4
Der Raum, in dem sich Wexford wiederfand, wurde offenbar als Lager genutzt. An den Wänden waren Birkenklötze zu Pyramiden aufgeschichtet; die darüber angebrachten Regale erwarteten die Apfel- und Birnenernte des Guts. Alles machte einen sehr sauberen und ordentlichen Eindruck.
Da es hier unten kein anderes Zimmer und auch sonst keinen Anhaltspunkt gab, der auf Denys Villiers’ Gewerbe hätte schließen lassen, ging Wexford die Treppe hinauf. Auch sie war aus Eiche und führte in einer Art steil ansteigenden Gang in der dicken Mauer nach oben. Hinter der Tür am Treppenaustritt drang leises Stimmengemurmel zu ihm hervor. Er klopfte. Mrs. Cantrip öffnete die Tür einen Spalt breit und flüsterte:
»Ich hab’s ihm beigebracht. Brauchen Sie mich noch?«
»Nein, danke, Mrs. Cantrip.«
Sie kam mit hochrotem Gesicht heraus. Ein Sonnenstrahl bohrte sich in das Düster des unteren Raums, als sie die Tür öffnete und hinausging. Wexford zögerte kurz, dann ging er in Villiers’ Schreibzimmer.
Der Lehrer für klassische Philologie blieb an seinem Schreibtisch sitzen, doch er wandte Wexford das Gesicht zu, auf dem sich nüchterner Ernst abzeichnete, und sagte: »Guten Morgen, Chief Inspector. Was kann ich für Sie tun?«
»Das ist eine böse Geschichte, Mr. Villiers. Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Nur ein paar Fragen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Gewiß. Möchten Sie nicht Platz nehmen?«
Ein großes, ein wenig kühles Zimmer mit dunklen Holzpaneelen. Die Fenster waren klein, und wegen der Blattbüschel drang nur wenig Licht nach innen. Auf dem Boden lag ein quadratischer Teppich. Das Mobiliar, ein mit Haartuch bezogenes Sofa, zwei viktorianische Lehnstühle mit ledernen Sitzflächen und ein Klapptisch, war offenbar aus dem eigentlichen Herrenhaus verbannt worden. Auf Villiers’ Schreibtisch breitete sich ein wüstes Durcheinander aus Papieren, aufgeschlagenen Lexika, Schachteln mit Heftklammern, Kugelschreibern und leeren Zigarettenschachteln aus. An einem Ende lag ein Stapel Bücher, alle identisch mit dem, das Wexford auf Nightingales Nachttisch gesehen hatte: Der verliebte Wordsworth, von Denys Villiers, Verfasser von Wordsworth in Grasmere und Zu zeigen Schönres nicht.
Ehe er sich setzte, nahm Wexford das oberste dieser Bücher zur Hand, so wie er auch schon das Exemplar in dem Schlafzimmer kurz angesehen hatte, doch statt rasch den Text auf dem Schutzumschlag zu überfliegen, drehte er es um und betrachtete Villiers’ Porträt auf der Rückseite. Das Foto war entweder sehr schmeichelhaft oder vor langer Zeit entstanden.
Sein Gegenüber, der diese Musterung ungerührt über sich ergehen ließ, schien Ende Vierzig zu sein. Früher, dachte Wexford, mußte er attraktiv und gutaussehend gewirkt haben und seiner toten Schwester verblüffend ähnlich gewesen sein, doch Zeit oder Krankheit vielleicht hatten dies fast spurlos getilgt. Ja, wahrscheinlich eine Krankheit. Krebskranke Männer sahen aus wie Villiers. In ihren Gesichtern hatte Wexford den gleichen faden, ausgedörrten Ausdruck gesehen, gelblich graue, abgehärmte Gesichter, blaue Augen, die zu einem öden Grau ausgebleicht waren. Villiers war spindeldürr und hatte blutleere Lippen.
