9
Verächtlich und ungläubig hörte sich Burden den aufs Wesentliche beschränkten und bis zu einem gewissen Grad gereinigten Bericht über die beiden Gespräche des Chief Inspectors an. Er rief Ekel und kalten Zorn in ihm hervor. Jeder, der Wexford weniger gut kannte als er, hätte glauben können, der Chief Inspector sei von dem für Burden schleierhaften Charme dieser unmoralischen jungen Holländerin völlig hingerissen.
»Ich verstehe nicht«, sagte er vom Fenster in Wexfords Büro aus, wo er einen Knoten in der Schnur der Jalousie aufdröselte, »weshalb Sie annehmen, die beiden seien durch diese Geschichte aus dem Schneider.« Er entwirrte die Schnur und wickelte sie in Form einer Acht um die Haken. Burden hielt sehr auf Ordnung und Sauberkeit, selbst in anderer Leute Arbeitsbereich. »Im Gegegenteil, sie könnten doch beide unter einer Decke stecken. Sie haben nur das Wort dieses Mädchens, daß er - äh, sich um Viertel nach elf zu ihr gesellt hat. Es könnte auch später gewesen sein. Sie deckt ihn natürlich.«
“Ach? Und weshalb sollte sie das? Was hätte sie davon, sich zur Komplizin bei dem Mord an der Frau ihres Arbeitgebers zu machen?«
Burden stierte ihn an. Also manchmal war der Alte fast schon begriffsstutzig.
»Was sie davon hätte? Natürlich Nightingale heiraten zu können.«
»Sagen Sie nicht dauernd ‘natürlich«. Daran ist gar nichts natürlich. Und nehmen Sie die Finger von der Jalousie. Manchmal glaube ich, Sie leiden unter Zwangsneurosen, dauernd müssen Sie überall Ordnung machen. Hören Sie mir mal zu, Mike. Sie müssen Ihre Ansichten mal ein wenig überholen. Sie sind zwar erst sechsunddreißig, aber so verknöchert und altmodisch, daß es schon fast nicht mehr wahr ist. Als erstes möchte ich mal klarstellen, daß ich Nightingale glaube. Ich nehme ihm seine Geschichte ab, weil ich einen Instinkt habe, der mir sagt, ob ich die Wahrheit höre oder nicht. Ich glaube nicht, daß er zu Gewalttätigkeiten fähig ist. Falls er der Meinung wäre, daß seine Frau einen Geliebten hat - und falls ihm das überhaupt etwas ausmachen würde, was wichtiger ist -, würde er sich einfach scheiden lassen. Zweitens ist Nelleke Doorn keine neue Lady Macbeth. Sie ist eine moderne junge Frau, die das Leben in vollen Zügen genießt, und zu den Dingen, die ihr Spaß machen, gehört eben auch eine Menge angstfreier Sex.«
Bei diesen Worten errötete Burden leicht und blinzelte verblüfft. Er bemühte sich um einen abgeklärten Gesichtsausdruck, was ihm mißlang.
»Welchen Grund haben wir zu der Annahme, daß sie Nightingale heiraten will? Für sie ist er doch ein alter Mann«, fuhr Wexford weltmännisch fort. »Das hat sie praktisch selbst gesagt. Trotz ihres unmoralischen Lebenswandels, wie Sie das ausdrücken würden, ist sie ein nettes, normales Mädchen, das schaudernd vor dem Gedanken zurückschrecken würde, mit einem Mann ins Bett zu gehen, der gerade seine Frau ermordet hat. Mike, bei diesen Mordfällen in Privathaushalten müssen wir unsere Denkgewohnheiten radikal ändern. Die Zeiten haben sich gewandelt. Heutzutage halten junge Mädchen die Ehe nicht mehr für das A und O des Lebens. Mädchen wie Nelleke helfen einem Mann nicht bei der Ermordung seiner Frau, damit er sie ehrbar machen kann. Sie halten sich nicht für entehrt, nur weil sie keine Jungfrauen mehr sind. Und falls Sie vermuten, Nelleke sei auf sein Geld scharf, so glaube ich kaum, daß sie sich über Geld schon viele Gedanken macht. Das kommt vielleicht noch. Im Moment ist sie darauf aus, sich ohne Reue zu amüsieren.«
»Manchmal frage ich mich«, sagte Burden wie ein alter Mann, »wo das noch hinführen soll mit dieser Welt.«
