann ist noch mal zum Herrenhaus gefahren«, sagte Georgina Villiers. »Er kommt gleich wieder.«
“Wir möchten gern mit Ihnen sprechen.«
»Ach?« Mrs. Villiers wirkte überrascht und ziemlich bestürzt, als hätten nur wenige Leute je den Wunsch geäußert, speziell mit ihr zu sprechen. »Na schön.«
Sie führte sie durch eine rauhfasertapezierte Diele in ein rauhfasertapeziertes Wohnzimmer. Es war ebenso unordentlich und nichtssagend wie seine Bewohnerin, die verlegen dastand, ehe sie in dem schroffen Ton einer reizlosen Frau sagte: »Nehmen Sie Platz.«
»Wir wollen Sie nicht lange aufhalten, Mrs. Villiers. Wie hat Ihr Mann den Schock heute morgen überwunden?«
“Ach, deshalb. Es geht ihm jetzt wieder gut.« Mit einemmal merkte sie, daß ihre Besucher sich nicht setzen würden, ehe sie selbst Platz nahm, worauf sie nervös auflachend das Zimmer durchquerte und sich auf einer Sessellehne niederließ. »Du meine Güte! Die Haustür steht noch offen. Entschuldigen Sie mich, ich mache sie rasch zu.« Wexford entging nicht, daß sie für eine so dünne und schmächtige Frau sehr kraftvoll und athletisch ausschritt. Die Muskeln ihrer unbestrumpften, rötlich braunen Beine machten einen kräftigen Eindruck.
»Was möchten Sie mich also fragen?« Sie sprach in brüskem, barschem Tonfall, als sei sie zu befehlen gewohnt, jedoch nicht, daß ihren Befehlen immer Folge geleistet wurde. Hunderte von dunkelbraunen Sommersprossen sprenkelten ihre bleiche, empfindliche Haut. Sie wirkte wie Ende Zwanzig, eine Frau, die nicht wußte, wie sie sich hübsch machen sollte, sich aber dennoch Mühe gab. Die Edelweißbrosche an ihrem Blusenkragen und die Spange im Haar bewiesen, daß sie sich Mühe gab. »Mein Mann - Sie sollten wirklich lieber mit meinem Mann sprechen. Er kommt gleich wieder.« Sie warf einen hektischen Blick auf die Uhr.« Quen - mein Schwager, will ich sagen - wird ihn bestimmt nicht lange aufhalten. Wie auch immer, was wollten Sie mich denn fragen?«
»Zunächst einmal, Mrs. Villiers«, setzte Burden an, »sind Sie gestern abend nach Ihrem Besuch im Herrenhaus direkt hierher gefahren?«
»O ja.«
»Was haben Sie getan, als Sie nach Hause kamen?«
»Wir gingen zu Bett. Wir legten uns beide gleich schlafen.«
»Sind Sie in dem Wagen gefahren, der draußen steht?« warf Wexford ein.
Georgina Villiers schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr Haar nach hinten fiel und unpassende lange Ohrringe zu sehen waren. »Wir sind mit Denys’ Auto gefahren. Wir haben nämlich zwei. Als wir vor einem Jahr heirateten, hatte ich ein Auto, und er hatte auch eins. Es sind zwar ziemlich alte Kisten, aber wir fahren beide. Man bekommt nicht mehr viel für so ein Auto, wissen Sie.« Sie brachte ein strahlendes, fieberhaftes Lächeln zustande. »Er ist jetzt in seinem Wagen unterwegs.«
»Wie ich sehe, ist Ihrer gerade frisch gewaschen«, sagte Wexford in freundlichem, väterlichem Ton. »Waschen Sie Ihr Auto immer mittwochs, Mrs. Villiers? Da sind Sie wohl meiner Frau ähnlich, alles im Haushalt hat seine genau festgelegte Zeit, hm? Auf diese Weise wird nichts vergessen.«
»Nein, leider mache ich das nicht so. Ich gehe nicht sehr systematisch vor.« Verwirrt über die plötzliche Wendung des Gesprächs, blinzelte sie ihn an. »Ich sollte das eigentlich so machen, ich weiß. Denys würde es gern sehen, wenn... Weshalb fragen Sie?«
“Ich erkläre es Ihnen, Mrs. Villiers. Wenn Sie sehr systematisch vorgingen und den Haushalt immer nach Plan erledigten, hätten Sie sich daran gewöhnt, und in diesem Fall könnte ich verstehen, daß nicht einmal der gewaltsame Tod Ihrer Schwägerin Sie davon abbringen konnte, Ihrem Alltagstrott zu folgen. Aber da Sie nicht systematisch vorgehen und Ihr Auto nur dann waschen, wie ich vermute, wenn Sie Lust haben oder es dringend nötig ist, warum haben Sie sich dazu ausgerechnet den heutigen Tag ausgesucht?«
Sie wurde rot wie eine Tomate. In ihren Augen glomm Angst auf, die fast an Entsetzen grenzte, dann blinzelte sie noch einmal und krampfte die Hände zusammen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich verstehe nicht ganz.«
