7
Sonntag, der Morgen, an dem er ausschlafen sollte. Er hatte eine entsetzliche Nacht hinter sich, erfüllt von so widerwärtigen Träumen, daß er sie - hätte er in einem der psychologischen Werke darüber gelesen, die Sorte, von denen Grace ständig faselte - ohne weiteres als Produkt eines kranken, pervertierten Gehirns anerkannt hätte. Schon der Gedanke daran ließ ihn vor Scham schaudern.
Wenn man in der Morgendämmerung schlaflos im Bett liegt, muß man denken. Aber woran? An Jean, die für immer fort war? An die Träume, die Fragen aufwarfen, ob man in seinem Inneren genauso schlecht war wie jene örtlichen Abartigen? Gemma Lawrence? Was war er doch für ein Idiot gewesen, sie zu küssen, überhaupt da im Dunkel mit ihr sitzen zu bleiben, sich hineinverwickeln zu lassen!
Rasch stand er auf. Es war erst halb acht, als er in die Küche kam, und niemand sonst war auf den Beinen. Er brühte eine Kanne Tee und brachte jedem eine Tasse ans Bett. Wieder ein schöner, klarer Tag.
Grace setzte sich im Bett auf und nahm ihm die Teetasse ab. Ihr Nachthemd sah genau aus wie das von Jean. Ihr Morgengesicht war ein bißchen verquollen vom Schlaf, verträumt und vage, genau wie es Jeans immer gewesen war. Er haßte sie.
»Ich muß weg«, sagte er. »Arbeit.«
»Ich habe das Telefon gar nicht gehört«, sagte Grace.
»Du hast noch geschlafen.«
Seine Kinder rührten sich nicht, als er die Teetassen neben ihre Betten stellte. Beide hatten einen festen Schlaf, und es war nur natürlich. Burden wußte all das, aber es kam ihm vor, als liebten sie ihn nicht mehr. Ihre Mutter war tot, doch sie hatten einen Mutterersatz, ein Mutterfaksimile. Ihnen war es ganz gleich, ob ihr Vater da war oder nicht.
Er holte seinen Wagen heraus und fuhr los, doch er hatte keine klare Vorstellung, wohin er eigentlich wollte. Vielleicht in den Cheriton Forest, um irgendwo zu sitzen und zu grübeln und sich selbst zu quälen. Doch statt die Pomfret Road zu fahren, fand er sich plötzlich auf dem Weg nach Stowerton. Alles, was er an Selbstdisziplin übrig hatte, brauchte er, um nicht zur Fontaine Road zu fahren, aber er beherrschte sich und bog statt dessen in die Mill Lane ein.
Hier war der rote Jaguar gesehen worden. Hinter diesen Bäumen war der junge Mann mit den zierlichen Händen blättersammelnd herumgeschlendert. Bestand eine Verbindung zwischen dem Auto und dem Jugendlichen? Und war es möglich in dieser zynischen und grausamen Welt, daß der Blättersammler Kaninchen hielt - vielleicht hatte er die Blätter für seine Kaninchen gesammelt - und ein Kind nur aus Freude an der Gesellschaft brauchte, aus Freude am Anblick eines kleinen, glücklichen Gesichts, wenn eine begeisterte kleine Hand über dickes, weiches Fell streichelte?
An solch einem Morgen erschien selbst eine so unwahrscheinliche, märchenhafte Vorstellung denkbar. In der Ferne hörte er die Glocken von St. Jude in Forby zur Frühmesse läuten. Er wußte jetzt, wo er hinwollte. Er durchfuhr eine Biegung der Straße, und unvermittelt und prächtig kam Saltram House in Sicht.
Wenn man es aus dieser Entfernung betrachtete, wie es stolz auf dem Hügel stand, wäre man wohl nie auf die Idee gekommen, daß die Fenster dort nicht verglast und die Räume nicht bewohnt waren, sondern daß dieses große Steingebäude nur eine leere Hülle war, das Skelett des früheren Hauses, wenn man so wollte. In der Morgensonne sah es grau-golden aus, ein palastähnlicher Bau aus dem späten achtzehnten Jahrhundert, und in seinen herrlichen Proportionen schien es das darunterliegende Tal gleichzeitig lächelnd und mißbilligend zu betrachten.
