15
Wexford war so müde, daß er schon eingeschlafen
war, kaum daß sein Kopf aufs Kissen sank. Wie die meisten Menschen,
die auf jenen Lebensabschnitt zugehen, der nach den besten Jahren
kommt, jedoch noch nicht das eigentliche Alter ist, fiel es ihm
immer schwerer, eine Nacht wirklich durchzuschlafen. Vor Jahren,
als er noch jung war, hatte er es sich vernünftigerweise zur
Gewohnheit gemacht, nachts seine Gedanken von den Vermutungen und
Sorgen, die ihn tagsüber plagten, zu lösen und auf zukünftige
private Vorhaben oder angenehme Erinnerungen zu richten. Sein
Unterbewußtsein entzog sich jedoch seiner Kontrolle und machte sich
in Träumen von diesen Tagesängsten bemerkbar.
So auch in dieser Nacht. In seinem Traum befand er
sich unten am Kingsbrook, wo er gern und oft spazierenging, als er
flußaufwärts einen jungen fischen sah. Der junge war blond und
schlank und hatte ein grobknochiges angelsächsisches Gesicht.
Wexford ging auf ihn zu und hielt sich im Schatten der Bäume, da er
aus einem unerfindlichen Traumgrund nicht bemerkt werden wollte.
Unten am Fluß war es behaglich und warm, ein Sommerabend, dem, wie
ihm schien, ein langer heißer Tag vorausgegangen war.
Gleich darauf hörte er jemanden rufen und sah ein
Mädchen, das über den Böschungsrand gelaufen kam. An ihrem hellen,
fast gelben Haar und der Form ihres Gesichts konnte er erkennen,
daß es sich um die Schwester des jungen handelte, die älter war als
er, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Sie war gekommen, um ihn zu
holen, und er hörte, wie heftiger Streit zwischen ihnen ausbrach,
weil der junge hierbleiben und weiterfischen wollte.
Ihm war klar, daß er ihnen über die Wiesen
nachgehen mußte. Sie liefen vor ihm her, das Mädchen mit wehendem
Haar. Über ihm donnerte ein Flugzeug vorbei, und er sah Bomben wie
schwere schwarze Federn zur Erde fallen.
Ein Teil des Hauses blieb stehen, kahle,
fensterlose Mauern umgaben einen rauchenden Trümmerhaufen, aus dem
die Schreie der lebendig Begrabenen drangen. Die Kinder standen
weder unter Schock, noch waren sie verängstigt, denn dies war ein
Alptraum, in dem natürliche Gefühle außer Kraft sind. Als
gleichgültiger Beobachter sah er zu, wie das Mädchen sich tastend
einen Weg in das schwarze Inferno bahnte, der junge dicht hinter
ihr. Nun konnte er einen langen bleichen Arm aus dem Schutt ragen
sehen und eine Stimme hören, die um Hilfe, um Gnade winselte. Die
Kinder fingen an, mit bloßen Händen zu graben, und er ging näher,
um ihnen zu helfen. Dann bemerkte er, daß sie die schreienden
Gesichter nicht freilegten, sondern noch tiefer eingruben und
dämonisch lachend wie besessen daran arbeiteten, das
Vernichtungswerk der Bombe zu Ende zu führen; gerade als er ihnen
zurief, sofort damit aufzuhören, schreckte er aus dem Traum
auf.
Nun wieder bei vollem Bewußtsein, merkte er, daß er
sich aufgerichtet und seine Schreie die Form von ersticktem
Schnarchen angenommen hatten. Seine Frau, die neben ihm lag, hatte
sich nicht gerührt. Er rieb sich die Augen und warf einen Blick auf
die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr. Es war fünf nach zwei.
Wenn er um diese Zeit einmal wach wurde, wußte er,
daß er nie wieder einschlafen würde, und für gewöhnlich ging er
dann nach unten, setzte sich in einen Sessel und suchte sich etwas
zu lesen. Der Traum blieb ihm quälend deutlich im Gedächtnis,
während er seinen Morgenmantel anzog und sich zur Treppe wandte. Am
Morgen würde er entsprechende Nachforschungen veranlassen, um genau
zu erfahren, was an dem Tag geschehen war, als die Bombe das
Elternhaus der Villiers’ zerstört hatte. Jetzt aber erst mal was zu
lesen...
In seiner Jugend, als er mehr Freizeit und weniger
Verpflichtungen gehabt hatte, war er ein Bücherwurm gewesen, und zu
seiner Lieblingslektüre hatten sekundärliterarische Werke und
Biographien über Schriftsteller gezählt. Mrs. Wexford konnte dies
nicht verstehen, und nun erinnerte er sich, daß sie ihn einmal
gefragt hatte, weshalb er lesen wolle, was jemand anderes über ein
Buch sagte. Weshalb nicht einfach das Buch selber lesen? Und er
hatte nicht recht gewußt, was er ihr darauf zur Antwort geben, wie
er es ausdrücken sollte, daß er auf diesem Gebiet dem eigenen
Urteil nicht trauen konnte, weil er bloß ein Polizist war und nicht
studiert hatte. Er hätte ihr auch schlecht erklären können, daß er
nach Belehrung und Wissen strebe, weil es Ziel der Bildung sei, den
Blick der Seele auf das Licht zu richten.
Während er daran dachte und an das Vergnügen, das
ihm derlei Werke bereitet hatten, richtete er den Blick seiner
Augen auf das Buch Der verliebte Wordsworth, das er auf dem
Couchtisch hatte liegenlassen. Nach nur vier Stunden Schlaf war er
nicht mehr müde und wesentlich aufmerksamer als bei seinem früheren
Versuch, sich diesem Buch zu widmen. Er konnte es sich ruhig noch
einmal vornehmen. Bloß schade, daß es über Wordsworth war. Ziemlich
langweiliger Dichter, ging ihm durch den Kopf. Dauernd diese
Zwiegespräche mit der Natur und die Spaziergänge im Lake District.
Wirklich ein wenig öde. Wenn das Buch doch nur von Lord Byron
gehandelt hätte, das wäre etwas anderes gewesen, da hätte man sich
mit Lust drüber hergemacht. Bitte schön, das war eine interessante
Persönlichkeit, ein romantischer Mann, ein Bilderbuchheld
einschließlich spannungsgeladenem Liebesleben, einer katastrophalen
Ehe und dem Skandal wegen Augusta Leigh. Doch es war halt ein Buch
über Wordsworth. Schön, er würde es lesen, und selbst wenn es ihn
langweilte, würde er vielleicht eine Vorstellung von der Art der
Faszination erhalten, die dieser Dichter auf Villiers ausübte, fast
schon der Besessenheit, die ihn dazu veranlaßt hatte, Gott weiß wie
viele Bücher über ihn zu schreiben.
