15
Die Haarlocke stammte auch nicht von Stella
Rivers. Es waren genügend von ihren eigenen blonden Locken übrig,
um den Vergleichstest durchzuführen. »Ein Band aus hellen Haaren am
Gebein«, dachte Wexford schaudernd.
Das bewies natürlich gar nichts. Es war zu erwarten
gewesen, es war ja erwiesen, daß der Pelz-Mann - Wexford nannte
seinen Briefschreiber und Anrufer inzwischen den ‘Pelz-Mann’- ein
Lügner war. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als auf Informationen
aus dem Lake District zu warten, und seine Laune wurde immer
mieser. Burden war die letzten Tage unerträglich gewesen, kaum
ansprechbar, wenn man etwas von ihm wollte, und nicht auffindbar,
wenn man ihn am meisten brauchte. Dazu regnete es auch noch
ununterbrochen. Alle auf dem Revier waren überempfindlich, und die
Männer, durch das Wetter zusätzlich irritiert, blafften einander an
wie schlechtgelaunte, nasse Hunde. Der schwarzweiße Fußboden in der
Halle war den ganzen Tag über von schlammigen Fußtapsern und
Wasserlachen von tropfnassen Regencapes befleckt.
Als er entschlossen am Empfangstresen
vorbeimarschierte, um einem Zusammentreffen mit Harry Wild zu
entgehen, prallte Wexford beinah mit einem rotgesichtigen Sergeant
Martin zusammen, der auf den Fahrstuhl wartete.
»Ich weiß nicht, was aus dieser Welt noch werden
soll, Sir, wirklich. Unser junger Peach, der normalerweise keine
Fliege verscheuchen würde, springt mir beinah ins Gesicht, nur weil
ich ihm sage, er müßte ein Paar festere Stiefel tragen. Erklärt mir
doch frech, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten
kümmern. Was ist bloß los, Sir? Was habe ich denn gesagt?«
»Sie haben eben etwas für mich gelöst«, sagte
Wexford, und dann etwas nüchterner, da dies nur der Beginn einer
Untersuchung war und noch keine Lösung: »Sergeant, an dem Abend,
als wir nach John Lawrence gesucht haben, erzählten Sie mir, in
Ihrer Gruppe sei ein Mann, dem Sie empfohlen hätten, festere Schuhe
anzuziehen - das liegt Ihnen offenbar wirklich am Herzen - und er
hat Ihnen auch geantwortet, Sie sollten sich um Ihre eigenen
Angelegenheiten kümmern. Erinnern Sie sich?«
»Ich fürchte, nein, Sir.«
»Ich habe auch mit ihm gesprochen«, sagte Wexford
nachdenklich. »Er wollte die Hunde streicheln.« Fell, ging es ihm
durch den Kopf, Fell und Kaninchen. Er hatte versucht, den
Schäferhund zu streicheln, seine Hand offenbar angezogen von dem
dicken, weichen Fell. »Guter Gott, ich kann mich nicht an sein
Gesicht erinnern! Aber an die Stimme. Diese Stimme! Sergeant, der
Mann, mit dem Sie gesprochen haben, der Mann, der versucht hat, die
Hunde zu streicheln, ist der Schreiber dieser Briefe.«
»Ich kann mich einfach nicht an ihn erinnern,
Sir.«
»Macht nichts, es müßte ein leichtes sein, ihn
jetzt ausfindig zu machen.«
Aber das war es nicht.
Wexford ging erst zu Mr. Crantock, dem Mann von
Gemma Lawrences Nachbarin, der Hauptkassierer in der Kingsmarkhamer
Filiale von Lloyds Bank war. Er war sicher, daß dieser Mann jedes
Mitglied der Suchtrupps vom Sehen, wenn nicht gar beim Namen
kannte. Doch Wexford mußte enttäuscht zur Kenntnis nehmen, daß
nicht alle Männer sich aus den drei Straßen Fontaine Road,
Wincanton Road und Chiltern Avenue rekrutiert hatten.