»Ich bin mir darüber im klaren, daß dies ein schwerer Schlag für Sie sein muß«, begann Wexford. »Es ist bedauerlich, daß Sie nicht früher davon erfahren haben.«
Villiers zog die dünnen, farblosen Augenbrauen ein wenig hoch. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war unfreundlich und herablassend. »Offen gestanden«, sagte er, »spielt das keine große Rolle. Meine Schwester und ich hingen nicht sonderlich aneinander.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Sie dürfen, und es macht mir nichts aus, Ihnen darauf zu antworten. Der Grund war, daß wir nichts gemeinsam hatten. Meine Schwester war eine hohlköpfige frivole Frau, und ich - nun, ich bin kein hohlköpfiger frivoler Mann.« Villiers richtete den Blick nach unten auf seine Schreibmaschine. »Dennoch wäre es wohl nicht sehr taktvoll, wenn ich heute noch weiterarbeiten würde, oder?«
»Soweit ich weiß, haben Sie und Ihre Frau den gestrigen Abend im Herrenhaus verbracht, Mr. Villiers?«
»Das ist richtig. Wir haben Bridge gespielt. Um halb elf haben wir uns verabschiedet, sind nach Hause gefahren und zu Bett gegangen.« Villiers sprach in schneidendem Ton, in dem eine nervöse Gereiztheit lag, die leicht in Wut umschlagen konnte. Er hustete und drückte sich die Hand auf die Brust. »Ich habe einen Bungalow in der Nähe von Clusterwell. Die Fahrt vom Herrenhaus dorthin hat gestern abend ungefähr zehn Minuten gedauert. Meine Frau und ich gingen gleich zu Bett.«
Sehr präzis und ordentlich, dachte Wexford. Als ob er zuvor einstudiert hätte, was er sagen wollte. »Wie hat Ihre Schwester gestern abend auf sie gewirkt? Normal? Oder machte sie einen aufgeregten Eindruck?«
Villiers seufzte. Mehr aus Langeweile denn aus Kummer, fand Wexford. »Sie war genau so wie immer, Chief Inspector, die allseits geliebte, gütige Gutsherrin. Sie spielte schon immer entsetzlich schlechtes Bridge, und gestern abend war es weder schlechter noch besser als sonst.«
»Wußten Sie, daß sie nächtliche Spaziergänge im Wald unternahm?«
»Ich wußte, daß sie nächtliche Spaziergänge im Park unternahm. Wahrscheinlich hat es deshalb dieses Ende mit ihr genommen, weil sie so dumm war, sich weiter zu wagen.«
»Es hat Sie also nicht gewundert, von ihrem Tod zu erfahren?« fragte Wexford.
»Ganz im Gegenteil, es hat mich sehr gewundert. Selbstverständlich war ich bestürzt. Aber nun, wo ich darüber nachgedacht habe, nein, da wundere ich mich nicht mehr so sehr. Frauen, die sich allein an abgelegenen Orten aufhalten, sind potentielle Mordopfer. Zumindest nach dem, was man so hört. Ich lese keine Zeitungen. Derlei Dinge interessieren mich nicht.«
»Jedenfalls haben Sie keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß Sie Ihre Schwester nicht mochten.« Wexford ließ den Blick in dem großen, ruhigen Zimmer schweifen. »Unter diesen Umständen ist es doch merkwürdig, daß ausgerechnet Sie sich von ihr so großzügig unterstützen ließen.«
»Ich lasse mich von meinem Schwager unterstützen, Chief Inspector.« Kreidebleich vor Wut oder einer anderen Regung, die Wexford nicht deuten konnte, sprang Villiers aus dem Stuhl auf. »Guten Morgen, Sir.« Er öffnete die Tür, und der düstere Treppenschacht tat sich gähnend vor ihm auf.
Wexford stand auf und wandte sich zum Gehen. Auf halbem Weg zur Tür blieb er plötzlich stehen und warf Villiers einen verwirrten Blick zu. Die Vorstellung, der Mann könne noch kränker, noch leichenhafter aussehen als zu Beginn ihrer Unterredung, schien unmöglich. Doch als er jetzt auf der Schwelle stand und sein dünnes Ärmchen ausstreckte, war aus dem graugelben Teint auch noch der letzte Rest von Farbe verschwunden.
Beunruhigt stürzte Wexford auf ihn zu. Villiers stieß ein seltsames leises Keuchen aus und verlor in seinen Armen das Bewußtsein.
 
»Dann wollen wir mal«, sagte Crocker, der Polizeiarzt und mit Wexford befreundet war. »Elizabeth Nightingale war eine guternährte und für ihr Alter ungewöhnlich gutaussehende Frau um die Vierzig.«
»Einundvierzig«, sagte Wexford, zog seinen Regenmantel aus und hängte ihn an den Haken hinter seiner Bürotür. Auf der Ecke seines Schreibtisches warteten einige Sandwiches mit kaltem Braten und eine Thermoskanne Kaffee auf ihn, die man ihm aus der Kantine ins Büro geschickt hatte. Er setzte sich in den großen Drehstuhl, und nachdem er eine Weile voller Widerwillen auf das oberste Sandwich gestarrt hatte, das sich an den Rändern schon einzubiegen begann, machte er sich seufzend darüber her.