Die Geschichte seiner Zerstörung vor nunmehr fünfzig Jahren kannte jeder in Kingsmarkham. Es war während des ersten Weltkrieges passiert. Der damalige Besitzer des Hauses, dessen Name inzwischen vergessen war, hatte ein Fest gegeben, und seine Gäste waren auf ein flaches Stück des Daches hinausgegangen, um einen Zeppelin vorbeiziehen zu sehen. Einer hatte einen Zigarrenstummel über den Rand des Daches geworfen, und der hatte die Büsche darunter in Brand gesetzt. Nichts war mehr hinter diesen exquisit proportionierten kahlen Fensteröffnungen, nichts außer Bäumen und Büschen, die in dem ausgebrannten Gemäuer hochgewachsen waren und nun ihre Zweige ausbreiteten, wo einst Damen in Pariser Roben wandelten, sich die Gemälde anschauten und mit ihren Fächern fächelten. Er ließ den Wagen wieder an und fuhr langsam zu dem schmiedeeisernen Tor hinauf, wo die Auffahrt zu Saltram House begann. Links drüben stand ein kleines weißes, eingeschossiges Haus mit Strohdach. Im Garten sammelte eine Frau Pilze vom Rasen. Mrs. Fenn, mutmaßte er. Damals, als er und Jean zu Picknicks herkamen, hatte sie nicht hier gewohnt. Das Häuschen hatte jahrelang leergestanden.
Natürlich war das gesamte Anwesen hier im Februar gründlich abgesucht worden, und auch wieder am Donnerstag abend und Freitag. Aber kannten die Suchmannschaften das Gelände so gut wie er? Kannten sie die geheimen Plätzchen ebenso wie er?
Burden öffnete die Torflügel, und sie quietschten dumpf in ihren Angeln.
 
Wexford und sein Freund Dr. Crocker, der Polizeiarzt, spielten gelegentlich am Sonntag vormittag zusammen Golf. Die beiden waren seit ihrer Kindheit befreundet, obgleich Wexford sieben Jahre älter war. Der Doktor, ein drahtiger, lebhafter Mann, wirkte von weitem ziemlich jung, wohingegen Wexford, ein Riese von einem Mann mit gefährlich hohem Blutdruck, vierschrötig und ungesund aussah.
Aufgrund dieser Hypertonie hatte Crocker die sonntäglichen Golfvormittage vorgeschlagen und eine rigorose Diät verordnet. Seiner Diät wurde Wexford durchschnittlich zweimal die Woche untreu, doch gegen Golf hatte er grundsätzlich nichts einzuwenden, obwohl er ein schändliches Handicap von um die 36 hatte. Doch er kam auf diese Weise um den Kirchgang mit seiner Frau herum.
»Du würdest nicht zufällig einen kleinen Schluck mit trinken?« fragte er sehnsüchtig in der Bar des Clubhauses.
»Um diese Zeit?« sagte Crocker, der Disziplinierte.
»Auf die Wirkung kommt es an, nicht auf die Stunde.«
»Wenn ich nicht den besten Blutdruckmesser der Welt hätte«, sagte der Doktor, »dann wäre er letztes Mal geplatzt, als ich deinen Blutdruck gemessen habe. Ohne Flachs, der wäre aus lauter Verzweiflung übergeschnappt. Du würdest ja auch kein Thermometer unter heißes Wasser halten, oder? Du brauchst keinen Alkohol, sondern ein paar kräftige Schwünge unter dem Adlerauge des Profis.«
»Das bitte nicht«, flehte Wexford. »Alles, nur das nicht.« Sie gingen zum ersten Abschlag. Mit undurchdringlicher Miene sah Crocker zu, wie sein Freund in seiner Golftasche herumfummelte, und reichte ihm dann wortlos ein Fünfereisen.
