11
Das Gelächter ihres Mannes löste bei Georgina viel mehr Unruhe aus als Wexfords Mitteilung. Unter der Maske ihrer Teilnahmslosigkeit lag etwas verborgen, etwas, das durch das Gelächter nun zum Vorschein kam und sich in ihren Augen und den bebenden Lippen als nacktes Entsetzen äußerte.
»Hör auf, Denys, hör um Gottes willen auf!« Sie packte ihn am Arm und schüttelte ihn.
»Dürfen wir mitlachen, Sir?« fragte Wexford kühl.
Villiers hörte abrupt mit Lachen auf, wie es nur möglich ist, wenn man nicht aus Vergnügen lacht, sondern weil man auf eine bewundernswerte Ironie des Schicksals gestoßen ist. Er zuckte die Achseln, dann schlug er mit ausdruckslos werdender Miene wieder sein Buch auf und begann zu lesen, wo er aufgehört hatte.
»Mrs. Villiers, ich möchte mit Ihnen noch einmal über die Vorkommnisse vom Dienstagabend sprechen«, sagte Wexford.
»Aber wieso denn?« fragte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich dachte, es ist alles vorbei. Gerade fange ich an, nicht mehr daran zu denken, und jetzt... Mein Gott, was soll ich nur machen?« Einen Augenblick starrte sie die beiden Polizisten verstört an, dann rannte sie aus dem Zimmer.
Villiers lächelte verschmitzt, offenbar über etwas in seinem Buch. Obwohl er sich über die maßlose Eitelkeit von Schriftstellern im klaren war, konnte Wexford dennoch nicht begreifen, wie man über etwas richtig lachen konnte, das man selbst geschrieben hatte.
»Wie ich sehe, werde ich Ihr Buch lesen müssen.«
Villiers hob den Blick, und als er das Buch zuklappte, markierte er die Stelle wieder mit seinem Finger. Von einem Stapel auf dem Fenstersims nahm er ein Exemplar Der verliebte Wordsworth und reichte es dem Chief Inspector. »Falls es Sie interessiert, können Sie es behalten.« Der Blick der müden grauen Augen begegnete dem von Wexford und hielt ihm stand.
»Danke. Es wird mich interessieren. Ich lasse mich gern belehren. Ich bin auch neugierig, weshalb Sie sich Wordsworth als Forschungsobjekt ausgesucht haben.«
»Eine Frage persönlicher Vorlieben, Mr. Wexford.«
»Doch Vorlieben lassen sich immer auf etwas zurückführen.«
Villiers zuckte unwirsch die Achseln. »Jedenfalls haben Sie uns die Nachricht jetzt überbracht, und wir haben sogar noch über Literatur geplaudert. Gibt es sonst noch etwas?«
»Gewiß doch. Ich untersuche einen Mordfall, Mr. Villiers.«
»Aber nicht sonderlich erfolgreich, wenn ich das mal sagen darf.« Villiers setzte sich rittlings auf einen Stuhl verschränkte die Arme auf dem Rücken und drückte die Brust an die Stäbe der Lehne. Das aschfahle, von einem Faltennetz überzogene Gesicht rief bei Wexford erneut den Eindruck hervor, daß dieser Mann krank, todkrank war. »Was hat es überhaupt für einen Sinn?« fragte er. »Elizabeth ist tot und wird nicht wieder lebendig. Sie finden den Mörder und stecken ihn zwanzig oder dreißig Jahre ins Gefängnis. Wem nützt das? Wer ist dadurch glücklicher?«
»Sind Sie denn Anhänger der Todesstrafe? Es überrascht mich, daß Ihre erste Frau Sie nicht zu einer anderen Ansicht bekehrt hat.«
Falls Villiers erstaunt war, daß Wexford von seiner früheren Ehe wußte, ließ er sich nichts davon anmerken. »Die Todesstrafe?« wiederholte er. »Nein, ich bin nicht dafür. Das ist mir ziemlich egal. Mir ist es auch egal, ob man die Leute ins Gefängnis sperrt oder nicht, abgesehen davon, daß man mit meinen Steuergeldern ihren Unterhalt bezahlt.«
