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Verächtlich und ungläubig hörte sich Burden den
aufs Wesentliche beschränkten und bis zu einem gewissen Grad
gereinigten Bericht über die beiden Gespräche des Chief Inspectors
an. Er rief Ekel und kalten Zorn in ihm hervor. Jeder, der Wexford
weniger gut kannte als er, hätte glauben können, der Chief
Inspector sei von dem für Burden schleierhaften Charme dieser
unmoralischen jungen Holländerin völlig hingerissen.
»Ich verstehe nicht«, sagte er vom Fenster in
Wexfords Büro aus, wo er einen Knoten in der Schnur der Jalousie
aufdröselte, »weshalb Sie annehmen, die beiden seien durch diese
Geschichte aus dem Schneider.« Er entwirrte die Schnur und wickelte
sie in Form einer Acht um die Haken. Burden hielt sehr auf Ordnung
und Sauberkeit, selbst in anderer Leute Arbeitsbereich. »Im
Gegegenteil, sie könnten doch beide unter einer Decke stecken. Sie
haben nur das Wort dieses Mädchens, daß er - äh, sich um Viertel
nach elf zu ihr gesellt hat. Es könnte auch später gewesen sein.
Sie deckt ihn natürlich.«
“Ach? Und weshalb sollte sie das? Was hätte sie
davon, sich zur Komplizin bei dem Mord an der Frau ihres
Arbeitgebers zu machen?«
Burden stierte ihn an. Also manchmal war der Alte
fast schon begriffsstutzig.
»Was sie davon hätte? Natürlich Nightingale
heiraten zu können.«
»Sagen Sie nicht dauernd ‘natürlich«. Daran ist gar
nichts natürlich. Und nehmen Sie die Finger von der Jalousie.
Manchmal glaube ich, Sie leiden unter Zwangsneurosen, dauernd
müssen Sie überall Ordnung machen. Hören Sie mir mal zu, Mike. Sie
müssen Ihre Ansichten mal ein wenig überholen. Sie sind zwar erst
sechsunddreißig, aber so verknöchert und altmodisch, daß es schon
fast nicht mehr wahr ist. Als erstes möchte ich mal klarstellen,
daß ich Nightingale glaube. Ich nehme ihm seine Geschichte ab, weil
ich einen Instinkt habe, der mir sagt, ob ich die Wahrheit höre
oder nicht. Ich glaube nicht, daß er zu Gewalttätigkeiten fähig
ist. Falls er der Meinung wäre, daß seine Frau einen Geliebten hat
- und falls ihm das überhaupt etwas ausmachen würde, was wichtiger
ist -, würde er sich einfach scheiden lassen. Zweitens ist Nelleke
Doorn keine neue Lady Macbeth. Sie ist eine moderne junge Frau, die
das Leben in vollen Zügen genießt, und zu den Dingen, die ihr Spaß
machen, gehört eben auch eine Menge angstfreier Sex.«
Bei diesen Worten errötete Burden leicht und
blinzelte verblüfft. Er bemühte sich um einen abgeklärten
Gesichtsausdruck, was ihm mißlang.
»Welchen Grund haben wir zu der Annahme, daß sie
Nightingale heiraten will? Für sie ist er doch ein alter Mann«,
fuhr Wexford weltmännisch fort. »Das hat sie praktisch selbst
gesagt. Trotz ihres unmoralischen Lebenswandels, wie Sie das
ausdrücken würden, ist sie ein nettes, normales Mädchen, das
schaudernd vor dem Gedanken zurückschrecken würde, mit einem Mann
ins Bett zu gehen, der gerade seine Frau ermordet hat. Mike, bei
diesen Mordfällen in Privathaushalten müssen wir unsere
Denkgewohnheiten radikal ändern. Die Zeiten haben sich gewandelt.
Heutzutage halten junge Mädchen die Ehe nicht mehr für das A und O
des Lebens. Mädchen wie Nelleke helfen einem Mann nicht bei der
Ermordung seiner Frau, damit er sie ehrbar machen kann. Sie halten
sich nicht für entehrt, nur weil sie keine Jungfrauen mehr sind.
