15
Wexford war so müde, daß er schon eingeschlafen war, kaum daß sein Kopf aufs Kissen sank. Wie die meisten Menschen, die auf jenen Lebensabschnitt zugehen, der nach den besten Jahren kommt, jedoch noch nicht das eigentliche Alter ist, fiel es ihm immer schwerer, eine Nacht wirklich durchzuschlafen. Vor Jahren, als er noch jung war, hatte er es sich vernünftigerweise zur Gewohnheit gemacht, nachts seine Gedanken von den Vermutungen und Sorgen, die ihn tagsüber plagten, zu lösen und auf zukünftige private Vorhaben oder angenehme Erinnerungen zu richten. Sein Unterbewußtsein entzog sich jedoch seiner Kontrolle und machte sich in Träumen von diesen Tagesängsten bemerkbar.
So auch in dieser Nacht. In seinem Traum befand er sich unten am Kingsbrook, wo er gern und oft spazierenging, als er flußaufwärts einen jungen fischen sah. Der junge war blond und schlank und hatte ein grobknochiges angelsächsisches Gesicht. Wexford ging auf ihn zu und hielt sich im Schatten der Bäume, da er aus einem unerfindlichen Traumgrund nicht bemerkt werden wollte. Unten am Fluß war es behaglich und warm, ein Sommerabend, dem, wie ihm schien, ein langer heißer Tag vorausgegangen war.
Gleich darauf hörte er jemanden rufen und sah ein Mädchen, das über den Böschungsrand gelaufen kam. An ihrem hellen, fast gelben Haar und der Form ihres Gesichts konnte er erkennen, daß es sich um die Schwester des jungen handelte, die älter war als er, vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Sie war gekommen, um ihn zu holen, und er hörte, wie heftiger Streit zwischen ihnen ausbrach, weil der junge hierbleiben und weiterfischen wollte.
Ihm war klar, daß er ihnen über die Wiesen nachgehen mußte. Sie liefen vor ihm her, das Mädchen mit wehendem Haar. Über ihm donnerte ein Flugzeug vorbei, und er sah Bomben wie schwere schwarze Federn zur Erde fallen.
Ein Teil des Hauses blieb stehen, kahle, fensterlose Mauern umgaben einen rauchenden Trümmerhaufen, aus dem die Schreie der lebendig Begrabenen drangen. Die Kinder standen weder unter Schock, noch waren sie verängstigt, denn dies war ein Alptraum, in dem natürliche Gefühle außer Kraft sind. Als gleichgültiger Beobachter sah er zu, wie das Mädchen sich tastend einen Weg in das schwarze Inferno bahnte, der junge dicht hinter ihr. Nun konnte er einen langen bleichen Arm aus dem Schutt ragen sehen und eine Stimme hören, die um Hilfe, um Gnade winselte. Die Kinder fingen an, mit bloßen Händen zu graben, und er ging näher, um ihnen zu helfen. Dann bemerkte er, daß sie die schreienden Gesichter nicht freilegten, sondern noch tiefer eingruben und dämonisch lachend wie besessen daran arbeiteten, das Vernichtungswerk der Bombe zu Ende zu führen; gerade als er ihnen zurief, sofort damit aufzuhören, schreckte er aus dem Traum auf.
Nun wieder bei vollem Bewußtsein, merkte er, daß er sich aufgerichtet und seine Schreie die Form von ersticktem Schnarchen angenommen hatten. Seine Frau, die neben ihm lag, hatte sich nicht gerührt. Er rieb sich die Augen und warf einen Blick auf die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr. Es war fünf nach zwei.
Wenn er um diese Zeit einmal wach wurde, wußte er, daß er nie wieder einschlafen würde, und für gewöhnlich ging er dann nach unten, setzte sich in einen Sessel und suchte sich etwas zu lesen. Der Traum blieb ihm quälend deutlich im Gedächtnis, während er seinen Morgenmantel anzog und sich zur Treppe wandte. Am Morgen würde er entsprechende Nachforschungen veranlassen, um genau zu erfahren, was an dem Tag geschehen war, als die Bombe das Elternhaus der Villiers’ zerstört hatte. Jetzt aber erst mal was zu lesen...
In seiner Jugend, als er mehr Freizeit und weniger Verpflichtungen gehabt hatte, war er ein Bücherwurm gewesen, und zu seiner Lieblingslektüre hatten sekundärliterarische Werke und Biographien über Schriftsteller gezählt. Mrs. Wexford konnte dies nicht verstehen, und nun erinnerte er sich, daß sie ihn einmal gefragt hatte, weshalb er lesen wolle, was jemand anderes über ein Buch sagte. Weshalb nicht einfach das Buch selber lesen? Und er hatte nicht recht gewußt, was er ihr darauf zur Antwort geben, wie er es ausdrücken sollte, daß er auf diesem Gebiet dem eigenen Urteil nicht trauen konnte, weil er bloß ein Polizist war und nicht studiert hatte. Er hätte ihr auch schlecht erklären können, daß er nach Belehrung und Wissen strebe, weil es Ziel der Bildung sei, den Blick der Seele auf das Licht zu richten.
Während er daran dachte und an das Vergnügen, das ihm derlei Werke bereitet hatten, richtete er den Blick seiner Augen auf das Buch Der verliebte Wordsworth, das er auf dem Couchtisch hatte liegenlassen. Nach nur vier Stunden Schlaf war er nicht mehr müde und wesentlich aufmerksamer als bei seinem früheren Versuch, sich diesem Buch zu widmen. Er konnte es sich ruhig noch einmal vornehmen. Bloß schade, daß es über Wordsworth war. Ziemlich langweiliger Dichter, ging ihm durch den Kopf. Dauernd diese Zwiegespräche mit der Natur und die Spaziergänge im Lake District. Wirklich ein wenig öde. Wenn das Buch doch nur von Lord Byron gehandelt hätte, das wäre etwas anderes gewesen, da hätte man sich mit Lust drüber hergemacht. Bitte schön, das war eine interessante Persönlichkeit, ein romantischer Mann, ein Bilderbuchheld einschließlich spannungsgeladenem Liebesleben, einer katastrophalen Ehe und dem Skandal wegen Augusta Leigh. Doch es war halt ein Buch über Wordsworth. Schön, er würde es lesen, und selbst wenn es ihn langweilte, würde er vielleicht eine Vorstellung von der Art der Faszination erhalten, die dieser Dichter auf Villiers ausübte, fast schon der Besessenheit, die ihn dazu veranlaßt hatte, Gott weiß wie viele Bücher über ihn zu schreiben.
