15
Die Haarlocke stammte auch nicht von Stella Rivers. Es waren genügend von ihren eigenen blonden Locken übrig, um den Vergleichstest durchzuführen. »Ein Band aus hellen Haaren am Gebein«, dachte Wexford schaudernd.
Das bewies natürlich gar nichts. Es war zu erwarten gewesen, es war ja erwiesen, daß der Pelz-Mann - Wexford nannte seinen Briefschreiber und Anrufer inzwischen den ‘Pelz-Mann’- ein Lügner war. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als auf Informationen aus dem Lake District zu warten, und seine Laune wurde immer mieser. Burden war die letzten Tage unerträglich gewesen, kaum ansprechbar, wenn man etwas von ihm wollte, und nicht auffindbar, wenn man ihn am meisten brauchte. Dazu regnete es auch noch ununterbrochen. Alle auf dem Revier waren überempfindlich, und die Männer, durch das Wetter zusätzlich irritiert, blafften einander an wie schlechtgelaunte, nasse Hunde. Der schwarzweiße Fußboden in der Halle war den ganzen Tag über von schlammigen Fußtapsern und Wasserlachen von tropfnassen Regencapes befleckt.
Als er entschlossen am Empfangstresen vorbeimarschierte, um einem Zusammentreffen mit Harry Wild zu entgehen, prallte Wexford beinah mit einem rotgesichtigen Sergeant Martin zusammen, der auf den Fahrstuhl wartete.
»Ich weiß nicht, was aus dieser Welt noch werden soll, Sir, wirklich. Unser junger Peach, der normalerweise keine Fliege verscheuchen würde, springt mir beinah ins Gesicht, nur weil ich ihm sage, er müßte ein Paar festere Stiefel tragen. Erklärt mir doch frech, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Was ist bloß los, Sir? Was habe ich denn gesagt?«
»Sie haben eben etwas für mich gelöst«, sagte Wexford, und dann etwas nüchterner, da dies nur der Beginn einer Untersuchung war und noch keine Lösung: »Sergeant, an dem Abend, als wir nach John Lawrence gesucht haben, erzählten Sie mir, in Ihrer Gruppe sei ein Mann, dem Sie empfohlen hätten, festere Schuhe anzuziehen - das liegt Ihnen offenbar wirklich am Herzen - und er hat Ihnen auch geantwortet, Sie sollten sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Erinnern Sie sich?«
»Ich fürchte, nein, Sir.«
»Ich habe auch mit ihm gesprochen«, sagte Wexford nachdenklich. »Er wollte die Hunde streicheln.« Fell, ging es ihm durch den Kopf, Fell und Kaninchen. Er hatte versucht, den Schäferhund zu streicheln, seine Hand offenbar angezogen von dem dicken, weichen Fell. »Guter Gott, ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern! Aber an die Stimme. Diese Stimme! Sergeant, der Mann, mit dem Sie gesprochen haben, der Mann, der versucht hat, die Hunde zu streicheln, ist der Schreiber dieser Briefe.«
»Ich kann mich einfach nicht an ihn erinnern, Sir.«
»Macht nichts, es müßte ein leichtes sein, ihn jetzt ausfindig zu machen.«
Aber das war es nicht.
Wexford ging erst zu Mr. Crantock, dem Mann von Gemma Lawrences Nachbarin, der Hauptkassierer in der Kingsmarkhamer Filiale von Lloyds Bank war. Er war sicher, daß dieser Mann jedes Mitglied der Suchtrupps vom Sehen, wenn nicht gar beim Namen kannte. Doch Wexford mußte enttäuscht zur Kenntnis nehmen, daß nicht alle Männer sich aus den drei Straßen Fontaine Road, Wincanton Road und Chiltern Avenue rekrutiert hatten.
