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Sonntag, der Morgen, an dem er ausschlafen sollte.
Er hatte eine entsetzliche Nacht hinter sich, erfüllt von so
widerwärtigen Träumen, daß er sie - hätte er in einem der
psychologischen Werke darüber gelesen, die Sorte, von denen Grace
ständig faselte - ohne weiteres als Produkt eines kranken,
pervertierten Gehirns anerkannt hätte. Schon der Gedanke daran ließ
ihn vor Scham schaudern.
Wenn man in der Morgendämmerung schlaflos im Bett
liegt, muß man denken. Aber woran? An Jean, die für immer fort war?
An die Träume, die Fragen aufwarfen, ob man in seinem Inneren
genauso schlecht war wie jene örtlichen Abartigen? Gemma Lawrence?
Was war er doch für ein Idiot gewesen, sie zu küssen, überhaupt da
im Dunkel mit ihr sitzen zu bleiben, sich hineinverwickeln zu
lassen!
Rasch stand er auf. Es war erst halb acht, als er
in die Küche kam, und niemand sonst war auf den Beinen. Er brühte
eine Kanne Tee und brachte jedem eine Tasse ans Bett. Wieder ein
schöner, klarer Tag.
Grace setzte sich im Bett auf und nahm ihm die
Teetasse ab. Ihr Nachthemd sah genau aus wie das von Jean. Ihr
Morgengesicht war ein bißchen verquollen vom Schlaf, verträumt und
vage, genau wie es Jeans immer gewesen war. Er haßte sie.
»Ich muß weg«, sagte er. »Arbeit.«
»Ich habe das Telefon gar nicht gehört«, sagte
Grace.
»Du hast noch geschlafen.«
Seine Kinder rührten sich nicht, als er die
Teetassen neben ihre Betten stellte. Beide hatten einen festen
Schlaf, und es war nur natürlich. Burden wußte all das, aber es kam
ihm vor, als liebten sie ihn nicht mehr. Ihre Mutter war tot, doch
sie hatten einen Mutterersatz, ein Mutterfaksimile. Ihnen war es
ganz gleich, ob ihr Vater da war oder nicht.
Er holte seinen Wagen heraus und fuhr los, doch er
hatte keine klare Vorstellung, wohin er eigentlich wollte.
Vielleicht in den Cheriton Forest, um irgendwo zu sitzen und zu
grübeln und sich selbst zu quälen. Doch statt die Pomfret Road zu
fahren, fand er sich plötzlich auf dem Weg nach Stowerton. Alles,
was er an Selbstdisziplin übrig hatte, brauchte er, um nicht zur
Fontaine Road zu fahren, aber er beherrschte sich und bog statt
dessen in die Mill Lane ein.
Hier war der rote Jaguar gesehen worden. Hinter
diesen Bäumen war der junge Mann mit den zierlichen Händen
blättersammelnd herumgeschlendert. Bestand eine Verbindung zwischen
dem Auto und dem Jugendlichen? Und war es möglich in dieser
zynischen und grausamen Welt, daß der Blättersammler Kaninchen
hielt - vielleicht hatte er die Blätter für seine Kaninchen
gesammelt - und ein Kind nur aus Freude an der Gesellschaft
brauchte, aus Freude am Anblick eines kleinen, glücklichen
Gesichts, wenn eine begeisterte kleine Hand über dickes, weiches
Fell streichelte?
An solch einem Morgen erschien selbst eine so
unwahrscheinliche, märchenhafte Vorstellung denkbar. In der Ferne
hörte er die Glocken von St. Jude in Forby zur Frühmesse läuten. Er
wußte jetzt, wo er hinwollte. Er durchfuhr eine Biegung der Straße,
und unvermittelt und prächtig kam Saltram House in Sicht.
Wenn man es aus dieser Entfernung betrachtete, wie
es stolz auf dem Hügel stand, wäre man wohl nie auf die Idee
gekommen, daß die Fenster dort nicht verglast und die Räume nicht
bewohnt waren, sondern daß dieses große Steingebäude nur eine leere
Hülle war, das Skelett des früheren Hauses, wenn man so wollte. In
der Morgensonne sah es grau-golden aus, ein palastähnlicher Bau aus
dem späten achtzehnten Jahrhundert, und in seinen herrlichen
Proportionen schien es das darunterliegende Tal gleichzeitig
lächelnd und mißbilligend zu betrachten.