Wexford schlug. Der Ball verschwand, doch ganz und gar nicht in Richtung aufs erste Loch. »Es ist wirklich verdammt unfair«, meinte er. »Du hast dieser lächerlichen Freizeitbeschäftigung zeit deines Lebens gefrönt, und ich bin nur ein Anfänger. Ich kriege einen ganz schönen Minderwertigkeitskomplex dabei. Wie wär’s, wenn wir noch jemanden dazuholten, Mike Burden zum Beispiel...«
»Würde ihm guttun, meiner Ansicht nach.«
»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagte Wexford, froh über die Unterbrechung, bevor er zusehen mußte, wie der Doktor einen seiner perfekten Schläge landete. »Manchmal frage ich mich, ob er nicht auf einen Nervenzusammenbruch zusteuert.«
»Andere Männer verlieren auch ihre Frauen. Sie kommen drüber weg. Weißt du was? Mike wird seine Schwägerin heiraten. Es liegt doch auf der Hand. Sie sieht aus wie Jean, sie ist wie Jean. Mike kann sie heiraten und beinah monogam bleiben dabei. Aber genug davon. Wir waren gekommen, um Golf zu spielen, erinnerst du dich?«
»Ich darf nicht zu weit vom Clubhaus weggehen. Kann sein, daß man mich jeden Moment erreichen muß, wenn sich irgendwas mit diesem vermißten Jungen ergibt.«
Wexford meinte das nicht als Entschuldigung, sondern es war echte Besorgnis seinerseits, doch er hatte beim Golf schon zu oft solche Ausflüchte benutzt. Der Doktor grinste teuflisch. »Dann sollen sie kommen und dich holen. Einige Mitglieder dieses Clubs können tatsächlich rennen, weißt du. Jetzt, paß gut auf.« Er nahm seinen eigenen schlagerfahrenen Fünfer und schlug mit wunderbarer Präzision. »Auf dem Grün, nehme ich an«, meinte er befriedigt.
Wexford nahm seine Tasche auf, seufzte und schlenderte dann tapfer den Fairway hinauf. Inbrünstig, doch verhalten murmelte er hinter dem Rücken des Doktors: »Du sollst nicht töten, nein, doch mühen sollst dich nicht, lebend zu lassen einen solchen Wicht.«
 
Die Seite des Hauses, die der Straße zugewandt war und vor der Burden jetzt seinen Wagen parkte, war eigentlich die Rückseite oder genauer gesagt die Gartenseite. Aus dieser Nähe gab es keinen Zweifel, daß Saltram House nur noch eine leere Hülse war. Er ging zu einem der Fenster hin und starrte in die stille, dämmrige und schweigende Tiefe. Holunder und junge Eichen - denn wie alt ist eine ausgewachsene Eiche? - hoben ihr Geäst aus Sand und Trümmern. Die Narben des Feuers waren längst verheilt, die Schwärze weggewaschen in fünfzig regnerischen Wintern. Die Blätter leuchteten goldfarben und grellgelb, sie lagen zu Tausenden auf zerborstenem Stein und Schutt. Das Haus hatte schon so ausgesehen, als Jean und er zuerst hergekommen waren, mit dem einzigen Unterschied, daß die Bäume höher und die Natur zügelloser und arroganter in ihrer Vereinnahmung geworden war, und doch schien es ihm, als sei die Zerstörung persönlicher Natur, Symbol seiner eigenen.
Er las nie Gedichte. Er las überhaupt selten. Aber wie viele Leute, die nicht lesen, hatte er ein gutes Gedächtnis, und manchmal fiel ihm unvermittelt eines von Wexfords Zitaten ein. Unsicher und verwundert flüsterte er:
»Wenn ich dies Wandelleben überseh
Ja, Leben selbst zum Untergang getrieben
Kam unter Trümmern mir dies Grübeln nah:
Einst kommt auch Zeit und fordert deinen Lieben...«
Er wußte nicht, wer das gesagt hatte, doch auf jeden Fall war es einer, der Bescheid wußte. Er wandte sich ab. Hier kam man nicht hinein. Man ging durch den Vordereingang, nachdem man zuerst das, was einmal ein ‘Italienischer Garten’ gewesen war, durchklettert hatte.
Rechts und links von ihm erstreckte sich ein sanft abfallender, vernachlässigter Park. Wem wohl das Land gehörte? Weshalb bearbeitete es niemand? Er wußte die Antworten nicht, nur, daß dies hier ein ruhiger und schöner Dschungel war, wo das Gras hoch und wild wuchs und die Bäume von der Natur, nicht vom Menschen, gepflanzt waren, Zedern und Ilex, und der hohe, schlanke Gingkobaum der chinesischen Einwanderer hob stolze Stämme und noch stolzere Äste aus einer fremden Erde. Es war eine Wildnis von verzweifelter Traurigkeit, denn sie mußte gepflegt werden, war dazu ausersehen, gepflegt zu werden, doch diejenigen, die sie gern gepflegt hätten, waren von der zerstörerischen Zeit hinweggerafft worden. Er bog Zweige beiseite und Äste und Unterholz und kam zu dem unvergleichlich viel schöneren Vordereingang von Saltram House.