»Da waren einige dabei, die ich nie vorher gesehen
hatte«, sagte Crantock. »Der Himmel weiß, wo sie herkamen, oder wie
sie zu dem frühen Zeitpunkt überhaupt wußten, daß das Kind vermißt
wurde. Aber wir waren froh über jeden, der mitging, oder? Ich
erinnere mich, daß sogar einer mit dem Fahrrad da war.«
»Nachrichten solcher Art verbreiten sich rasch«,
sagte Wexford. »Wie das vonstatten geht, ist mir rätselhaft, aber
die Leute erfahren davon, bevor es noch über Rundfunk oder
Fernsehen geht.«
»Sie könnten es mal bei Dr. Lomax versuchen. Er hat
eine der Gruppen geführt, bis er zu einem Patienten gerufen wurde
und zurück mußte. Ärzte kennen doch immer alle Welt, nicht?«
Der Mann, der Gemma Lawrence die Schlaftabletten
gegeben hatte, praktizierte im eigenen Haus, einem in
viktorianischer Gotik erbauten Gebäude von erheblichen Ausmaßen,
das seine Nachbarn in der Chiltern Avenue überragte. Wexford kam
gerade rechtzeitig zum Ende der Nachmittagssprechstunde.
Lomax war ein geschäftiger, abgehetzter, kleiner
Mann mit schriller Stimme, aber es war nicht die Art von schrill,
nach der Wexford suchte, und außerdem hatte der Doktor einen ganz
leichten schottischen Akzent. Es sah aus, als könne auch er nicht
viel weiterhelfen.
»Mr. Crantock, Mr. Rushworth, Mr. Dean...« Er
nannte eine lange Reihe von Namen, zählte sie an den Fingern ab,
obgleich Wexford nicht wußte, was das für einen Sinn haben sollte,
da keiner die Suchtrupps gezählt hatte. Lomax schien jedoch, als er
das Ende seiner Liste erreicht hatte, sicher zu sein, daß drei
Fremde dabeigewesen waren, einer davon der Mann auf dem
Fahrrad.
»Wie sie überhaupt davon wissen konnten, verblüfft
mich«, sagte er genau wie Crantock. »Ich selbst wußte es nur, weil
meine Frau mir während der Sprechstunde davon erzählte. Sie
arbeitet als meine Sprechstundenhilfe, wissen Sie, und hörte
jemanden auf der Straße eine Bemerkung machen, als sie draußen
einer älteren Patientin aus dem Auto half. Sie kam gleich zu mir
und sagte es mir, und als mein letzter Patient gegangen war, bin
ich raus, um zu sehen, was ich tun konnte, und sah all Ihre Wagen
stehen.«
»Wann war das ungefähr?«
»Als meine Frau es mir erzählt hat oder als ich
rausgegangen bin? Letzteres war kurz nach sechs, aber erfahren habe
ich es zwanzig nach fünf. Ich bin da so sicher, weil die alte Dame,
der meine Frau aus dem Auto geholfen hat, jeden Donnerstag Punkt
zwanzig nach fünf erscheint. Wieso?«
»Waren Sie allein, als Ihre Frau es Ihnen
sagte?«
»Nein, natürlich nicht, ein Patient war bei
mir.«
Wexfords Interesse wuchs. »Hat Ihre Frau es Ihnen
ins Ohr geflüstert? Oder konnte Ihr Patient mithören?«
»Sie hat es laut gesagt«, erwiderte Lomax ziemlich
steif. »Warum auch nicht? Ich sagte ja, daß sie als meine
Sprechstundenhilfe fungiert.«
»Sie werden sich natürlich erinnern, wer der
Patient war, Doktor?«
»So natürlich ist das nicht. Ich habe sehr viele
Patienten.« Lomax überlegte schweigend ein paar Sekunden. »Es war
nicht Mrs. Ross, die alte Dame, sie saß noch im Wartezimmer. Es muß
entweder Mrs. Foster oder Miss Garrett gewesen sein. Meine Frau
wird es wissen, sie hat ein besseres Gedächtnis als ich.«
Mrs. Lomax wurde hereingerufen.
»Es war Mrs. Foster. Sie hat selbst vier Kinder,
und ich weiß noch, daß sie sehr betroffen war.«
»Aber ihr Mann war nicht bei dem Suchtrupp«, sagte
Lomax, der jetzt in der gleichen Richtung zu überlegen schien wie
Wexford. »Ich kenne ihn nicht, er gehört nicht zu meinen Patienten,
aber er hätte auch gar nicht mitgehen können. Mrs. Foster hatte mir
gerade erzählt, er habe sich einen großen Zeh gebrochen.«
Bis auf ein verlegenes, leises: »Natürlich werde
ich hierbleiben, bis du andere Vorkehrungen getroffen hast«, hatte
Grace, seit sie ihm von ihren Plänen erzählt hatte, kaum ein Wort
mit Burden gewechselt. Bei Tisch - die einzige Gelegenheit, bei der
sie zusammen waren - erhielten sie eine dünne, höfliche
Scheinkonversation aufrecht, der Kinder wegen. Burden verbrachte
seine Abende und Nächte mit Gemma.