Er fing an zu lesen, und diesmal fand er den Text
leicht und eingängig. Nach einer Weile stellte sich der Wunsch bei
ihm ein, mehr von Wordsworth’ Lyrik gelesen zu haben. Er hatte
keine Ahnung gehabt, daß der Mann in eine junge Französin verliebt
gewesen war und an der Revolution teilgenommen hatte, was ihn fast
den Kopf gekostet hatte. Der Stoff war farbig und reizvoll, und
Villiers schrieb gut.
Um sechs machte er sich eine große Kanne Tee. Er
las weiter, völlig gefesselt und mittlerweile beträchtlich
aufgewühlt. Allmählich strömte Licht in das Zimmer, und nach und
nach, im gleichen gemächlichen Tempo wie der heraufziehende Morgen,
dämmerte es auch Wexford. Er las das letzte Kapitel zu Ende und
klappte das Buch zu.
Er seufzte, dann tadelte er sich: »Du beschränkter
alter Idiot!« Daraufhin massierte er sich die steifen Hände und
sagte laut: »Wenn es nur Byron gewesen wäre! Mein Gott, wenn doch
nur. Längst hätte ich die Lösung gehabt.«
»Der erste Montag morgen nach Schulbeginn«, sagte
John Burden und aß seinen dritten Toast mit Marmelade auf, »ist
noch schlimmer als der erste Schultag.« Und trübsinnig fügte er
hinzu: »Allmählich wird’s wirklich ernst.« Mit einem klebrigen
Finger piekste er seine Schwester. »Müßte dir jetzt nicht wieder
schlecht werden?«
»Wird mir nicht, du Ekel.«
»Warum denn nicht? Heute wird’s schlimmer als am
ersten Tag, viel, viel schlimmer. Ich wette, wenn du auf die
High-School kommst, wird dir dauernd schlecht werden. Falls
du es schaffst. Dir wird zu übel sein, um die Prüfung zu
machen.«
»Wird mir nicht!«
»O doch, dir wird.«
»Seid ruhig, ihr Quälgeister«, sagte Burden.
»Manchmal glaube ich, auf dem Revier herrscht mehr Ruhe und Frieden
als hier.«Er stand vom Frühstückstisch auf und traf Anstalten, zum
Dienst zu gehen.»Ihr müßt die unnatürlichsten Geschwister in ganz
Sussex sein.«
John schien es zu gefallen, daß man ihn in diese
einzigartige Gruppe einordnete. “Kannst du mich mitnehmen, Dad? Der
alte Ablabs führt uns zur Morgenandacht, und wenn ich zu spät
komme, ist der Teufel los.«
»Laß den Teufel aus dem Spiel«, sagte Burden
zerstreut. »Von mir aus, komm schon. Ich hab heute viel zu
tun.«
Ein Tag, an dem es galt, die Stecknadel im
Heuhaufen zu finden, eine Ratte in ihrem Loch aufzuspüren. Zügig
betrat er das Polizeirevier und begegnete Sergeant Martin in der
Halle.
»Gibt’s schon was Neues über Twohey?«
»Nein, Sir, soweit ich weiß, nicht, aber Mr.
Wexford verfolgt da eine Spur. Er hat gesagt, er will sofort mit
Ihnen sprechen, wenn Sie kommen.«
Burden fuhr mit dem Aufzug nach oben.
Der Chief Inspector saß an seinem Schreibtisch und
trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibunterlage. Er
hatte Ringe unter den Augen und machte, wie Burden fand, einen mehr
als angeschlagenen Eindruck. Dennoch deutete sein ganzes Betragen
auf einen Augenblick des Triumphs für ihn hin, auf eine
folgenschwere Entdeckung, die er bis zu diesem Moment für sich
behalten hatte.
»Sie kommen spät«, raunzte er ihn an. »Ich habe den
Haftbefehl selbst besorgen müssen.«
»Welchen Haftbefehl? Soll das heißen, Sie haben
Twohey gefunden?«
»Zum Teufel mit Twohey.« Wexford sprang auf und
nahm seinen Regenmantel vom Kleiderständer. »Ist es denn noch nicht
bis in Ihre kleinen grauen Zellen vorgedrungen, daß wir auf der
Suche nach einem Mörder sind? Wir fahren wegen einer Verhaftung
nach Clusterwell.«
Gehorsam ging Burden hinter ihm aus dem Büro.
Wexford mochte den Aufzug nicht sonderlich, und seit er eines
Nachmittags zwei Stunden darin festgesessen hatte, neigte er dazu,
ihn zu meiden. Doch nun hastete er hinein und drückte anscheinend
ohne Bedenken auf den Knopf.
»Zu Villiers?« fragte Burden, und als Wexford nicht
antwortete, fügte er hinzu: »Ihn werden Sie dort jedenfalls nicht
antreffen. Er führt seine Schäfchen heute zur Morgenandacht.«
»Das paßt verdammt schlecht.« Wexford schnaubte
aufgebracht. Der Aufzug kam zum Stillstand, und die Tür glitt auf.
»Wir nehmen eine Polizistin mit, Mike.«
»Wirklich? Wann wollen Sie mir erklären, wen wir
festnehmen und aus welchem Grund?«
»Unterwegs«, antwortete Wexford. »Im Wagen.«
»Erfahre ich dann auch, wie Ihnen die große
Erleuchtung kam?«
Wexford lächelte, und in dem Lächeln lag Triumph
und wiedererlangtes Selbstvertrauen. “Ich konnte nicht schlafen«,
sagte er, während sie auf die Polizistin warteten. »Ich konnte
nicht schlafen, deshalb habe ich ein Buch gelesen. Ich bin ein
ungebildeter alter Polizist, Mike. Ich lese nicht genug. Dieses
hätte ich gleich lesen sollen, als sein Autor es mir gab.«
»Ich wußte nicht, daß es ein Krimi war, Sir«, sagte
Burden einfältig.