Und falls Sie vermuten, Nelleke sei auf sein Geld scharf, so glaube
ich kaum, daß sie sich über Geld schon viele Gedanken macht. Das
kommt vielleicht noch. Im Moment ist sie darauf aus, sich ohne Reue
zu amüsieren.«
»Manchmal frage ich mich«, sagte Burden wie ein
alter Mann, »wo das noch hinführen soll mit dieser Welt.«
»Darüber mögen sich andere Leute den Kopf
zerbrechen. Hier haben wir genug eigene Probleme. Wir haben eine
Hypothese aufgestellt, die nun widerlegt wurde. Was nun? Mir
scheint, wir können in zwei Richtungen weiterermitteln. Wer war
Mrs. Nightingales Geliebter? Wer hatte Zugang zu der
Taschenlampe?«
»Haben Sie schon den Laborbericht darüber?«
Wexford nickte. »Es fanden sich Blutspuren am
unteren Gewinde, an der Lampenfassung und unter dem Schalter. Die
Blutgruppe - eine seltene Blutgruppe übrigens, AB negativ - stimmt
mit der von Mrs. Nightingale überein. Es besteht kein Zweifel, daß
die Taschenlampe die Tatwaffe war.«
»Wer hatte also Zugang zu der? Wer hat sie heute
morgen zurückstellen können?«
Wexford zählte die Betreffenden an den Fingern ab.
»Nightingale, Nelleke, Mrs. Cantrip, Will Palmer, Sean Lovell,
Georgina Villiers - oh, und Lionel Marriott. Ziemlich lange Liste.
Auf die können wir auch Villiers setzen, da Georgina sie an seiner
Stelle zurückgebracht haben könnte. Und wie steht es nun mit Sean?
Er hat seine Bewunderung für Mrs. Nightingale eingestanden. Er ist
jung und hitzköpfig, folglich auch eifersüchtig. Vielleicht hat sie
sich nicht mit ihm getroffen, aber möglicherweise hat er sie mit
dieser Person beobachtet. Sein Alibi ist miserabel. Er hatte Zugang
zu der Taschenlampe; sein Garten grenzt direkt an den Wald.«
»Dem Alter nach hätte sie seine Mutter sein
können«, gab Burden zu bedenken.
Wexford lachte, ein kehliges Wiehern. »Lieber
Himmel, Mike, Sie haben aber auch gar keine Ahnung vom Leben. Wenn
er ein Verhältnis mit ihr gehabt hat, dann gerade weil er
zwanzig und sie vierzig war. Das ist wie...« Er hielt kurz inne und
führte den Satz dann mit scheinbarer Gleichgültigkeit zu Ende. »...
wie bei Männern mittleren Alters und jungen Mädchen. Das kommt
immer wieder vor. Waren Sie nie in eine Freundin Ihrer Mutter
verschossen?«
»Aber nein!« rief Burden empört. »Die Freundinnen
meiner Mutter waren wie Tanten für mich. Ich redete sie auch mit
Tante an. Sogar heute noch, was das betrifft. Was ist daran so
komisch?«
»Sie«, sagte Wexford, »und wenn ich nicht lachen
müßte, würde ich glatt den Verstand verlieren.«
Burden war an derlei Sprüche gewöhnt, fühlte sich
aber dennoch tief beleidigt. Er hielt es für unanständig, ein
betrübliches Zeichen der Zeit, daß man sich über jemanden lustig
machte, weil er noch strenge Grundsätze und eine schickliche
Lebensauffassung vertrat. Er hüstelte leise und trocken, dann sagte
er:
»Ich werde mir noch mal Ihren Lieblingsverdächtigen
vorknöpfen, den jungen Lovell.«
»Tun Sie das.« Wexford warf einen Blick auf seine
Armbanduhr. »Um vier habe ich eine Verabredung.« Er grinste. »Eine
Verabredung mit jemandem, der noch ein bißchen mehr Licht in die
Vergangenheit gewisser Leute bringen wird.«
Wexford parkte hundert Meter vor den Schultoren in
gehörigem Abstand zu den Autos der Eltern, die ihre Sprößlinge
abholen wollten. Kricketspieler in mit Grasflecken verschmutztem
Weiß trabten in Zweierreihen vom Spielfeld, als die Uhr im
Schulturm vier schlug. Wenn die Schüler des King’s vielleicht auch
sonst nicht pünktlich waren, beim Verlassen der Schule konnte man
die Uhr nach ihnen stellen. Der letzte Glockenschlag war noch nicht
verklungen, als sich ein Strom von lachenden und sich
herumschubsenden Schülern durch die Tore wälzte; an die Regeln der
Verkehrserziehung, die ihnen, wie Wexford gedacht hatte, durch die
Beamten vom Verkehrsdezernat gründlich eingebleut wurden, schien
keiner der Jungen einen Gedanken zu verschwenden. Nur die
hochnäsigen Schüler der Abschlußklassen gingen gelassenen Schrittes
und zündeten sich Zigaretten an, sobald sie in den Schatten der
ausladenden Bäume gelangten.
