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Das Gelächter ihres Mannes löste bei Georgina viel
mehr Unruhe aus als Wexfords Mitteilung. Unter der Maske ihrer
Teilnahmslosigkeit lag etwas verborgen, etwas, das durch das
Gelächter nun zum Vorschein kam und sich in ihren Augen und den
bebenden Lippen als nacktes Entsetzen äußerte.
»Hör auf, Denys, hör um Gottes willen auf!« Sie
packte ihn am Arm und schüttelte ihn.
»Dürfen wir mitlachen, Sir?« fragte Wexford
kühl.
Villiers hörte abrupt mit Lachen auf, wie es nur
möglich ist, wenn man nicht aus Vergnügen lacht, sondern weil man
auf eine bewundernswerte Ironie des Schicksals gestoßen ist. Er
zuckte die Achseln, dann schlug er mit ausdruckslos werdender Miene
wieder sein Buch auf und begann zu lesen, wo er aufgehört
hatte.
»Mrs. Villiers, ich möchte mit Ihnen noch einmal
über die Vorkommnisse vom Dienstagabend sprechen«, sagte
Wexford.
»Aber wieso denn?« fragte sie mit mühsam
beherrschter Stimme. »Ich dachte, es ist alles vorbei. Gerade fange
ich an, nicht mehr daran zu denken, und jetzt... Mein Gott, was
soll ich nur machen?« Einen Augenblick starrte sie die beiden
Polizisten verstört an, dann rannte sie aus dem Zimmer.
Villiers lächelte verschmitzt, offenbar über etwas
in seinem Buch. Obwohl er sich über die maßlose Eitelkeit von
Schriftstellern im klaren war, konnte Wexford dennoch nicht
begreifen, wie man über etwas richtig lachen konnte, das man selbst
geschrieben hatte.
»Wie ich sehe, werde ich Ihr Buch lesen
müssen.«
Villiers hob den Blick, und als er das Buch
zuklappte, markierte er die Stelle wieder mit seinem Finger. Von
einem Stapel auf dem Fenstersims nahm er ein Exemplar Der
verliebte Wordsworth und reichte es dem Chief Inspector. »Falls
es Sie interessiert, können Sie es behalten.« Der Blick der müden
grauen Augen begegnete dem von Wexford und hielt ihm stand.
»Danke. Es wird mich interessieren. Ich lasse mich
gern belehren. Ich bin auch neugierig, weshalb Sie sich Wordsworth
als Forschungsobjekt ausgesucht haben.«
»Eine Frage persönlicher Vorlieben, Mr.
Wexford.«
»Doch Vorlieben lassen sich immer auf etwas
zurückführen.«
Villiers zuckte unwirsch die Achseln. »Jedenfalls
haben Sie uns die Nachricht jetzt überbracht, und wir haben sogar
noch über Literatur geplaudert. Gibt es sonst noch etwas?«
»Gewiß doch. Ich untersuche einen Mordfall, Mr.
Villiers.«
»Aber nicht sonderlich erfolgreich, wenn ich das
mal sagen darf.« Villiers setzte sich rittlings auf einen Stuhl
verschränkte die Arme auf dem Rücken und drückte die Brust an die
Stäbe der Lehne. Das aschfahle, von einem Faltennetz überzogene
Gesicht rief bei Wexford erneut den Eindruck hervor, daß dieser
Mann krank, todkrank war. »Was hat es überhaupt für einen Sinn?«
fragte er. »Elizabeth ist tot und wird nicht wieder lebendig. Sie
finden den Mörder und stecken ihn zwanzig oder dreißig Jahre ins
Gefängnis. Wem nützt das? Wer ist dadurch glücklicher?«
»Sind Sie denn Anhänger der Todesstrafe? Es
überrascht mich, daß Ihre erste Frau Sie nicht zu einer anderen
Ansicht bekehrt hat.«
Falls Villiers erstaunt war, daß Wexford von seiner
früheren Ehe wußte, ließ er sich nichts davon anmerken. »Die
Todesstrafe?« wiederholte er. »Nein, ich bin nicht dafür. Das ist
mir ziemlich egal. Mir ist es auch egal, ob man die Leute ins
Gefängnis sperrt oder nicht, abgesehen davon, daß man mit meinen
Steuergeldern ihren Unterhalt bezahlt.«
»Mir scheint, Sir, Ihnen ist überhaupt sehr viel
egal.«
»Richtig. Die sogenannte Tagespolitik interessiert
mich nicht, ebensowenig die öffentliche Meinung. Ich mag die
Menschen nicht, und die Menschen mögen mich nicht. Die meisten sind
Dummköpfe«, erklärte der Misanthrop mit genüßlicher Erbitterung.
