11
Der Regen hatte aufgehört, und dichter Dunst lag über der Landschaft. Schwere Tropfen fielen regelmäßig und dumpf von den Ästen, so daß man den Eindruck hatte, es regnete noch immer. Burden bog in die Fontaine Road ein und wendete sofort wieder. Daß man seinen Wagen nachts vor ihrem Haus sehen könnte, war ihm plötzlich gar nicht recht. Die ganze Straße würde auf Beobachtungsposten sein, bereit, Gerüchte zu verbreiten und Klatschgeschichten zu erzählen.
Schließlich parkte er am Ende der Chiltern Avenue. Ein Fußweg entlang des Spielplatzes verband die Sackgasse mit der benachbarten Fontaine Road. Burden ließ das Auto unter einer Straßenlaterne stehen, deren Lichtschein vom Nebel zu einem schwachen Strahlenkranz gedämpft wurde, und ging langsam auf den Weg zu. Heute abend sah der Eingang wie die Öffnung zu einem dunklen Tunnel aus. In den umliegenden Häusern brannte nirgends Licht, und kein Laut war in der Dunkelheit zu hören, nur das Tropfen des Wassers.
Er ging zwischen Büschen weiter, deren nasse Zweige ihm übers Gesicht streiften und sanft an seinen Kleidern zerrten. Auf halbem Weg fand er die Taschenlampe, die er immer bei sich hatte, und knipste sie an. Und dann, als er gerade an der Stelle angelangt war, wo ein Törchen von Mrs. Mitchells Grundstück auf den Weg führte, hörte er hinter sich jemanden rennen. Er fuhr herum, und der Strahl seiner Taschenlampe erfaßte ein weißes Gesicht, umrahmt von fliegenden, nassen Haaren.
»Was ist denn los? Was ist passiert?«
Das Mädchen mußte ihn erkannt haben, denn sie warf sich ihm fast in die Arme. Er erkannte sie auch. Es war Mrs. Crantocks Tochter, ein Mädchen von vielleicht vierzehn.
»Hat dich was erschreckt?« fragte er.
»Ein Mann«, keuchte sie. »An einem Auto. Er hat mich angesprochen. Ich hab die Panik gekriegt.«
»Du solltest nachts nicht allein draußen rumlaufen.« Er geleitete sie bis zu Fontaine Road, dann überlegte er es sich anders. »Komm mit«, sagte er. Sie zögerte. »Wenn ich dabei bin, passiert dir nichts.«
Zurück durch den schwarzen Tunnel. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Er hob seine Taschenlampe und richtete den Strahl wie einen Suchscheinwerfer auf die Gestalt eines Mannes, der neben der Kühlerhaube von Burdens geparktem Wagen stand. Der Dufflecoat mit hochgeschlagener Kapuze ließ ihn unheimlich genug aussehen, um jedes Kind in Angst und Schrecken zu versetzen.
»Oh, es ist Mr. Rushworth.« Sie klang beschämt.
Burden hatte den Mann bereits erkannt und merkte, daß auch er erkannt worden war. Mit zusammengezogenen Brauen ging er auf den Ehemann der Frau zu, die Mrs. Mitchells Warnung nicht an die Polizei weitergegeben hatte.
»Sie haben der jungen Dame hier einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Rushworth blinzelte im Schein der Taschenlampe. “Ich habe ‘Hallo’ zu ihr gesagt und noch etwas über das gräßliche Wetter. Sie ist davongesaust, als seien alle Teufel der Hölle hinter ihr her. Der Himmel weiß, warum. Sie kennt mich zumindest vom Sehen.«
»jeder hier ist zur Zeit ein bißchen nervös, Sir«, sagte Burden. »Es ist klüger, Leute, die man nicht richtig kennt, gar nicht anzusprechen. Gute Nacht.«
»Wahrscheinlich hat er seinen Hund ausgeführt«, sagte das Mädchen, als sie wieder in der Fontaine Road standen. “Ich habe seinen Hund aber nicht gesehen. Sie?«
Burden hatte keinen Hund bemerkt. »Du solltest um diese Zeit abends nicht mehr allein rausgehen.«
“Ich war drüben bei Freunden. Wir haben Platten gehört. Der Vater meiner Freundin wollte mich nach Hause bringen, aber ich hab ihn nicht gelassen. Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß. Mir konnte gar nichts passieren.«
»Ist aber doch. Zumindest dachtest du es.«
Sie grübelte schweigend darüber. Dann sagte sie: »Gehen Sie zu Mrs. Lawrence?«
Burden nickte, und als ihm bewußt wurde, daß sie es ja nicht sehen konnte, sagte er kurz: »Ja.«
»Sie ist in einem schrecklichen Zustand. Mein Vater sagt, es würde ihn nicht wundern, wenn sie was Dummes macht.«
»Was soll das heißen?«
»Na, Sie wissen schon, Selbstmord. Ich habe sie nach der Schule im Supermarkt gesehen. Sie hat einfach mitten im Laden gestanden und geweint.« Und als eine echte Tochter der Bourgeoisie fügte sie mit mißbilligendem Unterton hinzu: »Alle haben sie angestarrt.«
Burden öffnete das Gartentor der Crantocks. »Gute Nacht«, sagte er. »Und geh nicht mehr allein im Dunkeln aus.«
In Gemmas Haus brannte kein Licht, und die Eingangstür war ausnahmsweise nicht offen. Höchstwahrscheinlich hatte sie eine von Dr. Lomax’ Schlaftabletten genommen und war zu Bett gegangen. Angestrengt starrte er durch die Buntglasscheiben und machte einen schwachen Lichtschimmer aus, der von der Küche kommen mußte. Sie war also noch auf. Er klingelte.