Denys Villiers fuhr in seinem dunkelblauen Anglia
aus dem Schulhof. Er betätigte mehrmals die Hupe, um Jungen von der
Straße zu vertreiben, streckte den Kopf aus dem Fenster und rief
etwas, das Wexford nicht hören konnte. Sein Ton verriet alles.
Hätte der Mann eine Peitsche gehabt, hätte er sicherlich Gebrauch
von ihr gemachte, dachte Wexford. Er wandte den Kopf und sah
Marriott durch das Haupttor schlendern. Als der kleine Mann an
Wexfords Auto vorbeigegangen war, kurbelte der Chief Inspector das
Fenster herunter und zischelte:
»‘Ein Teufelsgeist verfolgt Euch, dicht auf den
Fersen stets!’«
Marriott zuckte zusammen, gab sich einen Ruck und
lächelte.
»Ein äußerst überschätztes Gedicht - zumindest
meiner Meinung nach«, sagte er.
»Allerdings. Aber ich bin nicht gekommen, um mit
dir über Gedichte zu sprechen. Hast du mich sitzenlassen
wollen?«
Marriott ging um die Motorhaube herum und stieg in
den Wagen.
»Offen gestanden ja. Ich habe mir gedacht, du
würdest mir eine Standpauke halten, weil ich heute vormittag ins
Herrenhaus gegangen bin. Sei so lieb und fang also jetzt nicht
damit an. Ich habe einen mehr als aufreibenden Nachmittag hinter
mir, weil ich Das verlorene Paradies in der Untertertia einführen
mußte, mehr halte ich jetzt einfach nicht aus.«
»‘Der Geist’«, zitierte Wexford, »‘ist selbst sein
eigner Ort und macht aus Himmel Hölle sich, aus Hölle
Himmel.’«
»Ja, alles schön und gut. Aber ich bin anders. Mein
Geist macht sich eine Hölle aus der Hölle. Drück mal auf die Tube,
Schätzelchen, damit wir möglichst schnell ein großes Glas in Händen
halten. Ich nehme an, du willst unterwegs den nächsten Teil meiner
ergötzlichen Erzählung hören.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, sagte Wexford, ließ das
Auto an und fädelte sich in den Verkehr ein.
»Wo war ich stehengeblieben?«
»Bei Villiers’ erster Frau.«
»June«, sagte Marriott. »Sie konnte mich nicht
leiden. Meine Güte, nein, wirklich nicht. Sie meinte, ich könnte
mich nützlicher machen, wenn ich in einem Jugendgefängnis
unterrichtete. Weißt du, was sie zu Quentin gesagt hat, als sie zum
erstenmal das Herrenhaus besuchte? ‘Ich halte es für einen
Skandal’, hat sie gesagt, ‘daß zwei Menschen ganz allein in diesem
Riesenschuppen wohnen. Man sollte eine Nervenklinik daraus machen.’
Den armen Quen hätte fast der Schlag getroffen. Sein geliebtes
Haus! Aber das war typisch June. Sie hatte Soziologie studiert und
als so eine Art Bewährungshelferin gearbeitet.
Sie und Denys hatten eine furchtbare Wohnung über
der Tierhandlung in der Quen Street. Du weißt ja, wo ich meine. Ich
war nur einmal dort, das reicht mir fürs Leben. Der Gestank von
verwesendem Pferdefleisch, vielen Dank, und überall hockten Junes
komische Freunde herum. Abends trafen die sich dort immer
scharenweise, bierernst und fest entschlossen, die Welt in Ordnung
zu bringen. Schluß mit dem Atomtod war damals das Neueste, du weißt
schon, und June pflegte in ihrer Wohnung Versammlungen darüber
abzuhalten, darüber und über die Hungerhilfe, bevor die Hungerhilfe
überhaupt in Mode kam. June war so eine richtige
Berufsdemonstrantin. Wenn es mal wieder Krawall auf dem Grosvenor
Square gibt, sehe ich mir immer die Zeitungsfotos ganz genau an,
denn irgendwann, da bin ich hundertprozentig sicher, werde ich auf
ihr Gesicht stoßen.«
»Sie ist also nicht gestorben?« fragte Wexford, als
sie auf die High Street einbogen.
