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Der Raum, in dem sich Wexford wiederfand, wurde
offenbar als Lager genutzt. An den Wänden waren Birkenklötze zu
Pyramiden aufgeschichtet; die darüber angebrachten Regale
erwarteten die Apfel- und Birnenernte des Guts. Alles machte einen
sehr sauberen und ordentlichen Eindruck.
Da es hier unten kein anderes Zimmer und auch sonst
keinen Anhaltspunkt gab, der auf Denys Villiers’ Gewerbe hätte
schließen lassen, ging Wexford die Treppe hinauf. Auch sie war aus
Eiche und führte in einer Art steil ansteigenden Gang in der dicken
Mauer nach oben. Hinter der Tür am Treppenaustritt drang leises
Stimmengemurmel zu ihm hervor. Er klopfte. Mrs. Cantrip öffnete die
Tür einen Spalt breit und flüsterte:
»Ich hab’s ihm beigebracht. Brauchen Sie mich
noch?«
»Nein, danke, Mrs. Cantrip.«
Sie kam mit hochrotem Gesicht heraus. Ein
Sonnenstrahl bohrte sich in das Düster des unteren Raums, als sie
die Tür öffnete und hinausging. Wexford zögerte kurz, dann ging er
in Villiers’ Schreibzimmer.
Der Lehrer für klassische Philologie blieb an
seinem Schreibtisch sitzen, doch er wandte Wexford das Gesicht zu,
auf dem sich nüchterner Ernst abzeichnete, und sagte: »Guten
Morgen, Chief Inspector. Was kann ich für Sie tun?«
»Das ist eine böse Geschichte, Mr. Villiers. Ich
werde Sie nicht lange aufhalten. Nur ein paar Fragen, wenn es Ihnen
recht ist.«
»Gewiß. Möchten Sie nicht Platz nehmen?«
Ein großes, ein wenig kühles Zimmer mit dunklen
Holzpaneelen. Die Fenster waren klein, und wegen der Blattbüschel
drang nur wenig Licht nach innen. Auf dem Boden lag ein
quadratischer Teppich. Das Mobiliar, ein mit Haartuch bezogenes
Sofa, zwei viktorianische Lehnstühle mit ledernen Sitzflächen und
ein Klapptisch, war offenbar aus dem eigentlichen Herrenhaus
verbannt worden. Auf Villiers’ Schreibtisch breitete sich ein
wüstes Durcheinander aus Papieren, aufgeschlagenen Lexika,
Schachteln mit Heftklammern, Kugelschreibern und leeren
Zigarettenschachteln aus. An einem Ende lag ein Stapel Bücher, alle
identisch mit dem, das Wexford auf Nightingales Nachttisch gesehen
hatte: Der verliebte Wordsworth, von Denys Villiers,
Verfasser von Wordsworth in Grasmere und Zu zeigen Schönres
nicht.
Ehe er sich setzte, nahm Wexford das oberste dieser
Bücher zur Hand, so wie er auch schon das Exemplar in dem
Schlafzimmer kurz angesehen hatte, doch statt rasch den Text auf
dem Schutzumschlag zu überfliegen, drehte er es um und betrachtete
Villiers’ Porträt auf der Rückseite. Das Foto war entweder sehr
schmeichelhaft oder vor langer Zeit entstanden.
Sein Gegenüber, der diese Musterung ungerührt über
sich ergehen ließ, schien Ende Vierzig zu sein. Früher, dachte
Wexford, mußte er attraktiv und gutaussehend gewirkt haben und
seiner toten Schwester verblüffend ähnlich gewesen sein, doch Zeit
oder Krankheit vielleicht hatten dies fast spurlos getilgt. Ja,
wahrscheinlich eine Krankheit. Krebskranke Männer sahen aus wie
Villiers. In ihren Gesichtern hatte Wexford den gleichen faden,
ausgedörrten Ausdruck gesehen, gelblich graue, abgehärmte
Gesichter, blaue Augen, die zu einem öden Grau ausgebleicht waren.
