Vierundzwanzigstes Kapitel

Heute habe ich einen Mann ohne Hände getroffen. Er ist eine lebende, atmende Metapher meines Lebens.

Alan Christoffersens Tagebuch

Ich wurde von Vögeln geweckt. Ich weiß nicht, welche Spezies es war, auf jeden Fall eine lästige. Der Krach war vermutlich meine Schuld. Wahrscheinlich schrien sie mich einfach dafür an, dass ich in ihre Welt eingedrungen war.

Kaum dass ich aufgewacht war, war der Schmerz wieder da. Falls Sie selbst je einen Verlust erlitten haben, wissen Sie, was ich meine. Jeder Morgen seit McKales Tod war so gewesen – sobald ich wach war, spürte ich binnen weniger Momente, wie sich die Schwere der Trauer wieder über mich legte. Sie war zumindest zuverlässig, die Trauer.

Ich richtete mich in meinem Zelt auf und massierte meine Beine. Meine Waden schmerzten von dem langen Marsch am Tag zuvor. Ich schätzte, dass ich an die zwanzig Meilen zurückgelegt hatte. So weit war ich an einem Tag nicht mehr gelaufen, seit McKale uns für den Muskelschwund-Benefizlauf angemeldet hatte. Ich hätte ein paar Dehnübungen machen sollen, bevor ich mich schlafen legte. Ich hatte einfach nicht daran gedacht. Ich hatte zu viele andere Dinge im Kopf.

Ich öffnete meinen Rucksack und nahm eine Packung Pop-Tarts und den Orangensaft heraus. In jeder Packung waren zwei Pop-Tarts, aber ich aß nur eines und packte das andere wieder ein. Die Flasche Saft trank ich ganz aus. Dann nahm ich meine Rasierklingen und die Rasiercreme und ging zum Ufer, um mich zu rasieren. Das Wasser war kalt und erfrischte mich, als ich es mir ins Gesicht klatschte, um die Rasiercreme abzuwaschen. Es färbte sich milchig weiß. Ich bin weich, dachte ich. Ich bin weich geworden.

McKales und meine Vorstellung von einer wilden Auszeit war ein Hotel ohne Rund-um-die-Uhr-Zimmerservice. Ich habe einmal gelesen, dass die Männer im Wilden Westen es vermieden hätten zu baden, weil sie glaubten, warmes Wasser würde sie schwach machen. Vielleicht hatten sie Recht. Warmes Wasser hatte mich schwach gemacht.

Als ich mein Rasierzeug wieder einpackte, klingelte mein Handy, und ich zuckte zusammen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich es dabeihatte. Instinktiv sah ich nach, wer der Anrufer war, aber ich kannte die Nummer nicht, daher nahm ich den Anruf nicht entgegen. Das Telefon war meine letzte Verbindung zu der Welt, die ich hinter mir gelassen hatte. Es war mehr als eine Verbindung – dieses schicke Teil war voll mit Kontakten, Terminen und Geschichte – ein Miniatur-Abbild der Welt, vor der ich davonlief. Ich tat, wovon jeder Handybenutzer schon einmal geträumt hat – ich schleuderte das Telefon, so weit ich konnte, in den See. Es verursachte kaum einen Spritzer.

Ich stopfte meine Habe wieder in meinen Rucksack. Dann verließ ich mein erstes Lager und stieg die steile Böschung hinunter, um zurück zur Straße zu gelangen. Der Hügel war glitschig, und während des Abstiegs auf der anderen Seite rutschte ich mehrmals aus, sodass an meinem Gesäß und meinem Rucksack bald Schlamm und Farnblätter klebten. Ich stand auf, wischte mir den Hosenboden ab, säuberte meinen Rucksack und setzte meinen Weg dann fort.

Ich lief etwa zwei Stunden, bis ich die Stadt Monroe erreichte. Ich hatte die Kassiererin in dem Safeway in Woodinville nach Monroe gefragt, und sie hatte mir erklärt, dass die Stadt nicht der Rede wert sei. Ihre Einschätzung war unzutreffend. Monroe war größer, als ich erwartet hatte.

An dem Willkommensschild blieb ich stehen und streckte mich. Jede Stadt hat ein solches Schild, es ist sozusagen die Herzlich-willkommen-Türmatte. Während auf den meisten Schildern nicht mehr als der Ortsname steht, nutzen die etwas ehrgeizigeren Städte diese Schilder zu Werbezwecken. Auf keinem von ihnen steht, was wirklich gemeint ist: OKAY, JETZT BIST DU ALSO HIER. GIB EIN BISSCHEN GELD AUS, UND DANN FAHR WIEDER NACH HAUSE.