»Mir scheint, Sir, Ihnen ist überhaupt sehr viel egal.«
»Richtig. Die sogenannte Tagespolitik interessiert mich nicht, ebensowenig die öffentliche Meinung. Ich mag die Menschen nicht, und die Menschen mögen mich nicht. Die meisten sind Dummköpfe«, erklärte der Misanthrop mit genüßlicher Erbitterung. »Ich habe wenig Geduld mit Dummköpfen. Fortschritt und das ganze Tamtam geht mir auf die Nerven.« Sehr leise fügte er hinzu: »Ich möchte, daß man mich in Ruhe in der Vergangenheit leben läßt.«
»Dann sprechen wir doch über die Vergangenheit«, sagte Wexford. »Über die jüngste Vergangenheit. Dienstag abend, zum Beispiel.«
 
Georgina saß Burden im Wohnzimmer gegenüber und erklärte gereizt: »Ich habe Ihnen schon bei Ihrem letzten Besuch alles über Dienstag abend erzählt. Wenn Sie ein schlechtes Gedächtnis haben, hätten Sie es aufschreiben sollen.«
»Mein Gedächtnis soll nicht Ihre Sorge sein, Mrs. Villiers. Erzählen Sie es mir einfach noch mal. Sie verließen das Herrenhaus um halb elf im Auto Ihres Mannes. Wer ist gefahren?«
»Mein Mann. Er fährt immer, wenn wir zusammen ausgehen. Ich meine, es sollte immer der Mann fahren, finden Sie nicht?« Sie kniff die Lippen zusammen. »In einer Ehe sollte immer der Mann den Ton angeben, damit seine Frau zu ihm aufsehen kann.« Laut und trotzig fügte sie hinzu: »Wir sind glücklich verheiratet.«
»Wie schön für Sie«, sagte Burden. »Um wieviel Uhr sind Sie nach Hause gekommen?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ungefähr zwanzig Minuten vor elf. Wir gingen ins Haus und haben uns gleich schlafen gelegt. Das ist alles.«
»Nein, das ist nicht alles. Kein Mensch kommt von einem Abend bei Freunden nach Hause und geht schnurstracks zu Bett. Einer von ihnen muß den Wagen in die Garage gefahren haben. Einer muß die Tür abgeschlossen haben.«
»Ach so, das meinen Sie. Mein Mann hat das Auto einfach in die Einfahrt gestellt. In der Garage stand meines.«
»Sind Sie zusammen ins Haus gegangen?«
»Natürlich.«
»Nebeneinander? Haben Sie sich gleichzeitig durch die Tür gezwängt?«
»Seien Sie doch nicht albern«, erwiderte Georgina mürrisch. »Ich ging voran, und mein Mann kam ungefähr eine Minute später nach. Er schloß das Auto ab, weil es die ganze Nacht in der Einfahrt stehen würde. Das macht er immer.«
»Sehr vernünftig. Da Sie offenkundig so sorgfältig sind, haben Sie die Milchflaschen bestimmt nicht vor Ihrem Besuch im Herrenhaus vor die Tür gestellt. Wer hat das getan, als Sie nach Hause kamen? Wer hat nachgesehen, ob die Fenster und die Hintertür geschlossen waren?«
Sie zögerte kurz und sah ihn verdrossen an. Ihre Finger rieben nervös an der Perlenkette. »Das macht immer mein Mann. Ich ging vor ihm zu Bett.«
»Wie lange haben Sie gebraucht, um zu Bett zu gehen, Mrs. Villiers? Zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Sie haben sich schließlich nicht ungewaschen und in voller Bekleidung schlafen gelegt.«
»Natürlich nicht. Ich habe das Licht im Schlafzimmer angeknipst, mich ausgezogen, bin ins Badezimmer gegangen und dann ins Bett. Kurz darauf ist mein Mann gekommen. Er liest immer noch ungefähr eine halbe Stunde, ehe wir das Licht ausmachen.«
»Schlafen Sie in einem Doppelbett, Mrs. Villiers?«