Villiers war spindeldürr und hatte blutleere Lippen.
»Ich bin mir darüber im klaren, daß dies ein
schwerer Schlag für Sie sein muß«, begann Wexford. »Es ist
bedauerlich, daß Sie nicht früher davon erfahren haben.«
Villiers zog die dünnen, farblosen Augenbrauen ein
wenig hoch. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war unfreundlich und
herablassend. »Offen gestanden«, sagte er, »spielt das keine große
Rolle. Meine Schwester und ich hingen nicht sonderlich
aneinander.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Sie dürfen, und es macht mir nichts aus, Ihnen
darauf zu antworten. Der Grund war, daß wir nichts gemeinsam
hatten. Meine Schwester war eine hohlköpfige frivole Frau, und ich
- nun, ich bin kein hohlköpfiger frivoler Mann.« Villiers richtete
den Blick nach unten auf seine Schreibmaschine. »Dennoch wäre es
wohl nicht sehr taktvoll, wenn ich heute noch weiterarbeiten würde,
oder?«
»Soweit ich weiß, haben Sie und Ihre Frau den
gestrigen Abend im Herrenhaus verbracht, Mr. Villiers?«
»Das ist richtig. Wir haben Bridge gespielt. Um
halb elf haben wir uns verabschiedet, sind nach Hause gefahren und
zu Bett gegangen.« Villiers sprach in schneidendem Ton, in dem eine
nervöse Gereiztheit lag, die leicht in Wut umschlagen konnte. Er
hustete und drückte sich die Hand auf die Brust. »Ich habe einen
Bungalow in der Nähe von Clusterwell. Die Fahrt vom Herrenhaus
dorthin hat gestern abend ungefähr zehn Minuten gedauert. Meine
Frau und ich gingen gleich zu Bett.«
Sehr präzis und ordentlich, dachte Wexford. Als ob
er zuvor einstudiert hätte, was er sagen wollte. »Wie hat Ihre
Schwester gestern abend auf sie gewirkt? Normal? Oder machte sie
einen aufgeregten Eindruck?«
Villiers seufzte. Mehr aus Langeweile denn aus
Kummer, fand Wexford. »Sie war genau so wie immer, Chief Inspector,
die allseits geliebte, gütige Gutsherrin. Sie spielte schon immer
entsetzlich schlechtes Bridge, und gestern abend war es weder
schlechter noch besser als sonst.«
»Wußten Sie, daß sie nächtliche Spaziergänge im
Wald unternahm?«
»Ich wußte, daß sie nächtliche Spaziergänge im
Park unternahm. Wahrscheinlich hat es deshalb dieses Ende
mit ihr genommen, weil sie so dumm war, sich weiter zu
wagen.«
»Es hat Sie also nicht gewundert, von ihrem Tod zu
erfahren?« fragte Wexford.
»Ganz im Gegenteil, es hat mich sehr gewundert.
Selbstverständlich war ich bestürzt. Aber nun, wo ich darüber
nachgedacht habe, nein, da wundere ich mich nicht mehr so sehr.
Frauen, die sich allein an abgelegenen Orten aufhalten, sind
potentielle Mordopfer. Zumindest nach dem, was man so hört. Ich
lese keine Zeitungen. Derlei Dinge interessieren mich nicht.«
»Jedenfalls haben Sie keinen Zweifel daran
aufkommen lassen, daß Sie Ihre Schwester nicht mochten.« Wexford
ließ den Blick in dem großen, ruhigen Zimmer schweifen. »Unter
diesen Umständen ist es doch merkwürdig, daß ausgerechnet Sie sich
von ihr so großzügig unterstützen ließen.«
»Ich lasse mich von meinem Schwager unterstützen,
Chief Inspector.« Kreidebleich vor Wut oder einer anderen Regung,
die Wexford nicht deuten konnte, sprang Villiers aus dem Stuhl auf.
»Guten Morgen, Sir.« Er öffnete die Tür, und der düstere
Treppenschacht tat sich gähnend vor ihm auf.