Während ich die Main Street von Monroe hinunterging, merkte ich, dass ich angestarrt wurde – durch die Schaufenster von Geschäften, von Parkplätzen aus und aus vorbeifahrenden Autos heraus. Das war ein Phänomen, an das ich mich nie wirklich gewöhnen würde, mit dem ich aber mit der Zeit zu rechnen lernte. In einer Kleinstadt wird ein Fremder, der zu Fuß unterwegs ist, mit mildem Argwohn oder mit Neugier beäugt, im Allgemeinen mit beidem. Zweifellos würde in mindestens einer der Städte, die auf meinem Weg lagen, eines Tages in der Tageszeitung ein Artikel über mein Auftauchen erscheinen, der sich ungefähr so lesen würde:

Unbekannter Mann mit Hut geht durch die Stadt

Am Dienstagnachmittag gegen fünf Uhr ging ein unbekannter Mann mit Hut durch die Stadt. Es gibt keinen Hinweis darauf, was er hier wollte, und er war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Einige der Bürger von Beauville sind darüber fast ein wenig traurig. Mrs. Wally Earp erklärte dem Bugle gegenüber: »Ich hoffe, er kommt wieder und bleibt eine Weile. Ich denke, er würde feststellen, dass wir richtig gastfreundlich sein können. Er hat nicht einmal meinen Apfelauflauf gekostet.« Andere Bürger, wie zum Beispiel Jack Calhoun aus der 76 Main Street, waren froh, ihn wieder verschwinden zu sehen: »Ein Mann, der so einen Hut trägt, kann nichts Gutes im Schilde führen. Er war vermutlich ein Sozialist.« Millicent Turnpikes, Besitzerin von Millie’s Modeboutique in der Nutmeg Street, meinte: »Ich weiß nicht, was er vorhatte, aber der Hut war gut.«

Der unbekannte Mann und sein Hut standen für einen Kommentar nicht zur Verfügung.

Eine halbe Meile hinter dem Ortseingang von Monroe kam ich an einem einstöckigen stuckverzierten Gebäude vorbei. Vor dem Haus stand ein Schild, auf dem ein sitzender Raubdinosaurier zu sehen war. (Ich bin mir nicht sicher, was der Dinosaurier mit Zahnspangen zu tun hatte, auch wenn dieses Exemplar eine hübsche, lückenlose Gebissreihe mit Reißzähnen aufzuweisen hatte.)

DR. BILL, KIEFERORTHOPÄDE

Gute Werbung, dachte ich. Jeder Junge in der Stadt wird eine Zahnspange haben wollen.

Die Kohlehydrate meines Pop-Tart-Frühstücks hatte ich längst verbraucht, aber mein Bedürfnis, allein zu sein, war im Moment noch größer als mein Hunger. Die Restaurants, an denen ich vorbeikam, sahen alle überfüllt aus, daher ging ich einfach weiter. Ich kam an einer ganzen Reihe von Espressobuden vorbei, die in Washington ein häufig vorkommendes Phänomen sind und äußerst gern frequentiert werden. Ich möchte wetten, dass es in Seattle mehr Coffee-Shops pro Einwohner gibt als in jeder anderen Stadt der Welt. Kein Wunder, dass Seattle der Geburtsort von Starbucks ist.

Am Ortsausgang befand sich ein Drive-in-Schnellrestaurant, ein Jack in the Box. Vermutlich war es genauso voll wie all die anderen Diners, an denen ich bereits vorbeigelaufen war, aber es war meine letzte Chance auf eine warme Mahlzeit, und mein Magen knurrte mich mittlerweile lautstark an, daher ging ich hinein.

Beim Eintreten bemerkte ich die verstohlenen, besorgten Blicke der Essensgäste, die bereits an den Tischen saßen. Ich trug keinen Bart, daher nahm ich an, dass irgendetwas an dem Rucksack sie so nervös machte. Mein Kopf ließ sich diesen Zungenbrecher einfallen:

Rastloser Reisender auf der Rast lässt
die Rastenden ausrasten.

Es war nur der Werbetyp in mir, der sich einen Spaß machte – oder durchgeknallt war. Ich bestellte mir ein Sandwich mit Wurst und Ei und zwei Päckchen Orangensaft, dann setzte ich mich zum Essen in eine freie Ecke. Auf dem Tisch neben mir lag eine Seattle Times, und ich schnappte sie mir, um einen Blick auf die Schlagzeilen zu werfen. Ich sah den Mann nicht, der auf mich zutrat.