»Da waren einige dabei, die ich nie vorher gesehen hatte«, sagte Crantock. »Der Himmel weiß, wo sie herkamen, oder wie sie zu dem frühen Zeitpunkt überhaupt wußten, daß das Kind vermißt wurde. Aber wir waren froh über jeden, der mitging, oder? Ich erinnere mich, daß sogar einer mit dem Fahrrad da war.«
»Nachrichten solcher Art verbreiten sich rasch«, sagte Wexford. »Wie das vonstatten geht, ist mir rätselhaft, aber die Leute erfahren davon, bevor es noch über Rundfunk oder Fernsehen geht.«
»Sie könnten es mal bei Dr. Lomax versuchen. Er hat eine der Gruppen geführt, bis er zu einem Patienten gerufen wurde und zurück mußte. Ärzte kennen doch immer alle Welt, nicht?«
Der Mann, der Gemma Lawrence die Schlaftabletten gegeben hatte, praktizierte im eigenen Haus, einem in viktorianischer Gotik erbauten Gebäude von erheblichen Ausmaßen, das seine Nachbarn in der Chiltern Avenue überragte. Wexford kam gerade rechtzeitig zum Ende der Nachmittagssprechstunde.
Lomax war ein geschäftiger, abgehetzter, kleiner Mann mit schriller Stimme, aber es war nicht die Art von schrill, nach der Wexford suchte, und außerdem hatte der Doktor einen ganz leichten schottischen Akzent. Es sah aus, als könne auch er nicht viel weiterhelfen.
»Mr. Crantock, Mr. Rushworth, Mr. Dean...« Er nannte eine lange Reihe von Namen, zählte sie an den Fingern ab, obgleich Wexford nicht wußte, was das für einen Sinn haben sollte, da keiner die Suchtrupps gezählt hatte. Lomax schien jedoch, als er das Ende seiner Liste erreicht hatte, sicher zu sein, daß drei Fremde dabeigewesen waren, einer davon der Mann auf dem Fahrrad.
»Wie sie überhaupt davon wissen konnten, verblüfft mich«, sagte er genau wie Crantock. »Ich selbst wußte es nur, weil meine Frau mir während der Sprechstunde davon erzählte. Sie arbeitet als meine Sprechstundenhilfe, wissen Sie, und hörte jemanden auf der Straße eine Bemerkung machen, als sie draußen einer älteren Patientin aus dem Auto half. Sie kam gleich zu mir und sagte es mir, und als mein letzter Patient gegangen war, bin ich raus, um zu sehen, was ich tun konnte, und sah all Ihre Wagen stehen.«
»Wann war das ungefähr?«
»Als meine Frau es mir erzählt hat oder als ich rausgegangen bin? Letzteres war kurz nach sechs, aber erfahren habe ich es zwanzig nach fünf. Ich bin da so sicher, weil die alte Dame, der meine Frau aus dem Auto geholfen hat, jeden Donnerstag Punkt zwanzig nach fünf erscheint. Wieso?«
»Waren Sie allein, als Ihre Frau es Ihnen sagte?«
»Nein, natürlich nicht, ein Patient war bei mir.«
Wexfords Interesse wuchs. »Hat Ihre Frau es Ihnen ins Ohr geflüstert? Oder konnte Ihr Patient mithören?«
»Sie hat es laut gesagt«, erwiderte Lomax ziemlich steif. »Warum auch nicht? Ich sagte ja, daß sie als meine Sprechstundenhilfe fungiert.«
»Sie werden sich natürlich erinnern, wer der Patient war, Doktor?«
»So natürlich ist das nicht. Ich habe sehr viele Patienten.« Lomax überlegte schweigend ein paar Sekunden. »Es war nicht Mrs. Ross, die alte Dame, sie saß noch im Wartezimmer. Es muß entweder Mrs. Foster oder Miss Garrett gewesen sein. Meine Frau wird es wissen, sie hat ein besseres Gedächtnis als ich.«
Mrs. Lomax wurde hereingerufen.
»Es war Mrs. Foster. Sie hat selbst vier Kinder, und ich weiß noch, daß sie sehr betroffen war.«
»Aber ihr Mann war nicht bei dem Suchtrupp«, sagte Lomax, der jetzt in der gleichen Richtung zu überlegen schien wie Wexford. »Ich kenne ihn nicht, er gehört nicht zu meinen Patienten, aber er hätte auch gar nicht mitgehen können. Mrs. Foster hatte mir gerade erzählt, er habe sich einen großen Zeh gebrochen.«
 
Bis auf ein verlegenes, leises: »Natürlich werde ich hierbleiben, bis du andere Vorkehrungen getroffen hast«, hatte Grace, seit sie ihm von ihren Plänen erzählt hatte, kaum ein Wort mit Burden gewechselt. Bei Tisch - die einzige Gelegenheit, bei der sie zusammen waren - erhielten sie eine dünne, höfliche Scheinkonversation aufrecht, der Kinder wegen. Burden verbrachte seine Abende und Nächte mit Gemma.