Wexford stand auf und wandte sich zum Gehen. Auf
halbem Weg zur Tür blieb er plötzlich stehen und warf Villiers
einen verwirrten Blick zu. Die Vorstellung, der Mann könne noch
kränker, noch leichenhafter aussehen als zu Beginn ihrer
Unterredung, schien unmöglich. Doch als er jetzt auf der Schwelle
stand und sein dünnes Ärmchen ausstreckte, war aus dem graugelben
Teint auch noch der letzte Rest von Farbe verschwunden.
Beunruhigt stürzte Wexford auf ihn zu. Villiers
stieß ein seltsames leises Keuchen aus und verlor in seinen Armen
das Bewußtsein.
»Dann wollen wir mal«, sagte Crocker, der
Polizeiarzt und mit Wexford befreundet war. »Elizabeth Nightingale
war eine guternährte und für ihr Alter ungewöhnlich gutaussehende
Frau um die Vierzig.«
»Einundvierzig«, sagte Wexford, zog seinen
Regenmantel aus und hängte ihn an den Haken hinter seiner Bürotür.
Auf der Ecke seines Schreibtisches warteten einige Sandwiches mit
kaltem Braten und eine Thermoskanne Kaffee auf ihn, die man ihm aus
der Kantine ins Büro geschickt hatte. Er setzte sich in den großen
Drehstuhl, und nachdem er eine Weile voller Widerwillen auf das
oberste Sandwich gestarrt hatte, das sich an den Rändern schon
einzubiegen begann, machte er sich seufzend darüber her.
»Der Tod«, sagte der Arzt, »trat infolge eines
Schädelbruchs und zahlreicher Gehirnverletzungen ein. Es wurden
mindestens ein Dutzend Schläge mit einem nicht sonderlich stumpfen
Gegenstand aus Metall geführt. Ein Beil oder ein Messer scheidet
aus, würde ich sagen, aber es muß etwas mit schärferen Kanten
gewesen sein als zum Beispiel ein Bleirohr. Die Todeszeit - du
weißt ja, wie schwer sich das abschätzen läßt - würde ich
irgendwann nach dreiundzwanzig und vor ein Uhr ansiedeln.«
Burden saß an der Wand. Über seinem Kopf hing die
amtliche Karte des Landkreises von Kingsmarkham, auf der die dunkle
Fläche des Cheriton Forest wie der Umriß einer lauernden Katze
aussah. »Die Durchsuchung von Park und Wald verlief bislang ohne
Ergebnis«, sagte er. »An was für eine Waffe dachtest du?«
»Tut mir leid, Mike, aber das ist deine Aufgabe,
alter Junge«, sagte Crocker, ging ans Fenster und schaute auf die
High Street hinunter. Vielleicht fand er die vertraute Aussicht
langweilig, denn er hauchte die Scheibe kräftig an und begann, in
die von seinem Atem beschlagene Fläche ein Muster zu malen, das
eine Topfpflanze oder das Schaubild des menschlichen Atmungssystems
darstellen mochte. “Ich habe nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Könnte eine Blumenvase aus Metall oder sogar ein Küchengerät sein.
Vielleicht auch ein ausgefallener Aschenbecher, eine Feuerzange
oder ein Bierkrug.«
»Glaubst du?« fragte Wexford spöttisch, während er
auf beiden Backen kaute. »Ein Kerl geht in den Wald, und weil er
dort eine Frau umbringen will, bewaffnet er sich mit einem
Schneebesen, ja, oder vielleicht mit einem Kochtopf? Da merkt
einer, daß ihm seine Frau Hörner aufsetzt, deshalb zückt er die
silberne Blumenvase, die er zufälligerweise in der Tasche mit sich
herumträgt, und zieht ihr damit eins über den Schädel?«
»Willst du damit etwa sagen, daß du dir Quentin
Nightingale, diese Stütze der Gesellschaft, als Verdächtigen
ausgeguckt hast?« fragte der Arzt entsetzt.
