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»Keine schlechten Nachrichten?« fragte Dr.
Crocker. »Über den kleinen John Lawrence, meine ich?«
Verdrießlich beäugte Wexford die Papierstapel auf
seinem Tisch und sagte: »Ich weiß gar nicht, worauf du
hinauswillst.«
»Ihr habt also keine Hinweise? Ich war sicher, daß
sich etwas getan hat, als ich Mike heute morgen um halb acht aus
der Chiltern Avenue kommen sah.« Er hauchte kräftig an Wexfords
Fensterscheiben und fing an, eine seiner ewigen Skizzen zu
zeichnen. “Ich frage mich, was er da gemacht hat«, sagte er
nachdenklich.
»Warum erzählst du mir das? Ich bin nicht sein
Hüter.« Wexford funkelte den Doktor samt seiner Skizze einer
menschlichen Bauchspeicheldrüse wild an. »Und überhaupt, ich könnte
dich ja genausogut fragen, was du da gemacht hast.«
»Ein Patient. Ärzte haben immer eine
Entschuldigung.«
»Polizisten auch«, entgegnete Wexford.
»Ich bezweifle, ob Mike seinen Dienst bei einem
Schlaganfall ausgeübt hat. Übrigens der schlimmste Fall, der mir
seit damals im Februar untergekommen ist, als ich zu diesem armen
alten Knaben gerufen wurde, der auf dem Bahnsteig von Stowerton
zusammengebrochen war. Hab ich dir das eigentlich mal erzählt? Der
Mann hatte hier Urlaub gemacht, und als er zum Bahnhof kam, merkte
er, daß er einen Koffer im Hotel, oder wo immer er gewohnt hatte,
vergessen hatte. Er ist zurückgelaufen, um ihn zu holen, hat sich
dabei wohl fürchterlich aufgeregt, und als nächstes...«
Wexford ließ ein ärgerliches Bellen los. »Na und?
Warum erzählst du mir das? Ich dachte, es gibt so was wie ärztliche
Schweigepflicht. Ich werde auch bald einen Schlaganfall kriegen,
wenn du so weitermachst.«
»Eben diese Möglichkeit«, erwiderte Crocker
liebenswürdig, »veranlaßt mich, meine kleine Geschichte zu
erwähnen.« Er tupfte mit dem kleinen Finger die Langerhansschen
Inseln hin. “Möchtest du ein neues Rezept für deine
Tabletten?«
»Nein. Möchte ich nicht. Ich habe Hunderte von den
verdammten Dingern übrig.«
»Also, das dürfte aber nicht sein«, sagte Crocker
und richtete seinen feuchten Finger auf ihn. »Dann kannst du sie
nicht regelmäßig genommen haben.«
»Hau bloß ab. Verkrümel dich. Hast du nichts
Besseres zu tun, als meine Fenster mit deinen garstigen
anatomischen Studien zu verunzieren?«
»Bin schon weg.« Der Doktor tänzelte davon, hielt
in der Tür inne und beglückte den Chief Inspector mit einem, nach
Wexfords Ansicht, absolut unsinnigen Augenzwinkern.
»Dummerjan«, bemerkte Wexford in den leeren Raum.
Doch Crockers Besuch hinterließ ein unbehagliches Gefühl. Um es
loszuwerden, fing er an, die Berichte der Kollegen von der
Metropolitan Police durchzulesen, die Gemma Lawrences Freunde
befragt hatten.
Größtenteils schienen sie beim Theater zu sein oder
damit zu tun zu haben, doch kaum ein Name war ihm bekannt. Seine
jüngere Tochter hatte eben die Schauspielschule absolviert, und
durch sie hatte Wexford viele Schauspielemamen gehört, die noch nie
irgendwo in Leuchtschrift erschienen oder in der Radio Times
aufgetaucht waren. Keiner davon kam in der Liste vor, und er konnte
ihre Berufe nur aus den Bezeichnungen ‘Schauspieler’
oder’Regieassistent’ oder ‘Modell’ ersehen, die hinter fast jedem
Namen standen.
