12
Die neue Cocktailbar im Olive and Dove war fast menschenleer, denn inzwischen hatte es die meisten Hausgäste in den Speisesaal gezogen, während die ernsthaften Trinker in den Pub oder den Salon abgewandert waren. Wexford bugsierte Marriott in einen abgelegenen Winkel und stellte ihm einen großen Whisky vor die Nase. Die Bar war durch eine gläserne Flügeltür mit dem Speisesaal verbunden, doch Wexford hatte dafür gesorgt, daß die Gäste nicht in Marriotts Blickfeld gerieten. Er wollte ungestört mit Marriott sprechen und ihn nicht der Versuchung aussetzen, Bekannten zu winken oder lächelnd und pantomimisch mit hübschen Frauen Verbindung aufzunehmen.
»So«, sagte er. “Ich möchte, daß du mir etwas über diesen Urlaub an der Costa Brava erzählst.«
»Urlaub!« rief Marriott und blinzelte entgeistert. »Vierzehn Tage Arbeitslager wären mir ehrlich lieber. Schlimm genug, die pickligen Racker nach London ins Victoria and Albert Museum zu schleppen, aber stell dir mal vor, zwei Wochen mit denen in so einer fünftklassigen Absteige eingepfercht zu sein - und das in der Gluthitze. Weißt du, die sind dort unten wie vom wilden Affen gebissen. Von den Einheimischen ist kein Mädchen vor ihnen sicher. Sie leiden ohnehin schon alle an Satyriasis in fortgeschrittenem Stadium, und sobald sie ein wenig Sonne abbekommen...! Und was die erschreckenden Verstöße gegen die Ausfuhrbestimmungen betrifft, so machst du dir kein Bild, wie teuflisch erfindungsreich manche von denen sind. Noch kaum aus den Windeln, und schon alle erfahrene Schmuggler.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Wexford lachend. »Was war mit Villiers?«
»Weiß Gott, woher er die Zeit nahm, dort unten auch noch auf Freiersfüßen zu wandeln. Man sollte doch glauben, es bliebe einem keine freie Minute, wenn man gleichzeitig Zollbeamter, Kindermädchen und Anstandswauwau spielen muß. Wie auch immer, er lernte jedenfalls Georgina kennen.«
»War sie auch auf Urlaub dort?«
»Nur in demselben Sinne wie er«, sagte Marriott und winkte begeistert einer Brünetten zu, die in einem Satinkleid an ihrem Tisch vorbeirauschte. Sehnsüchtig sah er ihr nach, wie sie im Speisesaal verschwand. »Georgina war ebenfalls Begleitlehrerin auf einer Klassenfahrt. Nach dem, was man so hört, hatte sie einen Verein mannstoller Teenager auf dem Hals. Denys und sie sind sich auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge durch die Kneipen begegnet, wo sie ihre Schützlinge vom Boden auflasen.«
»So schlimm kann es nun wirklich nicht gewesen sein, Lionel.«
»Vielleicht übertreibe ich ein wenig«, räumte Marriott unbekümmert ein. »Von Denys habe ich darüber natürlich kein Wort erfahren. Nicht mal eine Karte hat er mir geschrieben. Nein, erst am Tag vor seiner Rückkehr habe ich davon Wind bekommen. Elizabeth und Quen kamen abends noch auf einen Sprung vorbei. ‘Wir haben eine erfreuliche Nachricht für dich’, sagte Quen.’Denys hat ein Mädchen kennengelernt, und sie wollen heiraten.‘’Fixer Junge’, erwiderte ich, und dann mußte ich natürlich sagen, wie sehr ich mich darüber freute, obwohl ich insgeheim dachte, das arme Ding hat ja wohl nicht alle Tassen im Schrank. Die nächste Runde geht auf mich, Reg.«
»Nein!« widersprach Wexford energisch. »Heute abend bist du eingeladen.« War Marriott erst einmal an der Bar, würde er den Verlockungen seiner Bekannten ausgesetzt sein. Wexford bestellte noch zwei Whiskys; während er an der Theke wartete, ließ er den Blick prüfend über die Kellner im Speisesaal schweifen und fragte sich, welcher davon wohl Quentin Nightingales Nebenbuhler war. Der Große mit der Akne? Der dünne junge mit den zurückgekämmten schwarzen Haaren?