Er fing an zu lesen, und diesmal fand er den Text leicht und eingängig. Nach einer Weile stellte sich der Wunsch bei ihm ein, mehr von Wordsworth’ Lyrik gelesen zu haben. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß der Mann in eine junge Französin verliebt gewesen war und an der Revolution teilgenommen hatte, was ihn fast den Kopf gekostet hatte. Der Stoff war farbig und reizvoll, und Villiers schrieb gut.
Um sechs machte er sich eine große Kanne Tee. Er las weiter, völlig gefesselt und mittlerweile beträchtlich aufgewühlt. Allmählich strömte Licht in das Zimmer, und nach und nach, im gleichen gemächlichen Tempo wie der heraufziehende Morgen, dämmerte es auch Wexford. Er las das letzte Kapitel zu Ende und klappte das Buch zu.
Er seufzte, dann tadelte er sich: »Du beschränkter alter Idiot!« Daraufhin massierte er sich die steifen Hände und sagte laut: »Wenn es nur Byron gewesen wäre! Mein Gott, wenn doch nur. Längst hätte ich die Lösung gehabt.«
 
»Der erste Montag morgen nach Schulbeginn«, sagte John Burden und aß seinen dritten Toast mit Marmelade auf, »ist noch schlimmer als der erste Schultag.« Und trübsinnig fügte er hinzu: »Allmählich wird’s wirklich ernst.« Mit einem klebrigen Finger piekste er seine Schwester. »Müßte dir jetzt nicht wieder schlecht werden?«
»Wird mir nicht, du Ekel.«
»Warum denn nicht? Heute wird’s schlimmer als am ersten Tag, viel, viel schlimmer. Ich wette, wenn du auf die High-School kommst, wird dir dauernd schlecht werden. Falls du es schaffst. Dir wird zu übel sein, um die Prüfung zu machen.«
»Wird mir nicht!«
»O doch, dir wird.«
»Seid ruhig, ihr Quälgeister«, sagte Burden. »Manchmal glaube ich, auf dem Revier herrscht mehr Ruhe und Frieden als hier.«Er stand vom Frühstückstisch auf und traf Anstalten, zum Dienst zu gehen.»Ihr müßt die unnatürlichsten Geschwister in ganz Sussex sein.«
John schien es zu gefallen, daß man ihn in diese einzigartige Gruppe einordnete. “Kannst du mich mitnehmen, Dad? Der alte Ablabs führt uns zur Morgenandacht, und wenn ich zu spät komme, ist der Teufel los.«
»Laß den Teufel aus dem Spiel«, sagte Burden zerstreut. »Von mir aus, komm schon. Ich hab heute viel zu tun.«
Ein Tag, an dem es galt, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden, eine Ratte in ihrem Loch aufzuspüren. Zügig betrat er das Polizeirevier und begegnete Sergeant Martin in der Halle.
»Gibt’s schon was Neues über Twohey?«
»Nein, Sir, soweit ich weiß, nicht, aber Mr. Wexford verfolgt da eine Spur. Er hat gesagt, er will sofort mit Ihnen sprechen, wenn Sie kommen.«
Burden fuhr mit dem Aufzug nach oben.
Der Chief Inspector saß an seinem Schreibtisch und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibunterlage. Er hatte Ringe unter den Augen und machte, wie Burden fand, einen mehr als angeschlagenen Eindruck. Dennoch deutete sein ganzes Betragen auf einen Augenblick des Triumphs für ihn hin, auf eine folgenschwere Entdeckung, die er bis zu diesem Moment für sich behalten hatte.
»Sie kommen spät«, raunzte er ihn an. »Ich habe den Haftbefehl selbst besorgen müssen.«
»Welchen Haftbefehl? Soll das heißen, Sie haben Twohey gefunden?«
»Zum Teufel mit Twohey.« Wexford sprang auf und nahm seinen Regenmantel vom Kleiderständer. »Ist es denn noch nicht bis in Ihre kleinen grauen Zellen vorgedrungen, daß wir auf der Suche nach einem Mörder sind? Wir fahren wegen einer Verhaftung nach Clusterwell.«
Gehorsam ging Burden hinter ihm aus dem Büro. Wexford mochte den Aufzug nicht sonderlich, und seit er eines Nachmittags zwei Stunden darin festgesessen hatte, neigte er dazu, ihn zu meiden. Doch nun hastete er hinein und drückte anscheinend ohne Bedenken auf den Knopf.
»Zu Villiers?« fragte Burden, und als Wexford nicht antwortete, fügte er hinzu: »Ihn werden Sie dort jedenfalls nicht antreffen. Er führt seine Schäfchen heute zur Morgenandacht.«
»Das paßt verdammt schlecht.« Wexford schnaubte aufgebracht. Der Aufzug kam zum Stillstand, und die Tür glitt auf. »Wir nehmen eine Polizistin mit, Mike.«
»Wirklich? Wann wollen Sie mir erklären, wen wir festnehmen und aus welchem Grund?«
»Unterwegs«, antwortete Wexford. »Im Wagen.«
»Erfahre ich dann auch, wie Ihnen die große Erleuchtung kam?«
Wexford lächelte, und in dem Lächeln lag Triumph und wiedererlangtes Selbstvertrauen. “Ich konnte nicht schlafen«, sagte er, während sie auf die Polizistin warteten. »Ich konnte nicht schlafen, deshalb habe ich ein Buch gelesen. Ich bin ein ungebildeter alter Polizist, Mike. Ich lese nicht genug. Dieses hätte ich gleich lesen sollen, als sein Autor es mir gab.«
»Ich wußte nicht, daß es ein Krimi war, Sir«, sagte Burden einfältig.
