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»Die Schönwetterperiode, die wir oft Mitte Oktober
haben, ist allgemein als St. Lukas Little Summer bekannt. Das mit
dem kleinen Sommer bedarf keiner Erklärung; und St. Lukas hat sich
durch den 18. ergeben, der zufälligerweise der Tag dieses Heiligen
ist.« Station Sergeant Camb bedachte Harry Wild mit dieser ebenso
interessanten wie nutzlosen Information, streckte sich genießerisch
in der warmen Herbstsonne und lächelte sein Gegenüber salbungsvoll
an.
»Ach, wirklich? Vielleicht schreibe ich was in
meiner Kolumne Gehört, Notiert darüber.« Wild zog an seiner
übelriechenden alten Pfeife und stützte mit Lederflicken besetzte
Ellbogen auf den Tresen. Er gähnte. »Haben Sie nicht ein bißchen
was Aufregenderes für mich?«
Camb ließ sich durch das Gähnen anstecken und
gähnte seinerseits. Zum drittenmal machte er eine Bemerkung über
das schwüle Wetter, dann schlug er sein Buch auf.
»Zusammenstoß zweier Fahrzeuge an der Kreuzung
Kingsmarkham High und Queen Street«, las er. »Keine Verletzten. Das
war Sonntag. Kein Thema für den Courier, oder? Siebzehnjähriges
Mädchen vermißt, aber wir wissen schon, wo sie ist. Ach, und ein
Pavian ist aus der Tierhandlung entlaufen...« Wild sah mit mildem
Interesse auf. »...Nur haben sie ihn auf ihrem eigenen Balkon
gefunden, wo er sich in der Mülltonne verkrochen hatte.«
»Welch ein langweiliges Nest«, sagte Wild. Er
steckte sein Notizbuch weg. »Aber ich habe mich ja fürs ruhige
Leben entschieden. Ich könnte morgen in Fleet Street anfangen, wenn
ich Lust hätte. Ich müßte nur einen Ton sagen, und schon wäre ich
da, wo sich wirklich was tut.«
»Klar... Camb wußte sehr wohl, daß Wild als
Chefreporter beim Kingsmarkham Courier blieb, weil
Bequemlichkeit und allgemeine Unfähigkeit, wie auch sein inzwischen
fortgeschrittenes Alter, ihn für eine bedeutendere Zeitung kaum
geeignet erscheinen ließen. Wild kam regelmäßig aufs Revier, länger
als es Cambs Erinnerung lieb war, und jedesmal redete er über Fleet
Street, als habe er abgelehnt, und nicht umgekehrt. Doch um des
lieben Friedens und der angenehmen Atmosphäre willen erhielten sie
das Märchen aufrecht. »Bei mir ist es genau dasselbe«, sagte er.
»Wie oft hat Mr. Wexford mich im Lauf der Jahre nicht schon
angefleht, zu überlegen, ob ich zum C. I. D. gehen will, aber ich
wollte nie. Ich bin nicht ehrgeizig. Was natürlich nicht heißt, daß
mir die Befähigung gefehlt hätte.«
»Sicher hätten Sie die gehabt.« Als fairer
Mitspieler gab Wild das Lob zurück. »Aber wohin führt dieser
Ehrgeiz denn? Sehen Sie sich Inspektor Burden an, um ein Beispiel
zu nehmen. Noch keine vierzig und total ausgelaugt, wenn ich das
mal sagen darf.«
“Na, er hat ja auch viel durchgemacht, oder? Auf
die Weise seine Frau zu verlieren, und das mit zwei unmündigen
Kindern.«
Wild gab einen tiefen, kummervollen Seufzer von
sich. »Das«, meinte er, »war eine tragische Geschichte. Krebs, wenn
ich mich recht erinnere.«
»Stimmt. Letztes Jahr um diese Zeit munter wie ein
Fisch im Wasser, und Weihnachten tot. Erst fünfunddreißig. Macht
einen irgendwie nachdenklich.«
»Mitten aus dem Leben. Kommt mir vor, als hätt’s
ihn hart getroffen. Die beiden haben wohl sehr aneinander
gehangen?«
»Mehr Liebes- als Ehepaar.« Camp räusperte sich und
stand strammer, als die Fahrstuhltür aufging und Chief Inspector
Wexford heraustrat.
