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Die neue Cocktailbar im Olive and Dove war
fast menschenleer, denn inzwischen hatte es die meisten Hausgäste
in den Speisesaal gezogen, während die ernsthaften Trinker in den
Pub oder den Salon abgewandert waren. Wexford bugsierte Marriott in
einen abgelegenen Winkel und stellte ihm einen großen Whisky vor
die Nase. Die Bar war durch eine gläserne Flügeltür mit dem
Speisesaal verbunden, doch Wexford hatte dafür gesorgt, daß die
Gäste nicht in Marriotts Blickfeld gerieten. Er wollte ungestört
mit Marriott sprechen und ihn nicht der Versuchung aussetzen,
Bekannten zu winken oder lächelnd und pantomimisch mit hübschen
Frauen Verbindung aufzunehmen.
»So«, sagte er. “Ich möchte, daß du mir etwas über
diesen Urlaub an der Costa Brava erzählst.«
»Urlaub!« rief Marriott und blinzelte entgeistert.
»Vierzehn Tage Arbeitslager wären mir ehrlich lieber. Schlimm
genug, die pickligen Racker nach London ins Victoria and Albert
Museum zu schleppen, aber stell dir mal vor, zwei Wochen mit denen
in so einer fünftklassigen Absteige eingepfercht zu sein - und das
in der Gluthitze. Weißt du, die sind dort unten wie vom wilden
Affen gebissen. Von den Einheimischen ist kein Mädchen vor ihnen
sicher. Sie leiden ohnehin schon alle an Satyriasis in
fortgeschrittenem Stadium, und sobald sie ein wenig Sonne
abbekommen...! Und was die erschreckenden Verstöße gegen die
Ausfuhrbestimmungen betrifft, so machst du dir kein Bild, wie
teuflisch erfindungsreich manche von denen sind. Noch kaum aus den
Windeln, und schon alle erfahrene Schmuggler.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Wexford lachend. »Was
war mit Villiers?«
»Weiß Gott, woher er die Zeit nahm, dort unten auch
noch auf Freiersfüßen zu wandeln. Man sollte doch glauben, es
bliebe einem keine freie Minute, wenn man gleichzeitig Zollbeamter,
Kindermädchen und Anstandswauwau spielen muß. Wie auch immer, er
lernte jedenfalls Georgina kennen.«
»War sie auch auf Urlaub dort?«
»Nur in demselben Sinne wie er«, sagte Marriott und
winkte begeistert einer Brünetten zu, die in einem Satinkleid an
ihrem Tisch vorbeirauschte. Sehnsüchtig sah er ihr nach, wie sie im
Speisesaal verschwand. »Georgina war ebenfalls Begleitlehrerin auf
einer Klassenfahrt. Nach dem, was man so hört, hatte sie einen
Verein mannstoller Teenager auf dem Hals. Denys und sie sind sich
auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge durch die Kneipen begegnet,
wo sie ihre Schützlinge vom Boden auflasen.«
»So schlimm kann es nun wirklich nicht gewesen
sein, Lionel.«
»Vielleicht übertreibe ich ein wenig«, räumte
Marriott unbekümmert ein. »Von Denys habe ich darüber natürlich
kein Wort erfahren. Nicht mal eine Karte hat er mir geschrieben.
Nein, erst am Tag vor seiner Rückkehr habe ich davon Wind bekommen.
Elizabeth und Quen kamen abends noch auf einen Sprung vorbei. ‘Wir
haben eine erfreuliche Nachricht für dich’, sagte Quen.’Denys hat
ein Mädchen kennengelernt, und sie wollen heiraten.‘’Fixer Junge’,
erwiderte ich, und dann mußte ich natürlich sagen, wie sehr ich
mich darüber freute, obwohl ich insgeheim dachte, das arme Ding hat
ja wohl nicht alle Tassen im Schrank. Die nächste Runde geht auf
mich, Reg.«
»Nein!« widersprach Wexford energisch. »Heute abend
bist du eingeladen.« War Marriott erst einmal an der Bar, würde er
den Verlockungen seiner Bekannten ausgesetzt sein. Wexford
bestellte noch zwei Whiskys; während er an der Theke wartete, ließ
er den Blick prüfend über die Kellner im Speisesaal schweifen und
fragte sich, welcher davon wohl Quentin Nightingales Nebenbuhler
war. Der Große mit der Akne? Der dünne junge mit den
zurückgekämmten schwarzen Haaren?