»Hey, ’tschuldige die Störung, Mann, aber könntest du mir vielleicht mit ’nem Frühstück aushelfen?« Ich sah auf. Der Fragende hatte einen buschigen Bart und wilde Haare, die aussahen, als seien sie seit einem Jahr oder noch länger nicht mehr gewaschen worden. Tiefe Narben zogen sich über sein Kinn, aber sie waren nicht so auffällig wie die braunen, warzenartigen Flecken, die seine Haut entstellten, sodass er aussah, als hätte ihm irgendjemand Schlamm ins Gesicht gespritzt. Er trug eine hellblaue Krankenhaushose, die zu locker saß und so tief unter der Taille hing, dass nicht nur sein Gesäß fast entblößt war. Ich fragte mich, warum er sie nicht hochzog, bis ich seine Hände sah. Er hatte keine. Nach dem Aussehen der Stummel zu urteilen, waren sie an den Handgelenken chirurgisch entfernt worden. Was in aller Welt konnte eine Amputation beider Hände nötig gemacht haben? »… Ein großes Frühstück mit Pfannkuchen kostet drei Dollar«, sagte er.

Noch vor ein paar Tagen wäre mir die Nähe dieses Mannes unangenehm gewesen. Aber jetzt ging es mir nicht so. Ich nehme an, ich empfand eine Art Verwandtschaft. Wir waren beide obdachlos. Ich öffnete meine Brieftasche und zückte vier Dollar. »Hier.«

»Danke.« Er streckte die Arme aus und nahm die Scheine zwischen seine beiden Stummel. »Das weiß ich zu schätzen.«

Er ging nach vorn, warf die Scheine auf die Theke und sagte etwas zu der ängstlichen jungen Frau an der Kasse, die es vermied, ihn anzusehen. Ein paar Augenblicke später kam er mit einer Tüte Essen zurück in den Speiseraum. Er setzte sich an den Tisch neben mir. Ich warf einen Blick hinüber, um zu sehen, wie er ohne Hände Pfannkuchen essen würde.

»Danke noch mal«, sagte er.

»Keine Ursache«, sagte ich. Ich wandte mich wieder der Zeitung zu, aber ich sah immer wieder zu ihm hinüber. Er hob einen Pfannkuchen mit seinen Stummeln hoch und begann zu essen. Nach einem Augenblick fragte ich ihn: »Wie heißt du?«

Er wandte sich zu mir um und sah mich an. »Will.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Will«, sagte ich. Er streckte einen Arm aus. Es war ein bisschen umständlich, aber ich schüttelte ihn. »Was ist denn mit deinen Händen passiert?«

Meine Frage schien ihn nicht zu stören. »Die Sache ist die, ich mag Bikes«, sagte er.

»Bikes?«

»Ja. Mountainbikes. Diamondback. Und Hügel. Hügel haben was. Es ist eine Verlockung, weißt du. Hügel sind eine Verlockung. Ich hatte einen Unfall an einem Hügel. Und die Ärzte, na ja, sie haben mir das Leben gerettet, aber sie mussten mir die hier abnehmen.« Er hob die Arme. »Aber sie haben mir das Leben gerettet. Das ist gut.«

»Ist es das?«, sagte ich.

Er sah mich fragend an, dann streckte er die Arme nach unten aus und hob den Pfannkuchen hoch und nahm noch einen Bissen. Auf seinem Tablett standen ein kleiner Plastikbehälter mit Sirup, aber es war offensichtlich, dass er ihn unmöglich selbst öffnen konnte.

»Soll ich dir den Sirup aufmachen?«

»Ja. Danke.«

Ich zog den Deckel von dem Behälter ab und goss ihm etwas Sirup über die Pfannkuchen. Ich wusste nicht, warum ich mich so für diesen Mann interessierte. »Hast du Familie?«, fragte ich.

Er wandte den Blick ab, und ich bemerkte, dass er kurz zusammenzuckte. »Ja.«

»Wo wohnst du?«, fragte ich.