»Lieber Himmel, nein. Denys hat sich von ihr
scheiden lassen - oder sie sich von Denys. Wer von wem, weiß ich
nicht mehr. Weshalb sie überhaupt geheiratet haben, ist mir ein
Rätsel. Sie hatten weiß Gott nichts gemeinsam. Sie konnte Quen und
Elizabeth nicht leiden und sah es gar nicht gern, daß Denys so oft
ins Herrenhaus ging. Sich reaktionären Elementen anschloß, so
nannte sie es.«
»Wenn er seine Schwester nicht mochte, warum ist er
dann so oft hingegangen?«
»Ganz einfach deshalb, weil er und Quen von Anfang
an hervorragend miteinander auskamen«, sagte Marriott, als Wexford
die Straßenmitte ansteuerte, um rechts abzubiegen. »Quen war Feuer
und Flamme, als er erfuhr, daß er einen vielversprechenden
Schriftsteller zum Schwager hatte, und er betrachtete sich wohl als
sein Mäzen.« Gemächlich rollte der Wagen die Gasse entlang, bis
Wexford vor dem weißen, mit Blumen geschmückten Haus anhielt.
»Jedenfalls muß sich Denys irgendwann einmal bei ihm beklagt haben,
daß er in seiner häuslichen Umgebung unmöglich arbeiten könne, und
Quen machte ihm den Vorschlag, im ‘Old House’ zu schreiben. Laß uns
ins Haus gehen, Reg, ich komme um vor Durst.«
In den Zimmern, wo die Party stattgefunden hatte,
roch es noch stark nach Zigarrenrauch. Jemand hatte aufgeräumt und
den Abwasch erledigt. Vermutlich Hypatia, dachte Wexford, während
Marriott sämtliche Fenster aufriß.
»Schön, Reg, die Cocktailstunde ist angebrochen,
wie man so sagt. Es ist vielleicht noch ein bißchen früh, aber auf
dem Land findet alles ein bißchen früher statt, nicht wahr? Was
soll’s denn sein? Whisky? Gin?«
»Eine Tasse Tee wäre mir lieber«, sagte
Wexford.
»Ernsthaft? Wie merkwürdig. In Ordnung, ich setze
den Kessel auf. Ich muß schon sagen, Hypatia hat hier sehr
gewissenhaft aufgeräumt. Ich darf nicht vergessen, das zu erwähnen,
wenn ich sie mal wieder sehe.«
Wexford ging hinter ihm in die Küche. »Sie wohnt
also nicht hier?«
»O nein. Das wäre mir gar nicht recht.« Marriott
rümpfte verächtlich die Nase. »Wenn sie einem erst mal auf der
Pelle sitzen, ist man nicht mehr sein eigener Herr.« Er warf
Wexford einen verschlagenen Seitenblick zu. »Vielfalt statt Einfalt
ist meine Devise.«
Wexford lachte. »Du bist wohl ein richtiger
Schürzenjäger, Lionel?«
»Man hat so seine Erfolge«, erwiderte Marriott
bescheiden. Er gab drei Löffel Earl Grey in die Teekanne und
schüttete behutsam das kochende Wasser darüber. »Soll ich mit der
Geschichte fortfahren?«
»Bitte.«
»Wie ich schon sagte, war es June gar nicht recht,
daß Denys im Herrenhaus arbeitete. Die meisten Abende verbrachte er
nämlich ohnehin dort und schwatzte mit Quen, und in den Ferien ging
er nun tagtäglich zum Arbeiten hin. Sie fand, er sollte mehr mit
ihr unternehmen, also Transparente schwenken und Sprüche an
Hausmauern pinseln. Deshalb hat sie ihm den Laufpaß gegeben.«
»Und ihn seiner ménage ä trois überlassen?«
»Wenn man so sagen will. Ein Dreiecksverhältnis war
zwar zweifellos vorhanden, aber es war kein gleichschenkliges
Dreieck. Der armen Elizabeth fiel die Rolle des spitzen Winkels zu.
Ich war stets aufs neue davon fasziniert, wenn ich dort zu Besuch
war, wie Denys und Quen völlig ineinander aufgingen; Bücher,
Bücher, Bücher, mein Lieber, Wordsworth-Zitate prasselten auf einen
herab, daß es einem in den Ohren klang, und dann raunten die beiden
sich noch zu, sie schöpften ihre Gedanken aus Tiefen, welche Tränen
nicht betaun. Die ganze Zeit über saß die arme Elizabeth nur da,
las die Vogue und konnte sich überhaupt nicht am Gespräch
beteiligen.«
»Ich glaube, du hast bestimmt ein Thema gefunden,
über das ihr plaudern konntet«, sagte Wexford und trank seinen Tee.
