12
»Keine schlechten Nachrichten?« fragte Dr. Crocker. »Über den kleinen John Lawrence, meine ich?«
Verdrießlich beäugte Wexford die Papierstapel auf seinem Tisch und sagte: »Ich weiß gar nicht, worauf du hinauswillst.«
»Ihr habt also keine Hinweise? Ich war sicher, daß sich etwas getan hat, als ich Mike heute morgen um halb acht aus der Chiltern Avenue kommen sah.« Er hauchte kräftig an Wexfords Fensterscheiben und fing an, eine seiner ewigen Skizzen zu zeichnen. “Ich frage mich, was er da gemacht hat«, sagte er nachdenklich.
»Warum erzählst du mir das? Ich bin nicht sein Hüter.« Wexford funkelte den Doktor samt seiner Skizze einer menschlichen Bauchspeicheldrüse wild an. »Und überhaupt, ich könnte dich ja genausogut fragen, was du da gemacht hast.«
»Ein Patient. Ärzte haben immer eine Entschuldigung.«
»Polizisten auch«, entgegnete Wexford.
»Ich bezweifle, ob Mike seinen Dienst bei einem Schlaganfall ausgeübt hat. Übrigens der schlimmste Fall, der mir seit damals im Februar untergekommen ist, als ich zu diesem armen alten Knaben gerufen wurde, der auf dem Bahnsteig von Stowerton zusammengebrochen war. Hab ich dir das eigentlich mal erzählt? Der Mann hatte hier Urlaub gemacht, und als er zum Bahnhof kam, merkte er, daß er einen Koffer im Hotel, oder wo immer er gewohnt hatte, vergessen hatte. Er ist zurückgelaufen, um ihn zu holen, hat sich dabei wohl fürchterlich aufgeregt, und als nächstes...«
Wexford ließ ein ärgerliches Bellen los. »Na und? Warum erzählst du mir das? Ich dachte, es gibt so was wie ärztliche Schweigepflicht. Ich werde auch bald einen Schlaganfall kriegen, wenn du so weitermachst.«
»Eben diese Möglichkeit«, erwiderte Crocker liebenswürdig, »veranlaßt mich, meine kleine Geschichte zu erwähnen.« Er tupfte mit dem kleinen Finger die Langerhansschen Inseln hin. “Möchtest du ein neues Rezept für deine Tabletten?«
»Nein. Möchte ich nicht. Ich habe Hunderte von den verdammten Dingern übrig.«
»Also, das dürfte aber nicht sein«, sagte Crocker und richtete seinen feuchten Finger auf ihn. »Dann kannst du sie nicht regelmäßig genommen haben.«
»Hau bloß ab. Verkrümel dich. Hast du nichts Besseres zu tun, als meine Fenster mit deinen garstigen anatomischen Studien zu verunzieren?«
»Bin schon weg.« Der Doktor tänzelte davon, hielt in der Tür inne und beglückte den Chief Inspector mit einem, nach Wexfords Ansicht, absolut unsinnigen Augenzwinkern.
»Dummerjan«, bemerkte Wexford in den leeren Raum. Doch Crockers Besuch hinterließ ein unbehagliches Gefühl. Um es loszuwerden, fing er an, die Berichte der Kollegen von der Metropolitan Police durchzulesen, die Gemma Lawrences Freunde befragt hatten.
Größtenteils schienen sie beim Theater zu sein oder damit zu tun zu haben, doch kaum ein Name war ihm bekannt. Seine jüngere Tochter hatte eben die Schauspielschule absolviert, und durch sie hatte Wexford viele Schauspielemamen gehört, die noch nie irgendwo in Leuchtschrift erschienen oder in der Radio Times aufgetaucht waren. Keiner davon kam in der Liste vor, und er konnte ihre Berufe nur aus den Bezeichnungen ‘Schauspieler’ oder’Regieassistent’ oder ‘Modell’ ersehen, die hinter fast jedem Namen standen.