»In der Notunterkunft, wenn es kalt ist.«

»So wie jetzt?«

»Jetzt ist es nicht kalt.«

»Gibt es hier in der Nähe denn eine Notunterkunft?«

»In Seattle.«

Ich fragte mich, was er dann in Monroe tat. Natürlich hätte ich mich dasselbe fragen können. Ich war nie auf die Idee gekommen, dass die Obdachlosen, denen ich in der Nähe meiner Agentur in der Innenstadt begegnete, Pläne und Termine haben könnten. »Was machst du tagsüber?«

»Ich gehe«, sagte er. »Früher war ich oft in der Mall. Aber dort haben sie mich nicht so gern. Manchmal schikanieren mich die Wachschutzleute. Einmal haben sie mich zusammengeschlagen, nur so zum Spaß, deshalb gehe ich da kaum noch hin. Aber ich stelle es mir vor. Es ist leichter, nur so zu tun, als würde ich hingehen. Es ist besser, nur so zu tun als ob. Ich kann bei allem so tun, als würde ich dorthin gehen. Ins Kino. In ein Restaurant. Ich kann nach New York City oder Paris oder Moskau gehen. Das alles kostet mich nicht einen Dime. Es ist genau dasselbe, nur leichter. Aber noch besser ist es, Bücher zu lesen.«

»Du magst Bücher?«, fragte ich.

»Ja. Aber die Buchhandlungen mag ich nicht mehr. Sie mögen mich dort nicht. Sie haben mich dort nie zusammengeschlagen, aber es gibt Essen in den Buchhandlungen und Kaffee, außer in den Crown-Buchhandlungen, aber von denen gibt’s ja kaum noch welche. Man sollte Kaffee und Essen nicht in der Nähe von Büchern anbieten. Das ist nicht richtig. Ich mag King.«

»Stephen King?«

Er beugte sich vor. »Kennst du Mr. King?«

»Ich kenne seine Bücher.«

»Ich mag Dumas und Mitchum. Mit Schulbüchern kenne ich mich nicht aus.« Auf einmal wurde seine Miene ernst. »In der Schule hatte der Lehrer das Lehrerbuch. Da standen alle Antworten drin. Warum geben sie den Schülern nicht einfach das Lehrerbuch? Dann hätten sie alle Antworten. Gehen sie dafür nicht zur Schule?

Weißt du, egal, wohin ich gehe, ich halte immer … halte immer nach dem Lehrerbuch Ausschau. Wenn ich es nur finden könnte, dann könnte es vielleicht …« Er musterte mich. Ich konnte spüren, dass er zu ergründen versuchte, ob er mir vertrauen konnte. Er beugte sich vor und sagte etwas leiser: »Einmal habe ich es gefunden, weißt du. Ich habe es gefunden und angefangen, es zu lesen, aber dann bin ich umgekippt, bevor ich alle Antworten bekommen konnte. Ich lag ohnmächtig auf dem Boden. Es war zu viel Wissen. Wie in der Bibel: Wenn es dort Dinge gibt, die die Leute nicht wissen dürfen, dann versiegelt Gott sie in Büchern. Und jetzt kann ich das Lehrerbuch einfach nicht mehr finden. Wenn ich es nur finden könnte … Da stehen alle Antworten drin.«

»Da stehen nicht alle Antworten drin«, sagte ich. »Nirgendwo stehen alle Antworten drin.«

Er verzog das Gesicht. »Im Lehrerbuch stehen die Antworten.«

»Es gibt kein Lehrerbuch«, sagte ich wütend.

Er sah mich neugierig an, dann sagte er: »Du weißt nicht, was in einem Augenblick passieren kann. Zeit ist gar nichts. Die ganze Geschichte der Menschheit könnte blitzschnell vorbei sein. Wir wissen es nicht. Ich denke, manchmal lese ich in einem Augenblick jedes Buch auf der Welt. Jedes Buch auf der Welt bis auf das Lehrerbuch.«

»Es gibt kein Lehrerbuch«, rief ich. »Es gibt keine Antworten. Entsetzliche Dinge geschehen ohne einen verdammten Grund. Sieh dir doch nur deine Hände an.«

Er sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. Andere Gäste des Lokals taten das ebenfalls. Einen Augenblick später sagte er: »Ich lese keine Bücher mehr, ich tue nur noch so als ob. Und ich beschütze sie. Bücher waren früher so schön, sie hatten diesen … du weißt schon, Pappumschlag. Man muss sie beschützen, vor allem vor dem Kaffee und diesem ganzen Essen, das es jetzt in den Buchhandlungen gibt.«

Ich aß mein Sandwich auf, leerte das letzte Saftpäckchen und stand auf. Ich wollte nicht länger mit ihm reden. Ich nahm einen Fünfdollarschein aus meiner Brieftasche und warf ihn neben seinen Pfannkuchen auf den Tisch. »Das ist fürs Mittagessen.«

»Danke.« Er wandte sich wieder seinem Frühstück zu.

Ich schulterte meinen Rucksack und machte mich wieder auf den Weg. Etwa einen Block hinter dem Jack in the Box war die Abzweigung zum Highway 2. Obwohl ich schon fast 25 Meilen zurückgelegt hatte, hatte ich das Gefühl, erst jetzt den ersten Schritt meiner Reise zu tun.