Die Geschichte seiner Zerstörung vor nunmehr
fünfzig Jahren kannte jeder in Kingsmarkham. Es war während des
ersten Weltkrieges passiert. Der damalige Besitzer des Hauses,
dessen Name inzwischen vergessen war, hatte ein Fest gegeben, und
seine Gäste waren auf ein flaches Stück des Daches hinausgegangen,
um einen Zeppelin vorbeiziehen zu sehen. Einer hatte einen
Zigarrenstummel über den Rand des Daches geworfen, und der hatte
die Büsche darunter in Brand gesetzt. Nichts war mehr hinter diesen
exquisit proportionierten kahlen Fensteröffnungen, nichts außer
Bäumen und Büschen, die in dem ausgebrannten Gemäuer hochgewachsen
waren und nun ihre Zweige ausbreiteten, wo einst Damen in Pariser
Roben wandelten, sich die Gemälde anschauten und mit ihren Fächern
fächelten. Er ließ den Wagen wieder an und fuhr langsam zu dem
schmiedeeisernen Tor hinauf, wo die Auffahrt zu Saltram House
begann. Links drüben stand ein kleines weißes, eingeschossiges Haus
mit Strohdach. Im Garten sammelte eine Frau Pilze vom Rasen. Mrs.
Fenn, mutmaßte er. Damals, als er und Jean zu Picknicks herkamen,
hatte sie nicht hier gewohnt. Das Häuschen hatte jahrelang
leergestanden.
Natürlich war das gesamte Anwesen hier im Februar
gründlich abgesucht worden, und auch wieder am Donnerstag abend und
Freitag. Aber kannten die Suchmannschaften das Gelände so gut wie
er? Kannten sie die geheimen Plätzchen ebenso wie er?
Burden öffnete die Torflügel, und sie quietschten
dumpf in ihren Angeln.
Wexford und sein Freund Dr. Crocker, der
Polizeiarzt, spielten gelegentlich am Sonntag vormittag zusammen
Golf. Die beiden waren seit ihrer Kindheit befreundet, obgleich
Wexford sieben Jahre älter war. Der Doktor, ein drahtiger,
lebhafter Mann, wirkte von weitem ziemlich jung, wohingegen
Wexford, ein Riese von einem Mann mit gefährlich hohem Blutdruck,
vierschrötig und ungesund aussah.
Aufgrund dieser Hypertonie hatte Crocker die
sonntäglichen Golfvormittage vorgeschlagen und eine rigorose Diät
verordnet. Seiner Diät wurde Wexford durchschnittlich zweimal die
Woche untreu, doch gegen Golf hatte er grundsätzlich nichts
einzuwenden, obwohl er ein schändliches Handicap von um die 36
hatte. Doch er kam auf diese Weise um den Kirchgang mit seiner Frau
herum.
»Du würdest nicht zufällig einen kleinen Schluck
mit trinken?« fragte er sehnsüchtig in der Bar des
Clubhauses.
»Um diese Zeit?« sagte Crocker, der
Disziplinierte.
»Auf die Wirkung kommt es an, nicht auf die
Stunde.«
»Wenn ich nicht den besten Blutdruckmesser der Welt
hätte«, sagte der Doktor, »dann wäre er letztes Mal geplatzt, als
ich deinen Blutdruck gemessen habe. Ohne Flachs, der wäre aus
lauter Verzweiflung übergeschnappt. Du würdest ja auch kein
Thermometer unter heißes Wasser halten, oder? Du brauchst keinen
Alkohol, sondern ein paar kräftige Schwünge unter dem Adlerauge des
Profis.«
»Das bitte nicht«, flehte Wexford. »Alles, nur das
nicht.« Sie gingen zum ersten Abschlag. Mit undurchdringlicher
Miene sah Crocker zu, wie sein Freund in seiner Golftasche
herumfummelte, und reichte ihm dann wortlos ein Fünfereisen.