»Stellen Sie sich doch nicht so saudumm an«, wies
ihn Wexford barsch zurecht. »Ich meine nicht, daß in dem Buch
steht, welcher Plan hinter dem Mord stand. Es gab sowieso keinen
Plan.«
»Selbstverständlich nicht. Es geschah ohne
Vorsatz.«
»Ja, da hatten Sie recht, wie in vielem anderen
auch«, sagte Wexford, um dann mit plötzlich erstarktem
Selbstvertrauen hinzuzusetzen: “Ich kann es Ihnen ruhig verraten,
ich dachte schon, Sie hätten in allem recht. Ich dachte, allmählich
würde ich alt, zu alt.«
»Na hören Sie, Six«, sagte Burden aufrichtig. »Das
ist Unsinn.«
»Ganz richtig«, bestätigte der Chief Inspector
unwirsch. “Ich habe noch gute Augen, und ein wenig Intuition bleibt
mir auch noch. Na, stehen Sie hier nicht den ganzen Tag in der
Gegend herum. Wir müssen jemanden festnehmen.«
jemand anderes mußte auf der Kanzel gestanden sein
und die Jungen aufgefordert haben, ihre Gedanken und Stimmen gen
Himmel zu richten, denn Denys Villiers war zu Hause.
»Ich habe mir freigenommen, fühle mich nicht
wohl.«
»Sie wirken krank, Mr. Villiers«, sagte Wexford
ernst. Ihre Blicke trafen sich. »Sie wirken ständig krank.«
»Ach? Ja, vielleicht ist es so.«
»Auf den Zweck unseres Besuchs scheinen Sie nicht
neugierig zu sein.«
Villiers warf den Kopf in den Nacken. »Nein. Mir
ist klar, weshalb Sie gekommen sind.«
“Ich möchte gern mit Ihrer Frau sprechen.«
»Auch das ist mir klar. Bilden Sie sich ein, ich
dächte, Sie hätten die Polizistin mitgebracht, um uns ein wenig
weibliche Gesellschaft zu leisten? Sie unterschätzen Ihren
Gegner.«
»Sie haben stets die Ihren unterschätzt.«
Villiers lächelte gequält. »Ja, wir könnten wohl
beide dem Verein zur Förderung des Größenwahns beitreten.« Er ging
zur Schlafzimmertür. »Georgina!«
Mit hochgezogenen Schultern und geneigtem Kopf kam
sie heraus. Nur einmal zuvor hatte Wexford jemanden so durch eine
Tür kommen sehen, und damals war es ein Mann gewesen, ein Vater,
der seine Kinder mit vorgehaltener Waffe zwei Tage lang in einem
Zimmer festgehalten hatte. Endlich hatte man ihn überredet, die
Waffe fallen zu lassen und über die Schwelle zu treten, wo ihn die
Polizei erwartete und er seiner Frau in die Arme sinken
konnte.
Georgina sank in die Arme ihres Mannes.
Er umarmte sie fest und strich ihr über das Haar.
Wexford hörte, wie sie ihm etwas zuflüsterte, ihn bat, sie nicht zu
verlassen. Bis auf ihre Ehe- und Verlobungsringe trug sie keinen
Schmuck.
Der Anblick war so quälend, daß er sich nicht dazu
durchringen konnte, ihr die Anklage zu eröffnen. Verlegen stand er
da, räusperte sich und hüstelte leicht. Plötzlich hob sie den Kopf
und sah die beiden Polizisten über die Schulter ihres Mannes hinweg
an. Tränen liefen ihr über die sommersprossigen Wangen.
»Ja, ich habe Elizabeth getötet«, sagte sie heiser.
»Die Taschenlampe lag am Boden. Ich habe sie aufgehoben und
Elizabeth getötet. Ich bin froh, daß ich es getan habe.« Denys
Villiers, der sie immer noch in den Armen hielt, zitterte heftig.
»Hätte ich eher davon erfahren, hätte ich sie schon früher getötet.
Ich habe sie getötet, sobald ich davon erfuhr.«
Sehr leise eröffnete Wexford ihr die Anklage und
belehrte sie über ihre Rechte.
»Es ist mir egal, was Sie schriftlich festhalten«,
sagte sie. »Ich habe es getan, weil ich meinen Mann behalten
wollte. Er gehört mir, nur mir. Ich habe sonst nie jemanden gehabt,
der mir gehört. Sie hatte alles, aber ich nur ihn.«
Villiers hörte mit unbewegtem Gesicht zu. »Darf ich
mit ihr gehen?«
Wexford hatte nie erwartet, ihn jemals so
bescheiden fragen zu hören.
»Selbstverständlich dürfen Sie.«
Die Polizistin führte Georgina zu dem wartenden
Auto und legte ihr dabei den Arm um die Schulter. Der Arm sollte
sie nur stützen und verhindern, daß sie stolperte, doch es sah aus
wie eine Geste der Freundlichkeit und so etwas wie schwesterliche
Solidarität. Burden folgte ihnen mit dem bedächtigen steifen
Schritt eines Trauernden bei einem Begräbnis.
Villiers schaute auf Wexford, und der Chief
Inspector erwiderte seinen Blick. »Sie kann Ihnen nicht viel
erzählen«, sagte Villiers. »Ich bin der einzige lebende Mensch, der
alles darüber weiß.«
»Ja, Mr. Villiers, wir werden eine Aussage von
Ihnen aufnehmen müssen.«
»Ich habe bereits etwas Schriftliches vorbereitet.
Andere reden darüber oder fressen es in sich hinein, doch
Schriftsteller schreiben. Das hier habe ich heute nacht
geschrieben. Ich konnte nicht einschlafen. Ich habe überhaupt nicht
geschlafen.«
Tatsächlich wartete der Umschlag auf dem
Garderobentisch an eine Vase gelehnt. Als er ihn in die Hand nahm,
sah Wexford, daß er an ihn adressiert und frankiert war.
»Wenn Sie nicht heute morgen gekommen wären, hätte
ich ihn mit der Post geschickt. Ich hätte das Warten nicht länger
ertragen. Jetzt, wo Sie ihn haben, werde ich vielleicht schlafen
können.«
»Also gehen wir?« fragte Wexford.
Burden saß am Steuer, neben ihm Villiers. Niemand
sprach. Als sie nach Kingsmarkham kamen, schlitzte Wexford den
Umschlag auf und warf einen kurzen Blick auf die erste, mit der
Maschine geschriebene Seite. Dann bog der Wagen im Vorhof des
Polizeireviers ein.
