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»Die Schönwetterperiode, die wir oft Mitte Oktober haben, ist allgemein als St. Lukas Little Summer bekannt. Das mit dem kleinen Sommer bedarf keiner Erklärung; und St. Lukas hat sich durch den 18. ergeben, der zufälligerweise der Tag dieses Heiligen ist.« Station Sergeant Camb bedachte Harry Wild mit dieser ebenso interessanten wie nutzlosen Information, streckte sich genießerisch in der warmen Herbstsonne und lächelte sein Gegenüber salbungsvoll an.
»Ach, wirklich? Vielleicht schreibe ich was in meiner Kolumne Gehört, Notiert darüber.« Wild zog an seiner übelriechenden alten Pfeife und stützte mit Lederflicken besetzte Ellbogen auf den Tresen. Er gähnte. »Haben Sie nicht ein bißchen was Aufregenderes für mich?«
Camb ließ sich durch das Gähnen anstecken und gähnte seinerseits. Zum drittenmal machte er eine Bemerkung über das schwüle Wetter, dann schlug er sein Buch auf.
»Zusammenstoß zweier Fahrzeuge an der Kreuzung Kingsmarkham High und Queen Street«, las er. »Keine Verletzten. Das war Sonntag. Kein Thema für den Courier, oder? Siebzehnjähriges Mädchen vermißt, aber wir wissen schon, wo sie ist. Ach, und ein Pavian ist aus der Tierhandlung entlaufen...« Wild sah mit mildem Interesse auf. »...Nur haben sie ihn auf ihrem eigenen Balkon gefunden, wo er sich in der Mülltonne verkrochen hatte.«
»Welch ein langweiliges Nest«, sagte Wild. Er steckte sein Notizbuch weg. »Aber ich habe mich ja fürs ruhige Leben entschieden. Ich könnte morgen in Fleet Street anfangen, wenn ich Lust hätte. Ich müßte nur einen Ton sagen, und schon wäre ich da, wo sich wirklich was tut.«
»Klar... Camb wußte sehr wohl, daß Wild als Chefreporter beim Kingsmarkham Courier blieb, weil Bequemlichkeit und allgemeine Unfähigkeit, wie auch sein inzwischen fortgeschrittenes Alter, ihn für eine bedeutendere Zeitung kaum geeignet erscheinen ließen. Wild kam regelmäßig aufs Revier, länger als es Cambs Erinnerung lieb war, und jedesmal redete er über Fleet Street, als habe er abgelehnt, und nicht umgekehrt. Doch um des lieben Friedens und der angenehmen Atmosphäre willen erhielten sie das Märchen aufrecht. »Bei mir ist es genau dasselbe«, sagte er. »Wie oft hat Mr. Wexford mich im Lauf der Jahre nicht schon angefleht, zu überlegen, ob ich zum C. I. D. gehen will, aber ich wollte nie. Ich bin nicht ehrgeizig. Was natürlich nicht heißt, daß mir die Befähigung gefehlt hätte.«
»Sicher hätten Sie die gehabt.« Als fairer Mitspieler gab Wild das Lob zurück. »Aber wohin führt dieser Ehrgeiz denn? Sehen Sie sich Inspektor Burden an, um ein Beispiel zu nehmen. Noch keine vierzig und total ausgelaugt, wenn ich das mal sagen darf.«
“Na, er hat ja auch viel durchgemacht, oder? Auf die Weise seine Frau zu verlieren, und das mit zwei unmündigen Kindern.«
Wild gab einen tiefen, kummervollen Seufzer von sich. »Das«, meinte er, »war eine tragische Geschichte. Krebs, wenn ich mich recht erinnere.«
»Stimmt. Letztes Jahr um diese Zeit munter wie ein Fisch im Wasser, und Weihnachten tot. Erst fünfunddreißig. Macht einen irgendwie nachdenklich.«
»Mitten aus dem Leben. Kommt mir vor, als hätt’s ihn hart getroffen. Die beiden haben wohl sehr aneinander gehangen?«
»Mehr Liebes- als Ehepaar.« Camp räusperte sich und stand strammer, als die Fahrstuhltür aufging und Chief Inspector Wexford heraustrat.