Es war eine unstete Gesellschaft, meist - in Wexfords offizieller Terminologie - ohne festen Wohnsitz. Ein halbes Dutzend von ihnen war wegen Drogenbesitzes oder der Duldung von Drogenmißbrauch in ihren Wohnungen vorbestraft; zwei oder drei weitere waren wegen Anstiftung zum Landfriedensbruch zu Geldstrafen verurteilt worden. Teilnahme an Demonstrationen oder Strip-Aktionen in der Albert Hall, vermutete Wexford. Keiner hielt John Lawrence fest; keiner gab durch seine Vorgeschichte oder durch gegenwärtiges Verhalten Anlaß zu der Annahme, er neige zu Gewalttätigkeit oder Perversion. Zwischen den Zeilen las er, daß diese Leute eher fast alles tun würden, um kein Kind in die Welt zu setzen, als die Gesellschaft eines Kindes herbeizusehnen.
Lediglich zwei Namen auf der Liste sagten ihm etwas. Der eine gehörte zu einer Ballettänzerin und war einmal in aller Munde gewesen, der andere einem Fernsehstar, dessen Gesicht mit so regelmäßiger Monotonie auf Wexfords Bildschirm erschien, daß er es nicht mehr sehen konnte. Er hieß Gregory Devaux und war mit den Eltern von Gemma Lawrence befreundet gewesen. Man hatte ihm besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn vor ungefähr fünf Jahren hatte er versucht, seinen sechsjährigen Sohn der Obhut seiner Exfrau zu entziehen und ihn außer Landes zu schmuggeln. In dem Bericht hieß es, man werde Gregory Devaux im Auge behalten.
Der Portier des Appartementhauses in Kensington, wo Leonie West eine Wohnung besaß, hatte ausgesagt, sie halte sich seit August in Südfrankreich auf.
Nichts also. Kein Hinweis darauf, daß einer von ihnen mehr als ein gelegentliches, freundliches Interesse an Mrs. Lawrence oder ihrem Sohn hatte; kein Hinweis darauf, daß zwischen irgendeinem dieser Leute und Ivor Swan eine Verbindung bestand.
Um zehn kam Martin mit der Polizistin Polly Davies, die Wexford unter der roten Perücke kaum wiedererkannte.
»Sie sehen grauenhaft aus«, sagte er. »Wo um Himmels willen haben Sie denn das ausgegraben? Bei einem Ramschbazar?«
“Woolworth, Sir«, erwiderte Martin etwas beleidigt. »Sie sagen doch immer, wir sollen die Ausgaben niedrig halten.«
»Zweifellos würde es echter aussehen, wenn Polly keine dunklen Augen und nicht so einen - na ja - walisischen Teint hätte. Aber macht nichts, Sie müssen sowieso was drüberziehen. Es gießt ja.«
Sergeant Martin nahm stets in altweiberhafter Weise Anteil am Wetter und dessen Launen. Nachdem er erst Dr. Crockers Bauchspeicheldrüsen-Zeichnung weggewischt hatte, öffnete er das Fenster und streckte eine Hand nach draußen. “Ich glaube, es hört auf, Sir, ich sehe einen hellen Streifen am Horizont.«
»Wenn Sie nur recht hätten«, sagte Wexford. »Und jetzt verbergen Sie bitte Ihr Entsetzen, so gut es geht. Ich habe nämlich beschlossen mitzukommen. All dies Leben aus zweiter Hand macht mich krank.«
Im Gänsemarsch gingen sie den Korridor entlang, gebremst von Burden, der eben die Tür seines eigenen Büros aufmachte. Wexford betrachtete ihn eingehend von oben bis unten.
»Was ist denn in Sie gefahren? Sind Sie am Aktienmarkt groß rausgekommen?«
Burden lächelte.