»Na, Sergeant, wieder mal beim Tratschen? Tag,
Harry.« Wexford warf nur einen kurzen Blick auf die beiden leeren
Teetassen auf dem Tresen. »Das erinnert mich hier von Woche zu
Woche mehr an Kaffeeklatsch beim Müttergenesungswerk.«
»Ich war gerade dabei«, sagte Camb würdevoll, »Mr.
Wild von unserem entsprungenen Pavian zu erzählen.«
»Liebe Güte, eine heiße Neuigkeit. Da läßt sich
doch was draus machen, Harry. Terrorisiert die Bevölkerung, Mütter
wagen Kinder nicht aus den Augen zu lassen. Kann eine Frau sich
sicher fühlen, solange diese wilde Bestie unsere Gefilde
durchstreift?«
»Er ist gefunden worden, Sir. In einer
Mülltonne.«
»Sergeant, wenn ich nicht wüßte, daß Sie dazu gar
nicht fähig sind, würde ich sagen, Sie machen sich über mich
lustig.« Wexford bebte vor verhaltenem Lachen. »Wenn Inspector
Burden kommt, sagen Sie ihm, daß ich gegangen bin, ja? Ich möchte
gern für ein paar Stunden unseren Altweibersommer genießen.«
“St. Lukas Little Summer, Sir.«
“Tatsächlich? Ich lasse mich belehren. Wünschte,
ich hätte die Zeit, solch faszinierende Einzelheiten
meteorologischen Wissens auszugraben. Sie können mitfahren, Harry,
falls Sie mit Ihrem Affenzirkus hier fertig sind.«
Camb feixte. »Die Firma dankt«, sagte Wild.
Es war schon nach fünf, aber immer noch sehr warm.
Der Sergeant reckte sich und wünschte, Constable Peach käme, damit
er ihn in die Kantine schicken konnte, frischen Tee zu holen. Noch
eine halbe Stunde, dann hatte er Feierabend.
Kurz darauf klingelte das Telefon.
Eine Frauenstimme, tief und wohltönend.
Schauspielerin, dachte Camb. »Entschuldigen Sie, wenn ich störe,
aber mein kleiner Sohn... Er ist - also, er hat draußen gespielt,
und jetzt ist er - er ist verschwunden. Ich weiß nicht... mache ich
vielleicht zuviel Aufhebens?«
»Nicht im mindesten, gnädige Frau«, sagte Camb
beruhigend. »Dazu sind wir ja da, daß man uns stört. Wie war der
Name?«
»Lawrence. Ich wohne Fontaine Road 61, in
Stowerton.«
Camb zögerte einen Moment. Dann fiel ihm ein, daß
Wexford angeordnet hatte, alle Fälle vermißter Kinder sollten ans
C.I.D, gemeldet werden. Sie wollten keinen weiteren Fall Stella
Rivers...
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Lawrence, ich
verbinde Sie mit jemandem, der Ihnen helfen wird.« Er stellte
durch, hörte Sergeant Martins Stimme, legte auf.
Sergeant Camb seufzte. Schade, daß Harry
ausgerechnet jetzt gegangen war, gerade wenn die einzige Neuigkeit
seit Wochen kam. Er konnte den armen alten Harry anrufen... Morgen
genügte auch noch. Das Kind würde man sowieso finden, wie den
Affen. Verlorengegangene Menschen und Sachen fanden sich in
Kingsmarkham normalerweise wieder, und das in mehr oder weniger
gutem Zustand. Camb drehte den Kopf in der Sonne wie eine Scheibe
Toast vor einem offenen Feuer. Es war zwanzig nach fünf. Um sechs
würde er sich in Severn Court, Station Road an den Abendbrottisch
setzen; danach ein kleiner Gang mit seiner Frau zum Dragon, dann
fernsehen...
»Kleines Nickerchen, Sergeant?« ertönte eine eisige
Stimme, scharf wie eine frisch ausgepackte Rasierklinge. Camb
kippte vor Schreck beinah vom Stuhl.
»Oh, Entschuldigung, Mr. Burden. Das ist die Wärme,
sie macht einen schläfrig. St. Lukas Little Summer nennt man das,
weil...«
»Sind Sie denn ganz und gar von der Rolle, verdammt
noch mal?« Burden hatte früher nie geflucht. Sie hatten sich sogar
über ihn lustig gemacht auf dem Revier, weil er den Namen des Herrn
nie mißbräuchlich führte oder verdammt sagte oder all die üblichen
Dinge. Camb hatte es früher besser gefallen. Er fühlte, wie er rot
wurde, und nicht von der Sonne. “Gibt’s was für mich?« blaffte
Burden.