»Der Tod«, sagte der Arzt, »trat infolge eines Schädelbruchs und zahlreicher Gehirnverletzungen ein. Es wurden mindestens ein Dutzend Schläge mit einem nicht sonderlich stumpfen Gegenstand aus Metall geführt. Ein Beil oder ein Messer scheidet aus, würde ich sagen, aber es muß etwas mit schärferen Kanten gewesen sein als zum Beispiel ein Bleirohr. Die Todeszeit - du weißt ja, wie schwer sich das abschätzen läßt - würde ich irgendwann nach dreiundzwanzig und vor ein Uhr ansiedeln.«
Burden saß an der Wand. Über seinem Kopf hing die amtliche Karte des Landkreises von Kingsmarkham, auf der die dunkle Fläche des Cheriton Forest wie der Umriß einer lauernden Katze aussah. »Die Durchsuchung von Park und Wald verlief bislang ohne Ergebnis«, sagte er. »An was für eine Waffe dachtest du?«
»Tut mir leid, Mike, aber das ist deine Aufgabe, alter Junge«, sagte Crocker, ging ans Fenster und schaute auf die High Street hinunter. Vielleicht fand er die vertraute Aussicht langweilig, denn er hauchte die Scheibe kräftig an und begann, in die von seinem Atem beschlagene Fläche ein Muster zu malen, das eine Topfpflanze oder das Schaubild des menschlichen Atmungssystems darstellen mochte. “Ich habe nicht den geringsten Anhaltspunkt. Könnte eine Blumenvase aus Metall oder sogar ein Küchengerät sein. Vielleicht auch ein ausgefallener Aschenbecher, eine Feuerzange oder ein Bierkrug.«
»Glaubst du?« fragte Wexford spöttisch, während er auf beiden Backen kaute. »Ein Kerl geht in den Wald, und weil er dort eine Frau umbringen will, bewaffnet er sich mit einem Schneebesen, ja, oder vielleicht mit einem Kochtopf? Da merkt einer, daß ihm seine Frau Hörner aufsetzt, deshalb zückt er die silberne Blumenvase, die er zufälligerweise in der Tasche mit sich herumträgt, und zieht ihr damit eins über den Schädel?«
»Willst du damit etwa sagen, daß du dir Quentin Nightingale, diese Stütze der Gesellschaft, als Verdächtigen ausgeguckt hast?« fragte der Arzt entsetzt.
»Er ist doch wohl auch nur ein Mensch, oder? Auch er kann einmal in Wut geraten. Ehrlich gesagt, ich würde mich lieber an ihren Bruder halten, diesen Villiers. Aber so wie der aussieht, ist er zu schwach, um auch nur Messer und Gabel zu halten, geschweige denn, um auf jemanden mit der Bratpfanne loszugehen.« Wexford aβ sein Sandwich auf und schraubte den Deckel auf die Thermoskanne. Dann drehte er sich auf dem Stuhl um und blickte den Arzt unverwandt und nachdenklich an. »Ich habe mit Villiers gesprochen«, sagte er. »Unter anderem machte er auf mich den Eindruck eines schwerkranken Mannes. Gelbliche Haut, zitternde Hände, das Übliche eben. Als ich mich eben von ihm verabschieden wollte, fiel er glatt in Ohnmacht. Eine Weile glaubte ich schon, er sei tot, aber er kam wieder zu sich, und ich verfrachtete ihn ins Herrenhaus.«
»Er ist Patient bei mir«, sagte Crocker, wischte seine Zeichnung mit der Handkante aus und gab Wexford den Blick auf seine Lieblingsaussicht mit den alten Hausgiebeln und den mächtigen Sussexbäumen frei. »Die Nightingales sind Privatpatienten bei irgendeinem feinen Snobiety-Arzt, aber Villiers kommt schon seit Jahren zu mir in die Praxis.«
»Und als wahrer Priester der medizinischen Konfession«, wandte sich Wexford ironisch an ihn, »hast du natürlich vor, was immer ihm fehlen mag, in deinem hippokratischen Herzen zu verschließen.«
»Das würde ich schon, nur müßte es dazu auch etwas geben, das ich dort verschließen könnte. Rein zufällig ist er aber mindestens so gesund wie du.« Crocker musterte den schwergewichtigen Wexford und faßte dabei die vorstehenden purpurnen Adern auf seiner Stirn ins Auge. »Wenn nicht gesünder«, fügte er kritisch hinzu.