»Ich bin froh«, meinte Wexford sarkastisch, »daß wenigstens einer sich in der Lage sieht, in dieser Sintflut ein bißchen Sonnenschein zu verbreiten, in dieser - äh - Stadt des Terrors. Was wollten Sie denn überhaupt?«
»Ich dachte, Sie haben die heutige Zeitung vielleicht noch nicht gesehen. Da ist eine interessante Geschichte auf der ersten Seite.«
Wexford nahm ihm die Zeitung aus der Hand und las die Geschichte, während sie im Fahrstuhl nach unten fuhren. »Landbesitzer bietet 2000 Pfund Belohnung. Neue Entwicklung im Fall Stella Rivers«, las er, »Group Captain Percival Swan, wohlhabender Landbesitzer und Onkel von Mr. Ivor Swan, Stella Rivers Stiefvater, erzählte mir gestern abend, er habe eine Belohnung in Höhe von 2000 Pfund für Informationen bereitgestellt, die zur Entdeckung von Stellas Mörder führen. ‘Das Ganze ist eine teuflische Sache’, sagte er, als wir uns im Wohnraum seines jahrhundertealten Anwesens bei Tunbridge Wells unterhielten. ‘Ich hatte Stella gern, obwohl ich sie selten sah. Zweitausend Pfund sind eine große Summe, doch kein zu großes Opfer, um dem Recht zum Recht zu verhelfen.’«
Im selben Tenor ging es noch ein Weilchen weiter. Auch wieder nicht so interessant, dachte Wexford, als er in seinen Wagen stieg.
 
Getreu Sergeant Martins Vorhersage hörte der Regen bald auf. Cheriton Forest lag in dichten, weißen Dunst gehüllt.
»Sie können das Ding ebensogut abnehmen«, sagte Wexford zu Polly Davies. »Er wird Sie sowieso nicht sehen, falls er überhaupt kommt.«
Doch es kam niemand. Kein Auto fuhr auf der Straße vorbei, und niemand kam die Myfleet Ride entlang, die in sie einmündete. Nur der Dunst wallte träge, und das Wasser tropfte ununterbrochen von den Ästen der eng gepflanzten Fichten. Wexford saß auf einem feuchten Stamm zwischen den Bäumen und dachte an Ivor Swan, der in diesem Wald herumritt und sich hier gut auskannte, der an dem Tag hier geritten war, als seine Stieftochter sterben mußte. Nahm er wirklich an, Swan würde auf dem nassen Sandweg erscheinen, oder hoch zu Roß? Das Kind vor sich im Sattel oder an der Hand? Ein Schwindel, ein Schwindel, ein grausamer Unsinn, sagte er sich immer wieder, und gegen eins, als die verabredete Zeit eine Stunde überschritten war und er selbst vor Kälte zitterte, trat er aus seinem Versteck und pfiff die anderen beiden herbei.
Wenn Burdens morgendliche gute Laune anhielt, konnte er immerhin mit einem fröhlichen Tischgenossen rechnen. Der Empfangstresen des Polizeireviers war verwaist, eine bislang nicht dagewesene Pflichtvergessenheit. Mit wachsendem Zorn betrachtete Wexford den leeren Hocker, auf dem eigentlich Sergeant Camb sitzen sollte; er wollte gerade die Klingel drücken, die niemals zuvor in all den Jahren ihrer Existenz hatte betätigt werden müssen, als der Sergeant auftauchte, vom Fahrstuhl herübertrippelnd, in der Hand die unvermeidliche Teetasse.
»Tut mir leid, Sir. Wir sind so unterbesetzt durch all die verrückten Anrufe, die ständig kommen, daß ich mir meinen Tee selber holen mußte. Ich war keine zwei Sekunden weg. Sie kennen mich, Sir. Ohne meinen Tee gehe ich ein.«
»Nächstes Mal gehen Sie tatsächlich ein«, sagte Wexford. »Denken Sie dran, Sergeant, die Wache fällt, doch sie ergibt sich nie.«
Er stapfte nach oben und suchte nach Burden.
»Mr. Burden ist vor zehn Minuten zum Essen gegangen, Sir«, sagte Loring.