Wexford schlug. Der Ball verschwand, doch ganz und
gar nicht in Richtung aufs erste Loch. »Es ist wirklich verdammt
unfair«, meinte er. »Du hast dieser lächerlichen
Freizeitbeschäftigung zeit deines Lebens gefrönt, und ich bin nur
ein Anfänger. Ich kriege einen ganz schönen
Minderwertigkeitskomplex dabei. Wie wär’s, wenn wir noch jemanden
dazuholten, Mike Burden zum Beispiel...«
»Würde ihm guttun, meiner Ansicht nach.«
»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagte Wexford, froh
über die Unterbrechung, bevor er zusehen mußte, wie der Doktor
einen seiner perfekten Schläge landete. »Manchmal frage ich mich,
ob er nicht auf einen Nervenzusammenbruch zusteuert.«
»Andere Männer verlieren auch ihre Frauen. Sie
kommen drüber weg. Weißt du was? Mike wird seine Schwägerin
heiraten. Es liegt doch auf der Hand. Sie sieht aus wie Jean, sie
ist wie Jean. Mike kann sie heiraten und beinah monogam bleiben
dabei. Aber genug davon. Wir waren gekommen, um Golf zu spielen,
erinnerst du dich?«
»Ich darf nicht zu weit vom Clubhaus weggehen. Kann
sein, daß man mich jeden Moment erreichen muß, wenn sich irgendwas
mit diesem vermißten Jungen ergibt.«
Wexford meinte das nicht als Entschuldigung,
sondern es war echte Besorgnis seinerseits, doch er hatte beim Golf
schon zu oft solche Ausflüchte benutzt. Der Doktor grinste
teuflisch. »Dann sollen sie kommen und dich holen. Einige
Mitglieder dieses Clubs können tatsächlich rennen, weißt du.
Jetzt, paß gut auf.« Er nahm seinen eigenen schlagerfahrenen Fünfer
und schlug mit wunderbarer Präzision. »Auf dem Grün, nehme ich an«,
meinte er befriedigt.
Wexford nahm seine Tasche auf, seufzte und
schlenderte dann tapfer den Fairway hinauf. Inbrünstig, doch
verhalten murmelte er hinter dem Rücken des Doktors: »Du sollst
nicht töten, nein, doch mühen sollst dich nicht, lebend zu lassen
einen solchen Wicht.«
Die Seite des Hauses, die der Straße zugewandt war
und vor der Burden jetzt seinen Wagen parkte, war eigentlich die
Rückseite oder genauer gesagt die Gartenseite. Aus dieser Nähe gab
es keinen Zweifel, daß Saltram House nur noch eine leere Hülse war.
Er ging zu einem der Fenster hin und starrte in die stille,
dämmrige und schweigende Tiefe. Holunder und junge Eichen - denn
wie alt ist eine ausgewachsene Eiche? - hoben ihr Geäst aus Sand
und Trümmern. Die Narben des Feuers waren längst verheilt, die
Schwärze weggewaschen in fünfzig regnerischen Wintern. Die Blätter
leuchteten goldfarben und grellgelb, sie lagen zu Tausenden auf
zerborstenem Stein und Schutt. Das Haus hatte schon so ausgesehen,
als Jean und er zuerst hergekommen waren, mit dem einzigen
Unterschied, daß die Bäume höher und die Natur zügelloser und
arroganter in ihrer Vereinnahmung geworden war, und doch schien es
ihm, als sei die Zerstörung persönlicher Natur, Symbol seiner
eigenen.
Er las nie Gedichte. Er las überhaupt selten. Aber
wie viele Leute, die nicht lesen, hatte er ein gutes Gedächtnis,
und manchmal fiel ihm unvermittelt eines von Wexfords Zitaten ein.
Unsicher und verwundert flüsterte er:
»Wenn ich dies Wandelleben überseh
Ja, Leben selbst zum Untergang getrieben
Kam unter Trümmern mir dies Grübeln nah:
Einst kommt auch Zeit und fordert deinen Lieben...«
Ja, Leben selbst zum Untergang getrieben
Kam unter Trümmern mir dies Grübeln nah:
Einst kommt auch Zeit und fordert deinen Lieben...«
Er wußte nicht, wer das gesagt hatte, doch auf
jeden Fall war es einer, der Bescheid wußte. Er wandte sich ab.
Hier kam man nicht hinein. Man ging durch den Vordereingang,
nachdem man zuerst das, was einmal ein ‘Italienischer Garten’
gewesen war, durchklettert hatte.
Rechts und links von ihm erstreckte sich ein sanft
abfallender, vernachlässigter Park. Wem wohl das Land gehörte?
Weshalb bearbeitete es niemand? Er wußte die Antworten nicht, nur,
daß dies hier ein ruhiger und schöner Dschungel war, wo das Gras
hoch und wild wuchs und die Bäume von der Natur, nicht vom
Menschen, gepflanzt waren, Zedern und Ilex, und der hohe, schlanke
Gingkobaum der chinesischen Einwanderer hob stolze Stämme und noch
stolzere Äste aus einer fremden Erde. Es war eine Wildnis von
verzweifelter Traurigkeit, denn sie mußte gepflegt werden, war dazu
ausersehen, gepflegt zu werden, doch diejenigen, die sie gern
gepflegt hätten, waren von der zerstörerischen Zeit hinweggerafft
worden. Er bog Zweige beiseite und Äste und Unterholz und kam zu
dem unvergleichlich viel schöneren Vordereingang von Saltram
House.