Er stieg aus und öffnete die vordere Beifahrertür.
Doch Villiers rührte sich nicht. Als er ihm die Hand auf die
Schulter legte, um ihn auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen,
bemerkte Wexford mit plötzlich aufwallendem Mitleid - zum erstenmal
verspürte er diese Regung gegenüber Villiers -, daß der Mann
eingeschlafen war.
Zu Händen von Chief Inspector
Wexford
Da ich nicht davon ausgehen kann, daß ich zu Ihren
Lieblingsautoren zähle, werde ich diese Erklärung so kurz wie
möglich halten. Ich schreibe sie nachts, während meine Frau
schläft. Ja, sie kann schlafen, den Schlaf der gerechten,
unschuldigen Rächerin.
Als Sie Byron zitierten, war ich überzeugt, daß Sie
das Motiv für die Tat kannten, wenn vielleicht auch nicht den
Hergang. Doch seitdem habe ich mich gefragt: Kannten Sie es
wirklich? Wußten Sie überhaupt, was Sie da sagten? Ich starrte Sie
an. Ich wartete darauf, daß Sie nun meine Frau festnehmen würden,
und im Gesicht müssen Sie mir angesehen haben, vor was ich Angst
hatte: daß Sie, um mich zu erschrecken und mir ein Geständnis zu
entlocken, mich mit den Worten eines Mannes konfrontierten, von dem
alle Welt weiß, daß er der Geliebte seiner Schwester war.
Ich glaube, damit habe ich mich verraten.
Spätestens zu dem Zeitpunkt als ich Ihnen mein Buch zu lesen gab.
Aber damals dachte ich, Sie seien zu ungebildet, zu abgestumpft und
begriffsstutzig, um eine kurze Stelle in meinem Buch mit meinem
Leben in Verbindung zu bringen. Doch nun, während draußen der
Morgen dämmert und ich in seinem Licht die Dinge kühl und nüchtern
betrachte, während ich mir meine provozierende Unverschämtheit
Ihnen gegenüber und Ihre kultivierte Gelassenheit ins Gedächtnis
zurückrufe, während ich an Ihre brillante Auffassungsgabe denken
muß, erkenne ich, daß ich mich geirrt habe. Wenn Sie weiterlesen,
wird es Ihnen klarwerden: »Du bester Weiser, Auge unter Blinden
du!«
Wordsworth hat das geschrieben, Mr. Wexford. Wie
Ihnen sicherlich bekannt ist, hat auch Wordsworth seine leibliche
Schwester geliebt, doch als wahrer Ausbund von Pflichtbewußtsein
(»Strenge Tochter der Stimme Gottes« nannte er es) verließ er sie.
Nun werden Sie nicht mehr fragen müssen, was mich an Wordsworth
fesselte, in welchem Punkt unsere Wesensverwandtschaft begründet
lag. Denn obwohl Dorothy in meinem Buch nur als kleines Intermezzo
zwischen Annette und Mary auftaucht, wird Ihnen die Parallele nicht
entgangen sein; Sie werden bemerkt haben, was mich als jungen Mann
auf der Suche nach einem Thema, dem ich mein Leben widmen konnte,
an diesem Dichter angezogen hat. Natürlich war dies nur ein Aspekt
unter vielen. Meiner Meinung nach wird Wordsworth nur von Milton
übertroffen, und mit Coleridge kann ich behaupten: »Wordsworth ist
ein sehr großer Mensch, der einzige, dem ich mich zu allen Zeiten
und in allen Spielarten der Kunst unterlegen fühle.«
Meine Wahl hätte selbstverständlich auch auf Lord
Byron fallen können. Das Naheliegende einer solchen Entscheidung
stieß mich daran ab. Ferner wollte ich mein Talent nicht an
jemanden vergeuden, den ich für oberflächlich und schwülstig halte,
einen großmäuligen Popstar, nur weil er (höchstwahrscheinlich)
Inzest mit Augusta Leigh beging. Doch gerade weil Byron heutzutage
für diesen Inzest bekannter als für seine Dichtung ist, berührt er
mich seltsam, löst die bloße Erwähnung seines Namens, das Zitieren
seiner Verse Nervosität in mir aus.
Doch ich vergesse mein Versprechen, mich kurz zu
fassen.
Als wir Kinder waren, habe ich meine Schwester
nicht geliebt. Wir stritten uns laufend und litten nicht unter
unserer Trennung. Wir waren froh, einander loszuwerden. Erst in
meinem Abschlußjahr in Oxford habe ich sie wiedergesehen.
Unser Zusammentreffen ereignete sich auf dem Fest
zum einundzwanzigsten Geburtstag eines Kommilitonen von mir. Der
Vater dieses jungen Mannes stellte mich seiner Sekretärin vor,
einem Mädchen namens Elizabeth Langham. Wir gingen zusammen aus,
und bald schliefen wir miteinander.
Ich habe Ihnen gesagt, ich sei ein guter Lügner,
doch es ist nicht gelogen, wenn ich Ihnen nun sage, daß ich keine
Ahnung hatte, wer sie in Wirklichkeit war, und sie vor diesem Fest
noch nie gesehen hatte. Neun Jahre waren vergangen, und wir hatten
uns beide verändert. Ich bat sie, mich zu heiraten, und da mußte
sie mir die Wahrheit sagen. Zwei Monate lang war ich der Geliebte
meiner eigenen Schwester gewesen.
Aus Neid und dem Gefühl heraus, bei der damals für
uns gefundenen Lösung ungerecht behandelt worden zu sein, hatte sie
seit Jahren mein Schicksal verfolgt. Nachdem sie nach London
durchgebrannt war mit einem Mann namens Langham, der ihr einen
Sekretärinnenkurs bezahlte, nahm sie eine Stelle bei dem Vater
meines Freundes an, weil sie wußte, daß sein Sohn und ich zusammen
in Oxford studierten. Sie kam zu dem Fest aus Neugier, mich zu
sehen; sie ging mit mir aus, weil ihr ein vager Racheplan
vorschwebte. Doch dann geriet ihr die Situation aus der Hand.
Obwohl sie wußte, wer ich war, hatte sie sich in mich verliebt.
Störte sie es? Ich glaube nicht. Lange vor diesem Ereignis hatte
sie die Grenzen der allgemein anerkannten Moral weit überschritten,
so daß sie hinter diesem Schritt wohl nur eine besonders gewagte
Herausforderung der Gesellschaft sah.