Wexford fluchte. Er sehnte sich nach einem jener bissigen, doch lohnenden Streitgespräche mit Burden, die sowohl ihre Freundschaft festigten, als auch ihrer Arbeit dienlich waren. Mittagessen allein im Carousel würde eine trostlose Angelegenheit. Er öffnete die Tür zu seinem eigenen Büro und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Auf dem Drehstuhl des Chief Inspector, an seinem Rosenholzschreibtisch saß, Zigarettenasche über den zitronenfarbenen Teppich verstreuend, Monkey Matthews.
»Das hätte man mir aber auch sagen können«, meinte Wexford schwach, »daß man mich des Amtes enthoben hat. Das ist ja wie jenseits des Eisernen Vorhangs. Was soll ich nun machen? Ein Kraftwerk leiten?«
Monkey grinste. Gnädig erhob er sich aus Wexfords Stuhl. “Ich hätt nie geglaubt, daß es so einfach is, in euern Bunker reinzukommen. Wahrscheinlich is dieser alte Kauz Camb endlich tot umgefallen, hab ich mir gedacht, und sie sind alle weg, zu seiner Beerdigung. Bin durch, ohne daß’ne einzige Seele was gemerkt hat, jawohl. Verdammt viel leichter«, fügte er hinzu, »in diesen Kasten hier reinzukommen als wieder raus.«
»Heute wirst du es nicht so schwer finden. Du kannst sofort gehen. Und schnell, bevor ich dir was anhänge wegen des Aufenthalts in Amtsräumen zu ungesetzlichen Zwekken.«
»Aber mein Zweck ist gesetzlich.« Monkey betrachtete den Raum mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. »’s erste Mal, daß ich aus eigenem Antrieb in einem Polizeirevier bin.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und wurde abrupt durch einen Hustenanfall verdrängt.
Wexford stand halb im Büro, halb auf dem Korridor und wartete mitleidlos.
»Sie könn genausogut die Tür zumachen«, sagte Monkey, als er sich erholt hatte. »Wir wolln doch nich, daß alle mithören, oder? Ich habe Info. Im Lawrence-Fall.«
Wexford schloß die Tür, zeigte aber ansonsten keinerlei Anzeichen dafür, daß Monkeys Bemerkung ihn interessierte. »Hast du?« meinte er schließlich.
»Freund von mir.«
»Ich habe gar nicht gewußt, daß du Freunde hast, Monkey, außer der armen alten Ruby.«
»Sie müssen ja nich immer von sich ausgehen«, meinte Monkey beleidigt. Er hustete und drückte seine Zigarette aus, zündete sich sofort eine neue an und betrachtete unmutig den weggeworfenen Stummel, als sei irgendeine eigenartige Mißkonstruktion oder ein Fehler in der Machart für seinen Erstickungsanfall verantwortlich, und nicht der Tabak darin. »Ich hab’ne Menge Freunde, hab ich bei meinen Reisen kennengelernt.«
»In diversen Zellen kennengelernt, meinst du wohl«, korrigierte Wexford.
Monkey hatte schon längst vergessen, wie man errötet, doch der wachsame Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, zeigte Wexford, daß er ins Schwarze getroffen hatte. »Mein Freund«, sagte er, »is gestern hier angekommen. Kleiner Urlaub bei mir und Rube. Bißchen ausruhen, so was. Er’s ein alter Mann, und seine Gesundheit is nich mehr, was sie mal war.«
»Wegen der zugigen Gefängnishöfe, nehme ich an.«
»Ach, hörn Sie auf, ja? Mein Freund hat Infos, die Ihnen die Augen ein bißchen öffnen werden, betreffend die Vorgeschichte von Mr. Ivor Schweinehund Swan.«
Falls Wexford überrascht war, so zeigte er es nicht. »Er hat keine Vorgeschichte«, sagte er kalt, »oder jedenfalls nicht das, was du darunter verstehst.«
“Nich schriftlich, das glaub ich gern. Nich all unsre Vergehen sind in den Akten, Mr. Wexford, noch lange nich. Ich hab sagen hören, daß mehr Mörder frei rumlaufen, als je ’nen Kopf kürzer gemacht worden sind, weil man nämlich denkt, die Ermordeten wärn auf natürliche Weise gestorben.«
Wexford rieb sich das Kinn und betrachtete Monkey nachdenklich. »Also, gehen wir zu deinem Freund«, schlug er vor, »und hören wir uns an, was er zu sagen hat. Könnte vielleicht ein paar Piepen wert sein.«
»Er würde auf Bezahlung bestehen.«
»Da bin ich ganz sicher.«
»Er hat’s extra gesagt«, meinte Monkey im Konversationston.