“Geheiratet haben sie in Georginas Heimatstadt in Dorset«, fuhr Marriott fort.”Quen kam zur Hochzeit, aber Elizabeth war verhindert. Sie hatte Migräne. Diese Wohnung über dem Abdecker konnte natürlich nicht mal Denys seiner zweiten Frau zumuten, deshalb bot ihnen Elizabeth an, im Herrenhaus zu wohnen, während sie auf Haussuche waren.
Die Nightingales richteten ein Diner für die Braut aus. Alles, was Rang und Namen hat, war dort. Die gute alte Priscilla und Sir George, die Rogers’ aus Pomfret, die Primeros aus Forby und meine bescheidende Wenigkeit natürlich auch.« Alles andere als bescheiden wirkend, senkte Marriott die Stimme zu einem durchdringenden Flüstern. »Georgina wohnte im Haus, erschien aber als letzte. Aha! dachte ich mir, das schlaue kleine Ding will Eindruck schinden. Niemand von uns hatte sie zuvor schon gesehen, deshalb warteten wir natürlich mit angehaltenem Atem auf ihren Auftritt. Die Frauen hatten sich alle schwer in Schale geworfen. Elizabeth sah entzückend aus. Weißer Samt, du wirst es dir vorstellen können. Das steht fast jeder Frau. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sogar Denys sie mit einer Art widerwilliger Bewunderung ansah.
Und dann, als wir unsere Ungeduld kaum mehr bezähmen können, schneit Georgina herein - mit popeligen Zuchtperlen und in einem Fetzen von der Stange. Was die Frauen für Augen machten! Georgina war keine Spur von schüchtern. Die Unterhaltung bei Tisch bestritt sie im Grunde allein. Wir erfuhren alles über ihre hausfraulichen Pläne und Absichten, daß sie Denys ein richtiges Heim einrichten würde und sie sechs Kinder haben wollten. Aber sie war eifersüchtig! Sie beschwerte sich doch glatt bei Elizabeth, daß man sie nicht neben ihren Mann gesetzt hatte.
Elizabeth war reizend zu ihr, das muß man ihr lassen. Sie hat ihr sogar ein Kompliment wegen dem Kleid gemacht und gab sich wirklich alle Mühe, Georgina in den Mittelpunkt zu stellen. Sie sprudelte über vor Fröhlichkeit und sah keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig.«
»Wirkte Georgina neidisch?« fragte Wexford.
»Auf die Anwesenden? Falls sich Neid dahinter verbirgt, wenn eine alles, was um sie herum ist, madig macht und sich bemüht, auf Grund ihrer spießbürgerlichen Ansichten eine Überlegenheit für sich in Anspruch zu nehmen, ja, dann war sie wohl neidisch. Seit damals bin ich ihr natürlich x-mal begegnet, und ihr einziges Thema ist, was für eine Musterehe sie und Denys doch führen und wie sie ineinander aufgehen.«
»Stimmt das denn?«
»Er ist der Mann ihrer Träume«, sagte Marriott. »Obwohl von den sechs Kindern ja noch nicht viel zu sehen ist. Was ihn betrifft, so denke ich, daß er sich in seiner zweiten Ehe genauso langweilt wie in der ersten, aber Denys Villiers interessiert sich eben nur für eines, und das ist seine Arbeit. Kaum hatten sich er und Georgina in dem Bungalow eingelebt, als er sich auch schon wieder wie in alten Zeiten im Herrenhaus herumtrieb.«
»Anscheinend hast auch du dich dort herumgetrieben, sonst hättest du ihn nicht gesehen«, sagte Wexford gewitzt.