»Stellen Sie sich doch nicht so saudumm an«, wies ihn Wexford barsch zurecht. »Ich meine nicht, daß in dem Buch steht, welcher Plan hinter dem Mord stand. Es gab sowieso keinen Plan.«
»Selbstverständlich nicht. Es geschah ohne Vorsatz.«
»Ja, da hatten Sie recht, wie in vielem anderen auch«, sagte Wexford, um dann mit plötzlich erstarktem Selbstvertrauen hinzuzusetzen: “Ich kann es Ihnen ruhig verraten, ich dachte schon, Sie hätten in allem recht. Ich dachte, allmählich würde ich alt, zu alt.«
»Na hören Sie, Six«, sagte Burden aufrichtig. »Das ist Unsinn.«
»Ganz richtig«, bestätigte der Chief Inspector unwirsch. “Ich habe noch gute Augen, und ein wenig Intuition bleibt mir auch noch. Na, stehen Sie hier nicht den ganzen Tag in der Gegend herum. Wir müssen jemanden festnehmen.«
jemand anderes mußte auf der Kanzel gestanden sein und die Jungen aufgefordert haben, ihre Gedanken und Stimmen gen Himmel zu richten, denn Denys Villiers war zu Hause.
»Ich habe mir freigenommen, fühle mich nicht wohl.«
»Sie wirken krank, Mr. Villiers«, sagte Wexford ernst. Ihre Blicke trafen sich. »Sie wirken ständig krank.«
»Ach? Ja, vielleicht ist es so.«
»Auf den Zweck unseres Besuchs scheinen Sie nicht neugierig zu sein.«
Villiers warf den Kopf in den Nacken. »Nein. Mir ist klar, weshalb Sie gekommen sind.«
“Ich möchte gern mit Ihrer Frau sprechen.«
»Auch das ist mir klar. Bilden Sie sich ein, ich dächte, Sie hätten die Polizistin mitgebracht, um uns ein wenig weibliche Gesellschaft zu leisten? Sie unterschätzen Ihren Gegner.«
»Sie haben stets die Ihren unterschätzt.«
Villiers lächelte gequält. »Ja, wir könnten wohl beide dem Verein zur Förderung des Größenwahns beitreten.« Er ging zur Schlafzimmertür. »Georgina!«
Mit hochgezogenen Schultern und geneigtem Kopf kam sie heraus. Nur einmal zuvor hatte Wexford jemanden so durch eine Tür kommen sehen, und damals war es ein Mann gewesen, ein Vater, der seine Kinder mit vorgehaltener Waffe zwei Tage lang in einem Zimmer festgehalten hatte. Endlich hatte man ihn überredet, die Waffe fallen zu lassen und über die Schwelle zu treten, wo ihn die Polizei erwartete und er seiner Frau in die Arme sinken konnte.
Georgina sank in die Arme ihres Mannes.
Er umarmte sie fest und strich ihr über das Haar. Wexford hörte, wie sie ihm etwas zuflüsterte, ihn bat, sie nicht zu verlassen. Bis auf ihre Ehe- und Verlobungsringe trug sie keinen Schmuck.
Der Anblick war so quälend, daß er sich nicht dazu durchringen konnte, ihr die Anklage zu eröffnen. Verlegen stand er da, räusperte sich und hüstelte leicht. Plötzlich hob sie den Kopf und sah die beiden Polizisten über die Schulter ihres Mannes hinweg an. Tränen liefen ihr über die sommersprossigen Wangen.
»Ja, ich habe Elizabeth getötet«, sagte sie heiser. »Die Taschenlampe lag am Boden. Ich habe sie aufgehoben und Elizabeth getötet. Ich bin froh, daß ich es getan habe.« Denys Villiers, der sie immer noch in den Armen hielt, zitterte heftig. »Hätte ich eher davon erfahren, hätte ich sie schon früher getötet. Ich habe sie getötet, sobald ich davon erfuhr.«
Sehr leise eröffnete Wexford ihr die Anklage und belehrte sie über ihre Rechte.
»Es ist mir egal, was Sie schriftlich festhalten«, sagte sie. »Ich habe es getan, weil ich meinen Mann behalten wollte. Er gehört mir, nur mir. Ich habe sonst nie jemanden gehabt, der mir gehört. Sie hatte alles, aber ich nur ihn.«
Villiers hörte mit unbewegtem Gesicht zu. »Darf ich mit ihr gehen?«
Wexford hatte nie erwartet, ihn jemals so bescheiden fragen zu hören.
»Selbstverständlich dürfen Sie.«
Die Polizistin führte Georgina zu dem wartenden Auto und legte ihr dabei den Arm um die Schulter. Der Arm sollte sie nur stützen und verhindern, daß sie stolperte, doch es sah aus wie eine Geste der Freundlichkeit und so etwas wie schwesterliche Solidarität. Burden folgte ihnen mit dem bedächtigen steifen Schritt eines Trauernden bei einem Begräbnis.
Villiers schaute auf Wexford, und der Chief Inspector erwiderte seinen Blick. »Sie kann Ihnen nicht viel erzählen«, sagte Villiers. »Ich bin der einzige lebende Mensch, der alles darüber weiß.«
»Ja, Mr. Villiers, wir werden eine Aussage von Ihnen aufnehmen müssen.«
»Ich habe bereits etwas Schriftliches vorbereitet. Andere reden darüber oder fressen es in sich hinein, doch Schriftsteller schreiben. Das hier habe ich heute nacht geschrieben. Ich konnte nicht einschlafen. Ich habe überhaupt nicht geschlafen.«
Tatsächlich wartete der Umschlag auf dem Garderobentisch an eine Vase gelehnt. Als er ihn in die Hand nahm, sah Wexford, daß er an ihn adressiert und frankiert war.
»Wenn Sie nicht heute morgen gekommen wären, hätte ich ihn mit der Post geschickt. Ich hätte das Warten nicht länger ertragen. Jetzt, wo Sie ihn haben, werde ich vielleicht schlafen können.«
»Also gehen wir?« fragte Wexford.
Burden saß am Steuer, neben ihm Villiers. Niemand sprach. Als sie nach Kingsmarkham kamen, schlitzte Wexford den Umschlag auf und warf einen kurzen Blick auf die erste, mit der Maschine geschriebene Seite. Dann bog der Wagen im Vorhof des Polizeireviers ein.