Er hatte ihr, aber keinem sonst, erzählt, daß Grace
ihn verlassen würde, und sich gewundert und es überhaupt nicht
verstanden, als ihre großen, wehmütigen Augen sich weiteten und sie
sagte, wie glücklich er sich schätzen könne, seine Kinder ganz für
sich zu haben, ohne ihre Liebe mit jemandem teilen zu müssen.
Danach war sie in einen ihrer schrecklichen Weinkrämpfe
ausgebrochen, hatte mit beiden Fäusten auf die staubigen, alten
Möbelstücke eingeschlagen und geschluchzt, bis ihre Augen
verschwollen und halb geschlossen waren.
Danach hatte sie sich von ihm lieben lassen, doch
lassen’ war nicht das richtige Wort. Im Bett mit ihm schien sie für
kurze Zeit zu vergessen, daß sie Mutter war und einen schmerzlichen
Verlust erlitten hatte, und wurde zur sinnlichen, jungen Frau. Er
wußte, daß Sex für sie eine Flucht ins Vergessen war, eine Therapie
- sie hatte es ihm gesagt -, doch er sagte sich, daß keine Frau so
viel Leidenschaft zeigen konnte, wenn ihr Engagement rein physisch
war. Frauen, so hatte er immer geglaubt, waren nicht so. Und als
sie ihm sanft und fast scheu erklärte, sie liebe ihn, nachdem sie
John zwei Stunden nicht erwähnt hatte, war seine Seligkeit
grenzenlos, all seine Sorgen zerstoben.
Er hatte eine wunderbare Idee. Er glaubte, die
Lösung für ihrer beider Nöte gefunden zu haben. Sie wollte ein Kind
und er eine Mutter für seine Kinder. Warum sollte er sie nicht
heiraten? Er konnte ihr ein neues Kind geben, dachte er, stolz in
seiner Virilität, in der Manneskraft, die ihr so viel Lust
bereitete. Sie konnte sogar schon schwanger sein, er hatte nichts
getan, um es zu verhüten. Hatte sie? Er hatte Angst, sie zu fragen,
Angst, über solche Dinge schon jetzt mit ihr zu sprechen. Aber er
wandte sich ihr zu, stark und fordernd durch seine Träumereien und
gierig nach raschem Besitz. Sie konnten sogar jetzt ein Kind
zeugen, sie beide. Er hoffte es, denn dann würde sie ihn heiraten
müssen...
Die Fosters wohnten in Sparta Grove, einen
Steinwurf vom Piebald Pony entfernt, in einem kleinen Haus,
das mit zwölf anderen in einer Reihe stand.
»Ich hab keinem Menschen was von dem armen Jungen
erzählt«, sagte Mrs. Foster zu Wexford, »nur meinem Mann. Er saß in
einem Liegestuhl mit seinem armen Zeh, und ich bin gleich mit der
guten Nachricht zu ihm rausgelaufen.«
»Guten Nachricht?«
»Oje, was müssen Sie nur von mir denken! Ich meine
nicht den armen kleinen Jungen. Das habe ich bloß so nebenbei
erwähnt. Nein, ich wollte ihm sagen, was der Doktor festgestellt
hatte. Armer Mann, er wäre wahnsinnig geworden, und ich auch. Mein
Mann, meine ich, nicht der Doktor. Wir dachten nämlich, wir hätten
wieder eins zu erwarten, wissen Sie, dachten, mich hätt’s wieder
erwischt, und das, wo ich doch schon vier habe. Aber der Doktor hat
gesagt, es sind die Wechseljahre. Das war vielleicht eine
Erleichterung! Sie glauben es gar nicht. Ich habe den Kindern ihren
Tee gemacht, und dann hat mich mein Mann ins Pony
ausgeführt, zum Feiern. Da drin habe ich von dem armen kleinen
Jungen gesprochen. Ich meine, man quasselt doch ganz gern ein
bißchen, besonders, wenn man obenauf ist. Aber es war schon nach
sieben, bevor wir hinkamen, das weiß ich genau.«
Es hatte nach einer so viel versprechenden Fährte
ausgesehen und - sich als Sackgasse erwiesen.