Einen Moment wirkte Marriott verdutzt. Dann sprang er wie von der Tarantel gestochen auf. »Entschuldige mich bitte einen Augenblick, ich will nur mal kurz in den Speisesaal und ein Wort mit...«
Wexford lachte. »Du bist entschuldigt - für heute abend.«
 
»Du glaubst«, sagte Dr. Crocker am Morgen darauf, »sie hätte zur Tatzeit das Kopftuch getragen. Da muß ich dich leider enttäuschen. In diesem Fall müßte es mit Blut durchtränkt sein.«
»Eigentlich ist es ein Schal - vielleicht trug sie ihn um den Hals oder hielt ihn in der Hand.«
Der Arzt schnaubte verächtlich. »Klar-und nachdem sie erschlagen war, hat sie ihn abgelegt und sich den Kopf damit abgewischt. So sieht er nämlich aus, als sei Blut damit abgewischt worden.«
Wexford faltete den Bericht zusammen und legte ihn auf sein Dienstbuch. »Du hast gesagt, am Dienstag abend mußtest du zu einer Entbindung. Die Straße von Clusterwell nach Myfleet bist du dabei nicht zufällig gefahren?«
»Aber sicher. Warum?«
»Kennst du Villiers’ Bungalow?«
»Natürlich. Er ist ein Patient von mir. Ich bin so gegen elf daran vorbeigefahren.«
»Ist dir der Bungalow irgendwie aufgefallen?« hakte Wexford nach. »Hat Licht gebrannt? Sind die Autos in der Einfahrt gestanden?«
Der Arzt machte ein langes Gesicht. »Ich habe nicht darauf geachtet. Meine Gedanken kreisten um meine Patientin und die Möglichkeit einer Steißgeburt. Aber wenn ich gewußt hätte...«
»Das sagen alle«, erwiderte Wexford. »Da kommt Mike.«
Ein abgeschlaffter Burden trat in das Büro. »Wir haben zu dritt ganz Myfleet abgeklappert«, berichtete er. »Anscheinend fährt dort kein Schwanz abends noch weg. Um neun werden in dem Nest die Bürgersteige hochgeklappt, und wer um diese Zeit noch nicht im Bett ist, sitzt im Pub. Außer Nelleke Doorn kam niemand an Villiers’ Haus vorbei. Ich habe sie mir noch mal vorgenommen, aber sie hat nur albern gekichert und mir von einem ekelhaften schwedischen Film erzählt. Ich habe allerdings den Eindruck, daß sie über ihre Fahrt nicht gern sprechen will.«
Wexford hüstelte verlegen. »Quatsch«, sagte er, bemerkte den drohenden Unterton in seiner Stimme und bemühte sich, ihn zu unterdrücken. »Glauben Sie mir, das Mädchen hat nichts mit Mrs. Nightingales Tod zu tun.«
»Schon möglich. Aber komisch ist es trotzdem, finden Sie nicht? Über ihr Techtelmechtel mit Nightingale und dem Kellner redet sie wie ein Wasserfall, aber sobald ich von ihr will, daß sie ihre Fahrt nach Hause beschreibt, kriegt sie den Mund nicht mehr auf. Ach, und noch was - Nightingales Mini stand auf dem Platz vor den Stallungen, und der junge Lovell gab sich beim Waschen alle Mühe, einen Kratzer an der vorderen Stoßstange herauszupolieren.«
»Ich weiß nicht, wo uns das hinführen soll, Mike. Wir suchen nicht nach einem Unfallwagen, sondern nach einem Zeugen, dem etwas aufgefallen ist, als er an Villiers’ Bungalow vorbeikam.«
»Halbe Sachen sind nicht meine Art«, verteidigte sich Burden. »Jedenfalls habe ich unten nachgefragt, aber für Dienstag abend liegt keine Unfallmeldung vor.«
»Also Schluß damit, ja?« sagte Wexford mürrisch. »Schicken Sie Martin nach Clusterwell, er soll feststellen, ob jemand abends seinen Hund ausführt. Kann nicht schaden, wenn ich mitkomme«, fügte er hinzu. »Mal die Lage peilen. Es ist doch nicht möglich, daß gar niemand auf dieser Straße war.«
Die Häuser von Clusterwell lagen in großen Abständen an einem spinnenförmigen Straßennetz. Sergeant Martin übernahm den Rumpf der Spinne, Wexford die Beine. Während er von Tür zu Tür ging, rief er sich die nervtötenden Routineaufgaben seiner Jugend ins Gedächtnis zurück. Doch die Einwohner von Clusterwell schienen sich auf ihren höchst eigenartigen Begriff von Ehrbarkeit auch noch etwas einzubilden. Wie die Myfleeter blieben sie abends zu Hause. Rechtschaffen war, wer die Türen verriegelte, die Vorhänge zuzog und spätestens um neun vor dem Fernseher saß. Und nach der Anzahl der Promenadenmischungen zu schließen, die Wexford in den Gassen begegneten, machten sich die Hunde auf ihre eigene Art Bewegung.