Er stieg aus und öffnete die vordere Beifahrertür. Doch Villiers rührte sich nicht. Als er ihm die Hand auf die Schulter legte, um ihn auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen, bemerkte Wexford mit plötzlich aufwallendem Mitleid - zum erstenmal verspürte er diese Regung gegenüber Villiers -, daß der Mann eingeschlafen war.
Zu Händen von Chief Inspector Wexford
Da ich nicht davon ausgehen kann, daß ich zu Ihren Lieblingsautoren zähle, werde ich diese Erklärung so kurz wie möglich halten. Ich schreibe sie nachts, während meine Frau schläft. Ja, sie kann schlafen, den Schlaf der gerechten, unschuldigen Rächerin.
Als Sie Byron zitierten, war ich überzeugt, daß Sie das Motiv für die Tat kannten, wenn vielleicht auch nicht den Hergang. Doch seitdem habe ich mich gefragt: Kannten Sie es wirklich? Wußten Sie überhaupt, was Sie da sagten? Ich starrte Sie an. Ich wartete darauf, daß Sie nun meine Frau festnehmen würden, und im Gesicht müssen Sie mir angesehen haben, vor was ich Angst hatte: daß Sie, um mich zu erschrecken und mir ein Geständnis zu entlocken, mich mit den Worten eines Mannes konfrontierten, von dem alle Welt weiß, daß er der Geliebte seiner Schwester war.
Ich glaube, damit habe ich mich verraten. Spätestens zu dem Zeitpunkt als ich Ihnen mein Buch zu lesen gab. Aber damals dachte ich, Sie seien zu ungebildet, zu abgestumpft und begriffsstutzig, um eine kurze Stelle in meinem Buch mit meinem Leben in Verbindung zu bringen. Doch nun, während draußen der Morgen dämmert und ich in seinem Licht die Dinge kühl und nüchtern betrachte, während ich mir meine provozierende Unverschämtheit Ihnen gegenüber und Ihre kultivierte Gelassenheit ins Gedächtnis zurückrufe, während ich an Ihre brillante Auffassungsgabe denken muß, erkenne ich, daß ich mich geirrt habe. Wenn Sie weiterlesen, wird es Ihnen klarwerden: »Du bester Weiser, Auge unter Blinden du!«
Wordsworth hat das geschrieben, Mr. Wexford. Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, hat auch Wordsworth seine leibliche Schwester geliebt, doch als wahrer Ausbund von Pflichtbewußtsein (»Strenge Tochter der Stimme Gottes« nannte er es) verließ er sie. Nun werden Sie nicht mehr fragen müssen, was mich an Wordsworth fesselte, in welchem Punkt unsere Wesensverwandtschaft begründet lag. Denn obwohl Dorothy in meinem Buch nur als kleines Intermezzo zwischen Annette und Mary auftaucht, wird Ihnen die Parallele nicht entgangen sein; Sie werden bemerkt haben, was mich als jungen Mann auf der Suche nach einem Thema, dem ich mein Leben widmen konnte, an diesem Dichter angezogen hat. Natürlich war dies nur ein Aspekt unter vielen. Meiner Meinung nach wird Wordsworth nur von Milton übertroffen, und mit Coleridge kann ich behaupten: »Wordsworth ist ein sehr großer Mensch, der einzige, dem ich mich zu allen Zeiten und in allen Spielarten der Kunst unterlegen fühle.«
Meine Wahl hätte selbstverständlich auch auf Lord Byron fallen können. Das Naheliegende einer solchen Entscheidung stieß mich daran ab. Ferner wollte ich mein Talent nicht an jemanden vergeuden, den ich für oberflächlich und schwülstig halte, einen großmäuligen Popstar, nur weil er (höchstwahrscheinlich) Inzest mit Augusta Leigh beging. Doch gerade weil Byron heutzutage für diesen Inzest bekannter als für seine Dichtung ist, berührt er mich seltsam, löst die bloße Erwähnung seines Namens, das Zitieren seiner Verse Nervosität in mir aus.
Doch ich vergesse mein Versprechen, mich kurz zu fassen.
Als wir Kinder waren, habe ich meine Schwester nicht geliebt. Wir stritten uns laufend und litten nicht unter unserer Trennung. Wir waren froh, einander loszuwerden. Erst in meinem Abschlußjahr in Oxford habe ich sie wiedergesehen.
Unser Zusammentreffen ereignete sich auf dem Fest zum einundzwanzigsten Geburtstag eines Kommilitonen von mir. Der Vater dieses jungen Mannes stellte mich seiner Sekretärin vor, einem Mädchen namens Elizabeth Langham. Wir gingen zusammen aus, und bald schliefen wir miteinander.
Ich habe Ihnen gesagt, ich sei ein guter Lügner, doch es ist nicht gelogen, wenn ich Ihnen nun sage, daß ich keine Ahnung hatte, wer sie in Wirklichkeit war, und sie vor diesem Fest noch nie gesehen hatte. Neun Jahre waren vergangen, und wir hatten uns beide verändert. Ich bat sie, mich zu heiraten, und da mußte sie mir die Wahrheit sagen. Zwei Monate lang war ich der Geliebte meiner eigenen Schwester gewesen.
 
Aus Neid und dem Gefühl heraus, bei der damals für uns gefundenen Lösung ungerecht behandelt worden zu sein, hatte sie seit Jahren mein Schicksal verfolgt. Nachdem sie nach London durchgebrannt war mit einem Mann namens Langham, der ihr einen Sekretärinnenkurs bezahlte, nahm sie eine Stelle bei dem Vater meines Freundes an, weil sie wußte, daß sein Sohn und ich zusammen in Oxford studierten. Sie kam zu dem Fest aus Neugier, mich zu sehen; sie ging mit mir aus, weil ihr ein vager Racheplan vorschwebte. Doch dann geriet ihr die Situation aus der Hand. Obwohl sie wußte, wer ich war, hatte sie sich in mich verliebt. Störte sie es? Ich glaube nicht. Lange vor diesem Ereignis hatte sie die Grenzen der allgemein anerkannten Moral weit überschritten, so daß sie hinter diesem Schritt wohl nur eine besonders gewagte Herausforderung der Gesellschaft sah.