Es war eine unstete Gesellschaft, meist - in
Wexfords offizieller Terminologie - ohne festen Wohnsitz. Ein
halbes Dutzend von ihnen war wegen Drogenbesitzes oder der Duldung
von Drogenmißbrauch in ihren Wohnungen vorbestraft; zwei oder drei
weitere waren wegen Anstiftung zum Landfriedensbruch zu Geldstrafen
verurteilt worden. Teilnahme an Demonstrationen oder Strip-Aktionen
in der Albert Hall, vermutete Wexford. Keiner hielt John Lawrence
fest; keiner gab durch seine Vorgeschichte oder durch gegenwärtiges
Verhalten Anlaß zu der Annahme, er neige zu Gewalttätigkeit oder
Perversion. Zwischen den Zeilen las er, daß diese Leute eher fast
alles tun würden, um kein Kind in die Welt zu setzen, als die
Gesellschaft eines Kindes herbeizusehnen.
Lediglich zwei Namen auf der Liste sagten ihm
etwas. Der eine gehörte zu einer Ballettänzerin und war einmal in
aller Munde gewesen, der andere einem Fernsehstar, dessen Gesicht
mit so regelmäßiger Monotonie auf Wexfords Bildschirm erschien, daß
er es nicht mehr sehen konnte. Er hieß Gregory Devaux und war mit
den Eltern von Gemma Lawrence befreundet gewesen. Man hatte ihm
besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn vor ungefähr fünf Jahren
hatte er versucht, seinen sechsjährigen Sohn der Obhut seiner
Exfrau zu entziehen und ihn außer Landes zu schmuggeln. In dem
Bericht hieß es, man werde Gregory Devaux im Auge behalten.
Der Portier des Appartementhauses in Kensington, wo
Leonie West eine Wohnung besaß, hatte ausgesagt, sie halte sich
seit August in Südfrankreich auf.
Nichts also. Kein Hinweis darauf, daß einer von
ihnen mehr als ein gelegentliches, freundliches Interesse an Mrs.
Lawrence oder ihrem Sohn hatte; kein Hinweis darauf, daß zwischen
irgendeinem dieser Leute und Ivor Swan eine Verbindung
bestand.
Um zehn kam Martin mit der Polizistin Polly Davies,
die Wexford unter der roten Perücke kaum wiedererkannte.
»Sie sehen grauenhaft aus«, sagte er. »Wo um
Himmels willen haben Sie denn das ausgegraben? Bei einem
Ramschbazar?«
“Woolworth, Sir«, erwiderte Martin etwas beleidigt.
»Sie sagen doch immer, wir sollen die Ausgaben niedrig
halten.«
»Zweifellos würde es echter aussehen, wenn Polly
keine dunklen Augen und nicht so einen - na ja - walisischen Teint
hätte. Aber macht nichts, Sie müssen sowieso was drüberziehen. Es
gießt ja.«
Sergeant Martin nahm stets in altweiberhafter Weise
Anteil am Wetter und dessen Launen. Nachdem er erst Dr. Crockers
Bauchspeicheldrüsen-Zeichnung weggewischt hatte, öffnete er das
Fenster und streckte eine Hand nach draußen. “Ich glaube, es hört
auf, Sir, ich sehe einen hellen Streifen am Horizont.«
»Wenn Sie nur recht hätten«, sagte Wexford. »Und
jetzt verbergen Sie bitte Ihr Entsetzen, so gut es geht. Ich habe
nämlich beschlossen mitzukommen. All dies Leben aus zweiter Hand
macht mich krank.«
Im Gänsemarsch gingen sie den Korridor entlang,
gebremst von Burden, der eben die Tür seines eigenen Büros
aufmachte. Wexford betrachtete ihn eingehend von oben bis
unten.
»Was ist denn in Sie gefahren? Sind Sie am
Aktienmarkt groß rausgekommen?«
Burden lächelte.
»Ich bin froh«, meinte Wexford sarkastisch, »daß
wenigstens einer sich in der Lage sieht, in dieser Sintflut ein
bißchen Sonnenschein zu verbreiten, in dieser - äh - Stadt des
Terrors. Was wollten Sie denn überhaupt?«
»Ich dachte, Sie haben die heutige Zeitung
vielleicht noch nicht gesehen. Da ist eine interessante Geschichte
auf der ersten Seite.«
Wexford nahm ihm die Zeitung aus der Hand und las
die Geschichte, während sie im Fahrstuhl nach unten fuhren.