»Er ist doch wohl auch nur ein Mensch, oder? Auch
er kann einmal in Wut geraten. Ehrlich gesagt, ich würde mich
lieber an ihren Bruder halten, diesen Villiers. Aber so wie der
aussieht, ist er zu schwach, um auch nur Messer und Gabel zu
halten, geschweige denn, um auf jemanden mit der Bratpfanne
loszugehen.« Wexford aβ sein Sandwich auf und schraubte den Deckel
auf die Thermoskanne. Dann drehte er sich auf dem Stuhl um und
blickte den Arzt unverwandt und nachdenklich an. »Ich habe mit
Villiers gesprochen«, sagte er. »Unter anderem machte er auf mich
den Eindruck eines schwerkranken Mannes. Gelbliche Haut, zitternde
Hände, das Übliche eben. Als ich mich eben von ihm verabschieden
wollte, fiel er glatt in Ohnmacht. Eine Weile glaubte ich schon, er
sei tot, aber er kam wieder zu sich, und ich verfrachtete ihn ins
Herrenhaus.«
»Er ist Patient bei mir«, sagte Crocker, wischte
seine Zeichnung mit der Handkante aus und gab Wexford den Blick auf
seine Lieblingsaussicht mit den alten Hausgiebeln und den mächtigen
Sussexbäumen frei. »Die Nightingales sind Privatpatienten bei
irgendeinem feinen Snobiety-Arzt, aber Villiers kommt schon seit
Jahren zu mir in die Praxis.«
»Und als wahrer Priester der medizinischen
Konfession«, wandte sich Wexford ironisch an ihn, »hast du
natürlich vor, was immer ihm fehlen mag, in deinem hippokratischen
Herzen zu verschließen.«
»Das würde ich schon, nur müßte es dazu auch etwas
geben, das ich dort verschließen könnte. Rein zufällig ist er aber
mindestens so gesund wie du.« Crocker musterte den
schwergewichtigen Wexford und faßte dabei die vorstehenden
purpurnen Adern auf seiner Stirn ins Auge. »Wenn nicht gesünder«,
fügte er kritisch hinzu.
Mühsam zog Wexford die Bauchmuskeln ein und drückte
das Kreuz durch. »Wenn das keine Überraschung ist!« meinte er. »Ich
dachte, es sei Krebs, aber offenbar handelt es sich um eine
seelische Qual, die an seinen rosaroten Wangen zehrt. Schuldgefühle
zum Beispiel. Wie alt ist er?«
»Na hör mal...«, sagte der Arzt und rutschte
unbehaglich auf dem Stuhl hin und her.
»Nun hab dich mal nicht so. Das Alter eines Mannes
gehört wohl kaum zu den Dingen, die er seinem Quacksalber nur
hinter dem sterilen grünen Schirm des Sprechzimmers
anvertraut...«
»Er ist achtunddreißig.«
»Achtunddreißig! Er sieht zehn Jahre älter
aus, und selbst dann noch ziemlich krank. Lieber Himmel, im
Vergleich zu ihm ist Mike der reinste Pennäler.«
Zwei alternde Augenpaare richteten sich forschend
auf Burden, der bescheiden den Blick abwandte, dabei aber eine
selbstgefällige Miene aufsetzte. Ziemlich reizbar hakte der Arzt
nach: »Es ist mir ein Rätsel, weshalb du darauf herumreitest, daß
er einen so kränklichen Eindruck macht. Er verlangt sich zuviel ab,
das ist alles. Und so krank oder so alt sieht er gar nicht
aus.«
»Heute schon«, sagte Wexford.
»Das liegt am Schock«, erklärte der Arzt. »Was
erwartest du denn, wenn ein Mann erfährt, daß seine Schwester
ermordet wurde?«
»Genau das, bloß hat er sie offenbar auf den Tod
nicht ausstehen können. Du hättest hören sollen, was für hochherzig
brüderliche Dinge er über sie zu sagen hatte. Ein üblerer Kunde als
dieser Mr. Villiers ist mir schon lange nicht mehr über den Weg
gelaufen. Auf geht’s, Mike, wir besuchen jetzt einige Damen, die
unter dem Eindruck Ihres aufreizenden und - wenn ich so sagen darf
- jungenhaften Charmes auftauen und uns ihr Herz ausschütten
werden.«
Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug nach unten, wo
sich der Arzt auf der Treppe des Reviers von ihnen verabschiedete.