Gekrönt wurde er von einem hohen Giebel mit einem
Fries klassischer Figuren, und darunter, über der Eingangstür,
einer vertikalen Sonnenuhr, blauer Himmel mit goldenen Figuren, an
denen Wind und Regen zwar ihre Spuren hinterlassen, die sie jedoch
nicht hatten zerstören können. Von seinem Standort aus konnte
Burden den Himmel durch das Gerippe sehen, so blau wie der auf der
Sonnenuhr.
Es war nicht mehr möglich, schon seit Jahren nicht
mehr, ohne Kletterei in den ‘Italienischen Garten’ oder ins Haus zu
gelangen. Burden krabbelte über eine einsfünfzig hohe Mauer
bröckeligen Gesteins, durch deren Risse Brombeerranken und
Zaunwinden ihre Fühler streckten.
Er hatte die Brunnen nie plätschern sehen, doch er
wußte, daß früher welche dagewesen waren. Vor zwölf Jahren, als er
und Jean zum erstenmal so weit vorgedrungen waren, hatten zwei
Bronzefiguren mit Vasen in den hocherhobenen Händen zu beiden
Seiten der überwucherten Auffahrt gestanden. Doch in der
Zwischenzeit hatten Vandalen die Statuen von ihren Sockeln
gerissen, gierig vielleicht auf das Blei der Rohre.
Eine war eine Knabenfigur gewesen, die andere ein
Mädchen im fein gefältelten Gewand. Der Knabe war verschwunden,
aber das Mädchen lag zwischen dem Unkraut, und langblättriges
Geißblatt mit seinen gelben Blüten trieb seine Stengel zwischen
ihrem Arm und der Biegung ihres Körpers hindurch. Burden bückte
sich und hob die Statue hoch. Sie war zerbrochen und halb von
Grünspan zerfressen, und der Boden darunter war ganz kahl, ein
Stück blanker Erde, das merkwürdiger- und makabrerweise die Form
eines kleinen menschlichen Körpers hatte.
Er legte den Metallklumpen, der einst ein Brunnen
gewesen war, zurück und stieg die brüchigen Stufen hinauf zur Tür.
Aber sobald er auf der Schwelle stand, wo einst Gäste angekommen
waren und ihre Mäntel einem Bediensteten in die Hand gedrückt
hatten, sah er, daß man hier keine Leiche verstecken konnte, nicht
einmal den kleinen Körper eines Fünfjährigen.
Denn alles in Saltram House, Schränke, Türen,
Treppen, sogar größtenteils die Trennwände waren verschwunden. Kaum
etwas von Menschenhand Gefertigtes war geblieben. Sicher, die hohen
und etwas bedrohlichen Mauern des Hauses erhoben sich über ihm,
aber selbst diese, einst gestrichen und mit Fresken verziert, waren
jetzt über und über mit Efeu bewachsen und boten einem jungen Wald
von reichem Wuchs Windschutz. Holunder und Eichen, Birken und
Buchenschößlinge hatten sich ihren Weg aus der fruchtbaren
Aschenerde emporgekämpft, und einige machten den Mauern in der Höhe
Konkurrenz. Burden schaute auf ein Gebüsch hinunter, das durch die
Brise vom Fenster her sacht bewegt wurde. Er konnte die Wurzeln des
Baumes erkennen und sehen, daß nichts dort zwischen ihnen
lag.
Einen Moment stand er versonnen, dann wandte er
sich ab. Zurück, die Treppen hinunter in den ‘Italienischen
Garten’, wobei ihm plötzlich schlagartig einfiel, wie sie an eben
diesem Platz einmal gepicknickt hatten, und Pat, damals ein kleines
Mädchen von höchstens sechs Jahren, ihn gefragt hatte, warum er die
Brunnen nicht in Gang setzen könne. Weil sie kaputt seien, weil
kein Wasser da sei, hatte er gesagt. Er hatte nie mehr daran
gedacht, sich keine Gedanken darüber gemacht - bis eben.
Aber diese Brunnen hatten einmal geplätschert. Wo
war das Wasser hergekommen? Ganz sicher nicht direkt von der
Hauptleitung, auch wenn Saltram House angeschlossen sein sollte.