»Darüber mögen sich andere Leute den Kopf zerbrechen. Hier haben wir genug eigene Probleme. Wir haben eine Hypothese aufgestellt, die nun widerlegt wurde. Was nun? Mir scheint, wir können in zwei Richtungen weiterermitteln. Wer war Mrs. Nightingales Geliebter? Wer hatte Zugang zu der Taschenlampe?«
»Haben Sie schon den Laborbericht darüber?«
Wexford nickte. »Es fanden sich Blutspuren am unteren Gewinde, an der Lampenfassung und unter dem Schalter. Die Blutgruppe - eine seltene Blutgruppe übrigens, AB negativ - stimmt mit der von Mrs. Nightingale überein. Es besteht kein Zweifel, daß die Taschenlampe die Tatwaffe war.«
»Wer hatte also Zugang zu der? Wer hat sie heute morgen zurückstellen können?«
Wexford zählte die Betreffenden an den Fingern ab. »Nightingale, Nelleke, Mrs. Cantrip, Will Palmer, Sean Lovell, Georgina Villiers - oh, und Lionel Marriott. Ziemlich lange Liste. Auf die können wir auch Villiers setzen, da Georgina sie an seiner Stelle zurückgebracht haben könnte. Und wie steht es nun mit Sean? Er hat seine Bewunderung für Mrs. Nightingale eingestanden. Er ist jung und hitzköpfig, folglich auch eifersüchtig. Vielleicht hat sie sich nicht mit ihm getroffen, aber möglicherweise hat er sie mit dieser Person beobachtet. Sein Alibi ist miserabel. Er hatte Zugang zu der Taschenlampe; sein Garten grenzt direkt an den Wald.«
»Dem Alter nach hätte sie seine Mutter sein können«, gab Burden zu bedenken.
Wexford lachte, ein kehliges Wiehern. »Lieber Himmel, Mike, Sie haben aber auch gar keine Ahnung vom Leben. Wenn er ein Verhältnis mit ihr gehabt hat, dann gerade weil er zwanzig und sie vierzig war. Das ist wie...« Er hielt kurz inne und führte den Satz dann mit scheinbarer Gleichgültigkeit zu Ende. »... wie bei Männern mittleren Alters und jungen Mädchen. Das kommt immer wieder vor. Waren Sie nie in eine Freundin Ihrer Mutter verschossen?«
»Aber nein!« rief Burden empört. »Die Freundinnen meiner Mutter waren wie Tanten für mich. Ich redete sie auch mit Tante an. Sogar heute noch, was das betrifft. Was ist daran so komisch?«
»Sie«, sagte Wexford, »und wenn ich nicht lachen müßte, würde ich glatt den Verstand verlieren.«
Burden war an derlei Sprüche gewöhnt, fühlte sich aber dennoch tief beleidigt. Er hielt es für unanständig, ein betrübliches Zeichen der Zeit, daß man sich über jemanden lustig machte, weil er noch strenge Grundsätze und eine schickliche Lebensauffassung vertrat. Er hüstelte leise und trocken, dann sagte er:
»Ich werde mir noch mal Ihren Lieblingsverdächtigen vorknöpfen, den jungen Lovell.«
»Tun Sie das.« Wexford warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Um vier habe ich eine Verabredung.« Er grinste. »Eine Verabredung mit jemandem, der noch ein bißchen mehr Licht in die Vergangenheit gewisser Leute bringen wird.«
Wexford parkte hundert Meter vor den Schultoren in gehörigem Abstand zu den Autos der Eltern, die ihre Sprößlinge abholen wollten. Kricketspieler in mit Grasflecken verschmutztem Weiß trabten in Zweierreihen vom Spielfeld, als die Uhr im Schulturm vier schlug. Wenn die Schüler des King’s vielleicht auch sonst nicht pünktlich waren, beim Verlassen der Schule konnte man die Uhr nach ihnen stellen. Der letzte Glockenschlag war noch nicht verklungen, als sich ein Strom von lachenden und sich herumschubsenden Schülern durch die Tore wälzte; an die Regeln der Verkehrserziehung, die ihnen, wie Wexford gedacht hatte, durch die Beamten vom Verkehrsdezernat gründlich eingebleut wurden, schien keiner der Jungen einen Gedanken zu verschwenden. Nur die hochnäsigen Schüler der Abschlußklassen gingen gelassenen Schrittes und zündeten sich Zigaretten an, sobald sie in den Schatten der ausladenden Bäume gelangten.