»Nein, wir haben getrennte Betten. Da dürfen Sie sich aber nichts bei denken. Wir führen eine sehr glückliche Ehe.«
»Ja, das sagten Sie schon. Um wieviel Uhr sind Sie eigentlich zum Herrenhaus gefahren?«
»Es war ungefähr halb neun, als wir dort ankamen.«
»Ich glaube, Sie waren öfters zum Bridgespielen dort«, sagte Burden. »Wie lange blieben Sie in der Regel?«
»In den Ferien manchmal bis Mitternacht.«
»Am Dienstag waren doch noch Ferien, oder? Weshalb sind Sie so früh gegangen?«
»Mein Mann«, sagte Georgina, und wie immer klang ein gewisser selbstbewußter Besitzerstolz aus ihren Worten, »mein Mann mußte in der Schule noch etwas nachschlagen, und...« Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund, doch zu spät, um einen erschreckten leisen Schrei zu unterdrücken. »Als wir nach Hause kamen«, stammelte sie, »hat er es sich anders überlegt... Oh, warum können Sie uns nicht in Ruhe lassen. Wir könnten so glücklich sein, wenn uns nur alle in Ruhe ließen.«
Burdens Blick blieb starr auf sie gerichtet. Unbewegt sah er mit an, wie sie zu weinen begann.
“Ich habe den Wagen in der Einfahrt abgestellt«, sagte Villiers zu Wexford. »Nein, ich habe nicht nachgesehen, ob im Haus die Hintertür und die Fenster geschlossen waren. Das fällt in die Zuständigkeit meiner Frau. Ich bin gleich zu Bett gegangen und sofort eingeschlafen.«
Burden trat ins Zimmer. »Darf ich, Sir?«
»Nur zu«, sagte Wexford.
»Was ist mit der Sache, die Sie in der Schule nachschlagen wollten? Das Nachschlagen war doch unbedingt erforderlich, denn deshalb mußten Sie doch schon um halb elf aus dem Herrenhaus weg?«
Villiers zündete sich eine Zigarette an. »Haben Sie noch nie einen Vorwand benutzt, um langweiligen Gastgebern zu entfliehen, Inspector?« fragte er gelassen. »Haben Sie nicht auch schon mal behauptet, Sie würden einen Anruf erwarten oder müßten sich um Ihren jungen kümmern?«
Burden blickte ihn finster an; er war wütend, daß John in diese Vernehmung hineingezogen wurde. Es war demütigend, feststellen zu müssen, daß Villiers, der ihn als Privatperson demonstrativ ignorierte, von Anfang an gewußt hatte, daß Burdens Sohn zu ihm in die Klasse ging.
»Dann war das also eine faule Ausrede«, sagte er zornig. »Eine bewußte Lüge.«
»Manchmal lüge ich eben«, sagte Villiers und sog mit einer Art frivoler Genüßlichkeit den Rauch ein. »Ich bin ein guter Lügner.«
»Aus dem Munde eines Mannes, dem nach eigenem Bekunden die Meinung anderer gleichgültig ist, klingt das merkwürdig«, warf Wexford ein, und als er Villiers’ arroganten Blick zu spüren bekam, fiel ihm plötzlich ein Verspaar ein. Er zitierte es nicht nur, weil es paßte, sondern weil er ein drängendes, unbezähmbares Verlangen empfand, Villiers zu beweisen, daß er kein Trottel, kein tumber, ungebildeter Provinzpolizist war, wie der Schriftsteller offenbar dachte.
»So stieg, so fiel er, niemals gleich der Schar Mit der zu atmen er verurteilt war.«
Die Wirkung war verblüffend; damit hatte er in keiner Weise gerechnet. Villiers rührte sich nicht, wurde aber kreidebleich. Reglos wie eine Statue schien er auf etwas zu warten, jedoch nicht auf weitere Worte, dachte Wexford, sondern auf Taten, auf eine ausschlaggebende entscheidende Handlung. Doch dann, vielleicht weil die beiden Polizisten verdutzt dastanden und keine Anstalten dazu machten, lachte Villiers.