Er hatte ihr, aber keinem sonst, erzählt, daß Grace ihn verlassen würde, und sich gewundert und es überhaupt nicht verstanden, als ihre großen, wehmütigen Augen sich weiteten und sie sagte, wie glücklich er sich schätzen könne, seine Kinder ganz für sich zu haben, ohne ihre Liebe mit jemandem teilen zu müssen. Danach war sie in einen ihrer schrecklichen Weinkrämpfe ausgebrochen, hatte mit beiden Fäusten auf die staubigen, alten Möbelstücke eingeschlagen und geschluchzt, bis ihre Augen verschwollen und halb geschlossen waren.
Danach hatte sie sich von ihm lieben lassen, doch lassen’ war nicht das richtige Wort. Im Bett mit ihm schien sie für kurze Zeit zu vergessen, daß sie Mutter war und einen schmerzlichen Verlust erlitten hatte, und wurde zur sinnlichen, jungen Frau. Er wußte, daß Sex für sie eine Flucht ins Vergessen war, eine Therapie - sie hatte es ihm gesagt -, doch er sagte sich, daß keine Frau so viel Leidenschaft zeigen konnte, wenn ihr Engagement rein physisch war. Frauen, so hatte er immer geglaubt, waren nicht so. Und als sie ihm sanft und fast scheu erklärte, sie liebe ihn, nachdem sie John zwei Stunden nicht erwähnt hatte, war seine Seligkeit grenzenlos, all seine Sorgen zerstoben.
Er hatte eine wunderbare Idee. Er glaubte, die Lösung für ihrer beider Nöte gefunden zu haben. Sie wollte ein Kind und er eine Mutter für seine Kinder. Warum sollte er sie nicht heiraten? Er konnte ihr ein neues Kind geben, dachte er, stolz in seiner Virilität, in der Manneskraft, die ihr so viel Lust bereitete. Sie konnte sogar schon schwanger sein, er hatte nichts getan, um es zu verhüten. Hatte sie? Er hatte Angst, sie zu fragen, Angst, über solche Dinge schon jetzt mit ihr zu sprechen. Aber er wandte sich ihr zu, stark und fordernd durch seine Träumereien und gierig nach raschem Besitz. Sie konnten sogar jetzt ein Kind zeugen, sie beide. Er hoffte es, denn dann würde sie ihn heiraten müssen...
Die Fosters wohnten in Sparta Grove, einen Steinwurf vom Piebald Pony entfernt, in einem kleinen Haus, das mit zwölf anderen in einer Reihe stand.
»Ich hab keinem Menschen was von dem armen Jungen erzählt«, sagte Mrs. Foster zu Wexford, »nur meinem Mann. Er saß in einem Liegestuhl mit seinem armen Zeh, und ich bin gleich mit der guten Nachricht zu ihm rausgelaufen.«
»Guten Nachricht?«
»Oje, was müssen Sie nur von mir denken! Ich meine nicht den armen kleinen Jungen. Das habe ich bloß so nebenbei erwähnt. Nein, ich wollte ihm sagen, was der Doktor festgestellt hatte. Armer Mann, er wäre wahnsinnig geworden, und ich auch. Mein Mann, meine ich, nicht der Doktor. Wir dachten nämlich, wir hätten wieder eins zu erwarten, wissen Sie, dachten, mich hätt’s wieder erwischt, und das, wo ich doch schon vier habe. Aber der Doktor hat gesagt, es sind die Wechseljahre. Das war vielleicht eine Erleichterung! Sie glauben es gar nicht. Ich habe den Kindern ihren Tee gemacht, und dann hat mich mein Mann ins Pony ausgeführt, zum Feiern. Da drin habe ich von dem armen kleinen Jungen gesprochen. Ich meine, man quasselt doch ganz gern ein bißchen, besonders, wenn man obenauf ist. Aber es war schon nach sieben, bevor wir hinkamen, das weiß ich genau.«
Es hatte nach einer so viel versprechenden Fährte ausgesehen und - sich als Sackgasse erwiesen.