Denys Villiers fuhr in seinem dunkelblauen Anglia aus dem Schulhof. Er betätigte mehrmals die Hupe, um Jungen von der Straße zu vertreiben, streckte den Kopf aus dem Fenster und rief etwas, das Wexford nicht hören konnte. Sein Ton verriet alles. Hätte der Mann eine Peitsche gehabt, hätte er sicherlich Gebrauch von ihr gemachte, dachte Wexford. Er wandte den Kopf und sah Marriott durch das Haupttor schlendern. Als der kleine Mann an Wexfords Auto vorbeigegangen war, kurbelte der Chief Inspector das Fenster herunter und zischelte:
»‘Ein Teufelsgeist verfolgt Euch, dicht auf den Fersen stets!’«
 
Marriott zuckte zusammen, gab sich einen Ruck und lächelte.
»Ein äußerst überschätztes Gedicht - zumindest meiner Meinung nach«, sagte er.
»Allerdings. Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir über Gedichte zu sprechen. Hast du mich sitzenlassen wollen?«
Marriott ging um die Motorhaube herum und stieg in den Wagen.
»Offen gestanden ja. Ich habe mir gedacht, du würdest mir eine Standpauke halten, weil ich heute vormittag ins Herrenhaus gegangen bin. Sei so lieb und fang also jetzt nicht damit an. Ich habe einen mehr als aufreibenden Nachmittag hinter mir, weil ich Das verlorene Paradies in der Untertertia einführen mußte, mehr halte ich jetzt einfach nicht aus.«
»‘Der Geist’«, zitierte Wexford, »‘ist selbst sein eigner Ort und macht aus Himmel Hölle sich, aus Hölle Himmel.’«
»Ja, alles schön und gut. Aber ich bin anders. Mein Geist macht sich eine Hölle aus der Hölle. Drück mal auf die Tube, Schätzelchen, damit wir möglichst schnell ein großes Glas in Händen halten. Ich nehme an, du willst unterwegs den nächsten Teil meiner ergötzlichen Erzählung hören.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, sagte Wexford, ließ das Auto an und fädelte sich in den Verkehr ein.
»Wo war ich stehengeblieben?«
»Bei Villiers’ erster Frau.«
»June«, sagte Marriott. »Sie konnte mich nicht leiden. Meine Güte, nein, wirklich nicht. Sie meinte, ich könnte mich nützlicher machen, wenn ich in einem Jugendgefängnis unterrichtete. Weißt du, was sie zu Quentin gesagt hat, als sie zum erstenmal das Herrenhaus besuchte? ‘Ich halte es für einen Skandal’, hat sie gesagt, ‘daß zwei Menschen ganz allein in diesem Riesenschuppen wohnen. Man sollte eine Nervenklinik daraus machen.’ Den armen Quen hätte fast der Schlag getroffen. Sein geliebtes Haus! Aber das war typisch June. Sie hatte Soziologie studiert und als so eine Art Bewährungshelferin gearbeitet.
Sie und Denys hatten eine furchtbare Wohnung über der Tierhandlung in der Quen Street. Du weißt ja, wo ich meine. Ich war nur einmal dort, das reicht mir fürs Leben. Der Gestank von verwesendem Pferdefleisch, vielen Dank, und überall hockten Junes komische Freunde herum. Abends trafen die sich dort immer scharenweise, bierernst und fest entschlossen, die Welt in Ordnung zu bringen. Schluß mit dem Atomtod war damals das Neueste, du weißt schon, und June pflegte in ihrer Wohnung Versammlungen darüber abzuhalten, darüber und über die Hungerhilfe, bevor die Hungerhilfe überhaupt in Mode kam. June war so eine richtige Berufsdemonstrantin. Wenn es mal wieder Krawall auf dem Grosvenor Square gibt, sehe ich mir immer die Zeitungsfotos ganz genau an, denn irgendwann, da bin ich hundertprozentig sicher, werde ich auf ihr Gesicht stoßen.«
»Sie ist also nicht gestorben?« fragte Wexford, als sie auf die High Street einbogen.