Wexford stand auf und öffnete ein Fenster, um etwas Rauch rauszulassen. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Monkey. Ich kann nicht den ganzen Tag hier rumhängen und mit dir verhandeln. Wieviel?«
»Einen halben Riesen«, verkündete Monkey lakonisch.
Mit freundlicher, doch distanzierter Stimme, in der ungläubige Rage mitschwang, sagte Wexford: »Du muß ja völlig verrückt geworden sein, wenn du ernsthaft annimmst, die Regierung würde an einen abgehalfterten alten Knastbruder fünfhundert Pfund für Informationen zahlen, die sie umsonst aus einer Akte haben kann.«
»Fünfhundert«, wiederholte Monkey, »und wenn alles gutgeht, die zwei Tausender Belohnung vom Onkel.« Er hustete schleimig, doch ohne Anzeichen von Unbehagen. »Wenn Sie nix damit zu tun ham wolln«, fuhr er liebenswürdig fort, »kann mein Freund immer noch zum Chief Constable gehen. Griswold heißt er, oder?«
»Willst du mir, verdammt noch mal, drohen?«
»Drohen? Wer redet von drohen? Diese Informationen sind im öffentlichen Interesse, das isses.«
Entschieden sagte Wexford: »Du kannst deinen Freund mit hierherbringen, und dann sehen wir weiter. Vielleicht ist die Sache ja ein paar Pfund wert.«
»Er kommt nich hierher. Der geht nicht freiwillig in so’n Bau. Anders als ich is der. Aber wir beide sind heute abend Punkt sechs im Pony, und ich möcht behaupten, er würd’nen freundlichen Auftakt in Form von Alkohol zu schätzen wissen.«
War es möglich, daß an dieser Geschichte etwas dran war, fragte sich Wexford, nachdem Monkey gegangen war. Und sofort fielen ihm Rivers Andeutungen zum Tod von Swans Tante ein. Angenommen, Swan hatte doch dazu beigetragen, den Tod der alten Dame zu beschleunigen? Gift womöglich. Das würde zu Swan passen, eine bequeme, langsame Art des Tötens. Und angenommen, dieser Freund von Monkey war im Hause angestellt gewesen, als Mädchen für alles vielleicht, oder sogar als Butler? Er konnte etwas gesehen haben, sich etwas zusammengereimt und es jahrelang für sich behalten haben...
Wexford kam wieder auf den Boden der Tatsachen und zitierte lachend eine seiner Lieblingspassagen von Jane Austen: »Ziehe stets deinen eigenen Verstand zu Rate, deine eigene Erkenntnis des Wahrscheinlichen, deine eigenen Beobachtungen dessen, was um dich herum vorgeht. Bereitet unsere Erziehung uns auf solche Ungeheuerlichkeiten vor? Leisten unsere Gesetze ihnen stillschweigend Vorschub? Könnten sie heimlich verübt werden in einem Land wie diesem, wo soziale und literarische Verbindungen auf solch einer Grundlage stehen; wo jedermann von freiwilligen Spionen umgeben ist, und wo Straßen und Zeitungen alles bloßlegen?«
Vor langer Zeit hatte er diese Zeilen auswendig gelernt. Sie waren ihm stets nützlich gewesen und hatten dafür gesorgt, daß er immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden blieb, wenn er Gefahr lief, auf den Flügeln des Zorns davonzusegeln.