»Landbesitzer bietet 2000 Pfund Belohnung. Neue Entwicklung im
Fall Stella Rivers«, las er, »Group Captain Percival Swan,
wohlhabender Landbesitzer und Onkel von Mr. Ivor Swan, Stella
Rivers Stiefvater, erzählte mir gestern abend, er habe eine
Belohnung in Höhe von 2000 Pfund für Informationen bereitgestellt,
die zur Entdeckung von Stellas Mörder führen. ‘Das Ganze ist eine
teuflische Sache’, sagte er, als wir uns im Wohnraum seines
jahrhundertealten Anwesens bei Tunbridge Wells unterhielten. ‘Ich
hatte Stella gern, obwohl ich sie selten sah. Zweitausend Pfund
sind eine große Summe, doch kein zu großes Opfer, um dem Recht zum
Recht zu verhelfen.’«
Im selben Tenor ging es noch ein Weilchen weiter.
Auch wieder nicht so interessant, dachte Wexford, als er in seinen
Wagen stieg.
Getreu Sergeant Martins Vorhersage hörte der Regen
bald auf. Cheriton Forest lag in dichten, weißen Dunst
gehüllt.
»Sie können das Ding ebensogut abnehmen«, sagte
Wexford zu Polly Davies. »Er wird Sie sowieso nicht sehen, falls er
überhaupt kommt.«
Doch es kam niemand. Kein Auto fuhr auf der Straße
vorbei, und niemand kam die Myfleet Ride entlang, die in sie
einmündete. Nur der Dunst wallte träge, und das Wasser tropfte
ununterbrochen von den Ästen der eng gepflanzten Fichten. Wexford
saß auf einem feuchten Stamm zwischen den Bäumen und dachte an Ivor
Swan, der in diesem Wald herumritt und sich hier gut auskannte, der
an dem Tag hier geritten war, als seine Stieftochter sterben mußte.
Nahm er wirklich an, Swan würde auf dem nassen Sandweg erscheinen,
oder hoch zu Roß? Das Kind vor sich im Sattel oder an der Hand? Ein
Schwindel, ein Schwindel, ein grausamer Unsinn, sagte er sich immer
wieder, und gegen eins, als die verabredete Zeit eine Stunde
überschritten war und er selbst vor Kälte zitterte, trat er aus
seinem Versteck und pfiff die anderen beiden herbei.
Wenn Burdens morgendliche gute Laune anhielt,
konnte er immerhin mit einem fröhlichen Tischgenossen rechnen. Der
Empfangstresen des Polizeireviers war verwaist, eine bislang nicht
dagewesene Pflichtvergessenheit. Mit wachsendem Zorn betrachtete
Wexford den leeren Hocker, auf dem eigentlich Sergeant Camb sitzen
sollte; er wollte gerade die Klingel drücken, die niemals zuvor in
all den Jahren ihrer Existenz hatte betätigt werden müssen, als der
Sergeant auftauchte, vom Fahrstuhl herübertrippelnd, in der Hand
die unvermeidliche Teetasse.
»Tut mir leid, Sir. Wir sind so unterbesetzt durch
all die verrückten Anrufe, die ständig kommen, daß ich mir meinen
Tee selber holen mußte. Ich war keine zwei Sekunden weg. Sie kennen
mich, Sir. Ohne meinen Tee gehe ich ein.«
»Nächstes Mal gehen Sie tatsächlich ein«, sagte
Wexford. »Denken Sie dran, Sergeant, die Wache fällt, doch sie
ergibt sich nie.«
Er stapfte nach oben und suchte nach Burden.
»Mr. Burden ist vor zehn Minuten zum Essen
gegangen, Sir«, sagte Loring.
Wexford fluchte. Er sehnte sich nach einem jener
bissigen, doch lohnenden Streitgespräche mit Burden, die sowohl
ihre Freundschaft festigten, als auch ihrer Arbeit dienlich waren.