»Ich habe wenig Geduld mit Dummköpfen. Fortschritt und das ganze
Tamtam geht mir auf die Nerven.« Sehr leise fügte er hinzu: »Ich
möchte, daß man mich in Ruhe in der Vergangenheit leben
läßt.«
»Dann sprechen wir doch über die Vergangenheit«,
sagte Wexford. »Über die jüngste Vergangenheit. Dienstag abend, zum
Beispiel.«
Georgina saß Burden im Wohnzimmer gegenüber und
erklärte gereizt: »Ich habe Ihnen schon bei Ihrem letzten Besuch
alles über Dienstag abend erzählt. Wenn Sie ein schlechtes
Gedächtnis haben, hätten Sie es aufschreiben sollen.«
»Mein Gedächtnis soll nicht Ihre Sorge sein, Mrs.
Villiers. Erzählen Sie es mir einfach noch mal. Sie verließen das
Herrenhaus um halb elf im Auto Ihres Mannes. Wer ist
gefahren?«
»Mein Mann. Er fährt immer, wenn wir zusammen
ausgehen. Ich meine, es sollte immer der Mann fahren, finden Sie
nicht?« Sie kniff die Lippen zusammen. »In einer Ehe sollte immer
der Mann den Ton angeben, damit seine Frau zu ihm aufsehen kann.«
Laut und trotzig fügte sie hinzu: »Wir sind glücklich
verheiratet.«
»Wie schön für Sie«, sagte Burden. »Um wieviel Uhr
sind Sie nach Hause gekommen?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ungefähr
zwanzig Minuten vor elf. Wir gingen ins Haus und haben uns gleich
schlafen gelegt. Das ist alles.«
»Nein, das ist nicht alles. Kein Mensch kommt von
einem Abend bei Freunden nach Hause und geht schnurstracks zu Bett.
Einer von ihnen muß den Wagen in die Garage gefahren haben. Einer
muß die Tür abgeschlossen haben.«
»Ach so, das meinen Sie. Mein Mann hat das Auto
einfach in die Einfahrt gestellt. In der Garage stand
meines.«
»Sind Sie zusammen ins Haus gegangen?«
»Natürlich.«
»Nebeneinander? Haben Sie sich gleichzeitig durch
die Tür gezwängt?«
»Seien Sie doch nicht albern«, erwiderte Georgina
mürrisch. »Ich ging voran, und mein Mann kam ungefähr eine Minute
später nach. Er schloß das Auto ab, weil es die ganze Nacht in der
Einfahrt stehen würde. Das macht er immer.«
»Sehr vernünftig. Da Sie offenkundig so sorgfältig
sind, haben Sie die Milchflaschen bestimmt nicht vor Ihrem Besuch
im Herrenhaus vor die Tür gestellt. Wer hat das getan, als Sie nach
Hause kamen? Wer hat nachgesehen, ob die Fenster und die Hintertür
geschlossen waren?«
Sie zögerte kurz und sah ihn verdrossen an. Ihre
Finger rieben nervös an der Perlenkette. »Das macht immer mein
Mann. Ich ging vor ihm zu Bett.«
»Wie lange haben Sie gebraucht, um zu Bett zu
gehen, Mrs. Villiers? Zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Sie haben
sich schließlich nicht ungewaschen und in voller Bekleidung
schlafen gelegt.«
»Natürlich nicht. Ich habe das Licht im
Schlafzimmer angeknipst, mich ausgezogen, bin ins Badezimmer
gegangen und dann ins Bett. Kurz darauf ist mein Mann gekommen. Er
liest immer noch ungefähr eine halbe Stunde, ehe wir das Licht
ausmachen.«
»Schlafen Sie in einem Doppelbett, Mrs.