Es war noch fast hell, und Sparta Grove wimmelte von Kindern, die auf dem Gehweg spielten. Niemand schien sie zu beaufsichtigen, keiner schien hinter Gardinen zu stehen, um den kleinen Engel mit dem goldenen Lockenschopf im Auge zu behalten, oder das milchkaffeefarbene, dunkeläugige Mädchen auf dem Dreirad. Kein Zweifel jedoch, die Mütter waren da, paßten auf, während sie selbst unsichtbar blieben.
Das Pony öffnete gerade, und so sicher wie die Sonne aufgeht, tauchte aus Richtung Charteris Road Monkey Matthews am Horizont auf, am Arm Charly Catch, alias Mr. Casaubon. Wexford beeilte sich davonzukommen, bevor sie ihn sichteten.
 
Findet die drei Fremden aus den Suchtrupps, hieß die Devise am nächsten Morgen, und die Dringlichkeit wurde noch durch den Brief unterstrichen, den Wexford bei seiner Post gefunden hatte. Der Inhalt bestand aus Wiederholungen, und Wexford sah ihn nur flüchtig an, denn zugleich war ein Bericht des Polizeibezirks Westmorland, zusammengestellt und unterzeichnet von einem Inspector Daneforth, eingegangen.
Nachdem er strikte Order erteilt hatte, ihn nicht zu stören, las er:
»Am 5. August 1957 wurde aus dem Fieldenwater See, Westmorland, die Leiche eines Kindes, Bridget Melinda Scott, II, geborgen. Als Todesursache wurde Ertrinken festgestellt, und für den 9. August wurde eine Verhandlung unter Vorsitz des amtlichen Leichenbeschauers und Untersuchungsrichters für Mid-Westmorland, Dr. Augustine Forbes, anberaumt.«
Eine Vorverhandlung zur Feststellung der Todesursache. Natürlich! Warum war er darauf bloß nicht gekommen? Für Elsie war das ein Gericht und der Verhandlungsführer ein Richter. Nicht sonderlich ermutigt, las Wexford weiter.
»Als Zeugen sagten aus:
I) Lilian Potts, Zimmermädchen im Lakeside Hotel, wo Bridget Scott mit ihren Eltern, Mr. und Mrs. Ralph Scott, Gast war. Miss Potts sagte aus, sie habe Bridget am Morgen des 5. August gegen 8 Uhr im Flur des Hotels getroffen. Bridget habe gesagt, sie ginge schwimmen, und sie habe einen Badeanzug unter einem Bademantel getragen. Sie sei allein gewesen. Miss Potts riet ihr, nicht zu weit hinauszuschwimmen. Bridget antwortete nicht, und Miss Potts sah sie die Treppe hinuntergehen.
2) Ralph Edward Scott, Installateur, wohnhaft 28, Barington Gardens, Colchester, Essex. Mr. Scott sagte, er sei der Vater von Bridget Scott. Er sei mit Frau und Tochter zu einem tägigen Urlaub ins Lakeside Hotel, Fieldenwater gekommen. Der 5. August sei ihr 10. Tag gewesen. Bridget sei eine begeisterte Schwimmerin und schwimme jeden Tag vor dem Frühstück. Am 5. August sei Bridget, noch bevor sie selber aufgestanden waren, in ihr Zimmer gekommen, um ihnen zu sagen, sie ginge schwimmen. Er habe sie noch gebeten, in der Nähe des Ufers zu bleiben. Er habe sie nicht mehr lebend wiedergesehen.