“Geheiratet haben sie in Georginas Heimatstadt in
Dorset«, fuhr Marriott fort.”Quen kam zur Hochzeit, aber Elizabeth
war verhindert. Sie hatte Migräne. Diese Wohnung über dem Abdecker
konnte natürlich nicht mal Denys seiner zweiten Frau zumuten,
deshalb bot ihnen Elizabeth an, im Herrenhaus zu wohnen, während
sie auf Haussuche waren.
Die Nightingales richteten ein Diner für die Braut
aus. Alles, was Rang und Namen hat, war dort. Die gute alte
Priscilla und Sir George, die Rogers’ aus Pomfret, die Primeros aus
Forby und meine bescheidende Wenigkeit natürlich auch.« Alles
andere als bescheiden wirkend, senkte Marriott die Stimme zu einem
durchdringenden Flüstern. »Georgina wohnte im Haus, erschien aber
als letzte. Aha! dachte ich mir, das schlaue kleine Ding will
Eindruck schinden. Niemand von uns hatte sie zuvor schon gesehen,
deshalb warteten wir natürlich mit angehaltenem Atem auf ihren
Auftritt. Die Frauen hatten sich alle schwer in Schale geworfen.
Elizabeth sah entzückend aus. Weißer Samt, du wirst es dir
vorstellen können. Das steht fast jeder Frau. Ob du es glaubst oder
nicht, ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sogar Denys sie mit
einer Art widerwilliger Bewunderung ansah.
Und dann, als wir unsere Ungeduld kaum mehr
bezähmen können, schneit Georgina herein - mit popeligen
Zuchtperlen und in einem Fetzen von der Stange. Was die Frauen für
Augen machten! Georgina war keine Spur von schüchtern. Die
Unterhaltung bei Tisch bestritt sie im Grunde allein. Wir erfuhren
alles über ihre hausfraulichen Pläne und Absichten, daß sie Denys
ein richtiges Heim einrichten würde und sie sechs Kinder haben
wollten. Aber sie war eifersüchtig! Sie beschwerte sich doch glatt
bei Elizabeth, daß man sie nicht neben ihren Mann gesetzt
hatte.
Elizabeth war reizend zu ihr, das muß man ihr
lassen. Sie hat ihr sogar ein Kompliment wegen dem Kleid gemacht
und gab sich wirklich alle Mühe, Georgina in den Mittelpunkt zu
stellen. Sie sprudelte über vor Fröhlichkeit und sah keinen Tag
älter aus als fünfundzwanzig.«
»Wirkte Georgina neidisch?« fragte Wexford.
»Auf die Anwesenden? Falls sich Neid dahinter
verbirgt, wenn eine alles, was um sie herum ist, madig macht und
sich bemüht, auf Grund ihrer spießbürgerlichen Ansichten eine
Überlegenheit für sich in Anspruch zu nehmen, ja, dann war sie wohl
neidisch. Seit damals bin ich ihr natürlich x-mal begegnet, und ihr
einziges Thema ist, was für eine Musterehe sie und Denys doch
führen und wie sie ineinander aufgehen.«
»Stimmt das denn?«
»Er ist der Mann ihrer Träume«, sagte Marriott.
»Obwohl von den sechs Kindern ja noch nicht viel zu sehen ist. Was
ihn betrifft, so denke ich, daß er sich in seiner zweiten Ehe
genauso langweilt wie in der ersten, aber Denys Villiers
interessiert sich eben nur für eines, und das ist seine Arbeit.
Kaum hatten sich er und Georgina in dem Bungalow eingelebt, als er
sich auch schon wieder wie in alten Zeiten im Herrenhaus
herumtrieb.«
»Anscheinend hast auch du dich dort herumgetrieben,
sonst hättest du ihn nicht gesehen«, sagte Wexford gewitzt.