Mühsam zog Wexford die Bauchmuskeln ein und drückte das Kreuz durch. »Wenn das keine Überraschung ist!« meinte er. »Ich dachte, es sei Krebs, aber offenbar handelt es sich um eine seelische Qual, die an seinen rosaroten Wangen zehrt. Schuldgefühle zum Beispiel. Wie alt ist er?«
»Na hör mal...«, sagte der Arzt und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her.
»Nun hab dich mal nicht so. Das Alter eines Mannes gehört wohl kaum zu den Dingen, die er seinem Quacksalber nur hinter dem sterilen grünen Schirm des Sprechzimmers anvertraut...«
»Er ist achtunddreißig.«
»Achtunddreißig! Er sieht zehn Jahre älter aus, und selbst dann noch ziemlich krank. Lieber Himmel, im Vergleich zu ihm ist Mike der reinste Pennäler.«
Zwei alternde Augenpaare richteten sich forschend auf Burden, der bescheiden den Blick abwandte, dabei aber eine selbstgefällige Miene aufsetzte. Ziemlich reizbar hakte der Arzt nach: »Es ist mir ein Rätsel, weshalb du darauf herumreitest, daß er einen so kränklichen Eindruck macht. Er verlangt sich zuviel ab, das ist alles. Und so krank oder so alt sieht er gar nicht aus.«
»Heute schon«, sagte Wexford.
»Das liegt am Schock«, erklärte der Arzt. »Was erwartest du denn, wenn ein Mann erfährt, daß seine Schwester ermordet wurde?«
»Genau das, bloß hat er sie offenbar auf den Tod nicht ausstehen können. Du hättest hören sollen, was für hochherzig brüderliche Dinge er über sie zu sagen hatte. Ein üblerer Kunde als dieser Mr. Villiers ist mir schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Auf geht’s, Mike, wir besuchen jetzt einige Damen, die unter dem Eindruck Ihres aufreizenden und - wenn ich so sagen darf - jungenhaften Charmes auftauen und uns ihr Herz ausschütten werden.«
Gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug nach unten, wo sich der Arzt auf der Treppe des Reviers von ihnen verabschiedete. Der Wind hatte sich inzwischen völlig gelegt, doch auf der High Street lagen immer noch die Überbleibsel verstreut, die der Sturm hinter sich zurückgelassen hatte: abgeknickte Zweige, ein winziges leeres Buchfinkennest, das aus einer hohen Baumkrone geweht worden war, und da und dort ein Ziegel von einem alten Dach.
Mit Bryant hinterm Steuer verließen sie die Stadt auf der Straße nach Pomfret, auf der sie kurz danach links nach Myfleet abbogen. Der Weg führte sie an der Kingsmarkhamer Jungenschule vorbei, einer Grammar School, die offiziell unter dem Namen »King-Edwardthe-Sixth-Stiftung für die Söhne von Freisassen, Bürgern und besseren Leuten« firmierte. Gegenwärtig waren die Söhne über die Sommerferien zu Hause, und das im Tudorstil erbaute Gebäude aus braunem Ziegelstein bot ein verlasseneres und ordentlicheres Bild als während der Schulzeit. Da die Zahl der Freisassen und Bürger - wenn vielleicht auch nicht die der besseren Leute - in letzter Zeit besorgniserregend angewachsen war, hatte man vor fünf Jahren hinten an der linken Seite der alten Schule einen großen neuen Flügel hinzugebaut, der von Reaktionären damals als Monstrosität bezeichnet worden war.
Die Schule strahlte eine gewisse Würde und Erhabenheit aus, die vielen Großbauten aus dieser Zeit eigen ist, und voller Verachtung für die pädagogischen und standortbedingten Vorzüge der Gesamtschule in Stowerton setzten die meisten Eltern aus Kingsmarkham ihren Ehrgeiz darein, ihre Sprößlinge dort unterzubringen. Was waren auch schon ein hochmoderner naturwissenschaftlicher Labortrakt, eine zum Trampolinspringen geeignete Sporthalle oder ein Schwimmbecken von olympischen Abmessungen im Vergleich mit der Gelegenheit, vor ihren Bekannten mit historischen Portalen und ausgetretenen Steinstufen prahlen zu können, die schon die Füße des Sohnes von Heinrich dem Achten (wenngleich nur ein einziges Mal) abgewetzt hatten? Überdies ließ sich, falls der Sohn ins ⊃King’s⊂ ging, wie man die Schule allgemein nannte, gegenüber Uneingeweihten überzeugend vorheucheln, er besuche eine Privatschule, und somit verbergen, daß in Wahrheit der Staat für die Ausbildung aufkam.