Wir trennten uns, sie ging mit ihrem Chef nach Amerika, ich nach Oxford. Auf meine damaligen Gefühle werde ich nicht näher eingehen. Sie sind ein einfühlsamer Mensch und können sie sich vielleicht ausmalen.
Sobald ich meinen Abschluß hatte, heiratete ich; nicht aus Liebe - ich habe in meinem Leben nie jemand anderen geliebt als Elizabeth -, sondern aus einem Bedürfnis nach Sicherheit und Normalität heraus. Die mir von meinem Onkel gewährten Zuwendungen liefen mit meinem einundzwanzigsten Geburtstag aus, und da mir klar war, daß ich mir mit dem Schreiben von Lyrik oder dem Schreiben über Lyrik nie meinen Lebensunterhalt würde verdienen können, bewarb ich mich für eine Stelle als Lehrer an der King’s-Schule.
Bin ich durch meine Rückkehr nach Kingsmarkham ein Risiko eingegangen? Elizabeth hatte mir erklärt, sie verabscheue die Stadt. Ich dachte, ich hätte die einzige Stadt auf der Welt gefunden, die meine Schwester mit Sicherheit meiden würde.
Lionel Marriott, diesem penetranten Salonlöwen, blieb es vorbehalten, mir die Hiobsbotschaft von Elizabeths Anwesenheit hier zu überbringen. Ich hatte Angst, ihr zu begegnen; ich sehnte mich danach, sie zu sehen. Wir trafen uns. Sie stellte mich ihrem Mann vor, einem Millionärssohn, der während der Zeit, als sie in Amerika gearbeitet hatte, dort Urlaub gemacht hatte. In der Annahme, sie würde gerne in der Nähe ihres Elternhauses wohnen, hatte er sie mit dem Kauf von Myfleet Manor überrascht.
Bei Tisch saßen wir zusammen mit ihrem Mann und meiner Frau. Wir plauderten belangloses Zeug. Bei der erstbesten Gelegenheit trafen wir uns allein, und das, Mr. Wexford, war der Neuanfang.
 
Hätte Quentin Nightingale unserer Liebe nicht unwissentlich Vorschub geleistet, wäre sie undurchführbar geblieben. Wenn er mich nicht gemocht hätte, wäre es Elizabeth und mir kaum möglich gewesen, uns zu treffen, und da ich es nicht ertragen hätte, in ihrer Nähe, doch getrennt von ihr zu leben, wäre ich gezwungen gewesen, mir eine andere Stelle zu suchen und wegzuziehen. Heute wünsche ich mir von ganzem Herzen, es wäre so gekommen.
Frauen sind zäher als wir, haben weniger Skrupel und neigen nicht so sehr zu Schuldgefühlen. Ich nehme an, Elizabeth war in Quentin verliebt, als sie ihn heiratete, und hatte die Absicht, ihm eine tugendhafte und treue Frau zu sein. Als ich wieder in ihr Leben trat, ließ sie diese Vorsätze sofort fallen und begann, ihn zu ihrem Werkzeug zu machen. Ihr Ziel war es, mich als Geliebten zu haben und gleichzeitig ihre Stellung, ihr Geld und ihren guten Ruf zu behalten. Sie wollte weder auf das eine noch auf das andere verzichten müssen, und das gelang ihr auch. Dennoch ist es sinnlos, die Schuld einfach auf den anderen zu schieben. Ich war ebenso schuldig wie sie. Der Unterschied zwischen uns lag darin, daß ich ein Gewissen hatte, sie jedoch nicht.
Auf heimtückische und verschlagene Weise setzte sie Quentin zu. Unter dem Vorwand, dies von June erfahren zu haben, redete sie ihm ein, ich sei ein schwieriger Mensch und leide unter Persönlichkeitsstörungen. Er könne mir helfen, indem er sich meiner annehme. Bezeichnenderweise reagierte er damit, mir ein Zimmer im Stammhaus zur freien Verfügung anzubieten.
Es mußte so aussehen, als würde ich nur auf Quentins Betreiben hin ins Herrenhaus eingeladen, denn es sollte den Anschein haben, als könnten Elizabeth und ich uns nicht ausstehen. Weshalb? Sie sagte, wenn wir in der Öffentlichkeit auch nur normale geschwisterliche Zuneigung an den Tag legten, würde uns dies bald dazu verführen, uns eine leidenschaftlichere Liebe anmerken zu lassen, als es zwischen Bruder und Schwester zulässig ist. Ich glaube nicht, daß dies der wahre Grund war. Eher scheint mir, sie mochte die Geheimnistuerei um ihrer selbst willen, und die Gleichgültigkeit, mit der wir uns in der Öffentlichkeit begegneten, verlieh ihrer Meinung nach unserer heimlichen Liebe so etwas wie Würze.
Wenn ich nun behaupte, daß ich auch Quentin liebte, werden Sie mir dies dann als schändliche Heuchelei auslegen? Oder hat Sie Ihre Erfahrung gelehrt, daß wir oft die Menschen am meisten lieben, die wir hintergangen, betrogen und entehrt haben? Denn in dem Bemühen, sie an der Entdeckung unseres Verrats zu hindern, lernen wir, sie auch vor jedem anderen Übel zu bewahren, und die freundlichen Worte, mit denen wir sie ursprünglich blenden wollten, werden zur Gewohnheit und kommen schließlich von Herzen. Ja, Mr. Wexford, ich habe Quentin geliebt, und Elizabeth, die aus Furcht, ich könnte mich hinreißen lassen und mich einem Freund anvertrauen, alle meine Freundschaften hintertrieb, billigte mir diese eine zu, weil sie nie verstand, daß ich mich danach sehnte, von allen Menschen ausgerechnet bei ihm zu beichten, und seine Vergebung die einzige war, auf die ich Wert gelegt hätte.
Ich komme jetzt zu Twohey.
Schon längere Zeit hatte er Elizabeths Besuche bei mir im Stammhaus beobachtet, und eines Tages sah er, wie ich mit ihr die Treppe hinunterging und sie im Obstlager umarmte. Es war keine brüderliche Umarmung, und Twohey fotografierte uns durch das Fenster. Ich habe mich von ihm erpressen lassen und zahlte. Als er mir alles abgeknöpft hatte, verkaufte Elizabeth nach und nach ihren Schmuck und ließ Kopien davon anfertigen.