Ein großer schwarzer Köter knurrte ihn an, als er an die Hecke seines Reviers trat, das wie eine Schrebergartenkolonie aussah. Er verzichtete darauf, sich näher an den hinter Bohnenstangen und aufeinandergestapelten Hühnerställen stehenden Wohnwagen zu pirschen - sein Besitzer war offensichtlich nicht zu Hause. Statt dessen trat er einen Schritt zurück und las den Text des auf einem Pfosten angebrachten schmuddeligen Schildes: A. Tawney. Frische Eier, Hähnchen zum Braten, Gemüse.
»Myfleet«, wies er seinen Fahrer lapidar an.
Mrs. Cantrip saß in die Zeitung vertieft im Schaukelstuhl und hatte sichtlich ein schlechtes Gewissen, daß er sie beim Nichtstun ertappt hatte. Nelleke, die ihn hereingeführt hatte, verschwand in Richtung Arbeitszimmer.
»Alf Tawney, Sir? Wenn er nicht seine Runde macht, können Sie ihn wahrscheinlich bei Mrs. Lovell finden.«
»Wie liefert er denn seine Ware aus?«
»Mit dem Rad, Sir. Vorn am Lenker hat er so einen groβen Korb.«
Wexford nickte. »Bleibt er die Nacht über bei Mrs. Lovell?«
Mrs. Cantrip zu schockieren war leicht, denn sie gehörte jener Denkrichtung an, die der Ansicht ist, Geschlechtsverkehr könne nur zwischen Mitternacht und Morgengrauen stattfinden. »O nein, Sir«, sagte sie errötend und mit gesenktem Blick. »Spätestens um elf geht er. Ich schätze, sogar Mrs. Lovell hat eine verschwommene Vorstellung davon, was sich gehört.«
Das Liebespaar saß gerade beim Abendessen. Mitten auf dem Tisch ohne Tischtuch stand ein Topf Baked Beans.
Mrs. Lovell setzte sich wieder. »Hat Seine Lordschaft was angestellt?« fragte sie, während sie eine Scheibe Brot absäbelte und den Busen auf die Krümel lagerte.
»Mein Besuch hat nichts mit Sean zu tun.« Wexford war klar, daß man ihm keinen Tee anbieten wollte, doch ein Blick auf die angeschlagenen Tassen und den verkrusteten Rand an der Milchflasche hielt sein Bedauern in Grenzen. »Ich habe auf das Vergnügen gehofft, mich mit Mr. Tawney ein wenig zu unterhalten.«
»Mit Alf? Was wollen Sie von Alf?«
Wexford musterte den Eier- und Gemüselieferanten und fragte sich, wie man einen Mann verhören sollte, der anscheinend nie den Mund auftat. Die kleinen schwarzen Augen in dem dunkelhäutigen Spitzmausgesicht erwiderten seinen Blick starr und ausdruckslos.
Schließlich sagte er: »Sie verbringen wohl ziemlich viel Zeit bei Ihren Freunden hier, Mr. Tawney?«
Mrs. Lovell lachte lauthals auf. »Mein Sean zählt nicht zu seinen Freunden. Du kommst wegen mir, stimmt’s, Alf?«
»Hm«, sagte Tawney bekümmert.
»Ist auch nichts gegen einzuwenden«, meinte Wexford. »Nach der täglichen Schufterei braucht ein Mann ein wenig weibliche Gesellschaft.«
»Und ein warmes Essen im Magen. Alf ist ja direkt vom Fleisch gefallen, bevor er auf mich hörte und zu mir kam. Hast du Lust auf ein Cremehörnchen, Alf?«
»Hm.«
»Um wieviel Uhr gehen Sie denn normalerweise von Mrs. Lovell nach Hause?« fragte Wexford.