Gekrönt wurde er von einem hohen Giebel mit einem Fries klassischer Figuren, und darunter, über der Eingangstür, einer vertikalen Sonnenuhr, blauer Himmel mit goldenen Figuren, an denen Wind und Regen zwar ihre Spuren hinterlassen, die sie jedoch nicht hatten zerstören können. Von seinem Standort aus konnte Burden den Himmel durch das Gerippe sehen, so blau wie der auf der Sonnenuhr.
Es war nicht mehr möglich, schon seit Jahren nicht mehr, ohne Kletterei in den ‘Italienischen Garten’ oder ins Haus zu gelangen. Burden krabbelte über eine einsfünfzig hohe Mauer bröckeligen Gesteins, durch deren Risse Brombeerranken und Zaunwinden ihre Fühler streckten.
Er hatte die Brunnen nie plätschern sehen, doch er wußte, daß früher welche dagewesen waren. Vor zwölf Jahren, als er und Jean zum erstenmal so weit vorgedrungen waren, hatten zwei Bronzefiguren mit Vasen in den hocherhobenen Händen zu beiden Seiten der überwucherten Auffahrt gestanden. Doch in der Zwischenzeit hatten Vandalen die Statuen von ihren Sockeln gerissen, gierig vielleicht auf das Blei der Rohre.
Eine war eine Knabenfigur gewesen, die andere ein Mädchen im fein gefältelten Gewand. Der Knabe war verschwunden, aber das Mädchen lag zwischen dem Unkraut, und langblättriges Geißblatt mit seinen gelben Blüten trieb seine Stengel zwischen ihrem Arm und der Biegung ihres Körpers hindurch. Burden bückte sich und hob die Statue hoch. Sie war zerbrochen und halb von Grünspan zerfressen, und der Boden darunter war ganz kahl, ein Stück blanker Erde, das merkwürdiger- und makabrerweise die Form eines kleinen menschlichen Körpers hatte.
Er legte den Metallklumpen, der einst ein Brunnen gewesen war, zurück und stieg die brüchigen Stufen hinauf zur Tür. Aber sobald er auf der Schwelle stand, wo einst Gäste angekommen waren und ihre Mäntel einem Bediensteten in die Hand gedrückt hatten, sah er, daß man hier keine Leiche verstecken konnte, nicht einmal den kleinen Körper eines Fünfjährigen.
Denn alles in Saltram House, Schränke, Türen, Treppen, sogar größtenteils die Trennwände waren verschwunden. Kaum etwas von Menschenhand Gefertigtes war geblieben. Sicher, die hohen und etwas bedrohlichen Mauern des Hauses erhoben sich über ihm, aber selbst diese, einst gestrichen und mit Fresken verziert, waren jetzt über und über mit Efeu bewachsen und boten einem jungen Wald von reichem Wuchs Windschutz. Holunder und Eichen, Birken und Buchenschößlinge hatten sich ihren Weg aus der fruchtbaren Aschenerde emporgekämpft, und einige machten den Mauern in der Höhe Konkurrenz. Burden schaute auf ein Gebüsch hinunter, das durch die Brise vom Fenster her sacht bewegt wurde. Er konnte die Wurzeln des Baumes erkennen und sehen, daß nichts dort zwischen ihnen lag.
Einen Moment stand er versonnen, dann wandte er sich ab. Zurück, die Treppen hinunter in den ‘Italienischen Garten’, wobei ihm plötzlich schlagartig einfiel, wie sie an eben diesem Platz einmal gepicknickt hatten, und Pat, damals ein kleines Mädchen von höchstens sechs Jahren, ihn gefragt hatte, warum er die Brunnen nicht in Gang setzen könne. Weil sie kaputt seien, weil kein Wasser da sei, hatte er gesagt. Er hatte nie mehr daran gedacht, sich keine Gedanken darüber gemacht - bis eben.