Es war noch fast hell, und Sparta Grove wimmelte
von Kindern, die auf dem Gehweg spielten. Niemand schien sie zu
beaufsichtigen, keiner schien hinter Gardinen zu stehen, um den
kleinen Engel mit dem goldenen Lockenschopf im Auge zu behalten,
oder das milchkaffeefarbene, dunkeläugige Mädchen auf dem Dreirad.
Kein Zweifel jedoch, die Mütter waren da, paßten auf, während sie
selbst unsichtbar blieben.
Das Pony öffnete gerade, und so sicher wie die
Sonne aufgeht, tauchte aus Richtung Charteris Road Monkey Matthews
am Horizont auf, am Arm Charly Catch, alias Mr. Casaubon. Wexford
beeilte sich davonzukommen, bevor sie ihn sichteten.
Findet die drei Fremden aus den Suchtrupps, hieß
die Devise am nächsten Morgen, und die Dringlichkeit wurde noch
durch den Brief unterstrichen, den Wexford bei seiner Post gefunden
hatte. Der Inhalt bestand aus Wiederholungen, und Wexford sah ihn
nur flüchtig an, denn zugleich war ein Bericht des Polizeibezirks
Westmorland, zusammengestellt und unterzeichnet von einem Inspector
Daneforth, eingegangen.
Nachdem er strikte Order erteilt hatte, ihn nicht
zu stören, las er:
»Am 5. August 1957 wurde aus dem Fieldenwater See,
Westmorland, die Leiche eines Kindes, Bridget Melinda Scott, II,
geborgen. Als Todesursache wurde Ertrinken festgestellt, und für
den 9. August wurde eine Verhandlung unter Vorsitz des amtlichen
Leichenbeschauers und Untersuchungsrichters für Mid-Westmorland,
Dr. Augustine Forbes, anberaumt.«
Eine Vorverhandlung zur Feststellung der
Todesursache. Natürlich! Warum war er darauf bloß nicht gekommen?
Für Elsie war das ein Gericht und der Verhandlungsführer ein
Richter. Nicht sonderlich ermutigt, las Wexford weiter.
»Als Zeugen sagten aus:
I) Lilian Potts, Zimmermädchen im Lakeside Hotel,
wo Bridget Scott mit ihren Eltern, Mr. und Mrs. Ralph Scott, Gast
war. Miss Potts sagte aus, sie habe Bridget am Morgen des 5. August
gegen 8 Uhr im Flur des Hotels getroffen. Bridget habe gesagt, sie
ginge schwimmen, und sie habe einen Badeanzug unter einem
Bademantel getragen. Sie sei allein gewesen. Miss Potts riet ihr,
nicht zu weit hinauszuschwimmen. Bridget antwortete nicht, und Miss
Potts sah sie die Treppe hinuntergehen.
2) Ralph Edward Scott, Installateur, wohnhaft 28,
Barington Gardens, Colchester, Essex. Mr. Scott sagte, er sei der
Vater von Bridget Scott. Er sei mit Frau und Tochter zu einem
tägigen Urlaub ins Lakeside Hotel, Fieldenwater gekommen. Der 5.
August sei ihr 10. Tag gewesen. Bridget sei eine begeisterte
Schwimmerin und schwimme jeden Tag vor dem Frühstück. Am 5. August
sei Bridget, noch bevor sie selber aufgestanden waren, in ihr
Zimmer gekommen, um ihnen zu sagen, sie ginge schwimmen. Er habe
sie noch gebeten, in der Nähe des Ufers zu bleiben. Er habe sie
nicht mehr lebend wiedergesehen.
3) Ada Margaret Patten, Witwe, 72, wohnhaft 4,
Blenheim Cottages, Water Street, Fieldenwater Village. Sie sagte,
sie sei gegen 8 Uhr 15, wie jeden Tag, am Nordufer des Sees,
gegenüber dem Hotel, mit ihrem Hund spazierengegangen. Sie habe
einen Hilfeschrei gehört und gesehen, daß ein Schwimmer offenbar in
Not sei. Mrs. Patten, die selbst Nichtschwimmerin ist, bemerkte
zwei badende Männer am östlichen Seeufer und einen weiteren Mann,
der von einem Ruderboot ganz in der Nähe des Schwimmers, der um
Hilfe gerufen hatte, angelte. Vom Untersuchungsrichter gebeten, zu
erklären, was sie unter Nähe verstehe, erklärte Mrs. Patten, ihrer
Einschätzung nach sei die Entfernung ungefähr 20 Meter gewesen.