Der Wind hatte sich inzwischen völlig gelegt, doch auf der High
Street lagen immer noch die Überbleibsel verstreut, die der Sturm
hinter sich zurückgelassen hatte: abgeknickte Zweige, ein winziges
leeres Buchfinkennest, das aus einer hohen Baumkrone geweht worden
war, und da und dort ein Ziegel von einem alten Dach.
Mit Bryant hinterm Steuer verließen sie die Stadt
auf der Straße nach Pomfret, auf der sie kurz danach links nach
Myfleet abbogen. Der Weg führte sie an der Kingsmarkhamer
Jungenschule vorbei, einer Grammar School, die offiziell unter dem
Namen »King-Edwardthe-Sixth-Stiftung für die Söhne von Freisassen,
Bürgern und besseren Leuten« firmierte. Gegenwärtig waren die Söhne
über die Sommerferien zu Hause, und das im Tudorstil erbaute
Gebäude aus braunem Ziegelstein bot ein verlasseneres und
ordentlicheres Bild als während der Schulzeit. Da die Zahl der
Freisassen und Bürger - wenn vielleicht auch nicht die der besseren
Leute - in letzter Zeit besorgniserregend angewachsen war, hatte
man vor fünf Jahren hinten an der linken Seite der alten Schule
einen großen neuen Flügel hinzugebaut, der von Reaktionären damals
als Monstrosität bezeichnet worden war.
Die Schule strahlte eine gewisse Würde und
Erhabenheit aus, die vielen Großbauten aus dieser Zeit eigen ist,
und voller Verachtung für die pädagogischen und standortbedingten
Vorzüge der Gesamtschule in Stowerton setzten die meisten Eltern
aus Kingsmarkham ihren Ehrgeiz darein, ihre Sprößlinge dort
unterzubringen. Was waren auch schon ein hochmoderner
naturwissenschaftlicher Labortrakt, eine zum Trampolinspringen
geeignete Sporthalle oder ein Schwimmbecken von olympischen
Abmessungen im Vergleich mit der Gelegenheit, vor ihren Bekannten
mit historischen Portalen und ausgetretenen Steinstufen prahlen zu
können, die schon die Füße des Sohnes von Heinrich dem Achten
(wenngleich nur ein einziges Mal) abgewetzt hatten? Überdies ließ
sich, falls der Sohn ins ⊃King’s⊂ ging, wie man die Schule
allgemein nannte, gegenüber Uneingeweihten überzeugend vorheucheln,
er besuche eine Privatschule, und somit verbergen, daß in Wahrheit
der Staat für die Ausbildung aufkam.
Burden, dessen Sohn vor einem Jahr dort aufgenommen
worden war, nachdem er eine mehrteilige und schwierige
Aufnahmeprüfung bestanden hatte, sagte nun:
»Dort unterrichtet Villiers.«
»Seine Fächer sind Latein und Griechisch, nicht?«
Burden nickte. »Er hat John in Latein. Griechisch unterrichtet er
wohl bei den Älteren. John sagt, daß er oft noch nach Schulschluß
in der Bibliothek arbeitet. Die Bibliothek ist da hinten im Anbau
untergebracht.«
“Recherchen für seine Bücher?«
»Die Bibliothek ist jedenfalls phantastisch. Ich
kenne mich in diesen Dingen zwar nicht sonderlich aus, aber am Tag
der offenen Tür habe ich sie mir mal angesehen und war schwer
beeindruckt.«
»Kann ihn John leiden?«
»Sie wissen ja, wie Jungs so sind, Sir«, antwortete
Burden. »Die Rowdies in Johns Klasse nennen ihn den ⊃alten Ablabs⊂.