»Lieber Himmel, nein. Denys hat sich von ihr scheiden lassen - oder sie sich von Denys. Wer von wem, weiß ich nicht mehr. Weshalb sie überhaupt geheiratet haben, ist mir ein Rätsel. Sie hatten weiß Gott nichts gemeinsam. Sie konnte Quen und Elizabeth nicht leiden und sah es gar nicht gern, daß Denys so oft ins Herrenhaus ging. Sich reaktionären Elementen anschloß, so nannte sie es.«
»Wenn er seine Schwester nicht mochte, warum ist er dann so oft hingegangen?«
»Ganz einfach deshalb, weil er und Quen von Anfang an hervorragend miteinander auskamen«, sagte Marriott, als Wexford die Straßenmitte ansteuerte, um rechts abzubiegen. »Quen war Feuer und Flamme, als er erfuhr, daß er einen vielversprechenden Schriftsteller zum Schwager hatte, und er betrachtete sich wohl als sein Mäzen.« Gemächlich rollte der Wagen die Gasse entlang, bis Wexford vor dem weißen, mit Blumen geschmückten Haus anhielt. »Jedenfalls muß sich Denys irgendwann einmal bei ihm beklagt haben, daß er in seiner häuslichen Umgebung unmöglich arbeiten könne, und Quen machte ihm den Vorschlag, im ‘Old House’ zu schreiben. Laß uns ins Haus gehen, Reg, ich komme um vor Durst.«
In den Zimmern, wo die Party stattgefunden hatte, roch es noch stark nach Zigarrenrauch. Jemand hatte aufgeräumt und den Abwasch erledigt. Vermutlich Hypatia, dachte Wexford, während Marriott sämtliche Fenster aufriß.
»Schön, Reg, die Cocktailstunde ist angebrochen, wie man so sagt. Es ist vielleicht noch ein bißchen früh, aber auf dem Land findet alles ein bißchen früher statt, nicht wahr? Was soll’s denn sein? Whisky? Gin?«
»Eine Tasse Tee wäre mir lieber«, sagte Wexford.
»Ernsthaft? Wie merkwürdig. In Ordnung, ich setze den Kessel auf. Ich muß schon sagen, Hypatia hat hier sehr gewissenhaft aufgeräumt. Ich darf nicht vergessen, das zu erwähnen, wenn ich sie mal wieder sehe.«
Wexford ging hinter ihm in die Küche. »Sie wohnt also nicht hier?«
»O nein. Das wäre mir gar nicht recht.« Marriott rümpfte verächtlich die Nase. »Wenn sie einem erst mal auf der Pelle sitzen, ist man nicht mehr sein eigener Herr.« Er warf Wexford einen verschlagenen Seitenblick zu. »Vielfalt statt Einfalt ist meine Devise.«
Wexford lachte. »Du bist wohl ein richtiger Schürzenjäger, Lionel?«
»Man hat so seine Erfolge«, erwiderte Marriott bescheiden. Er gab drei Löffel Earl Grey in die Teekanne und schüttete behutsam das kochende Wasser darüber. »Soll ich mit der Geschichte fortfahren?«
»Bitte.«
»Wie ich schon sagte, war es June gar nicht recht, daß Denys im Herrenhaus arbeitete. Die meisten Abende verbrachte er nämlich ohnehin dort und schwatzte mit Quen, und in den Ferien ging er nun tagtäglich zum Arbeiten hin. Sie fand, er sollte mehr mit ihr unternehmen, also Transparente schwenken und Sprüche an Hausmauern pinseln. Deshalb hat sie ihm den Laufpaß gegeben.«
»Und ihn seiner ménage ä trois überlassen?«
»Wenn man so sagen will. Ein Dreiecksverhältnis war zwar zweifellos vorhanden, aber es war kein gleichschenkliges Dreieck. Der armen Elizabeth fiel die Rolle des spitzen Winkels zu. Ich war stets aufs neue davon fasziniert, wenn ich dort zu Besuch war, wie Denys und Quen völlig ineinander aufgingen; Bücher, Bücher, Bücher, mein Lieber, Wordsworth-Zitate prasselten auf einen herab, daß es einem in den Ohren klang, und dann raunten die beiden sich noch zu, sie schöpften ihre Gedanken aus Tiefen, welche Tränen nicht betaun. Die ganze Zeit über saß die arme Elizabeth nur da, las die Vogue und konnte sich überhaupt nicht am Gespräch beteiligen.«