Einen Moment wirkte Marriott verdutzt. Dann sprang
er wie von der Tarantel gestochen auf. »Entschuldige mich bitte
einen Augenblick, ich will nur mal kurz in den Speisesaal und ein
Wort mit...«
Wexford lachte. »Du bist entschuldigt - für heute
abend.«
»Du glaubst«, sagte Dr. Crocker am Morgen darauf,
»sie hätte zur Tatzeit das Kopftuch getragen. Da muß ich dich
leider enttäuschen. In diesem Fall müßte es mit Blut durchtränkt
sein.«
»Eigentlich ist es ein Schal - vielleicht trug sie
ihn um den Hals oder hielt ihn in der Hand.«
Der Arzt schnaubte verächtlich. »Klar-und nachdem
sie erschlagen war, hat sie ihn abgelegt und sich den Kopf damit
abgewischt. So sieht er nämlich aus, als sei Blut damit abgewischt
worden.«
Wexford faltete den Bericht zusammen und legte ihn
auf sein Dienstbuch. »Du hast gesagt, am Dienstag abend mußtest du
zu einer Entbindung. Die Straße von Clusterwell nach Myfleet bist
du dabei nicht zufällig gefahren?«
»Aber sicher. Warum?«
»Kennst du Villiers’ Bungalow?«
»Natürlich. Er ist ein Patient von mir. Ich bin so
gegen elf daran vorbeigefahren.«
»Ist dir der Bungalow irgendwie aufgefallen?« hakte
Wexford nach. »Hat Licht gebrannt? Sind die Autos in der Einfahrt
gestanden?«
Der Arzt machte ein langes Gesicht. »Ich habe nicht
darauf geachtet. Meine Gedanken kreisten um meine Patientin und die
Möglichkeit einer Steißgeburt. Aber wenn ich gewußt hätte...«
»Das sagen alle«, erwiderte Wexford. »Da kommt
Mike.«
Ein abgeschlaffter Burden trat in das Büro. »Wir
haben zu dritt ganz Myfleet abgeklappert«, berichtete er.
»Anscheinend fährt dort kein Schwanz abends noch weg. Um neun
werden in dem Nest die Bürgersteige hochgeklappt, und wer um diese
Zeit noch nicht im Bett ist, sitzt im Pub. Außer Nelleke Doorn kam
niemand an Villiers’ Haus vorbei. Ich habe sie mir noch mal
vorgenommen, aber sie hat nur albern gekichert und mir von einem
ekelhaften schwedischen Film erzählt. Ich habe allerdings den
Eindruck, daß sie über ihre Fahrt nicht gern sprechen will.«
Wexford hüstelte verlegen. »Quatsch«, sagte er,
bemerkte den drohenden Unterton in seiner Stimme und bemühte sich,
ihn zu unterdrücken. »Glauben Sie mir, das Mädchen hat nichts mit
Mrs. Nightingales Tod zu tun.«
»Schon möglich. Aber komisch ist es trotzdem,
finden Sie nicht? Über ihr Techtelmechtel mit Nightingale und dem
Kellner redet sie wie ein Wasserfall, aber sobald ich von ihr will,
daß sie ihre Fahrt nach Hause beschreibt, kriegt sie den Mund nicht
mehr auf. Ach, und noch was - Nightingales Mini stand auf dem Platz
vor den Stallungen, und der junge Lovell gab sich beim Waschen alle
Mühe, einen Kratzer an der vorderen Stoßstange
herauszupolieren.«
»Ich weiß nicht, wo uns das hinführen soll, Mike.
Wir suchen nicht nach einem Unfallwagen, sondern nach einem Zeugen,
dem etwas aufgefallen ist, als er an Villiers’ Bungalow
vorbeikam.«
»Halbe Sachen sind nicht meine Art«, verteidigte
sich Burden. »Jedenfalls habe ich unten nachgefragt, aber für
Dienstag abend liegt keine Unfallmeldung vor.«
»Also Schluß damit, ja?« sagte Wexford mürrisch.