»Na, Sergeant, wieder mal beim Tratschen? Tag, Harry.« Wexford warf nur einen kurzen Blick auf die beiden leeren Teetassen auf dem Tresen. »Das erinnert mich hier von Woche zu Woche mehr an Kaffeeklatsch beim Müttergenesungswerk.«
»Ich war gerade dabei«, sagte Camb würdevoll, »Mr. Wild von unserem entsprungenen Pavian zu erzählen.«
»Liebe Güte, eine heiße Neuigkeit. Da läßt sich doch was draus machen, Harry. Terrorisiert die Bevölkerung, Mütter wagen Kinder nicht aus den Augen zu lassen. Kann eine Frau sich sicher fühlen, solange diese wilde Bestie unsere Gefilde durchstreift?«
»Er ist gefunden worden, Sir. In einer Mülltonne.«
»Sergeant, wenn ich nicht wüßte, daß Sie dazu gar nicht fähig sind, würde ich sagen, Sie machen sich über mich lustig.« Wexford bebte vor verhaltenem Lachen. »Wenn Inspector Burden kommt, sagen Sie ihm, daß ich gegangen bin, ja? Ich möchte gern für ein paar Stunden unseren Altweibersommer genießen.«
“St. Lukas Little Summer, Sir.«
“Tatsächlich? Ich lasse mich belehren. Wünschte, ich hätte die Zeit, solch faszinierende Einzelheiten meteorologischen Wissens auszugraben. Sie können mitfahren, Harry, falls Sie mit Ihrem Affenzirkus hier fertig sind.«
Camb feixte. »Die Firma dankt«, sagte Wild.
Es war schon nach fünf, aber immer noch sehr warm. Der Sergeant reckte sich und wünschte, Constable Peach käme, damit er ihn in die Kantine schicken konnte, frischen Tee zu holen. Noch eine halbe Stunde, dann hatte er Feierabend.
Kurz darauf klingelte das Telefon.
Eine Frauenstimme, tief und wohltönend. Schauspielerin, dachte Camb. »Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber mein kleiner Sohn... Er ist - also, er hat draußen gespielt, und jetzt ist er - er ist verschwunden. Ich weiß nicht... mache ich vielleicht zuviel Aufhebens?«
»Nicht im mindesten, gnädige Frau«, sagte Camb beruhigend. »Dazu sind wir ja da, daß man uns stört. Wie war der Name?«
»Lawrence. Ich wohne Fontaine Road 61, in Stowerton.«
Camb zögerte einen Moment. Dann fiel ihm ein, daß Wexford angeordnet hatte, alle Fälle vermißter Kinder sollten ans C.I.D, gemeldet werden. Sie wollten keinen weiteren Fall Stella Rivers...
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Lawrence, ich verbinde Sie mit jemandem, der Ihnen helfen wird.« Er stellte durch, hörte Sergeant Martins Stimme, legte auf.
Sergeant Camb seufzte. Schade, daß Harry ausgerechnet jetzt gegangen war, gerade wenn die einzige Neuigkeit seit Wochen kam. Er konnte den armen alten Harry anrufen... Morgen genügte auch noch. Das Kind würde man sowieso finden, wie den Affen. Verlorengegangene Menschen und Sachen fanden sich in Kingsmarkham normalerweise wieder, und das in mehr oder weniger gutem Zustand. Camb drehte den Kopf in der Sonne wie eine Scheibe Toast vor einem offenen Feuer. Es war zwanzig nach fünf. Um sechs würde er sich in Severn Court, Station Road an den Abendbrottisch setzen; danach ein kleiner Gang mit seiner Frau zum Dragon, dann fernsehen...
»Kleines Nickerchen, Sergeant?« ertönte eine eisige Stimme, scharf wie eine frisch ausgepackte Rasierklinge. Camb kippte vor Schreck beinah vom Stuhl.
»Oh, Entschuldigung, Mr. Burden. Das ist die Wärme, sie macht einen schläfrig. St. Lukas Little Summer nennt man das, weil...«
»Sind Sie denn ganz und gar von der Rolle, verdammt noch mal?« Burden hatte früher nie geflucht. Sie hatten sich sogar über ihn lustig gemacht auf dem Revier, weil er den Namen des Herrn nie mißbräuchlich führte oder verdammt sagte oder all die üblichen Dinge. Camb hatte es früher besser gefallen. Er fühlte, wie er rot wurde, und nicht von der Sonne. “Gibt’s was für mich?« blaffte Burden.