»Ich glaube, du hast bestimmt ein Thema gefunden, über das ihr plaudern konntet«, sagte Wexford und trank seinen Tee. »Mir ist noch nie jemand begegnet, der so gut über - wie soll ich es ausdrücken? - die alltäglichen Nichtigkeiten Bescheid wußte.«
»Reg, manchmal bist du hundsgemein. Eines möchte ich aber klarstellen: Elizabeth war keineswegs eine geistlose Frau. Auf ihre Art war sie nicht minder intelligent als Denys.«
»Da ist er zwar anderer Meinung, aber reden wir nicht mehr davon.«
»Warum sitzen wir eigentlich hier draußen? Ich habe Küchen noch nie leiden können, außerdem lechze ich nach meinem Gin. Prima, der Zigarrenqualm hat sich verzogen.«
Marriott holte sich ein Glas und schob zwei Stühle an die offene Terrassentür. In dem kleinen, von einer Mauer umgebenen Garten wimmelte es von Schmetterlingen, die den Nektar des Fliederspeers aufsaugten und sich mit ausgebreiteten Flügeln auf den Steinen sonnten. Wexford ließ sich an einer Stelle nieder, wo er die kostbare Septembersonne spüren konnte, die sich bald rar machen würde. Die Wärme rief eine gewisse Trägheit in ihm hervor, und er ermahnte sich streng, geistig auf dem Posten zu bleiben.
“Villiers verbrachte demnach ziemlich viel Zeit im Herrenhaus?« fragte er.
»Glaube mir, man konnte praktisch keinen Fuß in das Haus setzen, ohne über ihn zu stolpern. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, damit er und Quen sich herzlich satt bekamen, ging er auch noch in Urlaub mit ihnen.«
»Das muß schlimm für Mrs. Nightingale gewesen sein, vor allem, weil die beiden sie von ihren Gesprächen ausschlossen. Für was hat sie sich eigentlich interessiert?«
Marriott biß sich auf die Unterlippe und schien nachzudenken. »Laß mich mal überlegen«, sagte er mit der Miene dessen, der die Tiefen seiner Erinnerung auslotet. »Nun, sie nahm aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, organisierte Veranstaltungen, saß in Komitees und so was. Daneben wandte sie mehrere Stunden am Tag für ihre Schönheitspflege auf. Sie kümmerte sich um die Blumen, arbeitete ein bißchen im Garten...«
»Wirklich?« unterbrach ihn Wexford. “Vielleicht im Gewächshaus, zusammen mit Sean Lovell?«
»Auf was willst du damit nur hinaus, alter Junge?«
»Um es mit einem von Wordsworth’ Zeitgenossen auszudrücken:
‘Was Menschen Liebelei und Götter Sünde nennen
Gedeiht viel besser dort, wo schwüle Dämpfe
sengen.’«
Marriott lächelte und machte große Augen. »Daher weht also der Wind?«
»Na, mit dem alten Sir George Larkin-Smith wird sie sich kaum heimlich im Wald getroffen haben. Auch der Pfarrer von Myfleet und Will Palmer dürften wohl ausscheiden. Es sei denn, du warst es, Lionel.«
»Ich war schon gespannt, wann du mich das fragen würdest.« Marriott rekelte sich wohlig im Sonnenschein und lachte. »Tut mir leid, aber ich war’s nicht. Und falls es dir wirklich ernst damit ist, Reg, wird dir Hypatia gern erklären, wo ich war. Das heißt wohlgemerkt nicht, ich hätte etwas gegen die Gelegenheit einzuwenden gehabt...«
»Hast du es vielleicht sogar bei ihr probiert?«
»Vielleicht.«
Nun war Wexford mit Lachen an der Reihe. »Folglich landen wir wieder bei Sean Lovell, oder?«
»Sie mochte Sean«, sagte Marriott. »Ich habe sie einmal getroffen, als sie aus dem Plattenladen hier in der High Street kam. Sie hatte gerade eine Single mit der Nummer eins der Hitparade gekauft. ‘Schließlich muß ich mit meinem kleinen Minnesänger Schritt halten’, hat sie gesagt. ‘Im Grunde ist er der einzige echte Nightingale in Myfleet - wir andern sind bloß komische Käuze.’ Fand ich ziemlich witzig. Elizabeth war nicht auf den Kopf gefallen.«
»Eine ungewöhnliche Bemerkung«, sagte Wexford.