Camb sah ihn traurig an. Inspector Burden tat ihm
entsetzlich leid, sein Herz zog sich zusammen für den leidgeprüften
Kollegen, und deshalb verzieh er ihm die Demütigung und
Zurechtweisung vor Martin und Gates und sogar vor Peach. Camb
konnte sich nicht vorstellen, wie es war, seine Frau zu verlieren,
die Mutter seiner Kinder, und allein und verzweifelt
zurückzubleiben. Burden war so dünn. Die Backenknochen zeichneten
sich scharf unter der straff gespannten Haut ab, und seine Augen
glitzerten bösartig, wenn man ihn flüchtig ansah, aber wenn man
genauer hinschaute, war der Anblick fast nicht zu ertragen. Er war
mal ein recht ansehnlicher Mann gewesen. Englischer Typ, blond und
mit frischem Teint. Aber jetzt waren alle Farbe und alles Leben aus
ihm gewichen, und er wirkte grau. Er trug noch immer eine schwarze
Krawatte, so eng zusammengezogen, daß man meinte, sie müsse ihn
erwürgen.
Damals, als es geschehen war, hatte der Sergeant
wie alle anderen sein Beileid ausgedrückt, und das war in Ordnung,
es wurde erwartet. Später dann hatte er versucht, etwas
Herzlicheres, Persönlicheres zu sagen, und Burden hatte sich gegen
ihn gewandt wie einer, der sein Schwert zieht. Er hatte
schreckliche Dinge gesagt. Sie von diesem zurückhaltenden,
beherrschten Mann zu hören war viel schlimmer als von den
Kingsmarkhamer Rowdies, die immer so redeten. Wie wenn man ein
hübsches Buch aufschlägt, von jemand geschrieben, dessen Bücher man
schätzt und sich in der Bücherei extra zurücklegen läßt, und auf
ein Wort stößt, das sonst immer nur durch Pünktchen ersetzt
wird.
Obwohl Camb in diesem Augenblick eigentlich lieber
etwas Freundlicheres gesagt hätte - war er nicht alt genug, um der
Vater dieses Mannes zu sein? -, seufzte er nur und antwortete mit
seiner ausdruckslosen, offiziellen Stimme: “Mr. Wexford ist nach
Hause gegangen, Sir. Er sagt, er...«
»Das ist alles?«
»Nein, Sir. Da ist ein vermißtes Kind und...«
»Warum, zum Teufel, sagen Sie das nicht
gleich?«
“Ist schon alles in die Wege geleitet«, stammelte
Camb. »Martin weiß davon und hat bestimmt Mr. Wexford angerufen.
Hören Sie, Sir, es steht mir nicht zu, mich da einzumischen, aber -
also, warum gehen Sie nicht einfach nach Hause, Sir?«
»Wenn ich Ihren Rat brauche, Sergeant, frage ich
Sie. Das letzte vermißte Kind ist nie gefunden worden. Ich
werde nicht nach Hause gehen.« Wozu auch. Er sprach es nicht
aus, aber die Worte waren da, und der Sergeant hatte sie gehört.
»Geben Sie mir eine Leitung nach draußen, ja?«
Camb tat wie geheißen, und Burden sagte: »Meine
Wohnung.« Als Grace Woodville am Apparat war, übergab Camb den
Hörer an ihren Schwager. »Grace? Mike hier. Warte nicht mit dem
Essen auf mich. Ein Kind wird vermißt. Ich komme wahrscheinlich
gegen zehn.«
Burden knallte den Hörer auf und ging zum
Fahrstuhl. Camb starrte zehn Minuten lang ausdruckslos auf die
Türen, dann kam Sergeant Mathers herunter, um ihn abzulösen.
Der Bungalow in der Tabard Road sah genauso aus
wie zu Jean Burdens Lebzeiten. Die Böden glänzten, die Fenster
blitzten, und in den Steingutvasen standen Blumensträuße - um diese
Jahreszeit waren es Chrysanthemen. Schlichtes englisches Essen
wurde zur geregelten Zeit aufgetragen, und die Kinder wirkten
gepflegt wie von einer liebevollen Mutter. Um halb neun waren die
Betten gemacht, gegen neun hing die Wäsche auf der Leine, und eine
wohlklingende, fröhliche Stimme begrüßte die
Nachhausekommenden.