»Mir ist noch nie jemand begegnet, der so gut über - wie soll ich
es ausdrücken? - die alltäglichen Nichtigkeiten Bescheid
wußte.«
»Reg, manchmal bist du hundsgemein. Eines möchte
ich aber klarstellen: Elizabeth war keineswegs eine geistlose Frau.
Auf ihre Art war sie nicht minder intelligent als Denys.«
»Da ist er zwar anderer Meinung, aber reden wir
nicht mehr davon.«
»Warum sitzen wir eigentlich hier draußen? Ich habe
Küchen noch nie leiden können, außerdem lechze ich nach meinem Gin.
Prima, der Zigarrenqualm hat sich verzogen.«
Marriott holte sich ein Glas und schob zwei Stühle
an die offene Terrassentür. In dem kleinen, von einer Mauer
umgebenen Garten wimmelte es von Schmetterlingen, die den Nektar
des Fliederspeers aufsaugten und sich mit ausgebreiteten Flügeln
auf den Steinen sonnten. Wexford ließ sich an einer Stelle nieder,
wo er die kostbare Septembersonne spüren konnte, die sich bald rar
machen würde. Die Wärme rief eine gewisse Trägheit in ihm hervor,
und er ermahnte sich streng, geistig auf dem Posten zu
bleiben.
“Villiers verbrachte demnach ziemlich viel Zeit im
Herrenhaus?« fragte er.
»Glaube mir, man konnte praktisch keinen Fuß in das
Haus setzen, ohne über ihn zu stolpern. Und als wäre das noch nicht
genug gewesen, damit er und Quen sich herzlich satt bekamen, ging
er auch noch in Urlaub mit ihnen.«
»Das muß schlimm für Mrs. Nightingale gewesen sein,
vor allem, weil die beiden sie von ihren Gesprächen ausschlossen.
Für was hat sie sich eigentlich interessiert?«
Marriott biß sich auf die Unterlippe und schien
nachzudenken. »Laß mich mal überlegen«, sagte er mit der Miene
dessen, der die Tiefen seiner Erinnerung auslotet. »Nun, sie nahm
aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, organisierte
Veranstaltungen, saß in Komitees und so was. Daneben wandte sie
mehrere Stunden am Tag für ihre Schönheitspflege auf. Sie kümmerte
sich um die Blumen, arbeitete ein bißchen im Garten...«
»Wirklich?« unterbrach ihn Wexford. “Vielleicht im
Gewächshaus, zusammen mit Sean Lovell?«
»Auf was willst du damit nur hinaus, alter
Junge?«
»Um es mit einem von Wordsworth’ Zeitgenossen
auszudrücken:
‘Was Menschen Liebelei und Götter Sünde
nennen
Gedeiht viel besser dort, wo schwüle Dämpfe
sengen.’«
Marriott lächelte und machte große Augen. »Daher
weht also der Wind?«
»Na, mit dem alten Sir George Larkin-Smith wird sie
sich kaum heimlich im Wald getroffen haben. Auch der Pfarrer von
Myfleet und Will Palmer dürften wohl ausscheiden. Es sei denn, du
warst es, Lionel.«
»Ich war schon gespannt, wann du mich das fragen
würdest.« Marriott rekelte sich wohlig im Sonnenschein und lachte.
»Tut mir leid, aber ich war’s nicht. Und falls es dir wirklich
ernst damit ist, Reg, wird dir Hypatia gern erklären, wo ich war.
Das heißt wohlgemerkt nicht, ich hätte etwas gegen die Gelegenheit
einzuwenden gehabt...«
»Hast du es vielleicht sogar bei ihr
probiert?«
»Vielleicht.«
Nun war Wexford mit Lachen an der Reihe. »Folglich
landen wir wieder bei Sean Lovell, oder?«
»Sie mochte Sean«, sagte Marriott. »Ich habe sie
einmal getroffen, als sie aus dem Plattenladen hier in der High
Street kam. Sie hatte gerade eine Single mit der Nummer eins der
Hitparade gekauft. ‘Schließlich muß ich mit meinem kleinen
Minnesänger Schritt halten’, hat sie gesagt. ‘Im Grunde ist er der
einzige echte Nightingale in Myfleet - wir andern sind bloß
komische Käuze.’ Fand ich ziemlich witzig. Elizabeth war nicht auf
den Kopf gefallen.«
»Eine ungewöhnliche Bemerkung«, sagte
Wexford.