Einer, der tüchtig durchgreift, würde ich meinen.« Und der Vater,
der am Morgen noch seinen Sohn mittels einer unverdienten Gabe von
fünfzig Pence besänftigt hatte, fügte im Brustton der Überzeugung
hinzu: »Wenn Sie mich fragen, muß man schon strenge Saiten
aufziehen, damit diese Bengel nicht einfach Schlitten mit einem
fahren.«
Innerlich grinsend, wechselte Wexford das Thema.
»Es gibt drei zentrale Fragen, auf die ich gern eine Antwort hätte:
Warum hat Quentin Nightingale um fünf Uhr früh gebadet? Oder
umgekehrt, warum gibt er das vor? Warum hat Sean Lovell behauptet,
er habe sich gestern abend eine Sendung im Fernsehen angesehen, die
im letzten Moment ausgefallen ist? Und warum ist Elizabeth
Nightingale mit jedermann gut ausgekommen, nur nicht mit ihrem
Bruder?«
»Nun, was das betrifft, Sir, weshalb hatte sie
keine engen Freunde?«
»Vielleicht hatte sie welche. Das müssen wir erst
noch herausfinden. Wir sind jetzt gleich in Clusterwell, Mike.
Wissen Sie zufällig, welches Haus Villiers gehört?«
Burden richtete sich auf und wandte den Blick zum
Fenster. »Es steht außerhalb des Dorfs, Richtung Myfleet. Wir sind
noch nicht da, dauert noch einen Moment... Fahren Sie bitte mal
etwas langsamer, Bryant. Da ist es, Sir, das freistehende Haus
dort.«
Mit leichtem Stirnrunzeln betrachtete Wexford den
für sich stehenden Bungalow. Es war ein niedriges Haus mit zwei
traufseitigen Giebeln, unter denen Erkerfenster hervorragten.
»Bräuchte mal wieder einen neuen Anstrich«, sagte
Burden und verglich es mit seinem behaglichen, demnächst völlig
neugestrichenen Heim, wobei Villiers’ Bungalow schlecht abschnitt.
»Die Bruchbude sieht ziemlich schäbig aus. Man sollte doch meinen,
er könnte sich wenigstens eine ordentliche Garage leisten.«
Der Vorgarten war mit einer Unmenge Maßliebchen
bewachsen, alle von der gleichen Farbe. Auf einer Seite führte eine
lange, rissige und aufgeplatzte Betonauffahrt zu einer Fertiggarage
mit einem Dach aus geteerter Asbestpappe.
In der Einfahrt vor dem Asbesttor stand ein
schwarzer Morris, der erst vor kurzem gewaschen worden sein mußte,
denn auf der Karosserie waren noch feuchte Stellen zu sehen, und in
dem Schlagloch unter seiner hinteren Stoßstange stand eine kleine
Pfütze.
»Das ist doch merkwürdig«, sagte Wexford. »Stellen
Sie sich vor, Ihre Schwester wird ermordet, und Sie fallen in
Ohnmacht, als Sie davon erfahren, aber ein paar Stunden später sind
Sie schon wieder auf den Beinen, um Ihr Auto zu waschen und kräftig
zu polieren.«
»Das ist nicht sein Wagen«, wandte Burden ein. »Er
fährt einen Anglia. Der hier gehört seiner Frau.«
»Wo steht dann seiner?«
»Noch beim Herrenhaus, nehme ich an, oder in dieser
armseligen Notgarage.«
»Direkt schlammig war es gestern im Wald wohl kaum,
was meinen Sie?«
»Morastig«, sagte Burden. »Am Wochenende hat es
geregnet, falls Sie sich noch erinnern.«
»Fahren Sie weiter, Bryant. Wollen wir die Villiers
noch eine Weile ungestört ihren häuslichen Frieden genießen
lassen.«
Der erste Mensch, dem sie in Myfleet begegneten,
als sie im Dorf parkten, war Nelleke Doorn, die gerade mit einer
Tüte Obst und einer Shampooflasche aus dem Gemischtwarenladen kam.