Wir trennten uns, sie ging mit ihrem Chef nach
Amerika, ich nach Oxford. Auf meine damaligen Gefühle werde ich
nicht näher eingehen. Sie sind ein einfühlsamer Mensch und können
sie sich vielleicht ausmalen.
Sobald ich meinen Abschluß hatte, heiratete ich;
nicht aus Liebe - ich habe in meinem Leben nie jemand anderen
geliebt als Elizabeth -, sondern aus einem Bedürfnis nach
Sicherheit und Normalität heraus. Die mir von meinem Onkel
gewährten Zuwendungen liefen mit meinem einundzwanzigsten
Geburtstag aus, und da mir klar war, daß ich mir mit dem Schreiben
von Lyrik oder dem Schreiben über Lyrik nie meinen Lebensunterhalt
würde verdienen können, bewarb ich mich für eine Stelle als Lehrer
an der King’s-Schule.
Bin ich durch meine Rückkehr nach Kingsmarkham ein
Risiko eingegangen? Elizabeth hatte mir erklärt, sie verabscheue
die Stadt. Ich dachte, ich hätte die einzige Stadt auf der Welt
gefunden, die meine Schwester mit Sicherheit meiden würde.
Lionel Marriott, diesem penetranten Salonlöwen,
blieb es vorbehalten, mir die Hiobsbotschaft von Elizabeths
Anwesenheit hier zu überbringen. Ich hatte Angst, ihr zu begegnen;
ich sehnte mich danach, sie zu sehen. Wir trafen uns. Sie stellte
mich ihrem Mann vor, einem Millionärssohn, der während der Zeit,
als sie in Amerika gearbeitet hatte, dort Urlaub gemacht hatte. In
der Annahme, sie würde gerne in der Nähe ihres Elternhauses wohnen,
hatte er sie mit dem Kauf von Myfleet Manor überrascht.
Bei Tisch saßen wir zusammen mit ihrem Mann und
meiner Frau. Wir plauderten belangloses Zeug. Bei der erstbesten
Gelegenheit trafen wir uns allein, und das, Mr. Wexford, war der
Neuanfang.
Hätte Quentin Nightingale unserer Liebe nicht
unwissentlich Vorschub geleistet, wäre sie undurchführbar
geblieben. Wenn er mich nicht gemocht hätte, wäre es Elizabeth und
mir kaum möglich gewesen, uns zu treffen, und da ich es nicht
ertragen hätte, in ihrer Nähe, doch getrennt von ihr zu leben, wäre
ich gezwungen gewesen, mir eine andere Stelle zu suchen und
wegzuziehen. Heute wünsche ich mir von ganzem Herzen, es wäre so
gekommen.
Frauen sind zäher als wir, haben weniger Skrupel
und neigen nicht so sehr zu Schuldgefühlen. Ich nehme an, Elizabeth
war in Quentin verliebt, als sie ihn heiratete, und hatte die
Absicht, ihm eine tugendhafte und treue Frau zu sein. Als ich
wieder in ihr Leben trat, ließ sie diese Vorsätze sofort fallen und
begann, ihn zu ihrem Werkzeug zu machen. Ihr Ziel war es, mich als
Geliebten zu haben und gleichzeitig ihre Stellung, ihr Geld und
ihren guten Ruf zu behalten. Sie wollte weder auf das eine noch auf
das andere verzichten müssen, und das gelang ihr auch. Dennoch ist
es sinnlos, die Schuld einfach auf den anderen zu schieben. Ich war
ebenso schuldig wie sie. Der Unterschied zwischen uns lag darin,
daß ich ein Gewissen hatte, sie jedoch nicht.
Auf heimtückische und verschlagene Weise setzte sie
Quentin zu. Unter dem Vorwand, dies von June erfahren zu haben,
redete sie ihm ein, ich sei ein schwieriger Mensch und leide unter
Persönlichkeitsstörungen. Er könne mir helfen, indem er sich meiner
annehme. Bezeichnenderweise reagierte er damit, mir ein Zimmer im
Stammhaus zur freien Verfügung anzubieten.
Es mußte so aussehen, als würde ich nur auf
Quentins Betreiben hin ins Herrenhaus eingeladen, denn es sollte
den Anschein haben, als könnten Elizabeth und ich uns nicht
ausstehen. Weshalb? Sie sagte, wenn wir in der Öffentlichkeit auch
nur normale geschwisterliche Zuneigung an den Tag legten, würde uns
dies bald dazu verführen, uns eine leidenschaftlichere Liebe
anmerken zu lassen, als es zwischen Bruder und Schwester zulässig
ist. Ich glaube nicht, daß dies der wahre Grund war. Eher scheint
mir, sie mochte die Geheimnistuerei um ihrer selbst willen, und die
Gleichgültigkeit, mit der wir uns in der Öffentlichkeit begegneten,
verlieh ihrer Meinung nach unserer heimlichen Liebe so etwas wie
Würze.
Wenn ich nun behaupte, daß ich auch Quentin liebte,
werden Sie mir dies dann als schändliche Heuchelei auslegen? Oder
hat Sie Ihre Erfahrung gelehrt, daß wir oft die Menschen am meisten
lieben, die wir hintergangen, betrogen und entehrt haben? Denn in
dem Bemühen, sie an der Entdeckung unseres Verrats zu hindern,
lernen wir, sie auch vor jedem anderen Übel zu bewahren, und die
freundlichen Worte, mit denen wir sie ursprünglich blenden wollten,
werden zur Gewohnheit und kommen schließlich von Herzen. Ja, Mr.
Wexford, ich habe Quentin geliebt, und Elizabeth, die aus Furcht,
ich könnte mich hinreißen lassen und mich einem Freund anvertrauen,
alle meine Freundschaften hintertrieb, billigte mir diese eine zu,
weil sie nie verstand, daß ich mich danach sehnte, von allen
Menschen ausgerechnet bei ihm zu beichten, und seine Vergebung die
einzige war, auf die ich Wert gelegt hätte.
Ich komme jetzt zu Twohey.
Schon längere Zeit hatte er Elizabeths Besuche bei
mir im Stammhaus beobachtet, und eines Tages sah er, wie ich mit
ihr die Treppe hinunterging und sie im Obstlager umarmte. Es war
keine brüderliche Umarmung, und Twohey fotografierte uns durch das
Fenster. Ich habe mich von ihm erpressen lassen und zahlte. Als er
mir alles abgeknöpft hatte, verkaufte Elizabeth nach und nach ihren
Schmuck und ließ Kopien davon anfertigen.