»Ah, ich weiß nicht. Du liest da zuviel hinein, mein Bester. Ihr Polizisten seid alle furchtbar lüstern. Sean stellte sich manchmal unter Elizabeths Fenster und brachte ihr ein Ständchen. Vermutlich fühlte sie sich dadurch geschmeichelt und kam sich jünger vor. Es war ein Fall von vergötternder Huldigung auf der einen und geschmeicheltem Gewährenlassen auf der anderen Seite.«
»Kommen wir noch mal auf Villiers zurück«, schlug Wexford vor. »Aber hättest du vielleicht erst noch eine Tasse Tee für einen armen, alten lüsternen Polizisten?«
Myfleet wirkte sogar im Winter hübsch. Wie das Dorf nun in seiner Senke unterhalb des Walds in mildes Sonnenlicht getaucht lag, schien es einen Dornröschenschlaf zu träumen. An diesem Nachmittag war es völlig entvölkert; nur die Blumen in den Vorgärten standen im Freien und genossen die Sonne.
Burden fuhr von Kingsmarkham bis zum Eingang des Dorfs und beschloß, den restlichen Weg zu Fuß zu gehen. Der Tag schien wie gemacht zum Spazierengehen, zum genüßlichen Einatmen des Geruchs reifender Früchte und zum Bewundern der großen, vielblütigen Dahlien, die für eine Blumenausstellung oder ein Erntedankfest gezüchtet wurden.
Doch er hatte sich geirrt, als er das Dorf für völlig ausgestorben hielt. Während er nun zum Herrenhaus ging, bemerkte er Mrs. Lovell, die sich im Gespräch mit einem dunkelhäutigen Mann mit einer Mütze, der zwei tote, blutige Hasen im Arm hielt, über das Gartentor ihres anrüchigen Hauses lehnte. Die verschlagenen Blicke, die er zum Herrenhaus sandte - obwohl vermutlich sehr naheliegend angesichts ihres Gesprächsstoffs, denn worüber konnten sie sich unterhalten, wenn nicht über das augenblickliche Thema Nummer eins in Myfleet? -, verliehen ihm das Aussehen eines Wilderers. Mrs. Lovells rückhaltloses schallendes Gelächter ermutigte ihn in seinen Ausführungen.
Burden traf Sean im Stammhaus an, wo er Äpfel aus einem Eimer in die alten Gestelle umsortierte. Sie stammten alle von der gleichen Sorte - Beauty of Bath - und hatten hellrote und goldgelbe gemaserte Schalen, die schimmerten wie alte Seide. Der Junge pfiff vor sich hin, hörte aber, als Burden eintrat, sofort damit auf.
»Sie kommen wohl oft hierher?« fragte Burden milde. »Haben Sie sich hier immer mit Mrs. Nightingale getroffen?«
»Ich?« Er warf Burden einen mürrischen Blick zu, ließ sich auf einem Stoß Weißbirkenholz nieder und drehte sich eine Zigarette. »Es wäre nützlich«, sagte er, »wenn ich wüßte, auf was Sie eigentlich hinauswollen. Nein, ich bin nicht oft hier. Tatsächlich hab ich seit April keinen Fuß mehr in das alte Gemäuer gesetzt.« Er deutete mit dem Daumen auf die Stiege. »Wegen dem da oben.« Mit finsterer Miene zündete er sich die Zigarette an. »Ich und der alte Palmer haben nämlich strikte Anweisung, ihn hier nicht zu stören.«
»In den Geräteraum kommen Sie aber, nicht? Sie fegen ihn aus. Haben Sie sich von dort mal eine Taschenlampe ausgeliehen? Vielleicht um sich auf dem Weg zu leuchten, wenn Sie zu Mrs. Nightingale in den Wald gingen?«
»Ich?« wiederholte er. »Aber sonst geht’s Ihnen gut?« Die Zigarette war ausgegangen. Er zündete sie noch einmal an und blinzelte, als die Flamme das ausgefranste Papier erfaßte und aufflackerte. »Wollen Sie mir ein Verhältnis mit Mrs. Nightingale unterschieben? Sie sind echt bekloppt, Mann, und obendrein haben Sie eine drekkige Phantasie.«
»Jetzt reicht’s aber«, sagte Burden tödlich beleidigt. Die Ungerechtigkeit des Vorwurfs verletzte ihn mehr als die Unverschämtheit. »Sie müssen doch zugeben«, sagte er ruhig, »daß Sie sehr vertraut mit ihr waren.«