Grace Woodville hatte für all das gesorgt. Das Haus
genauso zu führen wie zuvor ihre Schwester und mit den Kindern
ebenso umzugehen, wie sie es getan hatte, war ihr als einzig
möglicher Weg erschienen. Sie selbst sah ihr schon so ähnlich, wie
ein Nichtzwilling seiner Schwester nur sehen kann. Und es hatte
sich als richtig erwiesen. Manchmal schienen John und Pat es beinah
zu vergessen. Sie kamen zu ihr, wenn sie verletzt oder in
Schwierigkeiten waren oder etwas Interessantes zu erzählen hatten,
genau wie sie es bei Jean getan hatten. Sie schienen glücklich zu
sein, die Wunde vom vergangenen Jahr schien langsam zu verheilen.
Für die Kinder und das Haus und die praktischen Alltagsdinge hatte
es sich als richtig erwiesen, aber nicht für Mike. Natürlich nicht.
Hatte sie das wirklich angenommen?
Sie legte den Telefonhörer auf und schaute in den
Spiegel, aus dem Jeans Gesicht ihr entgegenblickte. Solange Jean
noch lebte, hatte sie es nie so empfunden, ihr Gesicht war ihr ganz
anders, kantiger und energischer und ausgefüllter und - ja, warum
sollte man es nicht sagen? - intelligenter erschienen. Nun sah es
aus wie Jeans. Die Lebhaftigkeit, der scharfe Witz waren daraus
verschwunden, und das war nicht weiter verwunderlich, wenn sie
überlegte, wie sie ihre Tage verbrachte, mit Kochen und
Saubermachen und Trösten und dem Warten auf einen Mann, der alles
als selbstverständlich ansah.
»John?« rief sie laut. »Das war dein Vater. Er
kommt nicht vor zehn nach Hause, ich glaube, wir sollten schon mal
essen, oder?« Seine Schwester suchte im Garten Raupen für ihre
Sammlung, die sie in der Garage hatte. Grace hatte mehr Angst vor
Raupen als die meisten Frauen vor Mäusen oder Spinnen, doch sie
mußte vorgeben, sie zu mögen, ja sich sogar für sie zu begeistern,
weil sie doch Pat die Mutter ersetzen mußte. »Pat! Essen,
Schätzchen. Beeil dich.«
Das kleine Mädchen war elf. Sie kam herein und
schob die Streichholzschachtel auf, die sie in der Hand hielt. Beim
Anblick der fetten grünen Kreatur darin krampfte sich Grace alles
zusammen. »Sehr hübsch«, meinte sie schwach. »Ein Lindenschwärmer?«
Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht, und wie alle Kinder wußte Pat
Erwachsene zu schätzen, die sich bemühten.
»Sieh dir bloß mal das niedliche Gesichtchen
an.«
»Ja. Ich hoffe, sie kann sich noch verpuppen, bevor
die Blätter fallen. Daddy kommt nicht zum Abendessen.«
Pat zuckte gleichmütig die Schultern. Sie hatte im
Moment nicht sonderlich viel für ihren Vater übrig. Er hatte ihre
Mutter mehr geliebt als sie, soviel wußte sie jetzt, und daß er sie
eigentlich nun besonders liebhaben müßte, um ihren Verlust
wiedergutzumachen. Ein Lehrer in der Schule hatte ihr gesagt, das
täten alle Väter. Sie hatte gewartet, aber er hatte es nicht getan.
Schon immer war er oft spät von der Arbeit nach Hause gekommen,
aber jetzt blieb er fast die ganze Zeit weg. So hatte sie ihre
schlichte, tierhafte Liebe auf Tante Grace übertragen. Es wäre
nett, dachte sie bei sich, wenn John und ihr Vater fortgingen und
sie und ihre Tante allein ließen. Dann könnten sie beide es
wirklich schön haben und noch bessere und sogar seltenere Raupen
sammeln und Bücher über Naturgeschichte und Naturwissenschaften und
das Bolschoi-Ballett lesen.
Sie setzte sich neben ihre Tante an den Tisch und
fing an von der Schinken-Geflügel-Pastete zu essen, die genauso
schmeckte wie die von ihrer Mutter.