»Alf muß beizeiten aufstehen«, sagte Mrs. Lovell und wirkte zigeunerinnenhafter denn je.« Spätestens um Viertel vor elf geht er.« Sie seufzte, und Wexford vermutete, daß dieser frühzeitige Weggang ein ewiger Zankapfel zwischen ihnen war. Erstaunlich scharfsinnig sagte sie: »Sie wollen wohl wissen, ob ihm was aufgefallen ist an dem Abend, als die vom Herrenhaus umgebracht wurde?«
»Genau. Ich möchte fragen, ob Mr. Tawney einen Blick auf Mr. Villiers’ Bungalow - Sie wissen, welchen ich meine? - geworfen hat, als er zurück nach Clusterwell geradelt ist.«
»Das mit dem Blick weiß ich nicht. Aber er hat versucht, sie rauszuklopfen, stimmt’s nicht, Alf?«
»Hm«, sagte Tawney. Wexford war ganz Ohr und wartete.
»Sag schon, Alf. Der Herr hat dich etwas gefragt.« Ein Beben durchlief Tawneys Körper, als versuche er, tief in seinem Innersten die Sprache zu finden. »Er hatte da eine Stinkwut im Bauch«, erzahlte Mrs. Lovell. »Hat für seine Verhältnisse ziemlich viel gesprochen. Na los, Alf.«
Tawney machte den Mund auf.
»War zwecklos«, sagte er. »Sie waren nicht da, Fenster und Türen zu.«
»Damit wir uns richtig verstehen« - Wexford reimte sich die Geschichte so gut es ging zusammen und leistete im Geiste Abbitte bei Burden -, »Mr. Tawney fuhr nach Hause, als ihn ein Auto überholte und beinahe vom Rad stieß.« Mrs. Lovells anerkennungsvolles Grinsen verriet ihm, daß er auf der richtigen Fährte war. »Aber er schrieb sich die Nummer des Wagens auf, die er der Polizei geben wollte, damit sie den Fahrer ermitteln konnte.«
»Die Nummer hat er sich nicht aufgeschrieben.« Mrs. Lovell fischte aus einer Papiertüte das letzte Hörnchen heraus. »Er hat gewußt, wer’s war. Die junge Ausländerin vom Herrenhaus.«
»Mr. Tawney hat bei Villiers geklopft, weil er telefonieren wollte?« Unglaublich, sich vorzustellen, wie Tawney die Sache erklärte, sich entschuldigte, wählte, sie nochmals erklärte.
»Im Haus war’s stockdunkel«, erklärte Mrs. Lovell ausführlich.« Alf hat sich fast die Finger wundgeklopft, aber niemand ist an die Tür gekommen, stimmt’s?«
»Jupp«, sagte Tawney.
Und so was nennt sich dann Beweis vom Hörensagen, dachte Wexford bei sich. »Um wieviel Uhr war das?«
»Alf ist um halb elf hier weggefahren. Er klopfte schon eine ganze Weile, als er hörte, wie die Uhr im Kirchturm von Clusterwell elf schlug. Na los, Alf, erzähl’s du ihm. Du bist dabeigewesen.«
Tawney kippte den letzten Schluck Tee hinunter, vielleicht um seine eingerosteten Stimmbänder damit zu schmieren. »Ich hab geklopft, ist aber niemand gekommen.« Er hustete entsetzlich, und Wexford wandte den Blick ab. »Er ist nicht da und sie auch nicht, hab ich mir gesagt.«
»So ist’s recht, Alf.« Mrs. Lovell strahlte ihn aufmunternd an.
»Das hätte ich mir denken können. Das Garagentor stand offen.«
»Und von den beiden Autos keine Spur! Deshalb hat er’s aufgegeben, und am nächsten Morgen - nun, so ein Zorn verfliegt schnell wieder. Man denkt sich: Was regst du dich auf, die Knochen sind ja noch heil. Aber der kleinen Ausländerschlampe erzähl ich was, wenn sie mir im Dorf über den Weg läuft; darauf können Sie Gift nehmen.«
Arme Nelleke. Wexford spielte mit dem Gedanken, ob er ihr nicht einen zarten Wink geben sollte, unter vier Augen, wo er sie mit Vornamen anreden konnte, wenn sie ihm dieses Vorrecht auch nur deshalb eingeräumt hatte, weil er sie an einen alten Onkel erinnerte. Den freundlichen Onkel spielen - das fehlte noch! Er lachte in sich hinein. Lieber nicht, lieber schön sicher an den Mast gefesselt bleiben, während die Sirene für andere sang.