Das erste Gebäude, an dem ich vorbeikam, war der Reptilienzoo. Von außen sah es wie ein heruntergekommenes Cracker-Barrel-Restaurant aus. Ich stellte mir vor, dass es darin eine Menge Glasterrarien gab, voller Klapperschlangen mit trüben Augen und Gila-Krustenechsen mit giftigen Mäulern. Ich fragte mich, warum wir so fasziniert von Dingen sind, die uns töten können. An jedem anderen Tag hätte ich vermutlich einen Zwischenstopp eingelegt und die sieben Dollar Eintritt bezahlt, weil ich solche Dinge mag. Schon immer gemocht habe.

Ich ging weiter. Keinen Block hinter dem Museum stand ein alter Schulbus, der zu einem Restaurant umgebaut worden war. Es hieß Old School BBQ. McKale liebte Barbecue. Das hätte ihr gefallen, dachte ich.

Etwa fünf Meilen hinter Monroe kam ich an einem kleinen Gebäude vorbei, das irgendein Gläubiger am Straßenrand errichtet hatte. Auf einem verwitterten, handbemalten Schild davor stand in einer schnörkeligen, altmodischen Schrift:

Wegekapelle
Halte inne. Raste. Bete.

Die Kapelle war ein scheunenartiger Bau, der um eine Art Kirchturm erweitert worden war. Ich überquerte die Straße, um einen Blick hineinzuwerfen. Schmutzig bunte Plastikblumen standen vor dem Eingang. Ich öffnete langsam die Tür, nur für den Fall, dass irgendjemand in der Kapelle sein sollte, aber sie war leer. An der Stirnwand hing ein großes Holzkreuz, das aus fleckigen Kanthölzern gemacht war. Es gab vier Bänke, jede groß genug für zwei Leute.

Ich trat ein und ging nach vorn. Auf der Kanzel hatten Vorüberkommende Nachrichten und Briefe hinterlassen. Außerdem war da ein Stapel mit Musik-CDs, die jemand in der ersten Reihe liegen gelassen hatte: Marvin der Fromme und die heiligen Sänger – Macht fröhlichen Lärm. Es gab ein Bild von Marvin und seiner Band. Sie trugen einheitliche orangefarbene Polyester-Overalls. Marvins Frisur erinnerte an ein Chia-Haustier, dem man einen Achtzigerjahre-Vokuhila-Schnitt verpasst hatte. Außerdem gab es eine große Bibel, ein altes, weißes Lederbuch, das beim 2. Brief an die Thessalonicher aufgeschlagen war:

Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, der uns Seine Liebe zugewandt und uns in Seiner Gnade ewigen Trost und sichere Hoffnung geschenkt hat …

In Seiner Gnade ewigen Trost und sichere Hoffnung, dachte ich. Ich schloss die Bibel. Liebe und Trost? In einem plötzlichen Wutanfall schleuderte ich das Buch gegen die Wand. Liebe, Hoffnung und Gnade? Was für ein Witz. Ich verließ die Kapelle und wünschte, ich hätte sie gar nicht erst betreten.

Es dauerte fast eine Meile, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Aber die Wut war noch immer da. Dieses Gefühl war immer da gewesen, verborgen hinter einer dünnen Fassade aus Höflichkeit. Die Kapelle hatte meine Wut nur bloßgelegt.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit der Straße zu. Der Highway vor mir führte jetzt fast in einer geraden Linie auf den Horizont zu, und ich konnte die Berge in der Ferne deutlich sehen. Wolken und Schnee ließen sie weiß erstrahlen. Bäume standen auf den verschneiten Hängen wie Bartstoppeln. Der Berg war mein Ziel. Das ist ein richtig langer Weg, dachte ich. Ich schüttelte den Kopf und lachte über meine eigene Dummheit. Das war noch gar nichts verglichen mit dem, was ich vorhatte. Wenn ich das ganze Land durchqueren wollte, dann würde ich noch vor etwa einem halben Dutzend Bergpässe stehen, neben denen dieser hier wie ein Maulwurfshügel aussehen würde.

Ich legte etwa zwölf weitere Meilen zurück, bis ich die Stadt Sultan erreichte. Der einzige Weg in die Stadt führte über eine schmale Metallbrücke ohne Fußgängerspur. Die Autos schossen mit fünfzig oder mehr Meilen in der Stunde über die Brücke, und ich war mir unschlüssig, was ich tun sollte. Es sah nach einer sicheren Methode aus, überfahren zu werden. Nur fürs Protokoll: Ich hatte keine Angst vor dem Sterben. Ich hatte Angst davor, fast zu sterben. Das ist nicht dasselbe.