Camb sah ihn traurig an. Inspector Burden tat ihm entsetzlich leid, sein Herz zog sich zusammen für den leidgeprüften Kollegen, und deshalb verzieh er ihm die Demütigung und Zurechtweisung vor Martin und Gates und sogar vor Peach. Camb konnte sich nicht vorstellen, wie es war, seine Frau zu verlieren, die Mutter seiner Kinder, und allein und verzweifelt zurückzubleiben. Burden war so dünn. Die Backenknochen zeichneten sich scharf unter der straff gespannten Haut ab, und seine Augen glitzerten bösartig, wenn man ihn flüchtig ansah, aber wenn man genauer hinschaute, war der Anblick fast nicht zu ertragen. Er war mal ein recht ansehnlicher Mann gewesen. Englischer Typ, blond und mit frischem Teint. Aber jetzt waren alle Farbe und alles Leben aus ihm gewichen, und er wirkte grau. Er trug noch immer eine schwarze Krawatte, so eng zusammengezogen, daß man meinte, sie müsse ihn erwürgen.
Damals, als es geschehen war, hatte der Sergeant wie alle anderen sein Beileid ausgedrückt, und das war in Ordnung, es wurde erwartet. Später dann hatte er versucht, etwas Herzlicheres, Persönlicheres zu sagen, und Burden hatte sich gegen ihn gewandt wie einer, der sein Schwert zieht. Er hatte schreckliche Dinge gesagt. Sie von diesem zurückhaltenden, beherrschten Mann zu hören war viel schlimmer als von den Kingsmarkhamer Rowdies, die immer so redeten. Wie wenn man ein hübsches Buch aufschlägt, von jemand geschrieben, dessen Bücher man schätzt und sich in der Bücherei extra zurücklegen läßt, und auf ein Wort stößt, das sonst immer nur durch Pünktchen ersetzt wird.
Obwohl Camb in diesem Augenblick eigentlich lieber etwas Freundlicheres gesagt hätte - war er nicht alt genug, um der Vater dieses Mannes zu sein? -, seufzte er nur und antwortete mit seiner ausdruckslosen, offiziellen Stimme: “Mr. Wexford ist nach Hause gegangen, Sir. Er sagt, er...«
»Das ist alles?«
»Nein, Sir. Da ist ein vermißtes Kind und...«
»Warum, zum Teufel, sagen Sie das nicht gleich?«
“Ist schon alles in die Wege geleitet«, stammelte Camb. »Martin weiß davon und hat bestimmt Mr. Wexford angerufen. Hören Sie, Sir, es steht mir nicht zu, mich da einzumischen, aber - also, warum gehen Sie nicht einfach nach Hause, Sir?«
»Wenn ich Ihren Rat brauche, Sergeant, frage ich Sie. Das letzte vermißte Kind ist nie gefunden worden. Ich werde nicht nach Hause gehen.« Wozu auch. Er sprach es nicht aus, aber die Worte waren da, und der Sergeant hatte sie gehört. »Geben Sie mir eine Leitung nach draußen, ja?«
Camb tat wie geheißen, und Burden sagte: »Meine Wohnung.« Als Grace Woodville am Apparat war, übergab Camb den Hörer an ihren Schwager. »Grace? Mike hier. Warte nicht mit dem Essen auf mich. Ein Kind wird vermißt. Ich komme wahrscheinlich gegen zehn.«
Burden knallte den Hörer auf und ging zum Fahrstuhl. Camb starrte zehn Minuten lang ausdruckslos auf die Türen, dann kam Sergeant Mathers herunter, um ihn abzulösen.
 
Der Bungalow in der Tabard Road sah genauso aus wie zu Jean Burdens Lebzeiten. Die Böden glänzten, die Fenster blitzten, und in den Steingutvasen standen Blumensträuße - um diese Jahreszeit waren es Chrysanthemen. Schlichtes englisches Essen wurde zur geregelten Zeit aufgetragen, und die Kinder wirkten gepflegt wie von einer liebevollen Mutter. Um halb neun waren die Betten gemacht, gegen neun hing die Wäsche auf der Leine, und eine wohlklingende, fröhliche Stimme begrüßte die Nachhausekommenden.