Im September sehen gewöhnlich auch die gepflegtesten Gärten ein wenig verwildert aus. Dieser hier bildete eine Insel der Ödnis zwischen den Feldern, ein steriles, tristes Stück Land, auf dem jeder widerspenstige Ast und jeder wuchernde Halm zurechtgestutzt war. Das Gras war braun und sehr kurz gemäht; nirgends bot sich ein schattiges Plätzchen.
Denys und Georgina Villiers saßen in zwei Liegestühlen der unbequemen, billigen Sorte, die Metallgestelle und kümmerlich schmale hölzerne Armlehnen haben. Wexford beobachtete sie einen Augenblick, ehe er sich bemerkbar machte. Der Mann, der behauptet hatte, er lese keine Zeitungen, war jetzt so vertieft in eine, daß er keine Notiz von seiner Frau zu nehmen schien. Ohne sich mit einem Buch oder einer Näharbeit die Zeit zu vertreiben, stierte sie ihn mit der gespannten Aufmerksamkeit eines fasziniert auf die Leinwand starrenden Filmfans an.
Wexford hüstelte, und prompt sprang Georgina auf. Villiers hob den Blick und sagte in dem frostig unfreundlichen Ton, der ihm anscheinend ganz nach Belieben über die Lippen kam: »Nimm dich zusammen. Sei nicht so albern.«
Wexford trat zu ihnen. Über Villiers’ Schulter warf er einen Blick in die Zeitung und sah, was der Schriftsteller gelesen hatte: eine Rezension seines neuesten Buchs, die eine halbe Seite einnahm. »Mr. Villiers, weshalb haben Sie mir gesagt, Sie seien am Dienstag abend vom Herrenhaus direkt nach Hause gefahren und gleich zu Bett gegangen?« fragte der Chief Inspector schroff. »Um dreiundzwanzig Uhr war Ihr Haus leer, und nirgends brannte Licht. Weshalb haben Sie mir verschwiegen, daß sie noch einmal weggingen?«
»Ich habe es vergessen«, sagte Villiers gelassen.
»Sie haben es vergessen? Obwohl ich Sie ausdrücklich danach fragte?«
»Ich habe es trotzdem vergessen.« Auf Villiers’ ungerührtem Gesicht zeichnete sich weder Furcht noch Verlegenheit ab. Der Mann verfügte über eine eigenartige Kraft, eine eiserne Selbstbeherrschung; er wirkte unerschütterlich. Weshalb beschlich Wexford dann dieses merkwürdige Gefühl, daß der Mann schon vor langer Zeit einen unheilbaren Knacks abbekommen hatte, daß seine Kraft nie ganz ausgereicht hatte?
»Jetzt hören Sie mal zu, Sir. Sie haben also vergessen, daß Sie noch mal weggegangen sind. Schön. Haben Sie auch vergessen, wohin Sie gegangen sind?«
»Ich war dort, wo ich gesagt habe«, erwiderte Villiers. »In der Schulbibliothek, weil ich etwas nachschlagen wollte.«
»Was nachschlagen?«
»Könnten Sie irgend etwas damit anfangen, wenn ich es Ihnen sagen würde?« fragte Villiers kühl und verächtlich, dann zuckte er mit den Achseln. »Na schön. Ich habe das genaue Verwandtschaftsverhältnis zwischen George Wordsworth und William Wordsworth nachgeschlagen.«
Ein wenig beschämt mußte sich Wexford eingestehen, daß er nichts damit anfangen konnte. Er wandte sich an Georgina, die sich in ihrem Liegestuhl zusammengekauert hatte; an den Armen hatte sie eine Gänsehaut, und auf ihrer Oberlippe schimmerten winzige Schweißperlen. Heute trug sie ausnahmsweise keinen Schmuck. Fand sie nun, da sie sich bald mit echten Edelsteinen schmücken konnte, an den billigen, protzigen Klunkern keinen Gefallen mehr? Oder hatte sie Nightingale aus der Nase gezogen, in welch geringschätzige Worte das Legat ihrer Schwägerin gekleidet war?