Dieses Gelächter brachte Burden in Harnisch.
»Was bezwecken Sie damit eigentlich?« fuhr er ihn an. »Was möchten Sie damit beweisen? Weshalb möchten Sie sich über den Rest der Menschheit dermaßen erheben?«
»Erheben - oder mich unterwerfen, Mr. Burden.« Villiers hatte einen Blick von Wexfords Gesicht gewandt, und seine Augen waren groß und »So stieg, so fiel er - vergessen Sie das nicht. Und was ich möchte, ist ganz einfach.« Er stand auf und wandte ihnen den Rücken zu. »Ich möchte sterben.«
 
»Was zum Teufel«, sagte Wexford nachdenklich, als sie wieder im Wagen saßen, »ist denn in den gefahren, als ich diese Zeile zitiert habe?«
»Keine Ahnung«, sagte Burden. Schließlich raffte er sich auf. »Äh - von wem stammt das Zitat? Wordsworth?«
»Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, von wem es ist. Es ging mir nur so durch den Kopf.« Burden nickte gleichgültig. Er war es gewohnt, mit Zitaten traktiert zu werden, die seinem Vorgesetzten nur so durch den Kopf gingen. Trockenes Bücherwissen, und mehr steckte schließlich nicht dahinter, brachte ihn immer in Verlegenheit. »Aber es wäre interessant, das herauszufinden«, sagte Wexford. »Gar nicht so leicht, so etwas ausfindig zu machen, wo es in unserem England von Musensöhnen doch nur so wimmelt.«
»Wir dürften wohl Wichtigeres zu tun haben«, meinte Burden unwirsch. “Weiterbringen würde uns, wenn wir einen Zeugen fänden, der bestätigen kann, daß Villiers nach seiner Heimkehr nicht mehr das Haus verließ.«
»Er oder seine Frau.«
»Ein Jammer, daß ihr Haus so abgelegen ist.«
»Ja. Wir müssen jemand finden, der an dem Haus vorbeigefahren ist. Aber das hat Zeit bis morgen früh. Lassen Sie den Schal ins Labor bringen, dann können Sie nach Hause gehen und den Anstreicher spielen. Körperliche Arbeit regt den Geist an, Mike, und während Sie den Pinsel schwingen, können Sie sich den Fall mal gründlich durch den Kopf gehen lassen.«
Burden atmete erleichtert auf und ließ den Wagen an. »Wen von den beiden haben Sie eigentlich in Verdacht?«
»Sie werden mir vorwerfen, meine Schlüsse seien voreilig, Mike, aber ich bin mir so gut wie sicher, daß sie es war. Georgina ist eine kräftige, gesunde junge Frau, körperlich dazu in der Lage, eine andere Frau mit einer Taschenlampe niederzuschlagen. Nicht ihr Mann, sondern sie erbt. Sie hielt sich im Herrenhaus auf, als die Taschenlampe zurückgestellt wurde. Sie kannte sich in dem Anwesen aus, und möglicherweise ist ihr das Unkrautfeuer früher am Abend aufgefallen. jedenfalls wußte sie, daß sie ihre Kleidung auf dem Feuer verbrennen konnte, falls irgendwo - zum Beispiel auf einem Pullover - Blutflecke zurückbleiben sollten.«
»Das deutet alles auf einen vorsätzlichen Mord hin«, sagte Burden. »Demnach hätte sie ausgerechnet eine Taschenlampe als Waffe gewählt.«
»Denken Sie darüber nach. Versuchen Sie, sich einen Reim darauf zu machen. Ich werde inzwischen Lionel Marriott aufgabeln und ihn auf ein Glas ins Olive einladen.«
Der Liebe Boeser Engel - Schuld Verjaehrt Nicht
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