Sie kicherte erfreut bei ihrem Anblick.
»Wissen Sie zufällig, in welchem Haus die Lovells
wohnen, Miss Doorn?« fragte Burden sie linkisch.
»Ja, Sie schauen, es ist das da drüben.« Sie zeigte
mit dem Finger darauf, wobei sie sich an den Arm des Inspectors
klammerte und ihn, wie Wexford es später ausdrückte, mit ihren
entzückenden Rundungen fast auffraß. »Das schmutzigste in ganze
Dorf.« Als Vertreterin der vielleicht ordnungsliebendsten Nation
auf Erden schauderte sie, und zum erstenmal während ihrer kurzen
Bekanntschaft verschwand der freundliche Ausdruck auf ihrem
Gesicht. »Sie leben dort wie Schweine, glaube ich. Seine Mutter ist
eine sehr eklige dreckige Frau, ganz fett.« Keine zwanzig
Zentimeter von ihrer üppigen Figur entfernt, malte sie den Umriß
eines riesigen Cellos in die Luft.
Wexford lächelte sie an. »Haben Sie eine Ahnung, ob
die dicke Dame zu Hause ist?«
Nelleke schenkte seinem Lächeln keine Beachtung.
Ihr Blick galt Burden. »Möglich«, sagte sie und zuckte mit den
Achseln. »Was diese Schweineleute alles treiben, wissen ich nicht.
Könnten Sie Lust haben auf eine gemütliche Tasse Tee? Ich glaube,
Sie arbeite sehr hart und würde gern eine Tasse Tee mit mir
trinken, während Ihr Chef in die dreckige Hütte geht.«
»O nein - nein, danke«, lehnte Burden entsetzt
ab.
»Dann vielleicht morgen«, sagte Nelleke und nahm
eine Haarsträhne in den Mund. »Jeden Abend bin ich frei, und morgen
muß meine Freund Überstunden machen beim Getränkeservieren - ist
Tanz im Hotel. Ja nicht vergessen!« Sie drohte ihm mit dem Finger.
»Jetzt sage ich auf Wiedersehen. Holen Sie nichts Schlimmes sich in
diese sehr dreckige Haus.«
In gerader Haltung und mit hin und her wippendem
blonden Haar tänzelte sie über die Straße auf das Tor zu, das zum
Herrenhaus führte. Dort blieb sie stehen und winkte ihnen, wobei
sich unter dem bauschigen rosa Sweater ihre aufgerichteten runden
Brüste deutlich abzeichneten.
Wexford winkte zurück und wandte sich dann lachend
ab. »Jede Wette, die will Ihnen auch den Kopf verdrehen!«
»Eine gräßliche junge Person«, meinte Burden
kühl.
»Ich finde sie reizend.«
»Lieber Himmel, wenn ich denke, meine
Tochter...«
»Um Gottes willen, Mike. Auch ich bin ein
verheirateter Mann und ein treuliebender Gatte.« Sein Grinsen
verschwand, als Wexford sich über den stattlichen Bauch strich.
»Viel anderes bleibt mir ja auch nicht übrig. Aber manchmal...« Er
seufzte. »Mein Gott, was würde ich nicht darum geben, noch einmal
dreißig zu sein! Sehen Sie mich nicht so an, Sie kaltherziges
Monstrum. Da ist ja schon die dreckige Hütte, hoffen wir bloß, daß
wir uns bei unserer nachmittäglichen Arbeit nichts Schlimmeres
holen als eine nostalgie de boue.«
»Eine was?« fragte Burden, während er versuchte,
das Gartentor zu öffnen, ohne mit den Brennesseln in Berührung zu
kommen, die es überwuchert hatten.
»Das ist nur ein langer Name für eine Art
chronische Seuche«, erklärte Wexford mit einem wehmütigen Lächeln.
Beim Anblick von Burdens ungläubig mißtrauischer Miene lachte er
hellauf. »Keine Sorge, Mike, sie ist nicht ansteckend und befällt
nur die Alten.«