Villiers?«
»Nein, wir haben getrennte Betten. Da dürfen Sie
sich aber nichts bei denken. Wir führen eine sehr glückliche
Ehe.«
»Ja, das sagten Sie schon. Um wieviel Uhr sind Sie
eigentlich zum Herrenhaus gefahren?«
»Es war ungefähr halb neun, als wir dort
ankamen.«
»Ich glaube, Sie waren öfters zum Bridgespielen
dort«, sagte Burden. »Wie lange blieben Sie in der Regel?«
»In den Ferien manchmal bis Mitternacht.«
»Am Dienstag waren doch noch Ferien, oder? Weshalb
sind Sie so früh gegangen?«
»Mein Mann«, sagte Georgina, und wie immer klang
ein gewisser selbstbewußter Besitzerstolz aus ihren Worten, »mein
Mann mußte in der Schule noch etwas nachschlagen, und...« Sie
schlug sich mit der Hand auf den Mund, doch zu spät, um einen
erschreckten leisen Schrei zu unterdrücken. »Als wir nach Hause
kamen«, stammelte sie, »hat er es sich anders überlegt... Oh, warum
können Sie uns nicht in Ruhe lassen. Wir könnten so glücklich sein,
wenn uns nur alle in Ruhe ließen.«
Burdens Blick blieb starr auf sie gerichtet.
Unbewegt sah er mit an, wie sie zu weinen begann.
“Ich habe den Wagen in der Einfahrt abgestellt«,
sagte Villiers zu Wexford. »Nein, ich habe nicht nachgesehen, ob im
Haus die Hintertür und die Fenster geschlossen waren. Das fällt in
die Zuständigkeit meiner Frau. Ich bin gleich zu Bett gegangen und
sofort eingeschlafen.«
Burden trat ins Zimmer. »Darf ich, Sir?«
»Nur zu«, sagte Wexford.
»Was ist mit der Sache, die Sie in der Schule
nachschlagen wollten? Das Nachschlagen war doch unbedingt
erforderlich, denn deshalb mußten Sie doch schon um halb elf aus
dem Herrenhaus weg?«
Villiers zündete sich eine Zigarette an. »Haben Sie
noch nie einen Vorwand benutzt, um langweiligen Gastgebern zu
entfliehen, Inspector?« fragte er gelassen. »Haben Sie nicht auch
schon mal behauptet, Sie würden einen Anruf erwarten oder müßten
sich um Ihren jungen kümmern?«
Burden blickte ihn finster an; er war wütend, daß
John in diese Vernehmung hineingezogen wurde. Es war demütigend,
feststellen zu müssen, daß Villiers, der ihn als Privatperson
demonstrativ ignorierte, von Anfang an gewußt hatte, daß Burdens
Sohn zu ihm in die Klasse ging.
»Dann war das also eine faule Ausrede«, sagte er
zornig. »Eine bewußte Lüge.«
»Manchmal lüge ich eben«, sagte Villiers und sog
mit einer Art frivoler Genüßlichkeit den Rauch ein. »Ich bin ein
guter Lügner.«
»Aus dem Munde eines Mannes, dem nach eigenem
Bekunden die Meinung anderer gleichgültig ist, klingt das
merkwürdig«, warf Wexford ein, und als er Villiers’ arroganten
Blick zu spüren bekam, fiel ihm plötzlich ein Verspaar ein. Er
zitierte es nicht nur, weil es paßte, sondern weil er ein
drängendes, unbezähmbares Verlangen empfand, Villiers zu beweisen,
daß er kein Trottel, kein tumber, ungebildeter Provinzpolizist war,
wie der Schriftsteller offenbar dachte.