Mittagessen allein im Carousel würde eine trostlose
Angelegenheit. Er öffnete die Tür zu seinem eigenen Büro und blieb
wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Auf dem Drehstuhl des Chief Inspector, an seinem
Rosenholzschreibtisch saß, Zigarettenasche über den
zitronenfarbenen Teppich verstreuend, Monkey Matthews.
»Das hätte man mir aber auch sagen können«, meinte
Wexford schwach, »daß man mich des Amtes enthoben hat. Das ist ja
wie jenseits des Eisernen Vorhangs. Was soll ich nun machen? Ein
Kraftwerk leiten?«
Monkey grinste. Gnädig erhob er sich aus Wexfords
Stuhl. “Ich hätt nie geglaubt, daß es so einfach is, in euern
Bunker reinzukommen. Wahrscheinlich is dieser alte Kauz Camb
endlich tot umgefallen, hab ich mir gedacht, und sie sind alle weg,
zu seiner Beerdigung. Bin durch, ohne daß’ne einzige Seele was
gemerkt hat, jawohl. Verdammt viel leichter«, fügte er hinzu, »in
diesen Kasten hier reinzukommen als wieder raus.«
»Heute wirst du es nicht so schwer finden. Du
kannst sofort gehen. Und schnell, bevor ich dir was anhänge wegen
des Aufenthalts in Amtsräumen zu ungesetzlichen Zwekken.«
»Aber mein Zweck ist gesetzlich.« Monkey
betrachtete den Raum mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. »’s
erste Mal, daß ich aus eigenem Antrieb in einem Polizeirevier bin.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und wurde abrupt
durch einen Hustenanfall verdrängt.
Wexford stand halb im Büro, halb auf dem Korridor
und wartete mitleidlos.
»Sie könn genausogut die Tür zumachen«, sagte
Monkey, als er sich erholt hatte. »Wir wolln doch nich, daß alle
mithören, oder? Ich habe Info. Im Lawrence-Fall.«
Wexford schloß die Tür, zeigte aber ansonsten
keinerlei Anzeichen dafür, daß Monkeys Bemerkung ihn interessierte.
»Hast du?« meinte er schließlich.
»Freund von mir.«
»Ich habe gar nicht gewußt, daß du Freunde hast,
Monkey, außer der armen alten Ruby.«
»Sie müssen ja nich immer von sich ausgehen«,
meinte Monkey beleidigt. Er hustete und drückte seine Zigarette
aus, zündete sich sofort eine neue an und betrachtete unmutig den
weggeworfenen Stummel, als sei irgendeine eigenartige
Mißkonstruktion oder ein Fehler in der Machart für seinen
Erstickungsanfall verantwortlich, und nicht der Tabak darin. »Ich
hab’ne Menge Freunde, hab ich bei meinen Reisen
kennengelernt.«
»In diversen Zellen kennengelernt, meinst du wohl«,
korrigierte Wexford.
Monkey hatte schon längst vergessen, wie man
errötet, doch der wachsame Ausdruck, der über sein Gesicht huschte,
zeigte Wexford, daß er ins Schwarze getroffen hatte. »Mein Freund«,
sagte er, »is gestern hier angekommen. Kleiner Urlaub bei mir und
Rube. Bißchen ausruhen, so was. Er’s ein alter Mann, und seine
Gesundheit is nich mehr, was sie mal war.«
»Wegen der zugigen Gefängnishöfe, nehme ich
an.«
»Ach, hörn Sie auf, ja? Mein Freund hat Infos, die
Ihnen die Augen ein bißchen öffnen werden, betreffend die
Vorgeschichte von Mr. Ivor Schweinehund Swan.«
Falls Wexford überrascht war, so zeigte er es
nicht. »Er hat keine Vorgeschichte«, sagte er kalt, »oder
jedenfalls nicht das, was du darunter verstehst.«
“Nich schriftlich, das glaub ich gern. Nich all
unsre Vergehen sind in den Akten, Mr. Wexford, noch lange nich. Ich
hab sagen hören, daß mehr Mörder frei rumlaufen, als je ’nen Kopf
kürzer gemacht worden sind, weil man nämlich denkt, die Ermordeten
wärn auf natürliche Weise gestorben.«
Wexford rieb sich das Kinn und betrachtete Monkey
nachdenklich. »Also, gehen wir zu deinem Freund«, schlug er vor,
»und hören wir uns an, was er zu sagen hat. Könnte vielleicht ein
paar Piepen wert sein.«
»Er würde auf Bezahlung bestehen.«
»Da bin ich ganz sicher.«
»Er hat’s extra gesagt«, meinte Monkey im
Konversationston.