3) Ada Margaret Patten, Witwe, 72, wohnhaft 4, Blenheim Cottages, Water Street, Fieldenwater Village. Sie sagte, sie sei gegen 8 Uhr 15, wie jeden Tag, am Nordufer des Sees, gegenüber dem Hotel, mit ihrem Hund spazierengegangen. Sie habe einen Hilfeschrei gehört und gesehen, daß ein Schwimmer offenbar in Not sei. Mrs. Patten, die selbst Nichtschwimmerin ist, bemerkte zwei badende Männer am östlichen Seeufer und einen weiteren Mann, der von einem Ruderboot ganz in der Nähe des Schwimmers, der um Hilfe gerufen hatte, angelte. Vom Untersuchungsrichter gebeten, zu erklären, was sie unter Nähe verstehe, erklärte Mrs. Patten, ihrer Einschätzung nach sei die Entfernung ungefähr 20 Meter gewesen. Mrs. Patten hatte einen Spazierstock bei sich und winkte damit dem Mann im Boot. Sie versuchte gleichfalls, die Aufmerksamkeit der beiden anderen Schwimmer zu erregen. Die Männer am Ostende des Sees hörten sie schließlich und begannen nordwärts zu schwimmen. Auf den Angler im Boot machten ihre Rufe keinen sichtbaren Eindruck. Endlich sah sie, wie sich das Boot auf den Schwimmer in Not zubewegte, doch als es die Stelle des Sees erreicht hatte, war der Schwimmer verschwunden. Sie erklärte, sie habe nicht verstanden, weshalb der Angler ihr Rufen nicht gehört habe, da Wasser Schall gut trägt. Sie selbst sei oft in Booten auf dem See gewesen und wisse, daß man Geräusche vom Ufer in der Mitte gut hören könne.
4) George Baleham, Landarbeiter, wohnhaft 7, Bulmer Way, New Estate, Fieldenwater Village. Mr. Baleham sagte dem Untersuchungsrichter, er und sein Bruder seien am 5. August gegen 7 Uhr 30 zum Schwimmen im Fieldenwater See gegangen. Gegen 8 Uhr 10 habe er ein Kind vom Lakeside Hotel aus ins Wasser gehen sehen. Fünf Minuten später habe er Schreie übers Wasser gehört und Mrs. Patten rufen hören. Sofort seien er und sein Bruder auf das Kind zugeschwommen, das etwa 160-180 Meter von ihnen entfernt gewesen sei. In der Nähe des Kindes habe er ein Boot mit einem Angler gesehen. Er habe dem Mann im Boot zugerufen: Da ertrinkt ein Kind. Sie sind näher dran als wir. Doch das Boot habe sich nicht von der Stelle bewegt. Mr. Baleham sagte, das Boot sei liegengeblieben, bis er auf ungefähr 10 Meter herangeschwommen sei. Zu dem Zeitpunkt war das Kind untergegangen. Seiner Meinung nach habe der Mann im Boot das Kind leicht erreichen können, bevor es sank. Von seinem Standort aus habe er das Kind weder übersehen noch seine Rufe überhören können.
5) Ivor Lionel Fairfax Swan...«
Hier kam es also, worauf er gewartet hatte. Der Name in sachlicher Schreibmaschinenschrift versetzte Wexford einen seltsamen, kalten kleinen Stich. Er kam sich vor wie ein Mann, der monatelang einen ganz bestimmten Hirsch verfolgt hat und ihn nun, nachdem er sich durch Wildnis und Unterholz einer tristen Moorlandschaft gearbeitet hat, vor sich sieht, aufmerksam, doch nichtsahnend, direkt vor sich, nahe, o so nah! auf einem Felsen. Und leise und verstohlen greift er nach der Flinte...
»5) Ivor Lionel Fairfax Swan, Student, 19, wohnhaft Carien Hall, Carien Magna, Bedfordshire, und Christ’s College, Oxford. Mr. Swan sagte, er habe mit zwei Freunden im Lakeside Hotel Ferien gemacht. Bridget Scott habe gelegentlich in der Hotelhalle und am Strand mit ihm geredet. Abgesehen davon kenne er sie nicht und habe nie mit ihren Eltern gesprochen. Er angle gern und leihe sich dafür manchmal ein Boot, um am frühen Morgen auf den See hinauszurudern.
Am 5. August habe er das Boot um sieben Uhr losgemacht. Er sei allein auf dem See gewesen. Er habe gegen 7 Uhr 40 die beiden Männer am Ostufer des Sees schwimmen sehen, kurz nach acht sei Bridget Scott die Stufen vom Hotel heruntergekommen und ins Wasser gegangen. Er habe nicht gewußt, ob sie eine gute Schwimmerin sei oder nicht. Er habe sehr wenig von ihr gewußt.