Grace Woodville hatte für all das gesorgt. Das Haus genauso zu führen wie zuvor ihre Schwester und mit den Kindern ebenso umzugehen, wie sie es getan hatte, war ihr als einzig möglicher Weg erschienen. Sie selbst sah ihr schon so ähnlich, wie ein Nichtzwilling seiner Schwester nur sehen kann. Und es hatte sich als richtig erwiesen. Manchmal schienen John und Pat es beinah zu vergessen. Sie kamen zu ihr, wenn sie verletzt oder in Schwierigkeiten waren oder etwas Interessantes zu erzählen hatten, genau wie sie es bei Jean getan hatten. Sie schienen glücklich zu sein, die Wunde vom vergangenen Jahr schien langsam zu verheilen. Für die Kinder und das Haus und die praktischen Alltagsdinge hatte es sich als richtig erwiesen, aber nicht für Mike. Natürlich nicht. Hatte sie das wirklich angenommen?
Sie legte den Telefonhörer auf und schaute in den Spiegel, aus dem Jeans Gesicht ihr entgegenblickte. Solange Jean noch lebte, hatte sie es nie so empfunden, ihr Gesicht war ihr ganz anders, kantiger und energischer und ausgefüllter und - ja, warum sollte man es nicht sagen? - intelligenter erschienen. Nun sah es aus wie Jeans. Die Lebhaftigkeit, der scharfe Witz waren daraus verschwunden, und das war nicht weiter verwunderlich, wenn sie überlegte, wie sie ihre Tage verbrachte, mit Kochen und Saubermachen und Trösten und dem Warten auf einen Mann, der alles als selbstverständlich ansah.
»John?« rief sie laut. »Das war dein Vater. Er kommt nicht vor zehn nach Hause, ich glaube, wir sollten schon mal essen, oder?« Seine Schwester suchte im Garten Raupen für ihre Sammlung, die sie in der Garage hatte. Grace hatte mehr Angst vor Raupen als die meisten Frauen vor Mäusen oder Spinnen, doch sie mußte vorgeben, sie zu mögen, ja sich sogar für sie zu begeistern, weil sie doch Pat die Mutter ersetzen mußte. »Pat! Essen, Schätzchen. Beeil dich.«
Das kleine Mädchen war elf. Sie kam herein und schob die Streichholzschachtel auf, die sie in der Hand hielt. Beim Anblick der fetten grünen Kreatur darin krampfte sich Grace alles zusammen. »Sehr hübsch«, meinte sie schwach. »Ein Lindenschwärmer?« Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht, und wie alle Kinder wußte Pat Erwachsene zu schätzen, die sich bemühten.
»Sieh dir bloß mal das niedliche Gesichtchen an.«
»Ja. Ich hoffe, sie kann sich noch verpuppen, bevor die Blätter fallen. Daddy kommt nicht zum Abendessen.«
Pat zuckte gleichmütig die Schultern. Sie hatte im Moment nicht sonderlich viel für ihren Vater übrig. Er hatte ihre Mutter mehr geliebt als sie, soviel wußte sie jetzt, und daß er sie eigentlich nun besonders liebhaben müßte, um ihren Verlust wiedergutzumachen. Ein Lehrer in der Schule hatte ihr gesagt, das täten alle Väter. Sie hatte gewartet, aber er hatte es nicht getan. Schon immer war er oft spät von der Arbeit nach Hause gekommen, aber jetzt blieb er fast die ganze Zeit weg. So hatte sie ihre schlichte, tierhafte Liebe auf Tante Grace übertragen. Es wäre nett, dachte sie bei sich, wenn John und ihr Vater fortgingen und sie und ihre Tante allein ließen. Dann könnten sie beide es wirklich schön haben und noch bessere und sogar seltenere Raupen sammeln und Bücher über Naturgeschichte und Naturwissenschaften und das Bolschoi-Ballett lesen.
Sie setzte sich neben ihre Tante an den Tisch und fing an von der Schinken-Geflügel-Pastete zu essen, die genauso schmeckte wie die von ihrer Mutter.