Für Dinge wie Brunnen und andere Wasserspielereien hatte man immer
Tanks. Und ob das Haus nun zur Zeit des Brandes an die allgemeine
Wasserversorgung angeschlossen war oder nicht, so doch sicher nicht
zur Zeit, als die Brunnen gebaut worden waren,
siebzehnhundertirgendwas.
Also mußte das Wasser irgendwo gespeichert worden
sein. Ein winziger Schauder durchrieselte Burden. Eine idiotische
Idee, sagte er sich. Verstiegen. Die Suchtrupps hatten das Gelände
zweimal abgegrast. Ganz sicher war einem von ihnen dieser Gedanke
auch gekommen? Aber nicht, wenn sie das Anwesen nicht so gut
kannten wie ich, dachte er, nicht, wenn sie nicht wußten, daß diese
Statue früher ein Brunnen war.
Er wußte genau, er würde keine Ruhe finden, keinen
Augenblick Frieden haben, wenn er jetzt ging. Er ließ sich von der
letzten Stufe herunter und stand bis zu den Knien in Unkraut und
Brombeerranken. Die Zisternen, wenn es welche gab, waren
wahrscheinlich oben beim Haus, aber so nah wie möglich bei den
Brunnensockeln.
Zuerst einmal waren diese Sockel schwer
auszumachen. Burden schnitt sich mit seinem Taschenmesser einen
Holunderast und streifte die kleinen Zweige ab. Dann fing er an,
damit die abgestorbenen und welken Pflanzenteile beiseite zu
schieben. An manchen Stellen schien das Gewirr undurchdringlich,
und er hatte fast entschieden, daß dies ein unmögliches Unterfangen
war, als sein Stock auf etwas Metallenes stieß und ein dumpfes
Klingen verursachte. Mit bloßen Händen machte er sich nun daran,
das Efeugeranke und darunter andere zähe, heidekrautähnliche
Pflanzen wegzureißen, bis er auf eine schwere bronzene Platte mit
einem Loch in der Mitte stieß. Er schloß die Augen, dachte zurück,
und ihm fiel ein, daß hier der Knabe gestanden hatte, das Mädchen
an der gleichen Stelle auf der anderen Seite der Auffahrt.
Wo also konnte die Zisterne sein? Sicher nicht
zwischen dem Sockel und der Auffahrt, sondern auf der anderen
Seite. Wieder benutzte er seinen Stock. Es hatte zwei oder drei
Wochen lang nicht geregnet, und der unkrautüberwucherte Boden war
hart wie Stein. Nutzlos, mit dem Stock zu tasten, höchstens mit den
Füßen. Also schlurfte er langsam den Pfad entlang, den sein Stock
schaffte.
Er schaute die ganze Zeit über nach unten, trotzdem
stolperte er, als sein linker Zeh an eine steinerne Umrandung oder
Stufe stieß. Mit dem Stock herumstochernd, fand er die Kante und
konnte eine rechteckige Umrandung verfolgen. Er hockte sich hin und
arbeitete mit den Händen, bis er das ganze Dickicht beseitigt und
eine Steinplatte, etwa in Form eines Grabsteins, zum Vorschein kam.
Genau wie er vermutet hatte, die Zisterne für die Brunnen. Ob er
wohl die Platte hochheben konnte? Er versuchte es, und sie gab so
leicht nach, daß ihm keine Zeit mehr blieb, sich gegen den Schock
zu wappnen, was er womöglich drinnen finden würde.
Die Zisterne war so gut wie leer. Trocken, dachte
er, seit einem halben Jahrhundert. Nicht mal eine Spinne oder eine
Assel hatte das steinerne Gefüge durchbrochen.
Aber da war ja noch eine, oder? Eine zweite
Zisterne für den Brunnen auf der anderen Seite? Immerhin hatte er
keine Schwierigkeiten, sie zu finden. Er maß mit Schritten die
Entfernung, und bald hatte er die zweite Platte freigelegt. Bildete
er es sich nur ein, oder sah der Bewuchs hier frischer aus?
Jedenfalls gab es hier keine Brombeerranken, nur die weichen,
saftigen Unkräuter, die im Winter völlig absterben. Die
Schieferplatte sah genau aus wie ihr Pendant, silbrigschwarz, hie
und da grün bemoost.
Burdens Finger waren zerschunden und bluteten. Er
wischte sie an seinem Taschentuch ab, hob die Platte hoch und sah
mit einem röchelnden Luftholen auf die Leiche in der Zisterne
hinunter.