Sie habe ihm etwas zugerufen, doch er habe nicht weiter darauf geachtet. Er habe befürchtet, sie würde nur lästig werden und die Fische stören. Einige Minuten später habe er sie erneut rufen hören und wieder nicht geantwortet. In der vergangenen Woche habe sie mehrmals versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und er habe gemeint, es sei besser, sie nicht zu ermutigen. Er habe Mrs. Patten rufen hören, doch angenommen, sie meine ihren Hund.
Kurz darauf habe er zwei Schwimmer bemerkt und gesehen, daß Bridget tatsächlich in Not war. Er habe unverzüglich seine Leine eingezogen und sei zu der Stelle gerudert, wo er sie zuletzt gesehen habe. Doch da sei sie schon verschwunden gewesen.
Auf die Frage des Untersuchungsrichters erwiderte Mr. Swan, er sei nicht auf die Idee gekommen, über Bord zu springen und hinzuschwimmen. Seine Angelschnur sei teuer gewesen, und er habe sie nicht verderben wollen. Er könne nicht tauchen und sei kein sonderlich guter Schwimmer. Bis zu dem Augenblick, als sie unterging, habe er nicht geglaubt, daß sie ernsthaft in Gefahr gewesen sei. Nein, er könne nicht sagen, daß er das Kind nicht gemocht habe. Er habe sie kaum gekannt. Es sei richtig, daß er es lästig gefunden habe, wie sie sich ihm und seinen Freunden aufzudrängen versuchte. Es tue ihm leid, daß sie tot sei, und er wünsche sich jetzt, er hätte sich bemüht, sie zu retten. Er sei jedoch sicher, nicht anders gehandelt zu haben, als es unter diesen Umständen jeder getan hätte.
6) Bernard Varney Frensham, 19, Student, wohnhaft 16, Paisley Court, London S. W. 7 und Christ’s College, Oxford. Mr. Frensham sagte, er sei ein Freund von Mr. Swan und mache mit ihm und seiner (Mr. Frenshams) Verlobten Ferien im Lakeside Hotel. Bridget Scott habe eine spontane Zuneigung zu Mr. Swan gefaßt, sei auf ihn geflogen, nenne man das wohl, und sie habe dazu geneigt, sich ihm aufzudrängen. Er sagte, er sei nie in einem Boot auf dem Fieldenwater See gewesen. Angeln interessiere ihn nicht. Vom Untersuchungsrichter gefragt, ob Mr. Swan ein guter Schwimmer sei, fragte er: ‘Muß ich das beantworten?’ Dr. Forbes bestand darauf, und Mr. Frensham sagte, er könne nichts über Swans Schwimmstil aussagen. Er sei nie für ihr College gestartet. Auf weitere nachdrückliche Fragen sagte Mr. Frensham, er habe einmal ein Lebensrettungszeugnis mit Mr. Swans Namen gesehen.«
An dieser Stelle folgte ein Hinweis, medizinische und polizeiliche Beweise seien ausgelassen. Der Bericht endete folgendermaßen:
»Der Untersuchungsrichter belobigte Mr. George Baleham und Mr. Arthur Baleham für ihren sofortigen Einsatz zur Rettung des Mädchens.
Dann rügte er Mr. Swans Verhalten. Er sagte, dies sei der schlimmste Fall von Gefühllosigkeit einem Kind gegenüber, das offensichtlich im Begriff stand zu ertrinken, der ihm je untergekommen sei. Er wandte sich scharf gegen das, was er nur mit bewußtem und feigem Lügen von Mr. Swans Seite bezeichnen könne. Weit entfernt davon, ein leidlicher Schwimmer zu sein, habe er ein Lebensrettungszeugnis. Er hege keinen Zweifel daran, daß Mr. Swan sich geweigert habe, auf die Hilferufe des Kindes zu hören, weil er glaubte oder behauptete, er habe geglaubt, sie wolle ihn nur wieder belästigen. Wäre er über Bord gesprungen, als er den ersten Ruf hörte, so wäre Bridget Scott noch am Leben. Der Untersuchungsrichter gab seinem Bedauern Ausdruck, daß das Gesetz ihm keine Handhabe gebe, weitere Schritte gegen Mr. Swan zu unternehmen. Anschließend sprach er Mr. und Mrs. Scott sein Beileid aus.
Das Urteil lautete: Tod durch Unfall.«
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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