Ihr Bruder sagte: »Wir haben heute in der Schule
über die Gleichheit der Geschlechter diskutiert.«
»Das ist ein interessantes Thema«, meinte Grace.
»Was hast du dazu gesagt?«
»Ich habe das Reden den anderen überlassen. Eins
habe ich aber gesagt, daß weibliche Gehirne weniger wiegen als
männliche.«
»Tun sie gar nicht«, widersprach Pat.
»Doch, tun sie. Stimmt’s, Tante Grace?«
»Stimmt leider«, sagte Grace, die Krankenschwester
gewesen war. »Das heißt aber nicht, daß sie nicht genauso gut
sind.«
“Ich wette«, meinte Pat mit einem rachsüchtigen
Blick auf ihren Bruder,”ich wette, meins wiegt mehr als deins. Mein
Kopf ist größer. Und überhaupt, das ist alles langweilig,
Diskussionen und so’n Zeug. Nur Gerede.«
“Komm, Schatz, iß deine Pastete.«
»Wenn ich groß bin«, sagte Pat und fing damit ein
Dauerthema an, »dann werde ich nicht reden und diskutieren und all
so öde Sachen. Ich mache meinen Abschluß - nein, vielleicht warte
ich doch lieber, bis ich meinen Doktor habe - und dann gehe ich
nach Schottland und erforsche die Lochs, alle ganz tiefen Seen, und
dann entdecke ich die Monster, die da drin leben, und
dann...«
»Es gibt keine Monster. Sie haben gesucht und nie
eins gefunden.«
Pat beachtete ihren Bruder nicht. »Ich werde
Taucher haben und ein Spezialboot und eine ganze Mannschaft, und
Tante Grace sorgt für uns alle und kocht für uns.«
Ein heftiger Streit entbrannte daraufhin zwischen
den beiden. Es konnte durchaus so kommen, dachte Grace. Das war das
Schreckliche, es konnte durchaus so kommen. Manchmal sah sie es vor
sich, wie sie weiter hier lebte, bis die beiden erwachsen waren und
sie alt und Pats Haushälterin. Wozu sonst würde sie dann sonst
schon noch taugen? Und was spielte es für eine Rolle, ob ihr Gehirn
weniger oder mehr oder genauso viel wog wie das eines Mannes, wenn
es in einem kleinen Haus im tiefsten Sussex vor sich hin
schrumpfte?
Bei Jeans Tod war sie als Schwester in einem großen
Londoner Lehrkrankenhaus gewesen und hatte ihre sechs Wochen
Jahresurlaub genommen, um herzukommen und sich um Mike und seine
Kinder zu kümmern. Nur sechs Wochen wollte sie bleiben. Man
verbrachte nicht Jahre seines Lebens mit Ausbildung, nahm
Gehaltseinbußen in Kauf, um weitere Qualifikationen zu erwerben,
ging zwei Jahre in die USA, um in einer Bostoner Klinik die
neuesten Geburtshilfemethoden zu lernen, nur um dann alles
aufzugeben. Im Krankenhaus hatte man ihr gesagt, sie solle nicht
gehen, aber sie hatte nur gelacht. Doch aus den sechs Wochen waren
sechs Monate geworden, dann neun, zehn, und nun war ihre Stelle im
Krankenhaus besetzt.
Gedankenvoll betrachtete sie die Kinder. Wie konnte
sie sie jetzt im Stich lassen? Wie konnte sie auch nur daran
denken, sie in den nächsten fünf Jahren zu verlassen? Und selbst
dann wäre Pat erst sechzehn.
Es war alles Mikes Fehler. Scheußlich, so zu
denken, aber wahr. Andere Männer verloren auch ihre Frauen. Und
andere Männer fanden sich damit ab. Mike konnte sich bei seinem
Gehalt und seinen Beihilfen eine Haushälterin leisten. Und es war
nicht nur das. Ein Mann von Mikes Intelligenz sollte sich
klarmachen, was er ihr und den Kindern antat. Sie war auf seine
Einladung hin gekommen, auf seine leidenschaftliche Bitte hin, und
hatte geglaubt, er würde sie bei ihrer Aufgabe unterstützen; sie
war sicher gewesen, daß er sich bemühen würde, die Abende zu Hause
zu verbringen, an den Wochenenden etwas mit den Kindern zu
unternehmen, sie bis zu einem gewissen Grade für den Verlust der
Mutter zu entschädigen. Nichts davon hatte er getan. Wann hatte er
zuletzt einen Abend zu Hause verbracht? Vor drei Wochen? Vor vier?