Wexford stand auf und öffnete ein Fenster, um etwas
Rauch rauszulassen. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Monkey.
Ich kann nicht den ganzen Tag hier rumhängen und mit dir
verhandeln. Wieviel?«
»Einen halben Riesen«, verkündete Monkey
lakonisch.
Mit freundlicher, doch distanzierter Stimme, in der
ungläubige Rage mitschwang, sagte Wexford: »Du muß ja völlig
verrückt geworden sein, wenn du ernsthaft annimmst, die Regierung
würde an einen abgehalfterten alten Knastbruder fünfhundert Pfund
für Informationen zahlen, die sie umsonst aus einer Akte haben
kann.«
»Fünfhundert«, wiederholte Monkey, »und wenn alles
gutgeht, die zwei Tausender Belohnung vom Onkel.« Er hustete
schleimig, doch ohne Anzeichen von Unbehagen. »Wenn Sie nix damit
zu tun ham wolln«, fuhr er liebenswürdig fort, »kann mein Freund
immer noch zum Chief Constable gehen. Griswold heißt er,
oder?«
»Willst du mir, verdammt noch mal, drohen?«
»Drohen? Wer redet von drohen? Diese Informationen
sind im öffentlichen Interesse, das isses.«
Entschieden sagte Wexford: »Du kannst deinen Freund
mit hierherbringen, und dann sehen wir weiter. Vielleicht ist die
Sache ja ein paar Pfund wert.«
»Er kommt nich hierher. Der geht nicht freiwillig
in so’n Bau. Anders als ich is der. Aber wir beide sind heute abend
Punkt sechs im Pony, und ich möcht behaupten, er würd’nen
freundlichen Auftakt in Form von Alkohol zu schätzen wissen.«
War es möglich, daß an dieser Geschichte etwas dran
war, fragte sich Wexford, nachdem Monkey gegangen war. Und sofort
fielen ihm Rivers Andeutungen zum Tod von Swans Tante ein.
Angenommen, Swan hatte doch dazu beigetragen, den Tod der
alten Dame zu beschleunigen? Gift womöglich. Das würde zu Swan
passen, eine bequeme, langsame Art des Tötens. Und angenommen,
dieser Freund von Monkey war im Hause angestellt gewesen, als
Mädchen für alles vielleicht, oder sogar als Butler? Er konnte
etwas gesehen haben, sich etwas zusammengereimt und es jahrelang
für sich behalten haben...
Wexford kam wieder auf den Boden der Tatsachen und
zitierte lachend eine seiner Lieblingspassagen von Jane Austen:
»Ziehe stets deinen eigenen Verstand zu Rate, deine eigene
Erkenntnis des Wahrscheinlichen, deine eigenen Beobachtungen
dessen, was um dich herum vorgeht. Bereitet unsere Erziehung uns
auf solche Ungeheuerlichkeiten vor? Leisten unsere Gesetze ihnen
stillschweigend Vorschub? Könnten sie heimlich verübt werden in
einem Land wie diesem, wo soziale und literarische Verbindungen auf
solch einer Grundlage stehen; wo jedermann von freiwilligen Spionen
umgeben ist, und wo Straßen und Zeitungen alles bloßlegen?«
Vor langer Zeit hatte er diese Zeilen auswendig
gelernt. Sie waren ihm stets nützlich gewesen und hatten dafür
gesorgt, daß er immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden blieb,
wenn er Gefahr lief, auf den Flügeln des Zorns davonzusegeln.