Als der Lichtschein nicht heller wurde und sie nicht kam, klingelte er wieder und klopfte dann mit dem Löwenkopf. Hinter ihm tropfte es unablässig von den vernachlässigten Bäumen. Ihm fiel ein, was Martin über ihr Trinken gesagt hatte, dann die Äußerungen der Crantock-Tochter, und nach einem weiteren vergeblichen Klingeln ging er zum Hintereingang. Der Pfad war beinah so verwuchert wie die Wege in den Gärten von Saltram House. Er stieß nasse Holunderzweige und glitschige Schlingpflanzen beiseite, die sein Haar und seinen Regenmantel durchnäßten. Seine Hände waren so naß, daß er kaum den Griff der Hintertür drehen konnte, aber die Tür war nicht abgeschlossen, und schließlich bekam er sie auf. Sie lag halb auf dem Küchentisch, den Kopf auf die ausgestreckten Arme gelegt, vor ihr stand eine ungeöffnete Flasche mit der Aufschrift: ‘Chiantitype wine, Produce of Spain. Angebot der Woche, 30% reduziert.’ Er ging langsam zu ihr hin und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Gemma...«
Sie sagte nichts. Sie bewegte sich nicht. Er zog einen Stuhl heran, ganz dicht an ihren, und nahm sie sanft in die Arme. Sie lehnte sich widerstandslos gegen ihn, ihr Atem ging flach und rasch, und Burden vergaß all seine Leiden der vergangenen Woche, seinen Kampf gegen die Versuchung, in einem überwältigenden, egoistischen Glücksgefühl. So könnte er sie für immer halten, dachte er, warm und wortlos, ohne Leidenschaft oder Begierde, und ohne daß sich etwas ändern müßte.
Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war fast nicht wiederzuerkennen, so verschwollen war es vom Weinen. »Du bist nicht gekommen«, sagte sie. »Tag für Tag habe ich auf dich gewartet, und du bist nicht gekommen.« Ihre Stimme klang erstickt und fremd. »Warum nicht?«
“Ich weiß es nicht.« Das stimmte. Er wußte es wirklich nicht, denn jetzt erschien ihm sein Widerstand wie der Gipfel grundloser Torheit.
»Dein Haar ist ganz naß.« Sie berührte sein Haar und die Regentropfen auf seinem Gesicht. »Ich bin nicht betrunken«, sagte sie, »aber ich war’s. Dies Zeug ist ziemlich eklig, aber es betäubt einen für ein Weilchen. Heute nachmittag wollte ich was zu essen kaufen - ich habe seit Tagen nichts gegessen -, aber ich habe nichts gekauft, ich konnte einfach nicht. Als ich zum Süßigkeitenregal kam, mußte ich immerzu an John denken, wie er bettelte, ich sollte ihm Schokolade kaufen, und ich hab’s nicht getan, weil es schlecht für die Zähne ist. Und ich wünschte, ich hätte ihm alles gekauft, was er wollte, denn jetzt wäre es ja sowieso egal, oder?«
Sie starrte ihn mit leerem Gesicht an, und die Tränen liefen ihr über die Wangen.