Twohey haben Sie noch nicht gefunden, oder? Lassen Sie sich von mir helfen. Außer Georgina so viel Leid wie nur möglich zu ersparen, habe ich nur noch den einen Wunsch, Twohey in der gleichen jämmerlichen Lage zu sehen, in die er Elizabeth und mich gebracht hat. Sie finden seine Adresse auf den Schneiderrechnungen im Sekretär in ihrem Schlafzimmer. Tanya Tye ist der Name (höchstwahrscheinlich der Deckname) der Frau, mit der er in einer Luxuswohnung über dem Geschäft in der Bruton Street lebt. Die Sache war ganz einfach und sehr schlau eingefädelt. Immer wenn Twohey Geld wollte, ließ er Elizabeth eine Rechnung von Tanya Tye zukommen; die geforderte Summe ergab sich aus dem Rechnungsbetrag, an den noch eine Null angehängt wurde. Zum Beispiel: Wenn sich die Rechnung auf einhundertundfünfzig Pfund belief, sollte sie ihm fünfzehnhundert schicken. Das Geld schickte sie ihm in mit Packpapier eingewickelten Päckchen, das letzte davon hat Nelleke am Tag vor Elizabeths Tod zur Post gebracht. Um ihr zu zeigen, daß er das Geld erhalten hatte, schickte er ihr Quittungen.
Weidmannsheil, Mr. Wexford.
Ich nehme an, Marriott hat Sie in die näheren Umstände meiner Scheinexistenz eingeweiht. Ihnen wird bekannt sein, daß die Nightingales und ich gemeinsam in Urlaub gingen, Elizabeth und ich vor zwei Jahren jedoch allein fuhren, weil Quentin krank war. Marriott meinte damals, bei unserer Rückkehr aus Dubrovnik hätten wir schlecht und abgehärmt ausgesehen, doch er kam nie auf den Gedanken, wir könnten so niedergeschlagen gewirkt haben, nicht weil wir uns gestritten hatten, sondern weil wir glücklich gewesen waren.
Ich wollte, daß sie Quentin verläßt und mit mir zusammen weggeht. Sie lehnte ab. Wären wir vor Jahren zusammengezogen, hätte uns niemand als Geschwister im Verdacht gehabt. Jetzt wußten es alle, die Folge wäre ein ungeheurer Skandal. Das hat sie zumindest gesagt. Doch ich, soror mea sponsor, kannte sie besser. Mir war klar, daß ihr das Geld und ihre Stellung genauso viel bedeuteten wie ich. Sie war daran gewöhnt, zwei Eisen im Feuer zu haben, auf zwei Hochzeiten zu tanzen, und abgesehen von ihrer entsetzlichen Angst vor Twohey war sie wohl im wesentlichen glücklich.
Ich war am Tiefpunkt angelangt. Ich war sechsunddreißig und hatte mein ganzes Leben lang hart gearbeitet, doch ich besaß keinen Penny. Die Früchte meiner Arbeit hatte der Geliebte einer Modistin in Mayfair geerntet und sich damit ein Leben in Saus und Braus ermöglicht. Ich hatte keine Frau, keine Kinder, keine Freunde und hauste in drei Zimmern. Zugegeben, ich hatte Elizabeth, aber für wie lange? Es würde der Tag kommen, an dem sie, älter und ruhiger geworden, mich zugunsten ihrer anderen, sichereren Welt aufgeben würde.
Ich beschloß, einen Schlußstrich zu ziehen, und lehnte daher Quentins Einladungen ins Herrenhaus, seine fast unwiderstehlichen Bitten alle ab. Ich dachte, ich würde arbeiten können. Statt dessen lag ich Abend für Abend auf meinem Bett, zerbrach mir den Kopf, tat nichts und spielte gelegentlich mit Selbstmordgedanken. Es war eine Finsternis der Seele, vergleichbar mit Wordsworth’ Nervenzusammenbruch, als er Frankreich verlassen und Annette aufgeben mußte.
An Elizabeth lag mir nichts mehr. Wenn ich jemanden vermißte, dann Quentin. Schließlich ging ich zum Herrenhaus und gab ihnen Bescheid, daß ich nicht mit nach Rom fahren würde. Mein Blick fiel auf Elizabeth, und ich fühlte - nichts. Es war mir unbegreiflich, daß ich die besten Jahre meines Lebens damit verschwendet hatte, sie zu lieben.
Ich ging nach Spanien. Nicht in das romantische, zauberhafte Spanien von Madrid und den Sierras, sondern in ein brodelndes Blackpool, denn das haben wir aus der Costa Brava gemacht, und ich besuchte das Land als Begleitlehrer einer Klassenfahrt. Ich dachte mir damals wohl, Wut, Erbitterung und qualvolle Langeweile zu empfinden, sei immer noch besser, als gar nichts zu empfinden.
Georgina wohnte im gleichen Hotel. Ich bin kein attraktiver Mann mehr, Mr. Wexford, und ich sehe viel älter aus, als ich bin. Amüsantes Plaudern liegt mir nicht, denn ich habe mein Inneres vollständig meiner Schwester anvertraut. Schon vor sehr langer Zeit habe ich verlernt, wie man junge Frauen betört. Ich eigne mich eher für die Zelle eines Trappistenmönchs als für geistreiche Gespräche in einem Boudoir. Aber Georgina, das arme Ding, verliebte sich in mich. Eigentlich ein Witz, Georginas Liebe in dieser miserablen Absteige.
Ich hatte alles, war reich begabt gewesen, und hatte alles vergeudet. Sie hatte nie etwas. Als jüngstes Kind einer vielköpfigen armen Familie hatte sie, wie sie mir erzählte, nie etwas besessen, von dem sie das Gefühl haben konnte, daß es ganz allein ihr gehöre. Kein Mann hatte sie je begehrt oder war auch nur öfter als ein- oder zweimal mit ihr ausgegangen. Sie war unscheinbar, schüchtern und fad.
Ein armes, vom Schicksal mißachtetes Ding, aber mein eigen...