Mrs. Patten hatte einen Spazierstock bei sich und winkte damit dem
Mann im Boot. Sie versuchte gleichfalls, die Aufmerksamkeit der
beiden anderen Schwimmer zu erregen. Die Männer am Ostende des Sees
hörten sie schließlich und begannen nordwärts zu schwimmen. Auf den
Angler im Boot machten ihre Rufe keinen sichtbaren Eindruck.
Endlich sah sie, wie sich das Boot auf den Schwimmer in Not
zubewegte, doch als es die Stelle des Sees erreicht hatte, war der
Schwimmer verschwunden. Sie erklärte, sie habe nicht verstanden,
weshalb der Angler ihr Rufen nicht gehört habe, da Wasser Schall
gut trägt. Sie selbst sei oft in Booten auf dem See gewesen und
wisse, daß man Geräusche vom Ufer in der Mitte gut hören
könne.
4) George Baleham, Landarbeiter, wohnhaft 7, Bulmer
Way, New Estate, Fieldenwater Village. Mr. Baleham sagte dem
Untersuchungsrichter, er und sein Bruder seien am 5. August gegen 7
Uhr 30 zum Schwimmen im Fieldenwater See gegangen. Gegen 8 Uhr 10
habe er ein Kind vom Lakeside Hotel aus ins Wasser gehen sehen.
Fünf Minuten später habe er Schreie übers Wasser gehört und Mrs.
Patten rufen hören. Sofort seien er und sein Bruder auf das Kind
zugeschwommen, das etwa 160-180 Meter von ihnen entfernt gewesen
sei. In der Nähe des Kindes habe er ein Boot mit einem Angler
gesehen. Er habe dem Mann im Boot zugerufen: Da ertrinkt ein Kind.
Sie sind näher dran als wir. Doch das Boot habe sich nicht von der
Stelle bewegt. Mr. Baleham sagte, das Boot sei liegengeblieben, bis
er auf ungefähr 10 Meter herangeschwommen sei. Zu dem Zeitpunkt war
das Kind untergegangen. Seiner Meinung nach habe der Mann im Boot
das Kind leicht erreichen können, bevor es sank. Von seinem
Standort aus habe er das Kind weder übersehen noch seine Rufe
überhören können.
5) Ivor Lionel Fairfax Swan...«
Hier kam es also, worauf er gewartet hatte. Der
Name in sachlicher Schreibmaschinenschrift versetzte Wexford einen
seltsamen, kalten kleinen Stich. Er kam sich vor wie ein Mann, der
monatelang einen ganz bestimmten Hirsch verfolgt hat und ihn nun,
nachdem er sich durch Wildnis und Unterholz einer tristen
Moorlandschaft gearbeitet hat, vor sich sieht, aufmerksam, doch
nichtsahnend, direkt vor sich, nahe, o so nah! auf einem Felsen.
Und leise und verstohlen greift er nach der Flinte...
»5) Ivor Lionel Fairfax Swan, Student, 19, wohnhaft
Carien Hall, Carien Magna, Bedfordshire, und Christ’s College,
Oxford. Mr. Swan sagte, er habe mit zwei Freunden im Lakeside Hotel
Ferien gemacht. Bridget Scott habe gelegentlich in der Hotelhalle
und am Strand mit ihm geredet. Abgesehen davon kenne er sie nicht
und habe nie mit ihren Eltern gesprochen. Er angle gern und leihe
sich dafür manchmal ein Boot, um am frühen Morgen auf den See
hinauszurudern.
Am 5. August habe er das Boot um sieben Uhr
losgemacht. Er sei allein auf dem See gewesen. Er habe gegen 7 Uhr
40 die beiden Männer am Ostufer des Sees schwimmen sehen, kurz nach
acht sei Bridget Scott die Stufen vom Hotel heruntergekommen und
ins Wasser gegangen. Er habe nicht gewußt, ob sie eine gute
Schwimmerin sei oder nicht. Er habe sehr wenig von ihr
gewußt.