»Haben Sie Ihren Mann zur Schule begleitet, Mrs. Villiers?« Ihr mattes Kopfschütteln war gerade noch wahrnehmbar. »In diesem Fall wären Sie ja auch kaum in zwei verschiedenen Autos gefahren. Aber Sie sind noch einmal weggegangen. Wohin?«
Ein schriller, piepsiger Ton lag in ihrer Stimme. »Ich bin herumgefahren - einfach so, auf den Landstraßen.«
»Darf ich fragen, weshalb?«
Villiers antwortete für sie. »Meine Frau hat sich geärgert, weil ich noch einmal weggegangen bin«, sagte er aalglatt. »Wie sie dies bei solchen Gelegenheiten öfters zu tun pflegt, hat sie mit ihrem Auto eine Spazierfahrt unternommen.« Er lächelte giftig. »Um sich abzureagieren«, fügte er hinzu.
»Das nehme ich Ihnen nicht ab«, sagte Wexford bedächtig. Er warf einen schnellen Blick auf den kümmerlichen Garten. »Ich glaube, auf dem Revier könnten wir uns sehr viel offener unterhalten.«
Georgina schrie entsetzt auf und warf sich ihrem Mann an den Hals. Wexford erwartete, er würde sie zurückstoßen, doch statt dessen nahm er sie zärtlich in die Arme. Er war nun aufgestanden und strich ihr über das trockene, struppige Haar. »Wie Sie meinen«, sagte er gleichgültig.
»Nein, nein, nein«, schluchzte sie an seiner Schulter. »Du mußt es ihm sagen. Sag’s ihm.«
Er würde eine neue Lüge auftischen, davon war Wexford überzeugt.
»Meine Frau möchte, daß ich Ihnen sage«, erklärte Villiers, »was für ein ausgesprochener Volltrottel Sie doch sind.« Er streichelte Georgina wie einen Hund, dann schob er sie zur Seite. »Nehmen Sie einen Rat von mir an, Chief Inspector. Ehe Sie das nächste Mal jemandem einen Mord in gewinnsüchtiger Absicht unterstellen, sollten Sie vorher lieber erst einmal den Wert dessen überprüfen, was er durch den Mord gewinnt. Ich bin ein guter Lügner«, fuhr er beredt fort, »aber was ich Ihnen jetzt sage, ist keine Lüge. Die Schmuckstücke meiner Schwester sind samt und sonders Kopien. Ich wäre überrascht, wenn der ganze Plunder mehr als fünfzig Pfund einbringt. Suchen Sie sich lieber einen anderen Sündenbock, Mr. Wexford. Sie wissen so gut wie ich, Ihr lächerlicher, aus der Luft gegriffener Verdacht gegen meine Frau steht und fällt mit dem Motiv, und wo ist Ihr Motiv jetzt?«
Den Bach runter, dachte Wexford und sah auf den kleinen Flußlauf, der sich zwischen den im letzten Sonnenlicht neblig schimmernden Feldern hindurchschlängelte. Er war mit einemmal völlig sicher, daß Villiers diesmal nicht gelogen hatte.
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
rube_9783641023560_oeb_cover_r1.html
rube_9783641023560_oeb_toc_r1.html
rube_9783641023560_oeb_fm1_r1.html
rube_9783641023560_oeb_fm2_r1.html
rube_9783641023560_oeb_p01_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c01_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c02_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c03_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c04_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c05_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c06_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c07_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c08_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c09_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c10_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c11_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c12_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c13_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c14_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c15_r1.html
rube_9783641023560_oeb_p02_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c16_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c17_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c18_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c19_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c20_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c21_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c22_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c23_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c24_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c25_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c26_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c27_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c28_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c29_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c30_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c31_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c32_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c33_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c34_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c35_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c36_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c37_r1.html
rube_9783641023560_oeb_c38_r1.html
rube_9783641023560_oeb_cop_r1.html