Burden, dessen Sohn vor einem Jahr dort aufgenommen worden war, nachdem er eine mehrteilige und schwierige Aufnahmeprüfung bestanden hatte, sagte nun:
»Dort unterrichtet Villiers.«
»Seine Fächer sind Latein und Griechisch, nicht?« Burden nickte. »Er hat John in Latein. Griechisch unterrichtet er wohl bei den Älteren. John sagt, daß er oft noch nach Schulschluß in der Bibliothek arbeitet. Die Bibliothek ist da hinten im Anbau untergebracht.«
“Recherchen für seine Bücher?«
»Die Bibliothek ist jedenfalls phantastisch. Ich kenne mich in diesen Dingen zwar nicht sonderlich aus, aber am Tag der offenen Tür habe ich sie mir mal angesehen und war schwer beeindruckt.«
»Kann ihn John leiden?«
»Sie wissen ja, wie Jungs so sind, Sir«, antwortete Burden. »Die Rowdies in Johns Klasse nennen ihn den ⊃alten Ablabs⊂. Einer, der tüchtig durchgreift, würde ich meinen.« Und der Vater, der am Morgen noch seinen Sohn mittels einer unverdienten Gabe von fünfzig Pence besänftigt hatte, fügte im Brustton der Überzeugung hinzu: »Wenn Sie mich fragen, muß man schon strenge Saiten aufziehen, damit diese Bengel nicht einfach Schlitten mit einem fahren.«
Innerlich grinsend, wechselte Wexford das Thema. »Es gibt drei zentrale Fragen, auf die ich gern eine Antwort hätte: Warum hat Quentin Nightingale um fünf Uhr früh gebadet? Oder umgekehrt, warum gibt er das vor? Warum hat Sean Lovell behauptet, er habe sich gestern abend eine Sendung im Fernsehen angesehen, die im letzten Moment ausgefallen ist? Und warum ist Elizabeth Nightingale mit jedermann gut ausgekommen, nur nicht mit ihrem Bruder?«
»Nun, was das betrifft, Sir, weshalb hatte sie keine engen Freunde?«
»Vielleicht hatte sie welche. Das müssen wir erst noch herausfinden. Wir sind jetzt gleich in Clusterwell, Mike. Wissen Sie zufällig, welches Haus Villiers gehört?«
Burden richtete sich auf und wandte den Blick zum Fenster. »Es steht außerhalb des Dorfs, Richtung Myfleet. Wir sind noch nicht da, dauert noch einen Moment... Fahren Sie bitte mal etwas langsamer, Bryant. Da ist es, Sir, das freistehende Haus dort.«
Mit leichtem Stirnrunzeln betrachtete Wexford den für sich stehenden Bungalow. Es war ein niedriges Haus mit zwei traufseitigen Giebeln, unter denen Erkerfenster hervorragten.
»Bräuchte mal wieder einen neuen Anstrich«, sagte Burden und verglich es mit seinem behaglichen, demnächst völlig neugestrichenen Heim, wobei Villiers’ Bungalow schlecht abschnitt. »Die Bruchbude sieht ziemlich schäbig aus. Man sollte doch meinen, er könnte sich wenigstens eine ordentliche Garage leisten.«
Der Vorgarten war mit einer Unmenge Maßliebchen bewachsen, alle von der gleichen Farbe. Auf einer Seite führte eine lange, rissige und aufgeplatzte Betonauffahrt zu einer Fertiggarage mit einem Dach aus geteerter Asbestpappe.
In der Einfahrt vor dem Asbesttor stand ein schwarzer Morris, der erst vor kurzem gewaschen worden sein mußte, denn auf der Karosserie waren noch feuchte Stellen zu sehen, und in dem Schlagloch unter seiner hinteren Stoßstange stand eine kleine Pfütze.