Wir heirateten. Ich brachte Georgina ins Herrenhaus und sah die Enttäuschung auf Quentins Gesicht. Für Elizabeth war es keine Enttäuschung. Sie triumphierte in dem Kleid aus weißem Samt und mit ihren nachgemachten Juwelen. Ich richtete den Blick auf sie, dann auf die arme Georgina, und während ich mich von neuem in meine Schwester verliebte, fragte ich mich: Was hast du getan?
Der dritte Anfang, und der letzte...
 
Ich wollte einen Hausstand gründen. Ich wollte Kinder. Wenn schon nicht sechs, so doch ein paar. Doch ich hörte nicht auf die strenge Tochter der Stimme Gottes, und auch nicht auf die schrillere, nörgelnde Stimme meiner Frau, die lautstark verlangte, ich müsse ihr ein und alles sein, ein Ausgleich für lange Einsamkeit, ein Mustergatte, der sie zärtlich liebte. Ich hörte auf meine Schwester.
Kommen wir also zu Elizabeths Todestag. Nein, Sie haben mir natürlich nicht geglaubt, als ich behauptete, daß ich abends immer in die Schulbibliothek ginge, um Recherchen für meine Arbeit anzustellen. Nur jemand, der so unbelesen und uninteressiert an Literatur ist wie Georgina, konnte das glauben. Abgesehen von der Selincourt and Darbyshire Collection Edition, deren Bände bei mir zu Hause stehen, sind die einzigen Werke über Wordsworth in der Schulbibliothek meine eigenen. Ich traf mich zu dieser Zeit immer mit Elizabeth im Wald. An jenem Tag hatten wir den Nachmittag zusammen verbracht, aber das reichte uns nicht. Die Schulferien würden bald zu Ende sein, und dann...? Einmal in der Woche ein Treffen zum Bridgespielen? Literarische Diskussionen mit Quentin, und Elizabeth als schweigsame Dritte? Wir vergingen vor Sehnsucht nacheinander. Wir verabredeten uns auf dreiundzwanzig Uhr im Wald.
Ich habe gesagt, daß Georgina meine Entschuldigungen gelten ließ, doch wenn sie dies hätte, wäre Elizabeth heute noch am Leben. Georgina mißtraute mir allmählich, und für eine so krankhaft eifersüchtige Frau wie sie erfordert Mißtrauen sofortiges Handeln.
Wir fuhren zum Herrenhaus und spielten Bridge. Kurz bevor wir gingen, schenkte Elizabeth Georgina einen Seidenschal. Sie schenkte Georgina immer eine Menge abgelegte Kleidung. Es belustigte sie wohl, meine Frau in ihren ausrangierten Modellkleidern zu sehen, da sie genau wußte, daß Georgina eine schlechtere Figur in ihnen machte als sie und mir dies auch auffallen würde, was zu dem naheliegenden ungerechten Vergleich führte.
Ich brachte Georgina nach Hause und fuhr wieder weg, um mich mit Elizabeth zu treffen. Kurz vor elf kam sie auf die Waldlichtung. Wir setzten uns auf einen Stamm, rauchten und redeten. Elizabeth hatte jene Taschenlampe aus dem Geräteraum mitgebracht, denn wegen der Wolken, die sich vor den Mond geschoben hatten, war es dunkel.
Ungefähr zwanzig Minuten nach elf meinte sie, es sei Zeit aufzubrechen. Georginas leichte Gereiztheit nach unserer Bridgepartie hatte sie nervös gemacht, und sie sagte, ein zu langer Aufenthalt im Wald bedeute, das Schicksal herauszufordern.
Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, nach unseren Treffen neben meinem Auto zu warten und ihr nachzusehen, bis sie die Straße überquert hatte und sicher im Park des Herrenhauses angelangt war, und so gingen wir Arm in Arm zum Auto. Auf dem Weg fiel uns ein anderes Auto auf, dessen Scheinwerfer suchend am Waldrand entlangstrichen, doch es fuhr weiter, und wir dachten nicht mehr daran.
Als wir zu meinem Wagen kamen, sagte Elizabeth, sie habe ihre Taschenlampe vergessen und müsse zurückgehen und sie holen, falls sie jemand fand und ihr dadurch auf die Spur kam. Ich wollte sie begleiten, aber sie meinte, sie könne gefahrlos allein gehen. Was könne ihr schon passieren? Ja, was schon? Ich nahm sie in die Arme und küßte sie, so wie ich sie an dem Tag geküßt hatte, als Twohey vor dem Fenster stand. Dann fuhr ich nach Hause. Georgina war nicht da, als ich zurückkam; ihr Auto auch nicht. Sie kam um Mitternacht heim, fröstelte in einer dünnen Bluse - denn ihren Pullover hatte sie auf Palmers Unkrautfeuer verbrannt -, und in der Hand hielt sie eine in Zeitungspapier eingewickelte, blutbefleckte Taschenlampe.
Sie war mir gefolgt, Mr. Wexford, und hatte gesehen, wie ich Elizabeth küßte, deshalb wartete sie bei dem Baumstamm, bis Elizabeth wegen der Taschenlampe noch einmal zurückkam. Was dann geschah, weiß ich nur nach dem, was mir Georgina erzählt hat. So schokkiert, so entsetzt war sie über das, was sie gesehen hatte, daß ihr seelisches Gleichgewicht, um es in der Sprache der Justiz auszudrücken, als gestört gelten muß. Sie versuchte, dies Elizabeth zu erklären, doch sie drückte sich unverständlich aus, war hysterisch, und Elizabeth lachte ihr ins Gesicht. Was sie, Georgina, denn glaube, dagegen unternehmen zu können, fragte sie meine Frau. Es liege in der Natur der Sache, daß unser Verhältnis nicht ewig Bestand haben würde. Georgina müsse warten, bis ich eines Tages zu ihr zurückkehren würde. Bestimmt würde sie es doch nicht auf einen Skandal ankommen lassen, der unumgänglich sei, wenn sie Szenen machte oder jemandem davon erzählte?