»Bitte regen Sie sich nicht auf. Vielleicht haben Sie das Auto gewaschen, gerade weil Sie durcheinander waren. War es so?« Sie war sehr schwer von Begriff, dachte Wexford, entweder weil sie zu verängstigt oder zu beschränkt war, um das Hintertürchen zu sehen, das er ihr offengelassen hatte. Er wurde deutlicher. “Ich nehme an, Sie waren der durchaus vernünftigen Meinung, daß Arbeit die beste Medizin ist, um unglückliche oder besorgte Menschen von ihrem Kummer abzulenken?«
Mit sichtlicher Erleichterung nickte sie schließlich. »Ja, genau so war es.« Im nächsten Augenblick verspielte sie den leichten Vorteil wieder, den sie durch ihre Zustimmung gewonnen hatte. »Ich war nicht sehr durcheinander, nein, eigentlich nicht. Es handelte sich schließlich nicht um meine Schwester.«
»Das ist richtig«, sagte Wexford. Er rückte mit dem Stuhl näher an sie heran, und ihre Blicke trafen sich; wie ein vom Scheinwerferlicht gebannter Hase sah sie ihm in die Augen. Plötzlich existierte Burden nicht mehr, die beiden waren allein. »Sie war natürlich die Schwester Ihres Mannes, nur eine Schwägerin.« Ein mürrischer und verschlossener Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Sie mochten sich wohl nicht sonderlich?«
»Nein.« Einen kurzen Moment zögerte sie und rutschte wie unwillkürlich von der Lehne in den Sessel, ohne dabei jedoch den Blick von Wexfords Gesicht abzuwenden. »Sie kamen gar nicht gut miteinander aus. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, Denys konnte sie nicht ausstehen.«
»Merkwürdig, Mrs. Nightingale schien doch sonst mit allen auszukommen.«
»Glauben Sie? Ach, Sie meinen mit den Leuten hier in der Gegend.« Sie seufzte tief und leise, dann fuhr sie rasch mit tonloser Stimme fort: »Wirkliche Freunde hatte Elizabeth keine. Mein Mann glaubt, sie sei von einem Verrückten umgebracht worden, so einem Triebtäter, der Frauen anfällt. So wird es wohl gewesen sein. Sie muß den Verstand verloren haben, nachts allein in den Wald zu gehen. Sie hat es ja förmlich herausgefordert.«
»Möglich«, sagte Wexford. Er lächelte jovial, um eine entspanntere Atmosphäre zu schaffen. Georgina Villiers war nun ruhiger. Sie ließ ihre Hände los, atmete flach und blickte nach unten. »Wissen Sie, weshalb Ihr Mann nicht mit seiner Schwester auskam?
»Sie hatten eben gar nichts gemeinsam.«
Und was, fragte sich Wexford, hat eine begriffsstutzige und spießige Frau wie du mit einem Intellektuellen wie Villiers gemeinsam, einem Lehrer für klassische Philologie, einer Kapazität als Wordsworth-Forscher?
»Ich glaube, er hielt sie für ziemlich dumm und verschwenderisch.«
»War sie das denn, Mrs. Villiers?«
»Jedenfalls hatte sie eine Menge Geld, nicht? Es gab keinen anderen Grund für ihn, sie nicht zu mögen, falls Sie das meinen. Sie und Quen waren im Grunde sehr unkomplizierte Menschen. Natürlich nicht die Art Menschen, mit denen ich früher Umgang pflegte. Vor meiner Heirat hatte ich mit solchen Leuten keinen Kontakt.«
»Sind Sie gut mit ihnen ausgekommen?«
»Quen ist immer sehr nett gewesen.« Georgina Villiers drehte an ihrem Ehering und schob ihn am Finger auf und ab. »Wissen Sie, er mochte mich meinem Mann zuliebe. Er und mein Mann sind wirklich gute Freunde.« Sie senkte den Blick und biß sich nervös auf die Unterlippe. »Ich glaube aber, daß er mich mit der Zeit um meiner selbst willen mochte. Aber egal«, fügte sie plötzlich in schrillem und ärgerlichem Ton hinzu. »Weshalb sollte ich mir daraus etwas machen? Für einen Mann sollte an erster Stelle seine Frau stehen. Er sollte mehr auf sie als auf Außenstehende geben und seiner Arbeit nicht in fremder Leute Häuser nachgehen.«
»Waren Sie der Meinung, daß Mr. Nightingale zuviel Einfluß auf Ihren Mann ausübte?«
»Ich mag nicht, wenn sich Fremde in anderer Leute Angelegenheit einmischen.« Georgina zog an ihren Ohrringen und lockerte an einem die Schraube. »Ich war Sportlehrerin«, sagte sie stolz, »bevor ich heiratete, dann habe ich meinen Beruf an den Nagel gehängt. Finden Sie nicht auch, daß eine Frau zu Hause bleiben und sich um ihren Mann kümmern sollte? Das ist das beste für Leute wie uns, ein schönes Heim und eine Familie haben ohne große anderweitige Interessen.«
Wexford warf Burden, der beifällig nickte, einen mißbilligenden Blick zu und sagte: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein wenig umschauen?«
Georgina zögerte, dann schüttelte sie mit dem Kopf.