Twohey haben Sie noch nicht gefunden, oder? Lassen
Sie sich von mir helfen. Außer Georgina so viel Leid wie nur
möglich zu ersparen, habe ich nur noch den einen Wunsch, Twohey in
der gleichen jämmerlichen Lage zu sehen, in die er Elizabeth und
mich gebracht hat. Sie finden seine Adresse auf den
Schneiderrechnungen im Sekretär in ihrem Schlafzimmer. Tanya Tye
ist der Name (höchstwahrscheinlich der Deckname) der Frau, mit der
er in einer Luxuswohnung über dem Geschäft in der Bruton Street
lebt. Die Sache war ganz einfach und sehr schlau eingefädelt. Immer
wenn Twohey Geld wollte, ließ er Elizabeth eine Rechnung von Tanya
Tye zukommen; die geforderte Summe ergab sich aus dem
Rechnungsbetrag, an den noch eine Null angehängt wurde. Zum
Beispiel: Wenn sich die Rechnung auf einhundertundfünfzig Pfund
belief, sollte sie ihm fünfzehnhundert schicken. Das Geld schickte
sie ihm in mit Packpapier eingewickelten Päckchen, das letzte davon
hat Nelleke am Tag vor Elizabeths Tod zur Post gebracht. Um ihr zu
zeigen, daß er das Geld erhalten hatte, schickte er ihr
Quittungen.
Weidmannsheil, Mr. Wexford.
Ich nehme an, Marriott hat Sie in die näheren
Umstände meiner Scheinexistenz eingeweiht. Ihnen wird bekannt sein,
daß die Nightingales und ich gemeinsam in Urlaub gingen, Elizabeth
und ich vor zwei Jahren jedoch allein fuhren, weil Quentin krank
war. Marriott meinte damals, bei unserer Rückkehr aus Dubrovnik
hätten wir schlecht und abgehärmt ausgesehen, doch er kam nie auf
den Gedanken, wir könnten so niedergeschlagen gewirkt haben, nicht
weil wir uns gestritten hatten, sondern weil wir glücklich gewesen
waren.
Ich wollte, daß sie Quentin verläßt und mit mir
zusammen weggeht. Sie lehnte ab. Wären wir vor Jahren
zusammengezogen, hätte uns niemand als Geschwister im Verdacht
gehabt. Jetzt wußten es alle, die Folge wäre ein ungeheurer
Skandal. Das hat sie zumindest gesagt. Doch ich, soror mea sponsor,
kannte sie besser. Mir war klar, daß ihr das Geld und ihre Stellung
genauso viel bedeuteten wie ich. Sie war daran gewöhnt, zwei Eisen
im Feuer zu haben, auf zwei Hochzeiten zu tanzen, und abgesehen von
ihrer entsetzlichen Angst vor Twohey war sie wohl im wesentlichen
glücklich.
Ich war am Tiefpunkt angelangt. Ich war
sechsunddreißig und hatte mein ganzes Leben lang hart gearbeitet,
doch ich besaß keinen Penny. Die Früchte meiner Arbeit hatte der
Geliebte einer Modistin in Mayfair geerntet und sich damit ein
Leben in Saus und Braus ermöglicht. Ich hatte keine Frau, keine
Kinder, keine Freunde und hauste in drei Zimmern. Zugegeben, ich
hatte Elizabeth, aber für wie lange? Es würde der Tag kommen, an
dem sie, älter und ruhiger geworden, mich zugunsten ihrer anderen,
sichereren Welt aufgeben würde.
Ich beschloß, einen Schlußstrich zu ziehen, und
lehnte daher Quentins Einladungen ins Herrenhaus, seine fast
unwiderstehlichen Bitten alle ab. Ich dachte, ich würde arbeiten
können. Statt dessen lag ich Abend für Abend auf meinem Bett,
zerbrach mir den Kopf, tat nichts und spielte gelegentlich mit
Selbstmordgedanken. Es war eine Finsternis der Seele, vergleichbar
mit Wordsworth’ Nervenzusammenbruch, als er Frankreich verlassen
und Annette aufgeben mußte.
An Elizabeth lag mir nichts mehr. Wenn ich jemanden
vermißte, dann Quentin. Schließlich ging ich zum Herrenhaus und gab
ihnen Bescheid, daß ich nicht mit nach Rom fahren würde. Mein Blick
fiel auf Elizabeth, und ich fühlte - nichts. Es war mir
unbegreiflich, daß ich die besten Jahre meines Lebens damit
verschwendet hatte, sie zu lieben.
Ich ging nach Spanien. Nicht in das romantische,
zauberhafte Spanien von Madrid und den Sierras, sondern in ein
brodelndes Blackpool, denn das haben wir aus der Costa Brava
gemacht, und ich besuchte das Land als Begleitlehrer einer
Klassenfahrt. Ich dachte mir damals wohl, Wut, Erbitterung und
qualvolle Langeweile zu empfinden, sei immer noch besser, als gar
nichts zu empfinden.
Georgina wohnte im gleichen Hotel. Ich bin kein
attraktiver Mann mehr, Mr. Wexford, und ich sehe viel älter aus,
als ich bin. Amüsantes Plaudern liegt mir nicht, denn ich habe mein
Inneres vollständig meiner Schwester anvertraut. Schon vor sehr
langer Zeit habe ich verlernt, wie man junge Frauen betört. Ich
eigne mich eher für die Zelle eines Trappistenmönchs als für
geistreiche Gespräche in einem Boudoir. Aber Georgina, das arme
Ding, verliebte sich in mich. Eigentlich ein Witz, Georginas Liebe
in dieser miserablen Absteige.
Ich hatte alles, war reich begabt gewesen, und
hatte alles vergeudet. Sie hatte nie etwas. Als jüngstes Kind einer
vielköpfigen armen Familie hatte sie, wie sie mir erzählte, nie
etwas besessen, von dem sie das Gefühl haben konnte, daß es ganz
allein ihr gehöre. Kein Mann hatte sie je begehrt oder war auch nur
öfter als ein- oder zweimal mit ihr ausgegangen. Sie war
unscheinbar, schüchtern und fad.