»Ah, ich weiß nicht. Du liest da zuviel hinein,
mein Bester. Ihr Polizisten seid alle furchtbar lüstern. Sean
stellte sich manchmal unter Elizabeths Fenster und brachte ihr ein
Ständchen. Vermutlich fühlte sie sich dadurch geschmeichelt und kam
sich jünger vor. Es war ein Fall von vergötternder Huldigung auf
der einen und geschmeicheltem Gewährenlassen auf der anderen
Seite.«
»Kommen wir noch mal auf Villiers zurück«, schlug
Wexford vor. »Aber hättest du vielleicht erst noch eine Tasse Tee
für einen armen, alten lüsternen Polizisten?«
Myfleet wirkte sogar im Winter hübsch. Wie das
Dorf nun in seiner Senke unterhalb des Walds in mildes Sonnenlicht
getaucht lag, schien es einen Dornröschenschlaf zu träumen. An
diesem Nachmittag war es völlig entvölkert; nur die Blumen in den
Vorgärten standen im Freien und genossen die Sonne.
Burden fuhr von Kingsmarkham bis zum Eingang des
Dorfs und beschloß, den restlichen Weg zu Fuß zu gehen. Der Tag
schien wie gemacht zum Spazierengehen, zum genüßlichen Einatmen des
Geruchs reifender Früchte und zum Bewundern der großen,
vielblütigen Dahlien, die für eine Blumenausstellung oder ein
Erntedankfest gezüchtet wurden.
Doch er hatte sich geirrt, als er das Dorf für
völlig ausgestorben hielt. Während er nun zum Herrenhaus ging,
bemerkte er Mrs. Lovell, die sich im Gespräch mit einem
dunkelhäutigen Mann mit einer Mütze, der zwei tote, blutige Hasen
im Arm hielt, über das Gartentor ihres anrüchigen Hauses lehnte.
Die verschlagenen Blicke, die er zum Herrenhaus sandte - obwohl
vermutlich sehr naheliegend angesichts ihres Gesprächsstoffs, denn
worüber konnten sie sich unterhalten, wenn nicht über das
augenblickliche Thema Nummer eins in Myfleet? -, verliehen ihm das
Aussehen eines Wilderers. Mrs. Lovells rückhaltloses schallendes
Gelächter ermutigte ihn in seinen Ausführungen.
Burden traf Sean im Stammhaus an, wo er Äpfel aus
einem Eimer in die alten Gestelle umsortierte. Sie stammten alle
von der gleichen Sorte - Beauty of Bath - und hatten hellrote und
goldgelbe gemaserte Schalen, die schimmerten wie alte Seide. Der
Junge pfiff vor sich hin, hörte aber, als Burden eintrat, sofort
damit auf.
»Sie kommen wohl oft hierher?« fragte Burden milde.
»Haben Sie sich hier immer mit Mrs. Nightingale getroffen?«
»Ich?« Er warf Burden einen mürrischen Blick
zu, ließ sich auf einem Stoß Weißbirkenholz nieder und drehte sich
eine Zigarette. »Es wäre nützlich«, sagte er, »wenn ich wüßte, auf
was Sie eigentlich hinauswollen. Nein, ich bin nicht oft hier.