»So was darfst du nicht sagen.«
»Warum nicht? Er ist tot. Du weißt, daß er tot ist. Ich muß immer daran denken, wie ich manchmal böse auf ihn war und ihn geschlagen habe und ihm nicht die Leckereien gekauft habe, die er wollte... O Mike! Was soll ich nur tun? Soll ich diesen Wein trinken und den Rest von Dr. Lomax’ Tabletten nehmen? Oder soll ich in den Regen rausgehen und einfach laufen und laufen, bis ich sterbe? Was hat das Leben noch für einen Sinn? Ich habe niemanden, niemanden.«
»Du hast mich«, sagte Burden.
Statt einer Antwort klammerte sie sich erneut an ihn, doch diesmal heftiger. “Verlaß mich nicht. Versprich mir, daß du mich nicht verläßt.«
»Du solltest ins Bett gehen.., sagte er und wurde sich dabei der traurigen Ironie seiner Worte bewußt. Hatte er nicht genau das vorgehabt, als er seinen Wagen in der nächsten Straße abstellte? Daß er und sie zusammen ins Bett gehen sollten? Er hatte sich tatsächlich vorgestellt, daß diese halbwahnsinnige, leiderfüllte Frau sein Liebesangebot willkommen heißen würde. Du Idiot, flüsterte er sich scharf an. Doch es gelang ihm, ruhig zu sagen: »Geh ins Bett. Ich mache dir was Heißes zu trinken, du kannst eine Tablette nehmen, und ich bleibe bei dir sitzen, bis du einschläfst.«
Sie nickte. Er trocknete ihr das Gesicht mit einem Taschentuch, das Grace ebenso sorgsam gebügelt hatte wie Rosalind Swan die Hemden ihres Mannes.« Verlaß mich nicht«, sagte sie noch einmal, dann ging sie mit schleppenden Schritten nach oben.
Die Küche war in einer grauenvollen Unordnung. Seit Tagen war nichts abgewaschen oder weggeräumt worden, und es roch süßlich und abgestanden. Er fand Kakao und Trokkenmilch, und mit diesen unzulänglichen Zutaten versuchte er sein Bestes, mixte sie zusammen und erhitzte sie auf einer Herdplatte, die schwarz von eingebranntem Fett war.
Sie saß aufrecht im Bett, das schwarz-goldene Tuch um die Schultern, und jene magische, exotische Ausstrahlung, zusammengesetzt aus Farbe und Fremdartigkeit und Unbefangenheit, war bis zu einem gewissen Grad zurückgekehrt. Ihr Gesicht war wieder gefaßt, die riesigen, stillen Augen weit aufgerissen. Das Zimmer war unaufgeräumt, sogar chaotisch, doch es war ein überwältigend weibliches Chaos, die verstreuten Kleidungsstücke strömten vermischte, süße Düfte aus.
Er schüttelte eine Schlaftablette aus der Flasche und gab sie ihr mit dem Getränk. Sie lächelte ihn schwach an, nahm seine Hand, hob sie erst an ihre Lippen und hielt sie dann fest.
»Du wirst dich nie mehr so von mir fernhalten?«
»Ich bin ein armseliger Ersatz, Gemma«, sagte er.
»Ich brauche«, sagte sie leise, »eine andere Art von Liebe, um vergessen zu können.«
Er ahnte, was sie meinte, wußte aber nicht, was er antworten sollte, so saß er schweigend bei ihr und hielt ihre Hand, bis sie endlich erschlaffte und ihr Oberkörper in die Kissen sank. Er löschte die Nachttischlampe und streckte sich neben ihr aus, aber auf der Decke. Kurz darauf merkte er an ihren regelmäßigen Atemzügen, daß sie schlief.
Das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr zeigte halb elf. Es kam ihm viel später vor, als sei ein ganzes Leben vergangen, seit er Grace zu Hause hatte sitzenlassen und durch den feuchten, regenerfüllten Dunst hierher gefahren war. Es war kühl im Zimmer, die Luft parfümgeschwängert, muffig und kalt. Ihre Hand lag lose in der seinen. Er zog die Hand weg und schob sich übers Bett, um aufzustehen und zu gehen.
Wachsam, selbst im Schlaf, murmelte sie: »Verlaß mich nicht, Mike.« Obgleich völlig schlaftrunken, lag in ihrer Stimme ein Unterton von Entsetzen, von Grauen, sie könnte erneut allein gelassen werden.