»Schicken Sie Martin nach Clusterwell, er soll feststellen, ob
jemand abends seinen Hund ausführt. Kann nicht schaden, wenn ich
mitkomme«, fügte er hinzu. »Mal die Lage peilen. Es ist doch nicht
möglich, daß gar niemand auf dieser Straße war.«
Die Häuser von Clusterwell lagen in großen
Abständen an einem spinnenförmigen Straßennetz. Sergeant Martin
übernahm den Rumpf der Spinne, Wexford die Beine. Während er von
Tür zu Tür ging, rief er sich die nervtötenden Routineaufgaben
seiner Jugend ins Gedächtnis zurück. Doch die Einwohner von
Clusterwell schienen sich auf ihren höchst eigenartigen Begriff von
Ehrbarkeit auch noch etwas einzubilden. Wie die Myfleeter blieben
sie abends zu Hause. Rechtschaffen war, wer die Türen verriegelte,
die Vorhänge zuzog und spätestens um neun vor dem Fernseher saß.
Und nach der Anzahl der Promenadenmischungen zu schließen, die
Wexford in den Gassen begegneten, machten sich die Hunde auf ihre
eigene Art Bewegung.
Ein großer schwarzer Köter knurrte ihn an, als er
an die Hecke seines Reviers trat, das wie eine
Schrebergartenkolonie aussah. Er verzichtete darauf, sich näher an
den hinter Bohnenstangen und aufeinandergestapelten Hühnerställen
stehenden Wohnwagen zu pirschen - sein Besitzer war offensichtlich
nicht zu Hause. Statt dessen trat er einen Schritt zurück und las
den Text des auf einem Pfosten angebrachten schmuddeligen Schildes:
A. Tawney. Frische Eier, Hähnchen zum Braten, Gemüse.
»Myfleet«, wies er seinen Fahrer lapidar an.
Mrs. Cantrip saß in die Zeitung vertieft im
Schaukelstuhl und hatte sichtlich ein schlechtes Gewissen, daß er
sie beim Nichtstun ertappt hatte. Nelleke, die ihn hereingeführt
hatte, verschwand in Richtung Arbeitszimmer.
»Alf Tawney, Sir? Wenn er nicht seine Runde macht,
können Sie ihn wahrscheinlich bei Mrs. Lovell finden.«
»Wie liefert er denn seine Ware aus?«
»Mit dem Rad, Sir. Vorn am Lenker hat er so einen
groβen Korb.«
Wexford nickte. »Bleibt er die Nacht über bei Mrs.
Lovell?«
Mrs. Cantrip zu schockieren war leicht, denn sie
gehörte jener Denkrichtung an, die der Ansicht ist,
Geschlechtsverkehr könne nur zwischen Mitternacht und Morgengrauen
stattfinden. »O nein, Sir«, sagte sie errötend und mit gesenktem
Blick. »Spätestens um elf geht er. Ich schätze, sogar Mrs. Lovell
hat eine verschwommene Vorstellung davon, was sich gehört.«
Das Liebespaar saß gerade beim Abendessen. Mitten
auf dem Tisch ohne Tischtuch stand ein Topf Baked Beans.
Mrs. Lovell setzte sich wieder. »Hat Seine
Lordschaft was angestellt?« fragte sie, während sie eine Scheibe
Brot absäbelte und den Busen auf die Krümel lagerte.
»Mein Besuch hat nichts mit Sean zu tun.« Wexford
war klar, daß man ihm keinen Tee anbieten wollte, doch ein Blick
auf die angeschlagenen Tassen und den verkrusteten Rand an der
Milchflasche hielt sein Bedauern in Grenzen. »Ich habe auf das
Vergnügen gehofft, mich mit Mr. Tawney ein wenig zu
unterhalten.«
»Mit Alf? Was wollen Sie von Alf?«
Wexford musterte den Eier- und Gemüselieferanten
und fragte sich, wie man einen Mann verhören sollte, der
anscheinend nie den Mund auftat. Die kleinen schwarzen Augen in dem
dunkelhäutigen Spitzmausgesicht erwiderten seinen Blick starr und
ausdruckslos.
Schließlich sagte er: »Sie verbringen wohl ziemlich
viel Zeit bei Ihren Freunden hier, Mr. Tawney?«
Mrs. Lovell lachte lauthals auf. »Mein Sean zählt
nicht zu seinen Freunden. Du kommst wegen mir, stimmt’s,
Alf?«
»Hm«, sagte Tawney bekümmert.