Tatsächlich hab ich seit April keinen Fuß mehr in das alte Gemäuer
gesetzt.« Er deutete mit dem Daumen auf die Stiege. »Wegen
dem da oben.« Mit finsterer Miene zündete er sich die
Zigarette an. »Ich und der alte Palmer haben nämlich strikte
Anweisung, ihn hier nicht zu stören.«
»In den Geräteraum kommen Sie aber, nicht? Sie
fegen ihn aus. Haben Sie sich von dort mal eine Taschenlampe
ausgeliehen? Vielleicht um sich auf dem Weg zu leuchten, wenn Sie
zu Mrs. Nightingale in den Wald gingen?«
»Ich?« wiederholte er. »Aber sonst geht’s Ihnen
gut?« Die Zigarette war ausgegangen. Er zündete sie noch einmal an
und blinzelte, als die Flamme das ausgefranste Papier erfaßte und
aufflackerte. »Wollen Sie mir ein Verhältnis mit Mrs. Nightingale
unterschieben? Sie sind echt bekloppt, Mann, und obendrein haben
Sie eine drekkige Phantasie.«
»Jetzt reicht’s aber«, sagte Burden tödlich
beleidigt. Die Ungerechtigkeit des Vorwurfs verletzte ihn mehr als
die Unverschämtheit. »Sie müssen doch zugeben«, sagte er ruhig,
»daß Sie sehr vertraut mit ihr waren.«
»Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, sie wollte
mir beruflich ein wenig unter die Arme greifen.«
»Bei der Gartenarbeit?«
Der Junge wurde knallrot im Gesicht. Ohne es zu
wissen, hatte Burden gleiches mit gleichem vergolten. »Die
Gärtnerei ist nicht mein Beruf«, erklärte Sean verbittert. »Sie ist
bloß eine Notlösung, um die Zeit zu überbrükken, bis ich mit meiner
eigentlichen Arbeit vorankomme.«
»Und die wäre?«
»Musik«, sagte Sean. »Die Scene, oben in London.«
Wieder deutete er mit dem Daumen, diesmal nach Norden. Auf seinem
Gesicht hatte sich ein entrückter Ausdruck breitgemacht, und wie
die spanischen Konquistadoren schien er eine Vision zu sehen, die
Vision einer mit Gold gepflasterten Stadt. »Da muß ich hin.« Seine
Stimme bebte. »Ich hab alles im Kopf, verstehen Sie, bis in die
letzten Einzelheiten. Ich könnte ihnen die Charts der letzten Jahre
haarklein herunterbeten, darin würde ich jede Prüfung spielend
schaffen.« Er ballte die Hände zu Fäusten, und in seine Augen trat
der Fanatismus religiöser Eiferer. »Von den Discjockeys weiß kein
einziger auch nur halb soviel wie ich.« Plötzlich schrie er Burden
an: »Hören Sie auf, so zu grinsen! Sie sind genauso beschränkt wie
die anderen, wie meine Alte mit ihren Makkern und ihrer Sauferei.
Die einzige, die mich verstanden hat, war Mrs. Nightingale, und die
ist tot.« Er wischte sich mit einem schmutzigen Ärmel über die
Augen, ein Möchtegernkünstler, den seine Umgebung hartnäckig als
gewöhnlichen Gärtner behandelte.
»Was wollte Mrs. Nightingale denn für Sie tun?«
fragte Burden nun etwas freundlicher.
»Sie kannte da so einen Typ in London«, murmelte
Sean. »Er ist bei der BBC, und sie hat mir hoch und heilig
versprochen, mal meinen Namen zu erwähnen. Vielleicht als Sänger,
vielleicht als Discjockey. Anfangs natürlich erst mal im kleinen«,
fügte er bescheiden hinzu. »Man kann nicht anfangen und gleich groß
einsteigen wollen.« Er seufzte. “Ich weiß nicht, was jetzt aus mir
werden soll.«
»Am besten, Sie halten sich an die Gärtnerei,
werden endlich mal erwachsen und schlagen sich diese Rosinen aus
dem Kopf«, sagteBurden. Seans haßerfüllter Blick ärgerte ihn.
»Vergessen wir für den Augenblick mal Ihre Ambitionen. Warum haben
Sie dem Chief Inspector gesagt, sie hätten sich im Fernsehen eine
Sendung angesehen, die gar nicht im Programm war?«
Sean schien es eher zu ärgern als zu erschrecken,
daß man ihn bei seiner Lüge ertappt hatte. »Ich hab ferngesehen,
aber dann hatte ich die Nase voll davon. Alf Tawney, der Macker
meiner Alten, war den Abend über da. Die beiden haben mich
angegrinst und sich lustig über mich gemacht, weil ich mir doch die
Hitparade angesehen hab.« Sean spreizte die Finger um einen Apfel,
bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Einen Kerl nach dem anderen
schleppt meine Mutter an, schon seit ich klein war, und denen
geht’s nur darum, mich möglichst weit abzuschieben. Als ich
ungefähr zehn war, hab ich gesehen, wie sich meine Mutter und einer
dieser Männer küßten und abtatschten, da hab ich das
Tranchiermesser genommen und ging auf sie los, das kann ich Ihnen
sagen. Ich hätte sie umgebracht, ehrlich, bloß hat der Kerl mir das
Messer weggenommen und mich geschlagen. Ich hätte sie umgebracht«,
wiederholte er grimmig, dann brachte ihn der Ausdruck in Burdens
Augen zum Schweigen. Verlegen sagte er: “Mir ist jetzt schnuppe,
was sie macht, nur - nur daß es mir eben manchmal auf die Nerven
geht.« Er löste seinen Griff und ließ den Apfel auf das Regal
fallen. Burden bemerkte, daß er mit den Nägeln die Schale
durchbohrt und tiefe saftige Wunden gerissen hatte.