Ich überlegte kurz, was ich tun sollte, dann fand ich eine Lösung. Parallel zu der Highwaybrücke verlief noch eine andere Brücke, eine Eisenbahnbrücke. Fast zu sterben, war bei einem Zug nicht möglich. Züge können nicht ausweichen.

Ich kletterte hinüber auf die Brücke und suchte mir vorsichtig einen Weg zwischen den schweren, rostigen Schienen und den hölzernen Brückenböcken. Die Brücke war ungefähr siebzig Meter lang, und ich kam nur langsam voran. Dennoch erreichte ich die andere Seite ohne den geringsten Zwischenfall. Ich fragte mich, ob das Gleis überhaupt noch benutzt wurde. Ein Teil von mir war enttäuscht. Ich verließ die Gleise und ging weiter in Richtung Stadt.

Bei einem Deli legte ich eine Mittagspause ein. Ich bin mir nicht sicher, ob der Deli überhaupt einen Namen hatte. Falls nicht, war es rückblickend betrachtet eine kluge Entscheidung der Inhaber, ihm keinen zu geben. Ich bestellte mir ein Schinken-Käse-Sandwich mit einer kleinen Portion Kartoffelsalat und eine Cola. Obwohl ich großen Hunger hatte, rührte ich das Essen kaum an. Es schmeckte grauenhaft. Kurz, hätte man die Wahl zwischen einer solchen Mahlzeit und Rasierklingen, würde jeder sehr gründlich abwägen, was von beidem er essen soll. Nachdem ich den Deli verlassen hatte, nahm ich ein Pop-Tart aus meinem Rucksack und aß es im Gehen.

Die nächste Stadt, in die ich kam, hieß Startup. Es war eine dieser Gemeinden, die so klein sind, dass man sie leicht übersieht, wenn man nicht genau hinschaut. Sie schien hauptsächlich aus Wohnwagen und hohem Gras zu bestehen.

Wie Bill Bryson so treffend bemerkte, sind amerikanische Städte im Allgemeinen »nach dem ersten Weißen benannt, der dorthinkam, oder nach dem letzten Indianer, der wegging«. Das hier, dachte ich, war eine willkommene Ausnahme, hier hatte der Stadtrat ein bisschen Initiativgeist gezeigt. Ich hatte mich getäuscht. Den Ursprung des Namens verriet eine Gedenktafel in der Nähe der Tankstelle, bei der ich kurz anhielt, um die Toilette zu benutzen.

Offenbar hatte die Stadt ursprünglich Wallace geheißen, nach dem ersten weißen Siedler, aber die Post schickte die Briefe der Stadt nach wie vor nach Wallace, Idaho, sodass eine Abstimmung durchgeführt und der Name offiziell in Startup geändert wurde. Dieser Name kündete nicht jedoch von irgendwelchen optimistischen Plänen, sondern vielmehr von George Startup, dem Geschäftsführer des Holzunternehmens Wallace Lumber Company. Bryson hatte sich getäuscht. Wie Städte genannt werden, ist, wie alles andere auf dieser Welt, eine Frage des Geldes und der Politik.

Die nächste Stadt hieß Gold Bar. Das Schild am Ortseingang erklärte sie zum »Tor der Kaskaden«. Das Stadtzentrum bildeten ein riesiger Totempfahl und mehrere Kaffeebuden: The Coffee Coral, Let’s Go Espresso und Espresso Chalet.

Während ich all diese kleinen Städtchen durchquerte, grübelte ich immer wieder über ihre Bewohner nach. Wieso hatten sie sich hier niedergelassen, und – was mir ein noch größeres Rätsel war – wieso waren sie geblieben? Hatten sie das nur getan, weil ihnen der Ort vertraut war? Ist der Mensch wirklich so anhänglich?

In Gold Bar stand eine Kirche am Straßenrand, die etwas größer war als die, bei der ich angehalten hatte: die Vitality Christian Church. Es handelte sich um eine Hütte, die aus einem einzigen Raum bestand, mit einem großen Kreuz, das an die Außenwand genagelt war. Diesmal war ich so vernünftig, einfach weiterzugehen.

Im Laufe des Tages regnete es immer wieder – nicht genug, um meinen Weg zu unterbrechen, aber genug, dass ich bis auf die Knochen durchnässt war, fror und mich erbärmlich fühlte. Ich hatte etwa zwanzig Meilen zurückgelegt und überlegte, ob ich mein Lager aufschlagen sollte, als ein Schild Zeke’s Drive-in ankündigte, das Zuhause weltberühmter Shakes.