Ein armes, vom Schicksal mißachtetes Ding, aber
mein eigen...
Wir heirateten. Ich brachte Georgina ins Herrenhaus
und sah die Enttäuschung auf Quentins Gesicht. Für Elizabeth war es
keine Enttäuschung. Sie triumphierte in dem Kleid aus weißem Samt
und mit ihren nachgemachten Juwelen. Ich richtete den Blick auf
sie, dann auf die arme Georgina, und während ich mich von neuem in
meine Schwester verliebte, fragte ich mich: Was hast du
getan?
Der dritte Anfang, und der letzte...
Ich wollte einen Hausstand gründen. Ich wollte
Kinder. Wenn schon nicht sechs, so doch ein paar. Doch ich hörte
nicht auf die strenge Tochter der Stimme Gottes, und auch nicht auf
die schrillere, nörgelnde Stimme meiner Frau, die lautstark
verlangte, ich müsse ihr ein und alles sein, ein Ausgleich für
lange Einsamkeit, ein Mustergatte, der sie zärtlich liebte. Ich
hörte auf meine Schwester.
Kommen wir also zu Elizabeths Todestag. Nein, Sie
haben mir natürlich nicht geglaubt, als ich behauptete, daß ich
abends immer in die Schulbibliothek ginge, um Recherchen für meine
Arbeit anzustellen. Nur jemand, der so unbelesen und uninteressiert
an Literatur ist wie Georgina, konnte das glauben. Abgesehen von
der Selincourt and Darbyshire Collection Edition, deren Bände bei
mir zu Hause stehen, sind die einzigen Werke über Wordsworth in der
Schulbibliothek meine eigenen. Ich traf mich zu dieser Zeit immer
mit Elizabeth im Wald. An jenem Tag hatten wir den Nachmittag
zusammen verbracht, aber das reichte uns nicht. Die Schulferien
würden bald zu Ende sein, und dann...? Einmal in der Woche ein
Treffen zum Bridgespielen? Literarische Diskussionen mit Quentin,
und Elizabeth als schweigsame Dritte? Wir vergingen vor Sehnsucht
nacheinander. Wir verabredeten uns auf dreiundzwanzig Uhr im
Wald.
Ich habe gesagt, daß Georgina meine
Entschuldigungen gelten ließ, doch wenn sie dies hätte, wäre
Elizabeth heute noch am Leben. Georgina mißtraute mir allmählich,
und für eine so krankhaft eifersüchtige Frau wie sie erfordert
Mißtrauen sofortiges Handeln.
Wir fuhren zum Herrenhaus und spielten Bridge. Kurz
bevor wir gingen, schenkte Elizabeth Georgina einen Seidenschal.
Sie schenkte Georgina immer eine Menge abgelegte Kleidung. Es
belustigte sie wohl, meine Frau in ihren ausrangierten
Modellkleidern zu sehen, da sie genau wußte, daß Georgina eine
schlechtere Figur in ihnen machte als sie und mir dies auch
auffallen würde, was zu dem naheliegenden ungerechten Vergleich
führte.
Ich brachte Georgina nach Hause und fuhr wieder
weg, um mich mit Elizabeth zu treffen. Kurz vor elf kam sie auf die
Waldlichtung. Wir setzten uns auf einen Stamm, rauchten und
redeten. Elizabeth hatte jene Taschenlampe aus dem Geräteraum
mitgebracht, denn wegen der Wolken, die sich vor den Mond geschoben
hatten, war es dunkel.
Ungefähr zwanzig Minuten nach elf meinte sie, es
sei Zeit aufzubrechen. Georginas leichte Gereiztheit nach unserer
Bridgepartie hatte sie nervös gemacht, und sie sagte, ein zu langer
Aufenthalt im Wald bedeute, das Schicksal herauszufordern.
Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, nach
unseren Treffen neben meinem Auto zu warten und ihr nachzusehen,
bis sie die Straße überquert hatte und sicher im Park des
Herrenhauses angelangt war, und so gingen wir Arm in Arm zum Auto.
Auf dem Weg fiel uns ein anderes Auto auf, dessen Scheinwerfer
suchend am Waldrand entlangstrichen, doch es fuhr weiter, und wir
dachten nicht mehr daran.
Als wir zu meinem Wagen kamen, sagte Elizabeth, sie
habe ihre Taschenlampe vergessen und müsse zurückgehen und sie
holen, falls sie jemand fand und ihr dadurch auf die Spur kam. Ich
wollte sie begleiten, aber sie meinte, sie könne gefahrlos allein
gehen. Was könne ihr schon passieren? Ja, was schon? Ich nahm sie
in die Arme und küßte sie, so wie ich sie an dem Tag geküßt hatte,
als Twohey vor dem Fenster stand. Dann fuhr ich nach Hause.
Georgina war nicht da, als ich zurückkam; ihr Auto auch nicht. Sie
kam um Mitternacht heim, fröstelte in einer dünnen Bluse - denn
ihren Pullover hatte sie auf Palmers Unkrautfeuer verbrannt -, und
in der Hand hielt sie eine in Zeitungspapier eingewickelte,
blutbefleckte Taschenlampe.
Sie war mir gefolgt, Mr. Wexford, und hatte
gesehen, wie ich Elizabeth küßte, deshalb wartete sie bei dem
Baumstamm, bis Elizabeth wegen der Taschenlampe noch einmal
zurückkam. Was dann geschah, weiß ich nur nach dem, was mir
Georgina erzählt hat. So schokkiert, so entsetzt war sie über das,
was sie gesehen hatte, daß ihr seelisches Gleichgewicht, um es in
der Sprache der Justiz auszudrücken, als gestört gelten muß. Sie
versuchte, dies Elizabeth zu erklären, doch sie drückte sich
unverständlich aus, war hysterisch, und Elizabeth lachte ihr ins
Gesicht. Was sie, Georgina, denn glaube, dagegen unternehmen zu
können, fragte sie meine Frau. Es liege in der Natur der Sache, daß
unser Verhältnis nicht ewig Bestand haben würde. Georgina müsse
warten, bis ich eines Tages zu ihr zurückkehren würde. Bestimmt
würde sie es doch nicht auf einen Skandal ankommen lassen, der
unumgänglich sei, wenn sie Szenen machte oder jemandem davon
erzählte?
Elizabeth beugte sich vor, um nach der Taschenlampe
zu suchen, die, wie sie dachte, hinter den Baumstamm gefallen war.