Es war inzwischen viel zu spät geworden, noch zum Essen zu gehen. Das Personal im Carousel sah einen schief an, wenn man nach ein Uhr dreißig zum Essen erschien. Wexford ließ sich aus der Kantine Sandwiches bringen und hatte gerade die Hälfte davon gegessen, als der Bericht über die Haarlocke aus dem Labor kam. Das Haar, so las Wexford, stammte von einem Kind, aber nicht von John Lawrence. Es war mit den Haaren aus Johns Bürste verglichen worden. Obgleich er nur ungefähr fünfundzwanzig Prozent des Fachjargons verstand, versuchte Wexford, so gut er eben konnte, zu begreifen, weshalb sie so sicher waren, daß die Haare aus der Bürste sich von denen der Locke unterschieden, und mußte sich schließlich damit zufriedengeben, daß es so war.
Sein Telefon klingelte. Es war Loring aus dem Raum, wo alle Anrufe zusammenliefen, die mit den Fällen Lawrence und Rivers zu tun hatten.
»Ich glaube, den hier werden Sie übernehmen wollen, Sir.«
Sofort dachte Wexford an Monkey Matthews, verwarf den Gedanken aber ebenso rasch wieder. Monkey würde nicht telefonieren.
»Schneiden Sie’s mit, Loring«, sagte er, und dann: »Kommt der Anruf aus einer Zelle?«
»Leider nein, Sir. Wir können ihn nicht verfolgen.«
»Stellen Sie ihn durch«, sagte Wexford.
Sobald er die Stimme hörte, wußte er, daß der Anrufer versuchte, sie zu verstellen. Ein paar Kügelchen im Mund wahrscheinlich. Doch irgend etwas konnte er nicht verändern, die Stimmlage vielleicht. Wexford kannte die Stimme. Nicht den Besitzer, noch konnte er sich erinnern, wo er ihn schon gesehen hatte, was er gesagt hatte, oder sonst irgend etwas über ihn. Aber er war sicher, daß er diese Stimme schon gehört hatte.
»Ich werde Ihnen meinen Namen nicht nennen«, sagte die Stimme. “Ich habe Ihnen zweimal geschrieben.«
»Die Briefe sind angekommen«, Wexford war beim Klingeln aufgestanden und konnte von seinem Platz aus die High Street überblicken, wo eine Frau eben liebevoll ihr Baby aus dem Kinderwagen hob, um es mit sich in einen Laden zu nehmen. Sein Arger war ungeheuer, und er fühlte das Blut gefährlich in seinen Schläfen klopfen.
»Sie haben heute Spielchen mit mir gespielt. Das wird morgen nicht passieren.«
»Morgen«, sagte Wexford ausdruckslos.
“Ich werde morgen auf dem Gelände von Saltram House sein, bei den Brunnen. Ich werde um sechs Uhr da sein, mit John. Und ich möchte, daß seine Mutter ihn abholt. Allein.«
»Von wo aus rufen Sie an?«
»Von meiner Farm«, sagte die Stimme und wurde dabei schrill. »Ich habe eine Hundertzwanzighektarfarm nicht weit von hier. Pelzfarm, Nerze, Kaninchen, Chinchillas, alles. John weiß nicht, daß ich sie der Pelze wegen halte. Das würde ihn nur unglücklich machen, oder?«
Wexford hörte den authentischen Unterton der Geistesgestörtheit heraus. Er wußte nicht, ob er das beruhigend oder alarmierend finden sollte. Er grübelte über dieser Stimme, die er schon gehört hatte, eine dünne, hohe Stimme, deren Besitzer sich schnell angegriffen fühlte und Kränkung heraushörte, wo keine war.
»Sie haben John nicht«, sagte er. »Die Haare, die Sie uns geschickt haben, waren nicht Johns.« Verachtung und Wut ließen ihn alle Vorsicht vergessen. »Sie sind ein dummer, unwissender Bursche. Haare kann man heutzutage ebenso genau identifizieren wie Blut.«
Dieser Erklärung folgte schweres Atmen am anderen Ende der Leitung. Wexford merkte, daß er getroffen hatte. Er holte tief Luft, um Beschimpfungen loszulassen, doch bevor er noch reden konnte, sagte die Stimme kalt:
»Glauben Sie, das wüßte ich nicht? Die Locke habe ich Stella Rivers abgeschnitten.«
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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