Es war inzwischen viel zu spät geworden, noch zum
Essen zu gehen. Das Personal im Carousel sah einen schief
an, wenn man nach ein Uhr dreißig zum Essen erschien. Wexford ließ
sich aus der Kantine Sandwiches bringen und hatte gerade die Hälfte
davon gegessen, als der Bericht über die Haarlocke aus dem Labor
kam. Das Haar, so las Wexford, stammte von einem Kind, aber nicht
von John Lawrence. Es war mit den Haaren aus Johns Bürste
verglichen worden. Obgleich er nur ungefähr fünfundzwanzig Prozent
des Fachjargons verstand, versuchte Wexford, so gut er eben konnte,
zu begreifen, weshalb sie so sicher waren, daß die Haare aus der
Bürste sich von denen der Locke unterschieden, und mußte sich
schließlich damit zufriedengeben, daß es so war.
Sein Telefon klingelte. Es war Loring aus dem Raum,
wo alle Anrufe zusammenliefen, die mit den Fällen Lawrence und
Rivers zu tun hatten.
»Ich glaube, den hier werden Sie übernehmen wollen,
Sir.«
Sofort dachte Wexford an Monkey Matthews, verwarf
den Gedanken aber ebenso rasch wieder. Monkey würde nicht
telefonieren.
»Schneiden Sie’s mit, Loring«, sagte er, und dann:
»Kommt der Anruf aus einer Zelle?«
»Leider nein, Sir. Wir können ihn nicht
verfolgen.«
»Stellen Sie ihn durch«, sagte Wexford.
Sobald er die Stimme hörte, wußte er, daß der
Anrufer versuchte, sie zu verstellen. Ein paar Kügelchen im Mund
wahrscheinlich. Doch irgend etwas konnte er nicht verändern, die
Stimmlage vielleicht. Wexford kannte die Stimme. Nicht den
Besitzer, noch konnte er sich erinnern, wo er ihn schon gesehen
hatte, was er gesagt hatte, oder sonst irgend etwas über ihn. Aber
er war sicher, daß er diese Stimme schon gehört hatte.
»Ich werde Ihnen meinen Namen nicht nennen«, sagte
die Stimme. “Ich habe Ihnen zweimal geschrieben.«
»Die Briefe sind angekommen«, Wexford war beim
Klingeln aufgestanden und konnte von seinem Platz aus die High
Street überblicken, wo eine Frau eben liebevoll ihr Baby aus dem
Kinderwagen hob, um es mit sich in einen Laden zu nehmen. Sein
Arger war ungeheuer, und er fühlte das Blut gefährlich in seinen
Schläfen klopfen.
»Sie haben heute Spielchen mit mir gespielt. Das
wird morgen nicht passieren.«
»Morgen«, sagte Wexford ausdruckslos.
“Ich werde morgen auf dem Gelände von Saltram House
sein, bei den Brunnen. Ich werde um sechs Uhr da sein, mit John.
Und ich möchte, daß seine Mutter ihn abholt. Allein.«
»Von wo aus rufen Sie an?«
»Von meiner Farm«, sagte die Stimme und wurde dabei
schrill. »Ich habe eine Hundertzwanzighektarfarm nicht weit von
hier. Pelzfarm, Nerze, Kaninchen, Chinchillas, alles. John weiß
nicht, daß ich sie der Pelze wegen halte. Das würde ihn nur
unglücklich machen, oder?«
Wexford hörte den authentischen Unterton der
Geistesgestörtheit heraus. Er wußte nicht, ob er das beruhigend
oder alarmierend finden sollte. Er grübelte über dieser Stimme, die
er schon gehört hatte, eine dünne, hohe Stimme, deren Besitzer sich
schnell angegriffen fühlte und Kränkung heraushörte, wo keine
war.
»Sie haben John nicht«, sagte er. »Die Haare, die
Sie uns geschickt haben, waren nicht Johns.« Verachtung und Wut
ließen ihn alle Vorsicht vergessen. »Sie sind ein dummer,
unwissender Bursche. Haare kann man heutzutage ebenso genau
identifizieren wie Blut.«
Dieser Erklärung folgte schweres Atmen am anderen
Ende der Leitung. Wexford merkte, daß er getroffen hatte. Er holte
tief Luft, um Beschimpfungen loszulassen, doch bevor er noch reden
konnte, sagte die Stimme kalt:
»Glauben Sie, das wüßte ich nicht? Die Locke habe
ich Stella Rivers abgeschnitten.«