»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, sie wollte mir beruflich ein wenig unter die Arme greifen.«
»Bei der Gartenarbeit?«
Der Junge wurde knallrot im Gesicht. Ohne es zu wissen, hatte Burden gleiches mit gleichem vergolten. »Die Gärtnerei ist nicht mein Beruf«, erklärte Sean verbittert. »Sie ist bloß eine Notlösung, um die Zeit zu überbrükken, bis ich mit meiner eigentlichen Arbeit vorankomme.«
»Und die wäre?«
»Musik«, sagte Sean. »Die Scene, oben in London.« Wieder deutete er mit dem Daumen, diesmal nach Norden. Auf seinem Gesicht hatte sich ein entrückter Ausdruck breitgemacht, und wie die spanischen Konquistadoren schien er eine Vision zu sehen, die Vision einer mit Gold gepflasterten Stadt. »Da muß ich hin.« Seine Stimme bebte. »Ich hab alles im Kopf, verstehen Sie, bis in die letzten Einzelheiten. Ich könnte ihnen die Charts der letzten Jahre haarklein herunterbeten, darin würde ich jede Prüfung spielend schaffen.« Er ballte die Hände zu Fäusten, und in seine Augen trat der Fanatismus religiöser Eiferer. »Von den Discjockeys weiß kein einziger auch nur halb soviel wie ich.« Plötzlich schrie er Burden an: »Hören Sie auf, so zu grinsen! Sie sind genauso beschränkt wie die anderen, wie meine Alte mit ihren Makkern und ihrer Sauferei. Die einzige, die mich verstanden hat, war Mrs. Nightingale, und die ist tot.« Er wischte sich mit einem schmutzigen Ärmel über die Augen, ein Möchtegernkünstler, den seine Umgebung hartnäckig als gewöhnlichen Gärtner behandelte.
»Was wollte Mrs. Nightingale denn für Sie tun?« fragte Burden nun etwas freundlicher.
»Sie kannte da so einen Typ in London«, murmelte Sean. »Er ist bei der BBC, und sie hat mir hoch und heilig versprochen, mal meinen Namen zu erwähnen. Vielleicht als Sänger, vielleicht als Discjockey. Anfangs natürlich erst mal im kleinen«, fügte er bescheiden hinzu. »Man kann nicht anfangen und gleich groß einsteigen wollen.« Er seufzte. “Ich weiß nicht, was jetzt aus mir werden soll.«
»Am besten, Sie halten sich an die Gärtnerei, werden endlich mal erwachsen und schlagen sich diese Rosinen aus dem Kopf«, sagteBurden. Seans haßerfüllter Blick ärgerte ihn. »Vergessen wir für den Augenblick mal Ihre Ambitionen. Warum haben Sie dem Chief Inspector gesagt, sie hätten sich im Fernsehen eine Sendung angesehen, die gar nicht im Programm war?«
Sean schien es eher zu ärgern als zu erschrecken, daß man ihn bei seiner Lüge ertappt hatte. »Ich hab ferngesehen, aber dann hatte ich die Nase voll davon. Alf Tawney, der Macker meiner Alten, war den Abend über da. Die beiden haben mich angegrinst und sich lustig über mich gemacht, weil ich mir doch die Hitparade angesehen hab.« Sean spreizte die Finger um einen Apfel, bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Einen Kerl nach dem anderen schleppt meine Mutter an, schon seit ich klein war, und denen geht’s nur darum, mich möglichst weit abzuschieben. Als ich ungefähr zehn war, hab ich gesehen, wie sich meine Mutter und einer dieser Männer küßten und abtatschten, da hab ich das Tranchiermesser genommen und ging auf sie los, das kann ich Ihnen sagen. Ich hätte sie umgebracht, ehrlich, bloß hat der Kerl mir das Messer weggenommen und mich geschlagen. Ich hätte sie umgebracht«, wiederholte er grimmig, dann brachte ihn der Ausdruck in Burdens Augen zum Schweigen. Verlegen sagte er: “Mir ist jetzt schnuppe, was sie macht, nur - nur daß es mir eben manchmal auf die Nerven geht.« Er löste seinen Griff und ließ den Apfel auf das Regal fallen. Burden bemerkte, daß er mit den Nägeln die Schale durchbohrt und tiefe saftige Wunden gerissen hatte.