Sie hatte sich geirrt. Georgina hielt die Lampe in der Hand, und
während Elizabeth ihr den Rücken zuwandte, versetzte sie meiner
Schwester damit einen Schlag. Immer wieder schlug sie auf sie ein,
bis Elizabeth tot war. Georgina trug selber den Schal. Sie riß ihn
sich von den Schultern und wischte sich die Hände daran ab. Dann
ging sie über die Straße, stopfte den Schal in einen hohlen Baum
und verbrannte ihren Pullover auf Palmers Unkrautfeuer.
Ist damit nicht alles gesagt? Als Georgina nach
Hause kam und mir erzählte, was sie getan hatte, gestand ich ihr
die ganze Geschichte. Ich erzählte ihr von der Erpressung und der
Sache mit dem Schmuck.
Ich weiß, was Sie mich jetzt fragen werden. Warum
habe ich als Geliebter und bester Freund meiner Schwester Ihnen
meine Frau nicht unverzüglich ausgeliefert? Und wahrscheinlich
haben Sie sich schon selbst die Antwort darauf gegeben, nämlich daß
ich fürchtete, unser Verhältnis könnte ans Licht kommen. Aber ganz
so war es nicht. Vor Gram und Entsetzen war ich wie gelähmt, doch
sogar in diesem Augenblick wollte ich mein Leben retten. Nun, wo
Elizabeth tot war, konnte ich vielleicht doch noch zur Ruhe kommen,
meinen Frieden finden, glücklich sein und ein Leben ohne Lüge
führen.
Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen, Mr. Wexford.
Er hat sich so weit über die anderen Tiere erhoben, daß ihm Darwins
Theorie absurd und als ungeheuerliche Beleidigung erscheint. Aber
dennoch hat er den stärksten Instinkt mit ihnen gemeinsam: den
Selbsterhaltungstrieb. Die ganze Welt um ihn herum kann in Schutt
und Asche liegen, und er sucht dennoch nach einem stillen Winkel,
in den er sich verziehen kann, und klammert sich an seine Hoffnung,
daß es, ganz gleich, welche Schicksalsschläge ihn auch getroffen
haben, nie zu spät sein kann.
In diesem Augenblick haßte ich Georgina. Ich hätte
sie erwürgen mögen. Doch ich sagte mir, was geschehen ist, war
meine Schuld. Ich hatte es getan. Ich tat es, als ich vor so vielen
Jahren zu dem Fest ging. Statt gewalttätig gegen sie zu werden,
nahm ich sie daher in die Arme und roch Elizabeths Blut an ihrem
Haar und unter ihren Fingernägeln. Ich wusch die Taschenlampe ab
und warf die feuchten Batterien weg. Georgina ließ ich ein Bad ein
und wies sie an, sich die Haare zu waschen. Den Rock und die Bluse,
die sie getragen hatte, verbrannte ich in dem Heizkessel in der
Küche.
Ich sah keinen Grund, weshalb Sie Georgina
verdächtigen sollten, denn sie hatte kein klares Motiv, und deshalb
wurde ich auch so hysterisch, als Sie uns die Nachricht von dem
Testament brachten. Meine Frau festzunehmen und sie wegen des
falschen Motivs zu verurteilen! Welche Ironie des Schicksals.
Sie war sehr nervös und parierte Ihre Angriffe sehr
schlecht. Als wir allein waren, erklärte sie mir, sie würde gern
ein Geständnis ablegen, denn Sie und jeder vernünftig denkende
Mensch würden Verständnis für sie haben. Ich hielt sie davon ab.
Ich dachte, wir hätten noch eine Chance. Dann zitierten Sie mir
diese Stelle aus Byrons Lara, und ich begann, mir
vorbereitende Notizen zu dieser Erklärung zu machen.
Jetzt ist alles vorbei.
Sie werden Georgina nicht zu hart zusetzen, davon
bin ich überzeugt, und mir ist klar, daß während ihres Prozesses
jeder Zeitungsleser in diesem Land mit Leib und Seele Partei für
sie ergreifen wird, und dies gilt auch für diejenigen, deren Stimme
mehr Gewicht hat, den Richter und die Geschworenen. Sie wird zwei
oder drei Jahre ins Gefängnis gehen, doch irgendwann wird sie
wieder heiraten, die ihr unentbehrlichen Kinder haben und das
geordnete und beschauliche Leben führen, nach dem sie sich sehnt.
June hat schon vor langer Zeit wieder geheiratet. Bald wird Quentin
seine kleine Holländerin als Gutsherrin von Myfleet heimführen, und
wenn sie ihm untreu wird, so werden es ganz normale, alltägliche
Seitensprünge sein, die mein Schwager mit einer ihm hoffentlich
nicht zu schwerfallenden Fassung ertragen wird. Was Elizabeth
angeht, so starb sie auf dem Gipfel ihrer Liebe und ihres Triumphs,
und gerade rechtzeitig, um die Schmerzlichkeit des Altwerdens nicht
mehr erleben zu müssen.
Tatsächlich ließe sich mit Wilde sagen, daß die
Guten ein glückliches und die Bösen ein unglückliches Ende nahmen,
denn dies ist der Sinn der Dichtung. Vielleicht sollte es auch der
Sinn des wahren Lebens sein. Mit anderen Worten, ich habe meinen
wohlverdienten Lohn empfangen. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt
tun soll, aber ich halte es für unwahrscheinlich, daß nach dem
Prozeß noch irgendeine Schulbehörde auf meine Dienste als Lehrer
Wert legt.
Das ist mir herzlich gleichgültig. Ich glaube, der
Skandal wird mir keine schlaflosen Nächte bereiten, und falls mich
die Leute schneiden, so komme ich auch ohne sie aus. Den einzigen
Menschen, ohne den ich nicht auskomme, werde ich nie wiedersehen,
und diese Unerträglichkeit muß ich ertragen. Ich werde sie nie mehr
in dem düsteren Wald oder im Halbdunkel des Stammhauses küssen, sie
nie mehr in weißem Samt gekleidet sehen oder hören, wie man
bewundernd ihren Namen nennt. Sie ist tot, und ihr Tod reißt eine
Lücke in mein Leben, die durch nichts zu schließen ist.
Ihr Inspector fragte mich, was ich möchte, und es
ist nichts geschehen, was mich zu einer Änderung meiner Antwort
veranlassen könnte. Ich möchte sterben.