»Anscheinend lassen Sie Ihren Gefühlen ziemlich
freien Lauf.«
»Damals war ich zehn, das hab ich doch gesagt. Ich
bin heute anders. Ich würde ihr kein Haar krümmen, ganz gleich, was
sie macht.«
»Ich nehme an«, sagte Burden, während Sean sich die
klebrige Hand an seiner Jeans abwischte, »ich nehme an, Sie
sprechen von Ihrer Mutter?«
»Von wem denn sonst?«
Burden zuckte leicht mit den Achseln. »Ihre Mutter
und Alf Tawney gingen Ihnen also auf die Nerven. Wohin sind Sie
gegangen?«
»Runter in meine Hütte. Ich war ganz allein und
habe nachgedacht.« Er seufzte tief, stand auf, wandte Burden den
Rücken zu und fing wieder an, die Äpfel umzusortieren. »Bloß
nachgedacht und - und zugehört.« Die von seinen Händen angestoßenen
Früchte rollten in das Regal. Sehr leise begann er wieder zu
pfeifen. Sein Gesicht war nicht minder leuchtend rot als die Äpfel.
Als er sich zum Gehen wandte, fragte sich Burden, weshalb.
»Denys ist immer in Urlaub mit ihnen gefahren«,
sagte Marriott. »Mit beiden, meine ich. Aber vor zwei Jahren mußte
er mit Elizabeth allein fahren. Quen hatte die Masern, der Arme.
Äußerst demütigend. Elizabeth hat mir erzählt, daß es ihr bei dem
Gedanken graute, Denys in Dubrovnik am Hals zu haben, aber Quen
meinte, er werde es ihnen nie verzeihen, wenn sie seinetwegen zu
Hause blieben, deshalb blieb ihnen keine Wahl.
Jedenfalls müssen sie sich die ganze Zeit in den
Haaren gelegen haben, denn sie sahen beide miserabel aus, als sie
zurückkamen. Damals wurde das Verhältnis zwischen Denys und Quen
merklich kühler, und Denys kam den ganzen Winter über nicht mehr
ins Herrenhaus. Aber eines Tages - es muß im Juni vergangenen
Jahres gewesen sein - war ich bei ihnen zu Besuch, als plötzlich
Denys zur Tür hereinkam. ‘Ein Wunder, daß du die Adresse noch
weißt’, hat Quen gesagt, aber ich sah gleich, daß er außer sich vor
Freude war. ‘Ich bin nur gekommen’, antwortete Denys, ‘um dir zu
sagen, daß ich nächsten Monat nicht nach Rom mit euch fahren kann.
Ich habe dem Direktor versprochen, mit auf die Klassenfahrt zu
gehen.’
‘Du?’ rief ich. ‘Du mußt den Verstand verloren
haben.’ In der Schule machen wir nämlich schon Witze darüber, was
die Kollegen sich alles einfallen lassen, nur damit dieser Krug an
ihnen vorübergeht. ‘Du willst allen Ernstes das schöne Rom gegen
die lausige Costa Brava eintauschen?’ fragte ich. ‘Ich gehe’, sagte
er. ‘Ist alles schon abgemacht.’ Quentins Gesicht hättest du sehen
sollen. Er versuchte nach besten Kräften, Denys zu überzeugen, aber
er wollte nicht hören. Er blieb eisern.«
»Und wie war es in diesem Jahr, Lionel?«
»Inzwischen war er ja verheiratet. Georgina hat er
an der Costa Brava kennengelernt, aber darauf komme ich später.
Nein, dieses Jahr gingen sie allein auf die Bermudas, und ich
glaube, insgeheim waren sie heilfroh, den alten Miesepeter vom Hals
zu haben. Elizabeth hat das anklingen lassen, als ich bei ihr war,
weil sie einen Zeugen für ihr Testament brauchte, und...«
»Ihr was?« fragte Wexford bedächtig. »Hast du
gesagt, ihr Testament?«