Und er arbeitete nicht immer. Eines Abends, als sie den Anblick von
Johns verbittertem, rebellischem Gesicht nicht länger ertragen
konnte, hatte sie Wexford angerufen, und der Chief Inspector hatte
ihr gesagt, Mike sei um fünf Uhr gegangen. Später erzählte ihr eine
Nachbarin, wohin Mike ging. Sie hatte ihn auf einem Waldweg in
Cheriton Forest in seinem Wagen gesehen, wie er einfach nur dasaß
und auf die geraden, gleichförmigen, endlosen Baumreihen
starrte.
»Sollen wir ein bißchen fernsehen?« sagte sie,
bemüht, sich die Erschöpfung nicht anhören zu lassen. »Ich glaube,
es gibt heute einen ganz guten Film.«
»Zuviel Hausaufgaben«, sagte John. »Und ich kann
Mathe nicht machen, ehe mein Vater nicht da ist. Hast du gesagt, er
kommt um zehn?«
»Er hat gesagt, gegen zehn.«
»Dann gehe ich mal in mein Zimmer.«
Grace und Pat setzten sich aufs Sofa und sahen sich
den Film an. Er handelte vom häuslichen Leben eines Polizisten und
hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit.
Burden fuhr nach Stowerton, durch das
Neubauviertel und in die alte High Street. Fontaine Road lag
parallel zur Wincanton Road, und da hatten er und Jean vor Jahren,
als sie jung verheiratet waren, eine Wohnung gehabt. Wo auch immer
er hinkam in Kingsmarkham und seiner Umgebung, stieß er auf Orte,
wo er und Jean gewesen oder wo sie zu irgendeiner besonderen
Gelegenheit hingefahren waren. Er konnte diese Plätze nicht
vermeiden, aber der Anblick tat jedesmal aufs neue weh, und der
Schmerz wollte nicht vergehen. Seit ihrem Tod hatte er um die
Wincanton Road einen Bogen gemacht, denn dort waren sie ganz
besonders glücklich gewesen; ein junges Liebespaar, das lernt, was
Liebe ist. Heute war ein schlimmer Tag, schlimm, weil er aus
irgendeinem Grund ganz besonders verletzlich und kribbelig war, und
er hatte das Gefühl, der Anblick des Hauses, in dem sie gewohnt
hatten, könnte das Faß zum Überlaufen bringen. Seine
Selbstbeherrschung könnte völlig zusammenbrechen, und er würde am
Tor stehen und weinen.
Er hielt den Blick starr geradeaus gerichtet und
schaute nicht einmal auf das Straßenschild, als er vorbeifuhr. Dann
bog er links in die Fontaine Road ein und hielt vor dem Haus Nummer
61 an.
Es war ein sehr häßliches Haus, vielleicht achtzig
Jahre alt und umgeben von einem wilden, ungepflegten Garten voller
alter Obstbäume, deren Blätter in Haufen im Gras lagen. Das Haus
war aus khakifarbenem Backstein und hatte ein kaum ansteigendes,
fast flaches Schieferdach. Die Schiebefenster waren sehr klein, die
Eingangstür dafür enorm, beinah überproportional, ein großes,
schweres Ungetüm von einer Tür mit roten und blauen Scheiben. Sie
stand einen Spaltbreit offen.
Burden ging nicht sofort ins Haus. Wexfords Wagen
stand zwischen anderen Polizeiautos am Zaun, der das Ende der
Straße von dem angrenzenden Feld trennte, auf dem die Gemeinde
Stowerton einen Spielplatz angelegt hatte. Dahinter weitere Felder,
Wald, sanft gewellte Landschaft.
Wexford saß in seinem Wagen und studierte ein
Meßtischblatt. Als Burden herantrat, sah er auf und sagte: »Nett,
daß Sie so schnell da sind. Ich bin auch eben erst gekommen. Wollen
Sie mit der Mutter reden, oder soll ich?«
»Ich werde es machen«, sagte Burden.
Ein schwerer Türklopfer in Form eines Löwenkopfes
mit einem Ring durchs Maul war an der Haustür von Nr. 61
angebracht. Burden klopfte leicht, dann stieß er die Tür auf.