Elizabeth beugte sich vor, um nach der Taschenlampe zu suchen, die, wie sie dachte, hinter den Baumstamm gefallen war. Sie hatte sich geirrt. Georgina hielt die Lampe in der Hand, und während Elizabeth ihr den Rücken zuwandte, versetzte sie meiner Schwester damit einen Schlag. Immer wieder schlug sie auf sie ein, bis Elizabeth tot war. Georgina trug selber den Schal. Sie riß ihn sich von den Schultern und wischte sich die Hände daran ab. Dann ging sie über die Straße, stopfte den Schal in einen hohlen Baum und verbrannte ihren Pullover auf Palmers Unkrautfeuer.
Ist damit nicht alles gesagt? Als Georgina nach Hause kam und mir erzählte, was sie getan hatte, gestand ich ihr die ganze Geschichte. Ich erzählte ihr von der Erpressung und der Sache mit dem Schmuck.
Ich weiß, was Sie mich jetzt fragen werden. Warum habe ich als Geliebter und bester Freund meiner Schwester Ihnen meine Frau nicht unverzüglich ausgeliefert? Und wahrscheinlich haben Sie sich schon selbst die Antwort darauf gegeben, nämlich daß ich fürchtete, unser Verhältnis könnte ans Licht kommen. Aber ganz so war es nicht. Vor Gram und Entsetzen war ich wie gelähmt, doch sogar in diesem Augenblick wollte ich mein Leben retten. Nun, wo Elizabeth tot war, konnte ich vielleicht doch noch zur Ruhe kommen, meinen Frieden finden, glücklich sein und ein Leben ohne Lüge führen.
Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen, Mr. Wexford. Er hat sich so weit über die anderen Tiere erhoben, daß ihm Darwins Theorie absurd und als ungeheuerliche Beleidigung erscheint. Aber dennoch hat er den stärksten Instinkt mit ihnen gemeinsam: den Selbsterhaltungstrieb. Die ganze Welt um ihn herum kann in Schutt und Asche liegen, und er sucht dennoch nach einem stillen Winkel, in den er sich verziehen kann, und klammert sich an seine Hoffnung, daß es, ganz gleich, welche Schicksalsschläge ihn auch getroffen haben, nie zu spät sein kann.
In diesem Augenblick haßte ich Georgina. Ich hätte sie erwürgen mögen. Doch ich sagte mir, was geschehen ist, war meine Schuld. Ich hatte es getan. Ich tat es, als ich vor so vielen Jahren zu dem Fest ging. Statt gewalttätig gegen sie zu werden, nahm ich sie daher in die Arme und roch Elizabeths Blut an ihrem Haar und unter ihren Fingernägeln. Ich wusch die Taschenlampe ab und warf die feuchten Batterien weg. Georgina ließ ich ein Bad ein und wies sie an, sich die Haare zu waschen. Den Rock und die Bluse, die sie getragen hatte, verbrannte ich in dem Heizkessel in der Küche.
Ich sah keinen Grund, weshalb Sie Georgina verdächtigen sollten, denn sie hatte kein klares Motiv, und deshalb wurde ich auch so hysterisch, als Sie uns die Nachricht von dem Testament brachten. Meine Frau festzunehmen und sie wegen des falschen Motivs zu verurteilen! Welche Ironie des Schicksals.
Sie war sehr nervös und parierte Ihre Angriffe sehr schlecht. Als wir allein waren, erklärte sie mir, sie würde gern ein Geständnis ablegen, denn Sie und jeder vernünftig denkende Mensch würden Verständnis für sie haben. Ich hielt sie davon ab. Ich dachte, wir hätten noch eine Chance. Dann zitierten Sie mir diese Stelle aus Byrons Lara, und ich begann, mir vorbereitende Notizen zu dieser Erklärung zu machen.
Jetzt ist alles vorbei.
Sie werden Georgina nicht zu hart zusetzen, davon bin ich überzeugt, und mir ist klar, daß während ihres Prozesses jeder Zeitungsleser in diesem Land mit Leib und Seele Partei für sie ergreifen wird, und dies gilt auch für diejenigen, deren Stimme mehr Gewicht hat, den Richter und die Geschworenen. Sie wird zwei oder drei Jahre ins Gefängnis gehen, doch irgendwann wird sie wieder heiraten, die ihr unentbehrlichen Kinder haben und das geordnete und beschauliche Leben führen, nach dem sie sich sehnt. June hat schon vor langer Zeit wieder geheiratet. Bald wird Quentin seine kleine Holländerin als Gutsherrin von Myfleet heimführen, und wenn sie ihm untreu wird, so werden es ganz normale, alltägliche Seitensprünge sein, die mein Schwager mit einer ihm hoffentlich nicht zu schwerfallenden Fassung ertragen wird. Was Elizabeth angeht, so starb sie auf dem Gipfel ihrer Liebe und ihres Triumphs, und gerade rechtzeitig, um die Schmerzlichkeit des Altwerdens nicht mehr erleben zu müssen.
Tatsächlich ließe sich mit Wilde sagen, daß die Guten ein glückliches und die Bösen ein unglückliches Ende nahmen, denn dies ist der Sinn der Dichtung. Vielleicht sollte es auch der Sinn des wahren Lebens sein. Mit anderen Worten, ich habe meinen wohlverdienten Lohn empfangen. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll, aber ich halte es für unwahrscheinlich, daß nach dem Prozeß noch irgendeine Schulbehörde auf meine Dienste als Lehrer Wert legt.
Das ist mir herzlich gleichgültig. Ich glaube, der Skandal wird mir keine schlaflosen Nächte bereiten, und falls mich die Leute schneiden, so komme ich auch ohne sie aus. Den einzigen Menschen, ohne den ich nicht auskomme, werde ich nie wiedersehen, und diese Unerträglichkeit muß ich ertragen. Ich werde sie nie mehr in dem düsteren Wald oder im Halbdunkel des Stammhauses küssen, sie nie mehr in weißem Samt gekleidet sehen oder hören, wie man bewundernd ihren Namen nennt. Sie ist tot, und ihr Tod reißt eine Lücke in mein Leben, die durch nichts zu schließen ist.
Ihr Inspector fragte mich, was ich möchte, und es ist nichts geschehen, was mich zu einer Änderung meiner Antwort veranlassen könnte. Ich möchte sterben.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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