Aber diese Brunnen hatten einmal geplätschert. Wo war das Wasser hergekommen? Ganz sicher nicht direkt von der Hauptleitung, auch wenn Saltram House angeschlossen sein sollte. Für Dinge wie Brunnen und andere Wasserspielereien hatte man immer Tanks. Und ob das Haus nun zur Zeit des Brandes an die allgemeine Wasserversorgung angeschlossen war oder nicht, so doch sicher nicht zur Zeit, als die Brunnen gebaut worden waren, siebzehnhundertirgendwas.
Also mußte das Wasser irgendwo gespeichert worden sein. Ein winziger Schauder durchrieselte Burden. Eine idiotische Idee, sagte er sich. Verstiegen. Die Suchtrupps hatten das Gelände zweimal abgegrast. Ganz sicher war einem von ihnen dieser Gedanke auch gekommen? Aber nicht, wenn sie das Anwesen nicht so gut kannten wie ich, dachte er, nicht, wenn sie nicht wußten, daß diese Statue früher ein Brunnen war.
Er wußte genau, er würde keine Ruhe finden, keinen Augenblick Frieden haben, wenn er jetzt ging. Er ließ sich von der letzten Stufe herunter und stand bis zu den Knien in Unkraut und Brombeerranken. Die Zisternen, wenn es welche gab, waren wahrscheinlich oben beim Haus, aber so nah wie möglich bei den Brunnensockeln.
Zuerst einmal waren diese Sockel schwer auszumachen. Burden schnitt sich mit seinem Taschenmesser einen Holunderast und streifte die kleinen Zweige ab. Dann fing er an, damit die abgestorbenen und welken Pflanzenteile beiseite zu schieben. An manchen Stellen schien das Gewirr undurchdringlich, und er hatte fast entschieden, daß dies ein unmögliches Unterfangen war, als sein Stock auf etwas Metallenes stieß und ein dumpfes Klingen verursachte. Mit bloßen Händen machte er sich nun daran, das Efeugeranke und darunter andere zähe, heidekrautähnliche Pflanzen wegzureißen, bis er auf eine schwere bronzene Platte mit einem Loch in der Mitte stieß. Er schloß die Augen, dachte zurück, und ihm fiel ein, daß hier der Knabe gestanden hatte, das Mädchen an der gleichen Stelle auf der anderen Seite der Auffahrt.
Wo also konnte die Zisterne sein? Sicher nicht zwischen dem Sockel und der Auffahrt, sondern auf der anderen Seite. Wieder benutzte er seinen Stock. Es hatte zwei oder drei Wochen lang nicht geregnet, und der unkrautüberwucherte Boden war hart wie Stein. Nutzlos, mit dem Stock zu tasten, höchstens mit den Füßen. Also schlurfte er langsam den Pfad entlang, den sein Stock schaffte.
Er schaute die ganze Zeit über nach unten, trotzdem stolperte er, als sein linker Zeh an eine steinerne Umrandung oder Stufe stieß. Mit dem Stock herumstochernd, fand er die Kante und konnte eine rechteckige Umrandung verfolgen. Er hockte sich hin und arbeitete mit den Händen, bis er das ganze Dickicht beseitigt und eine Steinplatte, etwa in Form eines Grabsteins, zum Vorschein kam. Genau wie er vermutet hatte, die Zisterne für die Brunnen. Ob er wohl die Platte hochheben konnte? Er versuchte es, und sie gab so leicht nach, daß ihm keine Zeit mehr blieb, sich gegen den Schock zu wappnen, was er womöglich drinnen finden würde.
Die Zisterne war so gut wie leer. Trocken, dachte er, seit einem halben Jahrhundert. Nicht mal eine Spinne oder eine Assel hatte das steinerne Gefüge durchbrochen.
Aber da war ja noch eine, oder? Eine zweite Zisterne für den Brunnen auf der anderen Seite? Immerhin hatte er keine Schwierigkeiten, sie zu finden. Er maß mit Schritten die Entfernung, und bald hatte er die zweite Platte freigelegt. Bildete er es sich nur ein, oder sah der Bewuchs hier frischer aus? Jedenfalls gab es hier keine Brombeerranken, nur die weichen, saftigen Unkräuter, die im Winter völlig absterben. Die Schieferplatte sah genau aus wie ihr Pendant, silbrigschwarz, hie und da grün bemoost.
Burdens Finger waren zerschunden und bluteten. Er wischte sie an seinem Taschentuch ab, hob die Platte hoch und sah mit einem röchelnden Luftholen auf die Leiche in der Zisterne hinunter.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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