»Das ist doch merkwürdig«, sagte Wexford. »Stellen Sie sich vor, Ihre Schwester wird ermordet, und Sie fallen in Ohnmacht, als Sie davon erfahren, aber ein paar Stunden später sind Sie schon wieder auf den Beinen, um Ihr Auto zu waschen und kräftig zu polieren.«
»Das ist nicht sein Wagen«, wandte Burden ein. »Er fährt einen Anglia. Der hier gehört seiner Frau.«
»Wo steht dann seiner?«
»Noch beim Herrenhaus, nehme ich an, oder in dieser armseligen Notgarage.«
»Direkt schlammig war es gestern im Wald wohl kaum, was meinen Sie?«
»Morastig«, sagte Burden. »Am Wochenende hat es geregnet, falls Sie sich noch erinnern.«
»Fahren Sie weiter, Bryant. Wollen wir die Villiers noch eine Weile ungestört ihren häuslichen Frieden genießen lassen.«
 
Der erste Mensch, dem sie in Myfleet begegneten, als sie im Dorf parkten, war Nelleke Doorn, die gerade mit einer Tüte Obst und einer Shampooflasche aus dem Gemischtwarenladen kam. Sie kicherte erfreut bei ihrem Anblick.
»Wissen Sie zufällig, in welchem Haus die Lovells wohnen, Miss Doorn?« fragte Burden sie linkisch.
»Ja, Sie schauen, es ist das da drüben.« Sie zeigte mit dem Finger darauf, wobei sie sich an den Arm des Inspectors klammerte und ihn, wie Wexford es später ausdrückte, mit ihren entzückenden Rundungen fast auffraß. »Das schmutzigste in ganze Dorf.« Als Vertreterin der vielleicht ordnungsliebendsten Nation auf Erden schauderte sie, und zum erstenmal während ihrer kurzen Bekanntschaft verschwand der freundliche Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Sie leben dort wie Schweine, glaube ich. Seine Mutter ist eine sehr eklige dreckige Frau, ganz fett.« Keine zwanzig Zentimeter von ihrer üppigen Figur entfernt, malte sie den Umriß eines riesigen Cellos in die Luft.
Wexford lächelte sie an. »Haben Sie eine Ahnung, ob die dicke Dame zu Hause ist?«
Nelleke schenkte seinem Lächeln keine Beachtung. Ihr Blick galt Burden. »Möglich«, sagte sie und zuckte mit den Achseln. »Was diese Schweineleute alles treiben, wissen ich nicht. Könnten Sie Lust haben auf eine gemütliche Tasse Tee? Ich glaube, Sie arbeite sehr hart und würde gern eine Tasse Tee mit mir trinken, während Ihr Chef in die dreckige Hütte geht.«
»O nein - nein, danke«, lehnte Burden entsetzt ab.
»Dann vielleicht morgen«, sagte Nelleke und nahm eine Haarsträhne in den Mund. »Jeden Abend bin ich frei, und morgen muß meine Freund Überstunden machen beim Getränkeservieren - ist Tanz im Hotel. Ja nicht vergessen!« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Jetzt sage ich auf Wiedersehen. Holen Sie nichts Schlimmes sich in diese sehr dreckige Haus.«
In gerader Haltung und mit hin und her wippendem blonden Haar tänzelte sie über die Straße auf das Tor zu, das zum Herrenhaus führte. Dort blieb sie stehen und winkte ihnen, wobei sich unter dem bauschigen rosa Sweater ihre aufgerichteten runden Brüste deutlich abzeichneten.
Wexford winkte zurück und wandte sich dann lachend ab. »Jede Wette, die will Ihnen auch den Kopf verdrehen!«
»Eine gräßliche junge Person«, meinte Burden kühl.
»Ich finde sie reizend.«
»Lieber Himmel, wenn ich denke, meine Tochter...«
»Um Gottes willen, Mike. Auch ich bin ein verheirateter Mann und ein treuliebender Gatte.« Sein Grinsen verschwand, als Wexford sich über den stattlichen Bauch strich. »Viel anderes bleibt mir ja auch nicht übrig. Aber manchmal...« Er seufzte. »Mein Gott, was würde ich nicht darum geben, noch einmal dreißig zu sein! Sehen Sie mich nicht so an, Sie kaltherziges Monstrum. Da ist ja schon die dreckige Hütte, hoffen wir bloß, daß wir uns bei unserer nachmittäglichen Arbeit nichts Schlimmeres holen als eine nostalgie de boue.«
»Eine was?« fragte Burden, während er versuchte, das Gartentor zu öffnen, ohne mit den Brennesseln in Berührung zu kommen, die es überwuchert hatten.
»Das ist nur ein langer Name für eine Art chronische Seuche«, erklärte Wexford mit einem wehmütigen Lächeln. Beim Anblick von Burdens ungläubig mißtrauischer Miene lachte er hellauf. »Keine Sorge, Mike, sie ist nicht ansteckend und befällt nur die Alten.«
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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