Der Bungalow verfügte über ein weiteres Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer, von denen das kleinere unmöbliert war und keinen Teppichboden hatte.
»Ich frage mich, was er wohl mit seinem Geld anfängt«, flüsterte Wexford. »Er hat einen guten Job und schreibt diese Bücher.«
Burden zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er verschwenderisch wie seine Schwester. Aber er wird sich ändern. Er hat eine gute Frau.«
»O mein Gott!«
Während er die spärlich gefüllten Schränke durchsuchte, erwiderte Burden zugeknöpft: »Jedenfalls habe ich es zur Abwechslung ganz angenehm gefunden, mal mit einer einfachen, anständigen Frau zu sprechen.«
»Einfach und anständig mag sie ja sein. Dumm genug ist sie weiß Gott dazu. Hier ist nichts, kein Blut, auch nichts, das als Waffe in Frage käme.« Als nächstes nahmen sie sich die Küche vor, wo Wexford den Deckel des altmodischen Kohleboilers hochhob. “Lodert fröhlich vor sich hin«, sagte er. »In so einem Ding läßt sich praktisch alles verbrennen, und sie hatte stundenlang Zeit dazu.«
Georgina wartete im Wohnzimmer auf sie, saß apathisch in einem Sessel und starrte die Wand an.
»Ich weiß einfach nicht, wo mein Mann so lang bleibt. Man sollte doch meinen, er würde hier bei mir sein wollen. Man sollte...« Sie erstarrte und horchte konzentriert. »Jetzt kommt er.«
Sie sprang aus dem Sessel auf, stürmte in die Diele und warf hinter sich die Tür zu. Während er mit halbem Ohr der geflüsterten Unterhaltung zwischem dem Ehepaar folgte, sagte Burden: »Sie ist das reinste Nervenbündel. Fast könnte man glauben, sie hätte damit gerechnet, daß wir etwas finden. Ich frage mich, ob...«
»Psst!« machte Wexford.
Denys Villiers trat in das Zimmer und sprach über die Schulter hinweg mit seiner Frau. »Ich kann mich nicht zerreißen, Georgina. Quen ist ziemlich elend dran. Als ich ging, war Lionel Marriott bei ihm.«
Burdens Blick begegnete Wexfords. Der Chief Inspector stand auf und zog angenehm überrascht die Augenbrauen hoch.
»Habe ich richtig gehört, Sie sprachen von Lionel Marriott?«
»Falls Sie zugehört haben, ja«, erwiderte Villiers schroff. Er sah immer noch wesentlich älter als achtunddreißig aus, jedoch nicht ganz so krank wie am Morgen. »Wieso, kennen Sie ihn?«
»Er ist Lehrer an der gleichen Schule wie Sie«, sagte Wexford. »Um die Wahrheit zu sagen, sein Neffe ist mit meiner ältesten Tochter verheiratet.«
Villiers maß ihn mit beleidigendem Blick. »Bemerkenswert«, sagte er, und sein Ton ließ keinen Zweifel daran, daß Marriott, ein gebildeter Mann und Kollege von ihm, sich in seinen Augen durch die Verbindung mit der Familie des Chief Inspectors entschieden verschlechtert hatte.
Wexford schluckte seinen Zorn hinunter. »Ist er ein Freund Ihres Schwagers?«
»Von Zeit zu Zeit läßt er sich im Herrenhaus blicken.« Gefühllos befreite Villiers seinen Arm aus dem Klammergriff seiner Frau und ließ sich in einen Sessel plumpsen. Aus Verzweiflung oder vielleicht nur aus schlichter Erschöpfung schloß er die Augen. »Ich will einen Drink«, sagte er, und als Georgina sich mit baumelnden Ohrringen über ihn lehnte, setzte er hinzu: »Irgendwo muß noch eine Flasche Gin sein. Geh und hol sie bitte.«
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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