Ihr Bruder sagte: »Wir haben heute in der Schule über die Gleichheit der Geschlechter diskutiert.«
»Das ist ein interessantes Thema«, meinte Grace. »Was hast du dazu gesagt?«
»Ich habe das Reden den anderen überlassen. Eins habe ich aber gesagt, daß weibliche Gehirne weniger wiegen als männliche.«
»Tun sie gar nicht«, widersprach Pat.
»Doch, tun sie. Stimmt’s, Tante Grace?«
»Stimmt leider«, sagte Grace, die Krankenschwester gewesen war. »Das heißt aber nicht, daß sie nicht genauso gut sind.«
“Ich wette«, meinte Pat mit einem rachsüchtigen Blick auf ihren Bruder,”ich wette, meins wiegt mehr als deins. Mein Kopf ist größer. Und überhaupt, das ist alles langweilig, Diskussionen und so’n Zeug. Nur Gerede.«
“Komm, Schatz, iß deine Pastete.«
»Wenn ich groß bin«, sagte Pat und fing damit ein Dauerthema an, »dann werde ich nicht reden und diskutieren und all so öde Sachen. Ich mache meinen Abschluß - nein, vielleicht warte ich doch lieber, bis ich meinen Doktor habe - und dann gehe ich nach Schottland und erforsche die Lochs, alle ganz tiefen Seen, und dann entdecke ich die Monster, die da drin leben, und dann...«
»Es gibt keine Monster. Sie haben gesucht und nie eins gefunden.«
Pat beachtete ihren Bruder nicht. »Ich werde Taucher haben und ein Spezialboot und eine ganze Mannschaft, und Tante Grace sorgt für uns alle und kocht für uns.«
Ein heftiger Streit entbrannte daraufhin zwischen den beiden. Es konnte durchaus so kommen, dachte Grace. Das war das Schreckliche, es konnte durchaus so kommen. Manchmal sah sie es vor sich, wie sie weiter hier lebte, bis die beiden erwachsen waren und sie alt und Pats Haushälterin. Wozu sonst würde sie dann sonst schon noch taugen? Und was spielte es für eine Rolle, ob ihr Gehirn weniger oder mehr oder genauso viel wog wie das eines Mannes, wenn es in einem kleinen Haus im tiefsten Sussex vor sich hin schrumpfte?
Bei Jeans Tod war sie als Schwester in einem großen Londoner Lehrkrankenhaus gewesen und hatte ihre sechs Wochen Jahresurlaub genommen, um herzukommen und sich um Mike und seine Kinder zu kümmern. Nur sechs Wochen wollte sie bleiben. Man verbrachte nicht Jahre seines Lebens mit Ausbildung, nahm Gehaltseinbußen in Kauf, um weitere Qualifikationen zu erwerben, ging zwei Jahre in die USA, um in einer Bostoner Klinik die neuesten Geburtshilfemethoden zu lernen, nur um dann alles aufzugeben. Im Krankenhaus hatte man ihr gesagt, sie solle nicht gehen, aber sie hatte nur gelacht. Doch aus den sechs Wochen waren sechs Monate geworden, dann neun, zehn, und nun war ihre Stelle im Krankenhaus besetzt.
Gedankenvoll betrachtete sie die Kinder. Wie konnte sie sie jetzt im Stich lassen? Wie konnte sie auch nur daran denken, sie in den nächsten fünf Jahren zu verlassen? Und selbst dann wäre Pat erst sechzehn.
Es war alles Mikes Fehler. Scheußlich, so zu denken, aber wahr. Andere Männer verloren auch ihre Frauen. Und andere Männer fanden sich damit ab. Mike konnte sich bei seinem Gehalt und seinen Beihilfen eine Haushälterin leisten. Und es war nicht nur das. Ein Mann von Mikes Intelligenz sollte sich klarmachen, was er ihr und den Kindern antat. Sie war auf seine Einladung hin gekommen, auf seine leidenschaftliche Bitte hin, und hatte geglaubt, er würde sie bei ihrer Aufgabe unterstützen; sie war sicher gewesen, daß er sich bemühen würde, die Abende zu Hause zu verbringen, an den Wochenenden etwas mit den Kindern zu unternehmen, sie bis zu einem gewissen Grade für den Verlust der Mutter zu entschädigen. Nichts davon hatte er getan. Wann hatte er zuletzt einen Abend zu Hause verbracht? Vor drei Wochen? Vor vier? Und er arbeitete nicht immer. Eines Abends, als sie den Anblick von Johns verbittertem, rebellischem Gesicht nicht länger ertragen konnte, hatte sie Wexford angerufen, und der Chief Inspector hatte ihr gesagt, Mike sei um fünf Uhr gegangen. Später erzählte ihr eine Nachbarin, wohin Mike ging. Sie hatte ihn auf einem Waldweg in Cheriton Forest in seinem Wagen gesehen, wie er einfach nur dasaß und auf die geraden, gleichförmigen, endlosen Baumreihen starrte.