Es ist ein seltsames Phänomen, dass fast alle dieser Imbissbuden am Straßenrand irgendetwas haben, wofür sie angeblich weltberühmt sind. Ich fragte mich, ob es nur ein Marketing-Hype war oder ob tatsächlich irgendetwas passiert war, das dem Besitzer das Gefühl gab, diesen Titel zu verdienen.

Neben dem Drive-in befand sich ein roter Eisenbahnwaggon. Als ich näher kam, sah ich, dass auf dem Grundstück dahinter einige »Betreten-verboten«-Schilder standen. Ich beschloss, mir etwas zu essen zu holen und mich nach Campingplätzen in der Nähe zu erkundigen.

Die Speisekarte war eine von Hand beschriebene Sperrholztafel, die an der Außenwand befestigt war. Zeke’s hatte die übliche Drive-in-Kost – bis auf eine bemerkenswerte Ausnahme: den Straußenfleisch-Burger. Im Gegensatz zu mir probierte McKale gern Neues aus und hätte ihn vermutlich bestellt.

Ein hochgewachsener Mann mit bernsteinfarbenem Haar stand am Fenster und sah mich kommen. Auf dem Grill hinter ihm flackerten kleine Fettfeuer. Als ich noch etwa zehn Schritte von dem Fenster entfernt war, fragte er: »Was darf ’s sein?«

»Wie schmeckt denn ein Straußenfleisch-Burger?«

Die Antwort kam so schnell, dass ich vermutete, dass ihm die Frage schon zehntausendmal gestellt worden war. »Strauß ist beliebt. Es ist rotes Fleisch, wissen Sie, so wie Rindfleisch, aber magerer. Sehr mager. Es ist toll für Leute, die auf ihre Linie achten.«

McKale hätte es eindeutig bestellt. Um meine Linie musste ich mir dieser Tage nicht allzu viele Gedanken machen, aber meine Neugier war geweckt. »Ich nehme einen«, sagte ich. »Was ist denn der Unterschied zwischen dem normalen Straußenfleisch-Burger und dem Deluxe-Straußenfleisch-Burger?«

»Käse und Pickles«, sagte er.

»Ich nehme den Deluxe.«

»Wollen Sie Pommes frites dazu?«

»Gern.«

Er notierte die Bestellung mit einem Bleistiftstummel.

»Und ich hätte gern einen Ihrer weltberühmten Shakes.« Ich betonte das Wort weltberühmt, als würde ich meine Stimme mit Anführungszeichen versehen, aber er zeigte keine Reaktion.

»Welchen denn?«

Die Liste der Shakes und Malzgetränke nahm mindestens zwei Drittel der Speisekarte ein. Die Geschmacksrichtungen reichten von Banane-Karamell bis Grashüpfer. Außerdem gab es zwei saisonale Spezialitäten, Lebkuchen und Rhabarber. Ich fragte ihn, welche besser sei.

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ob Sie lieber Lebkuchen oder Rhabarber mögen.«

Dumme Frage. »Ich probiere Rhabarber.«

»Gute Wahl.« Er tippte meine Bestellung ein. Ich reichte ihm einen Zehndollarschein, und er gab mir etwas Wechselgeld und einen Kassenzettel wieder. »Sie sind Nummer vierunddreißig«, sagte er, was mich leicht amüsierte, da außer mir niemand wartete.

»Gehört dieser Wald hinter dem Restaurant Ihnen?«

»Nein. Ich weiß nicht, wem er gehört. Das ist ein Privatgrundstück. Eines Tages standen die ›Betreten-verboten‹-Schilder einfach da.«

»Würde ich Ärger bekommen, wenn ich dort zelte?«

»Möchte ich bezweifeln. Hin und wieder sehe ich da morgens jemanden wegschleichen. Wir hatten sogar mal einen Burschen, der über ein Jahr dort gelebt hat. Niemand hat sich groß darüber aufgeregt. Und er war auch nicht besonders vorsichtig. Hat sich eine kleine Hütte gebaut. Ich komme jetzt nicht mehr auf den Namen.« Er wandte sich zu dem Mädchen am Grill um. »Wie hieß gleich wieder dieser Bursche, der in dem Wald dort hinten gelebt hat?«