»So stieg, so fiel er, niemals gleich
der Schar Mit der zu atmen er verurteilt war.«
Die Wirkung war verblüffend; damit hatte er in
keiner Weise gerechnet. Villiers rührte sich nicht, wurde aber
kreidebleich. Reglos wie eine Statue schien er auf etwas zu warten,
jedoch nicht auf weitere Worte, dachte Wexford, sondern auf Taten,
auf eine ausschlaggebende entscheidende Handlung. Doch dann,
vielleicht weil die beiden Polizisten verdutzt dastanden und keine
Anstalten dazu machten, lachte Villiers.
Dieses Gelächter brachte Burden in Harnisch.
»Was bezwecken Sie damit eigentlich?« fuhr er ihn
an. »Was möchten Sie damit beweisen? Weshalb möchten Sie sich über
den Rest der Menschheit dermaßen erheben?«
»Erheben - oder mich unterwerfen, Mr. Burden.«
Villiers hatte einen Blick von Wexfords Gesicht gewandt, und seine
Augen waren groß und »So stieg, so fiel er - vergessen Sie
das nicht. Und was ich möchte, ist ganz einfach.« Er stand auf und
wandte ihnen den Rücken zu. »Ich möchte sterben.«
»Was zum Teufel«, sagte Wexford nachdenklich, als
sie wieder im Wagen saßen, »ist denn in den gefahren, als ich diese
Zeile zitiert habe?«
»Keine Ahnung«, sagte Burden. Schließlich raffte er
sich auf. »Äh - von wem stammt das Zitat? Wordsworth?«
»Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, von wem es ist.
Es ging mir nur so durch den Kopf.« Burden nickte gleichgültig. Er
war es gewohnt, mit Zitaten traktiert zu werden, die seinem
Vorgesetzten nur so durch den Kopf gingen. Trockenes Bücherwissen,
und mehr steckte schließlich nicht dahinter, brachte ihn immer in
Verlegenheit. »Aber es wäre interessant, das herauszufinden«, sagte
Wexford. »Gar nicht so leicht, so etwas ausfindig zu machen, wo es
in unserem England von Musensöhnen doch nur so wimmelt.«
»Wir dürften wohl Wichtigeres zu tun haben«, meinte
Burden unwirsch. “Weiterbringen würde uns, wenn wir einen Zeugen
fänden, der bestätigen kann, daß Villiers nach seiner Heimkehr
nicht mehr das Haus verließ.«
»Er oder seine Frau.«
»Ein Jammer, daß ihr Haus so abgelegen ist.«
»Ja. Wir müssen jemand finden, der an dem Haus
vorbeigefahren ist. Aber das hat Zeit bis morgen früh. Lassen Sie
den Schal ins Labor bringen, dann können Sie nach Hause gehen und
den Anstreicher spielen. Körperliche Arbeit regt den Geist an,
Mike, und während Sie den Pinsel schwingen, können Sie sich den
Fall mal gründlich durch den Kopf gehen lassen.«
Burden atmete erleichtert auf und ließ den Wagen
an. »Wen von den beiden haben Sie eigentlich in Verdacht?«
»Sie werden mir vorwerfen, meine Schlüsse seien
voreilig, Mike, aber ich bin mir so gut wie sicher, daß sie es war.
Georgina ist eine kräftige, gesunde junge Frau, körperlich dazu in
der Lage, eine andere Frau mit einer Taschenlampe niederzuschlagen.
Nicht ihr Mann, sondern sie erbt. Sie hielt sich im Herrenhaus auf,
als die Taschenlampe zurückgestellt wurde. Sie kannte sich in dem
Anwesen aus, und möglicherweise ist ihr das Unkrautfeuer früher am
Abend aufgefallen. jedenfalls wußte sie, daß sie ihre Kleidung auf
dem Feuer verbrennen konnte, falls irgendwo - zum Beispiel auf
einem Pullover - Blutflecke zurückbleiben sollten.«
»Das deutet alles auf einen vorsätzlichen Mord
hin«, sagte Burden. »Demnach hätte sie ausgerechnet eine
Taschenlampe als Waffe gewählt.«
»Denken Sie darüber nach. Versuchen Sie, sich einen
Reim darauf zu machen. Ich werde inzwischen Lionel Marriott
aufgabeln und ihn auf ein Glas ins Olive einladen.«