»Sollen wir ein bißchen fernsehen?« sagte sie, bemüht, sich die Erschöpfung nicht anhören zu lassen. »Ich glaube, es gibt heute einen ganz guten Film.«
»Zuviel Hausaufgaben«, sagte John. »Und ich kann Mathe nicht machen, ehe mein Vater nicht da ist. Hast du gesagt, er kommt um zehn?«
»Er hat gesagt, gegen zehn.«
»Dann gehe ich mal in mein Zimmer.«
Grace und Pat setzten sich aufs Sofa und sahen sich den Film an. Er handelte vom häuslichen Leben eines Polizisten und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit.
 
Burden fuhr nach Stowerton, durch das Neubauviertel und in die alte High Street. Fontaine Road lag parallel zur Wincanton Road, und da hatten er und Jean vor Jahren, als sie jung verheiratet waren, eine Wohnung gehabt. Wo auch immer er hinkam in Kingsmarkham und seiner Umgebung, stieß er auf Orte, wo er und Jean gewesen oder wo sie zu irgendeiner besonderen Gelegenheit hingefahren waren. Er konnte diese Plätze nicht vermeiden, aber der Anblick tat jedesmal aufs neue weh, und der Schmerz wollte nicht vergehen. Seit ihrem Tod hatte er um die Wincanton Road einen Bogen gemacht, denn dort waren sie ganz besonders glücklich gewesen; ein junges Liebespaar, das lernt, was Liebe ist. Heute war ein schlimmer Tag, schlimm, weil er aus irgendeinem Grund ganz besonders verletzlich und kribbelig war, und er hatte das Gefühl, der Anblick des Hauses, in dem sie gewohnt hatten, könnte das Faß zum Überlaufen bringen. Seine Selbstbeherrschung könnte völlig zusammenbrechen, und er würde am Tor stehen und weinen.
Er hielt den Blick starr geradeaus gerichtet und schaute nicht einmal auf das Straßenschild, als er vorbeifuhr. Dann bog er links in die Fontaine Road ein und hielt vor dem Haus Nummer 61 an.
Es war ein sehr häßliches Haus, vielleicht achtzig Jahre alt und umgeben von einem wilden, ungepflegten Garten voller alter Obstbäume, deren Blätter in Haufen im Gras lagen. Das Haus war aus khakifarbenem Backstein und hatte ein kaum ansteigendes, fast flaches Schieferdach. Die Schiebefenster waren sehr klein, die Eingangstür dafür enorm, beinah überproportional, ein großes, schweres Ungetüm von einer Tür mit roten und blauen Scheiben. Sie stand einen Spaltbreit offen.
Burden ging nicht sofort ins Haus. Wexfords Wagen stand zwischen anderen Polizeiautos am Zaun, der das Ende der Straße von dem angrenzenden Feld trennte, auf dem die Gemeinde Stowerton einen Spielplatz angelegt hatte. Dahinter weitere Felder, Wald, sanft gewellte Landschaft.
Wexford saß in seinem Wagen und studierte ein Meßtischblatt. Als Burden herantrat, sah er auf und sagte: »Nett, daß Sie so schnell da sind. Ich bin auch eben erst gekommen. Wollen Sie mit der Mutter reden, oder soll ich?«
»Ich werde es machen«, sagte Burden.
Ein schwerer Türklopfer in Form eines Löwenkopfes mit einem Ring durchs Maul war an der Haustür von Nr. 61 angebracht. Burden klopfte leicht, dann stieß er die Tür auf.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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