»Ist auch nichts gegen einzuwenden«, meinte
Wexford. »Nach der täglichen Schufterei braucht ein Mann ein wenig
weibliche Gesellschaft.«
»Und ein warmes Essen im Magen. Alf ist ja direkt
vom Fleisch gefallen, bevor er auf mich hörte und zu mir kam. Hast
du Lust auf ein Cremehörnchen, Alf?«
»Hm.«
»Um wieviel Uhr gehen Sie denn normalerweise von
Mrs. Lovell nach Hause?« fragte Wexford.
»Alf muß beizeiten aufstehen«, sagte Mrs. Lovell
und wirkte zigeunerinnenhafter denn je.« Spätestens um Viertel vor
elf geht er.« Sie seufzte, und Wexford vermutete, daß dieser
frühzeitige Weggang ein ewiger Zankapfel zwischen ihnen war.
Erstaunlich scharfsinnig sagte sie: »Sie wollen wohl wissen, ob ihm
was aufgefallen ist an dem Abend, als die vom Herrenhaus umgebracht
wurde?«
»Genau. Ich möchte fragen, ob Mr. Tawney einen
Blick auf Mr. Villiers’ Bungalow - Sie wissen, welchen ich meine? -
geworfen hat, als er zurück nach Clusterwell geradelt ist.«
»Das mit dem Blick weiß ich nicht. Aber er hat
versucht, sie rauszuklopfen, stimmt’s nicht, Alf?«
»Hm«, sagte Tawney. Wexford war ganz Ohr und
wartete.
»Sag schon, Alf. Der Herr hat dich etwas gefragt.«
Ein Beben durchlief Tawneys Körper, als versuche er, tief in seinem
Innersten die Sprache zu finden. »Er hatte da eine Stinkwut im
Bauch«, erzahlte Mrs. Lovell. »Hat für seine Verhältnisse ziemlich
viel gesprochen. Na los, Alf.«
Tawney machte den Mund auf.
»War zwecklos«, sagte er. »Sie waren nicht da,
Fenster und Türen zu.«
»Damit wir uns richtig verstehen« - Wexford reimte
sich die Geschichte so gut es ging zusammen und leistete im Geiste
Abbitte bei Burden -, »Mr. Tawney fuhr nach Hause, als ihn ein Auto
überholte und beinahe vom Rad stieß.« Mrs. Lovells
anerkennungsvolles Grinsen verriet ihm, daß er auf der richtigen
Fährte war. »Aber er schrieb sich die Nummer des Wagens auf, die er
der Polizei geben wollte, damit sie den Fahrer ermitteln
konnte.«
»Die Nummer hat er sich nicht aufgeschrieben.« Mrs.
Lovell fischte aus einer Papiertüte das letzte Hörnchen heraus. »Er
hat gewußt, wer’s war. Die junge Ausländerin vom Herrenhaus.«
»Mr. Tawney hat bei Villiers geklopft, weil er
telefonieren wollte?« Unglaublich, sich vorzustellen, wie Tawney
die Sache erklärte, sich entschuldigte, wählte, sie nochmals
erklärte.
»Im Haus war’s stockdunkel«, erklärte Mrs. Lovell
ausführlich.« Alf hat sich fast die Finger wundgeklopft, aber
niemand ist an die Tür gekommen, stimmt’s?«
»Jupp«, sagte Tawney.
Und so was nennt sich dann Beweis vom Hörensagen,
dachte Wexford bei sich. »Um wieviel Uhr war das?«
»Alf ist um halb elf hier weggefahren. Er klopfte
schon eine ganze Weile, als er hörte, wie die Uhr im Kirchturm von
Clusterwell elf schlug. Na los, Alf, erzähl’s du ihm. Du bist
dabeigewesen.«
Tawney kippte den letzten Schluck Tee hinunter,
vielleicht um seine eingerosteten Stimmbänder damit zu schmieren.
»Ich hab geklopft, ist aber niemand gekommen.« Er hustete
entsetzlich, und Wexford wandte den Blick ab. »Er ist nicht da und
sie auch nicht, hab ich mir gesagt.«
»So ist’s recht, Alf.« Mrs. Lovell strahlte ihn
aufmunternd an.