»Anscheinend lassen Sie Ihren Gefühlen ziemlich freien Lauf.«
»Damals war ich zehn, das hab ich doch gesagt. Ich bin heute anders. Ich würde ihr kein Haar krümmen, ganz gleich, was sie macht.«
»Ich nehme an«, sagte Burden, während Sean sich die klebrige Hand an seiner Jeans abwischte, »ich nehme an, Sie sprechen von Ihrer Mutter?«
»Von wem denn sonst?«
Burden zuckte leicht mit den Achseln. »Ihre Mutter und Alf Tawney gingen Ihnen also auf die Nerven. Wohin sind Sie gegangen?«
»Runter in meine Hütte. Ich war ganz allein und habe nachgedacht.« Er seufzte tief, stand auf, wandte Burden den Rücken zu und fing wieder an, die Äpfel umzusortieren. »Bloß nachgedacht und - und zugehört.« Die von seinen Händen angestoßenen Früchte rollten in das Regal. Sehr leise begann er wieder zu pfeifen. Sein Gesicht war nicht minder leuchtend rot als die Äpfel. Als er sich zum Gehen wandte, fragte sich Burden, weshalb.
 
»Denys ist immer in Urlaub mit ihnen gefahren«, sagte Marriott. »Mit beiden, meine ich. Aber vor zwei Jahren mußte er mit Elizabeth allein fahren. Quen hatte die Masern, der Arme. Äußerst demütigend. Elizabeth hat mir erzählt, daß es ihr bei dem Gedanken graute, Denys in Dubrovnik am Hals zu haben, aber Quen meinte, er werde es ihnen nie verzeihen, wenn sie seinetwegen zu Hause blieben, deshalb blieb ihnen keine Wahl.
Jedenfalls müssen sie sich die ganze Zeit in den Haaren gelegen haben, denn sie sahen beide miserabel aus, als sie zurückkamen. Damals wurde das Verhältnis zwischen Denys und Quen merklich kühler, und Denys kam den ganzen Winter über nicht mehr ins Herrenhaus. Aber eines Tages - es muß im Juni vergangenen Jahres gewesen sein - war ich bei ihnen zu Besuch, als plötzlich Denys zur Tür hereinkam. ‘Ein Wunder, daß du die Adresse noch weißt’, hat Quen gesagt, aber ich sah gleich, daß er außer sich vor Freude war. ‘Ich bin nur gekommen’, antwortete Denys, ‘um dir zu sagen, daß ich nächsten Monat nicht nach Rom mit euch fahren kann. Ich habe dem Direktor versprochen, mit auf die Klassenfahrt zu gehen.’
‘Du?’ rief ich. ‘Du mußt den Verstand verloren haben.’ In der Schule machen wir nämlich schon Witze darüber, was die Kollegen sich alles einfallen lassen, nur damit dieser Krug an ihnen vorübergeht. ‘Du willst allen Ernstes das schöne Rom gegen die lausige Costa Brava eintauschen?’ fragte ich. ‘Ich gehe’, sagte er. ‘Ist alles schon abgemacht.’ Quentins Gesicht hättest du sehen sollen. Er versuchte nach besten Kräften, Denys zu überzeugen, aber er wollte nicht hören. Er blieb eisern.«
»Und wie war es in diesem Jahr, Lionel?«
»Inzwischen war er ja verheiratet. Georgina hat er an der Costa Brava kennengelernt, aber darauf komme ich später. Nein, dieses Jahr gingen sie allein auf die Bermudas, und ich glaube, insgeheim waren sie heilfroh, den alten Miesepeter vom Hals zu haben. Elizabeth hat das anklingen lassen, als ich bei ihr war, weil sie einen Zeugen für ihr Testament brauchte, und...«
»Ihr was?« fragte Wexford bedächtig. »Hast du gesagt, ihr Testament
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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