»Ich lasse dich nicht allein.« Er faßte seinen Entschluß rasch und entschieden. “Ich bleibe die ganze Nacht.«
Zitternd entledigte er sich seiner Kleider und legte sich neben sie ins Bett. Es schien ganz natürlich, so zu liegen, wie er mit Jean gelegen hatte, sein Körper an ihren geschmiegt, sein linker Arm um ihre Taille, seine Hand auf der ihren, die wiederum besitzergreifend und fordernd zufaßte. Obwohl sein Körper ihm selbst so kalt vorkam, erschien er ihr offenbar warm, denn sie seufzte zufrieden auf und ließ sich entspannt gegen ihn sinken.
Er dachte, er würde überhaupt nicht einschlafen, oder wenn doch, sofort einen seiner schrecklichen Träume haben. Aber so, wie sie da Seite an Seite lagen, war er es in seinen glücklichen Jahren gewohnt gewesen, und eben das hatte er im vergangenen, unglücklichen so bitter vermißt. Es weckte Begierde, doch gleichzeitig lullte es ihn ein. Und während er sich noch fragte, wie er diese andauernde Enthaltsamkeit ertragen konnte, schlief er ein.
 
Es begann eben hell zu werden, als er erwachte und die andere Hälfte des Bettes leer, aber noch warm, vorfand. Sie saß in ihr Tuch gewickelt am Fenster, auf dem Schoß ein aufgeschlagenes Album mit Messingverschlüssen. Wahrscheinlich sah sie sich im ersten Licht der Morgendämmerung Bilder ihres Sohnes an. Mächtige, schwarze Eifersucht überkam ihn.
Er beobachtete sie, lange, wie ihm vorkam, und haßte dabei beinah das Kind, das zwischen sie trat und seine Mutter mit gespenstisch zarter Hand wegzog. Langsam blätterte sie die Seiten um, hielt manchmal inne, um mit leidenschaftlicher Inbrunst darauf zu starren. Ein, wie er wußte, völlig ungerechter Unmut ließ ihn wünschen, sie möge herüberschauen, das Kind vergessen und an den Mann denken, der sich danach sehnte, ihr Liebhaber zu sein.
Endlich hob sie den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Sie sagte nichts, und Burden schwieg ebenfalls, denn er wußte, daß er nur grausame, unverzeihliche Dinge hervorstoßen würde, wenn er etwas sagte. Sie schauten einander in dem blassen grauen Licht des Morgens an, dann stand sie leise auf und zog die Vorhänge zu. Sie waren aus Brokat, und obgleich alt und fadenscheinig, hatten sie ihr tiefes Pflaumenblau bewahrt; so gefiltert, nahm das Licht im Raum eine purpurne Färbung an. Sie ließ ihr Tuch fallen und stand still im farbigen Schattenlicht, damit er sie anschauen konnte.
Ihr rotes Haar schien die Purpurfarbe ebenfalls angenommen zu haben, doch ihr Körper wurde davon kaum berührt, er war von blendendem Weiß. So etwas wie Staunen erfüllte ihn bei ihrem Anblick, und für den Moment war er damit zufrieden, nichts weiter zu tun, als zu schauen. Diese elfenbeinerne Frau, still und nun lächelnd, war alles andere als das laszive Geschöpf aus seinen Träumen, noch ähnelte sie der verzweifelten und erschöpften Kreatur, die er in den Schlaf getröstet hatte. Seine eifersüchtigen Gedanken um das Kind waren fast verflogen, und auch sie, so glaubte er, dachte nicht mehr daran. Kaum vorstellbar, daß dieser exquisite, straffe Körper überhaupt je ein Kind geboren hatte.
Nur ein kleiner, bohrender Zweifel blieb.
»Nicht aus Dankbarkeit, Gemma«, sagte er. »Nicht, um mich zu belohnen.«
Da bewegte sie sich und kam zu ihm. »Daran habe ich überhaupt nie gedacht. Das wäre Betrug.«
»Um zu vergessen dann? Ist es das, was du möchtest?«
»Hat nicht jede Liebe mit Vergessen zu tun?« sagte sie. »Ist es nicht immer eine wunderbare Flucht aus dem - dem Hassenswerten?«
»Ich weiß es nicht.« Er streckte die Arme nach ihr aus. »Es ist mir egal.« Scharf sog er die Luft ein, als er sie an sich fühlte, Schlankheit hier und dort die schwellende Fülle, und atemlos sagte er: »Ich werde dir weh tun. Ich kann nichts dafür, es ist so lange her für mich.«
»Und für mich«, sagte sie, »wird es wie das erste Mal sein. Oh, Mike, küß mich, mach mich glücklich. Mach mich für ein kleines Weilchen glücklich...«
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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