»Das hätte ich mir denken können. Das Garagentor
stand offen.«
»Und von den beiden Autos keine Spur! Deshalb hat
er’s aufgegeben, und am nächsten Morgen - nun, so ein Zorn
verfliegt schnell wieder. Man denkt sich: Was regst du dich auf,
die Knochen sind ja noch heil. Aber der kleinen Ausländerschlampe
erzähl ich was, wenn sie mir im Dorf über den Weg läuft; darauf
können Sie Gift nehmen.«
Arme Nelleke. Wexford spielte mit dem Gedanken, ob
er ihr nicht einen zarten Wink geben sollte, unter vier Augen, wo
er sie mit Vornamen anreden konnte, wenn sie ihm dieses Vorrecht
auch nur deshalb eingeräumt hatte, weil er sie an einen alten Onkel
erinnerte. Den freundlichen Onkel spielen - das fehlte noch! Er
lachte in sich hinein. Lieber nicht, lieber schön sicher an den
Mast gefesselt bleiben, während die Sirene für andere sang.
Im September sehen gewöhnlich auch die
gepflegtesten Gärten ein wenig verwildert aus. Dieser hier bildete
eine Insel der Ödnis zwischen den Feldern, ein steriles, tristes
Stück Land, auf dem jeder widerspenstige Ast und jeder wuchernde
Halm zurechtgestutzt war. Das Gras war braun und sehr kurz gemäht;
nirgends bot sich ein schattiges Plätzchen.
Denys und Georgina Villiers saßen in zwei
Liegestühlen der unbequemen, billigen Sorte, die Metallgestelle und
kümmerlich schmale hölzerne Armlehnen haben. Wexford beobachtete
sie einen Augenblick, ehe er sich bemerkbar machte. Der Mann, der
behauptet hatte, er lese keine Zeitungen, war jetzt so vertieft in
eine, daß er keine Notiz von seiner Frau zu nehmen schien. Ohne
sich mit einem Buch oder einer Näharbeit die Zeit zu vertreiben,
stierte sie ihn mit der gespannten Aufmerksamkeit eines fasziniert
auf die Leinwand starrenden Filmfans an.
Wexford hüstelte, und prompt sprang Georgina auf.
Villiers hob den Blick und sagte in dem frostig unfreundlichen Ton,
der ihm anscheinend ganz nach Belieben über die Lippen kam: »Nimm
dich zusammen. Sei nicht so albern.«
Wexford trat zu ihnen. Über Villiers’ Schulter warf
er einen Blick in die Zeitung und sah, was der Schriftsteller
gelesen hatte: eine Rezension seines neuesten Buchs, die eine halbe
Seite einnahm. »Mr. Villiers, weshalb haben Sie mir gesagt, Sie
seien am Dienstag abend vom Herrenhaus direkt nach Hause gefahren
und gleich zu Bett gegangen?« fragte der Chief Inspector schroff.
»Um dreiundzwanzig Uhr war Ihr Haus leer, und nirgends brannte
Licht. Weshalb haben Sie mir verschwiegen, daß sie noch einmal
weggingen?«
»Ich habe es vergessen«, sagte Villiers
gelassen.
»Sie haben es vergessen? Obwohl ich Sie
ausdrücklich danach fragte?«
»Ich habe es trotzdem vergessen.« Auf Villiers’
ungerührtem Gesicht zeichnete sich weder Furcht noch Verlegenheit
ab. Der Mann verfügte über eine eigenartige Kraft, eine eiserne
Selbstbeherrschung; er wirkte unerschütterlich. Weshalb beschlich
Wexford dann dieses merkwürdige Gefühl, daß der Mann schon vor
langer Zeit einen unheilbaren Knacks abbekommen hatte, daß seine
Kraft nie ganz ausgereicht hatte?