Sie habe ihm etwas zugerufen, doch er habe nicht
weiter darauf geachtet. Er habe befürchtet, sie würde nur lästig
werden und die Fische stören. Einige Minuten später habe er sie
erneut rufen hören und wieder nicht geantwortet. In der vergangenen
Woche habe sie mehrmals versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen, und er habe gemeint, es sei besser, sie nicht zu ermutigen.
Er habe Mrs. Patten rufen hören, doch angenommen, sie meine ihren
Hund.
Kurz darauf habe er zwei Schwimmer bemerkt und
gesehen, daß Bridget tatsächlich in Not war. Er habe unverzüglich
seine Leine eingezogen und sei zu der Stelle gerudert, wo er sie
zuletzt gesehen habe. Doch da sei sie schon verschwunden
gewesen.
Auf die Frage des Untersuchungsrichters erwiderte
Mr. Swan, er sei nicht auf die Idee gekommen, über Bord zu springen
und hinzuschwimmen. Seine Angelschnur sei teuer gewesen, und er
habe sie nicht verderben wollen. Er könne nicht tauchen und sei
kein sonderlich guter Schwimmer. Bis zu dem Augenblick, als sie
unterging, habe er nicht geglaubt, daß sie ernsthaft in Gefahr
gewesen sei. Nein, er könne nicht sagen, daß er das Kind nicht
gemocht habe. Er habe sie kaum gekannt. Es sei richtig, daß er es
lästig gefunden habe, wie sie sich ihm und seinen Freunden
aufzudrängen versuchte. Es tue ihm leid, daß sie tot sei, und er
wünsche sich jetzt, er hätte sich bemüht, sie zu retten. Er sei
jedoch sicher, nicht anders gehandelt zu haben, als es unter diesen
Umständen jeder getan hätte.
6) Bernard Varney Frensham, 19, Student, wohnhaft
16, Paisley Court, London S. W. 7 und Christ’s College, Oxford. Mr.
Frensham sagte, er sei ein Freund von Mr. Swan und mache mit ihm
und seiner (Mr. Frenshams) Verlobten Ferien im Lakeside Hotel.
Bridget Scott habe eine spontane Zuneigung zu Mr. Swan gefaßt, sei
auf ihn geflogen, nenne man das wohl, und sie habe dazu geneigt,
sich ihm aufzudrängen. Er sagte, er sei nie in einem Boot auf dem
Fieldenwater See gewesen. Angeln interessiere ihn nicht. Vom
Untersuchungsrichter gefragt, ob Mr. Swan ein guter Schwimmer sei,
fragte er: ‘Muß ich das beantworten?’ Dr. Forbes bestand darauf,
und Mr. Frensham sagte, er könne nichts über Swans Schwimmstil
aussagen. Er sei nie für ihr College gestartet. Auf weitere
nachdrückliche Fragen sagte Mr. Frensham, er habe einmal ein
Lebensrettungszeugnis mit Mr. Swans Namen gesehen.«
An dieser Stelle folgte ein Hinweis, medizinische
und polizeiliche Beweise seien ausgelassen. Der Bericht endete
folgendermaßen:
»Der Untersuchungsrichter belobigte Mr. George
Baleham und Mr. Arthur Baleham für ihren sofortigen Einsatz zur
Rettung des Mädchens.
Dann rügte er Mr. Swans Verhalten. Er sagte, dies
sei der schlimmste Fall von Gefühllosigkeit einem Kind gegenüber,
das offensichtlich im Begriff stand zu ertrinken, der ihm je
untergekommen sei. Er wandte sich scharf gegen das, was er nur mit
bewußtem und feigem Lügen von Mr. Swans Seite bezeichnen könne.
Weit entfernt davon, ein leidlicher Schwimmer zu sein, habe er ein
Lebensrettungszeugnis. Er hege keinen Zweifel daran, daß Mr. Swan
sich geweigert habe, auf die Hilferufe des Kindes zu hören, weil er
glaubte oder behauptete, er habe geglaubt, sie wolle ihn nur wieder
belästigen. Wäre er über Bord gesprungen, als er den ersten Ruf
hörte, so wäre Bridget Scott noch am Leben. Der
Untersuchungsrichter gab seinem Bedauern Ausdruck, daß das Gesetz
ihm keine Handhabe gebe, weitere Schritte gegen Mr. Swan zu
unternehmen. Anschließend sprach er Mr. und Mrs. Scott sein Beileid
aus.
Das Urteil lautete: Tod durch Unfall.«