»Jetzt hören Sie mal zu, Sir. Sie haben also
vergessen, daß Sie noch mal weggegangen sind. Schön. Haben Sie auch
vergessen, wohin Sie gegangen sind?«
»Ich war dort, wo ich gesagt habe«, erwiderte
Villiers. »In der Schulbibliothek, weil ich etwas nachschlagen
wollte.«
»Was nachschlagen?«
»Könnten Sie irgend etwas damit anfangen, wenn ich
es Ihnen sagen würde?« fragte Villiers kühl und verächtlich, dann
zuckte er mit den Achseln. »Na schön. Ich habe das genaue
Verwandtschaftsverhältnis zwischen George Wordsworth und William
Wordsworth nachgeschlagen.«
Ein wenig beschämt mußte sich Wexford eingestehen,
daß er nichts damit anfangen konnte. Er wandte sich an Georgina,
die sich in ihrem Liegestuhl zusammengekauert hatte; an den Armen
hatte sie eine Gänsehaut, und auf ihrer Oberlippe schimmerten
winzige Schweißperlen. Heute trug sie ausnahmsweise keinen Schmuck.
Fand sie nun, da sie sich bald mit echten Edelsteinen schmücken
konnte, an den billigen, protzigen Klunkern keinen Gefallen mehr?
Oder hatte sie Nightingale aus der Nase gezogen, in welch
geringschätzige Worte das Legat ihrer Schwägerin gekleidet
war?
»Haben Sie Ihren Mann zur Schule begleitet, Mrs.
Villiers?« Ihr mattes Kopfschütteln war gerade noch wahrnehmbar.
»In diesem Fall wären Sie ja auch kaum in zwei verschiedenen Autos
gefahren. Aber Sie sind noch einmal weggegangen. Wohin?«
Ein schriller, piepsiger Ton lag in ihrer Stimme.
»Ich bin herumgefahren - einfach so, auf den Landstraßen.«
»Darf ich fragen, weshalb?«
Villiers antwortete für sie. »Meine Frau hat sich
geärgert, weil ich noch einmal weggegangen bin«, sagte er aalglatt.
»Wie sie dies bei solchen Gelegenheiten öfters zu tun pflegt, hat
sie mit ihrem Auto eine Spazierfahrt unternommen.« Er lächelte
giftig. »Um sich abzureagieren«, fügte er hinzu.
»Das nehme ich Ihnen nicht ab«, sagte Wexford
bedächtig. Er warf einen schnellen Blick auf den kümmerlichen
Garten. »Ich glaube, auf dem Revier könnten wir uns sehr viel
offener unterhalten.«
Georgina schrie entsetzt auf und warf sich ihrem
Mann an den Hals. Wexford erwartete, er würde sie zurückstoßen,
doch statt dessen nahm er sie zärtlich in die Arme. Er war nun
aufgestanden und strich ihr über das trockene, struppige Haar. »Wie
Sie meinen«, sagte er gleichgültig.
»Nein, nein, nein«, schluchzte sie an seiner
Schulter. »Du mußt es ihm sagen. Sag’s ihm.«
Er würde eine neue Lüge auftischen, davon war
Wexford überzeugt.
»Meine Frau möchte, daß ich Ihnen sage«, erklärte
Villiers, »was für ein ausgesprochener Volltrottel Sie doch sind.«
Er streichelte Georgina wie einen Hund, dann schob er sie zur
Seite. »Nehmen Sie einen Rat von mir an, Chief Inspector. Ehe Sie
das nächste Mal jemandem einen Mord in gewinnsüchtiger Absicht
unterstellen, sollten Sie vorher lieber erst einmal den Wert dessen
überprüfen, was er durch den Mord gewinnt. Ich bin ein guter
Lügner«, fuhr er beredt fort, »aber was ich Ihnen jetzt sage, ist
keine Lüge. Die Schmuckstücke meiner Schwester sind samt und
sonders Kopien. Ich wäre überrascht, wenn der ganze Plunder mehr
als fünfzig Pfund einbringt. Suchen Sie sich lieber einen anderen
Sündenbock, Mr. Wexford. Sie wissen so gut wie ich, Ihr
lächerlicher, aus der Luft gegriffener Verdacht gegen meine Frau
steht und fällt mit dem Motiv, und wo ist Ihr Motiv jetzt?«
Den Bach runter, dachte Wexford und sah auf den
kleinen Flußlauf, der sich zwischen den im letzten Sonnenlicht
neblig schimmernden Feldern hindurchschlängelte. Er war mit
einemmal völlig sicher, daß Villiers diesmal nicht gelogen
hatte.