Sie sagte etwas, und er nickte. »Ach ja.« Er wandte sich wieder um. »Sein Name war Itch. Sein Vater war in Seattle eine große Nummer in der Politik. Er hat über ein Jahr dort gelebt. Keine Ahnung, warum er sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hat. Es hat ihm hier einfach gefallen, nehme ich an. Er ist immer den Highway auf- und abgelaufen und hat das verlorene Kleingeld und die Aluminiumdosen der Leute eingesammelt, und wenn er genügend Geld beisammenhatte, ist er hierhergekommen und hat sich was zu essen geholt. Eines Tages ist er dann einfach auf und davon. Ich hab ihn seitdem nicht mehr gesehen. Warum fragen Sie?«

Ich hatte ganz vergessen, was ich gefragt hatte. »Frage ich was?«

»Ob Sie da hinten zelten können.«

»Ich suche nach einem Ort zum Übernachten.«

»Na, bei dem Regen werden Sie da aber ganz schön nass werden.« Hinter ihm flackerte wieder eine Flamme auf. »Wo kommen Sie her?«

»Aus Seattle.«

Er musterte mich kurz, dann sagte er: »Sie können in dem Eisenbahnwaggon schlafen.«

Ich sah auf den großen roten Eisenbahnwaggon. »Der da drüben?« Noch eine dumme Frage.

»Das ist der Einzige, den ich habe. Es gibt keine Matratzen mehr. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, auf Holz zu schlafen …«

»Danke. Ein Dach über dem Kopf würde ich sehr zu schätzen wissen.«

Hinter ihm rief jemand: »Nummer vierunddreißig!«

Er wandte sich um und packte mein Essen in eine Tüte, dann reichte er sie mir zusammen mit dem Shake. »Wenn Sie gegessen haben, kommen Sie einfach wieder her, dann schließe ich Ihnen den Waggon auf.«

»Danke.«

Der Essbereich befand sich hinter dem Restaurant in einem separaten Gebäude. Der Raum war sauber und mit sechs Picknicktischen eingerichtet. An den Wänden hingen Landkarten mit den Wanderwegen der näheren Umgebung und ein Artikel über Bärenangriffe. (Der Artikel war von der örtlichen Handelskammer veröffentlicht worden, daher wurde darin viel Gutes über Bären gesagt.)

Ich setzte mich an einen der Tische und wickelte meinen Straußenfleisch-Burger aus dem Wachspapier. Straußenfleisch mag aussehen wie Rindfleisch, aber es schmeckt nicht so gut. Ich goss einfach noch ein bisschen Ketchup darüber.

Meinen Füßen tat die Pause gut. Seit dem Tag zuvor hatte ich meine Socken nicht mehr gewechselt, und ich hatte das Gefühl, als würde mein Fleisch sie aufsaugen. Ich freute mich darauf, sie auszuziehen, aber so weit war es noch nicht. Ich war noch beim Essen.

Als ich mit dem Essen fertig war, machte ich den Tisch sauber. Dann ging ich zurück zu dem Drive-in. Inzwischen parkten drei Autos davor, und vor dem Fenster hatte sich eine Schlange gebildet. Als der Mann mich kommen sah, sagte er: »Warten Sie einen Augenblick. Ich muss Ihnen aufschließen.« Etwa zwanzig Minuten später trat er aus einer Seitentür ins Freie. »Hier entlang.«

Ich folgte ihm hinter das Gebäude und dann ein paar Stufen hoch zu dem Eisenbahnwaggon. Er zückte einen Schlüsselring und sperrte die Tür auf. Wir traten beide ein und standen dann in dem schmalen Gang des Waggons. Das Innere des Waggons war U-Boot-grau gestrichen und roch nach nasser Farbe. »Benutzen Sie das Klo besser nicht«, sagte er. »Es funktioniert nicht, und es gäbe eine Riesensauerei. Sie können die Toiletten hinter dem Restaurant benutzen. Ich werde die Tür offen lassen.«

Ich staunte, wie viel Vertrauen er einem völlig Fremden entgegenbrachte.

»Danke.«

»Keine Ursache.«

Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ich hatte noch nie in einem Zug gesessen (es sei denn, man zählt die Parkeisenbahn im Disneyland dazu), geschweige denn, in einem geschlafen. Die Schlafkoje war eine lange, hölzerne Schale, in der früher einmal eine Matratze gelegen hatte. Ich rollte meine Isomatte aus, zog den Reißverschluss meines Schlafsacks auf und breitete ihn darüber aus. Ich legte mich probehalber hin. Nicht schlecht. Hart, aber daran gewöhnte ich mich allmählich. Weich war in meinem Leben kaum noch etwas.

Mit dem Einbruch der Nacht wurde der Regen heftiger, und das Geräusch wurde durch die hölzerne Kiste verstärkt, in der ich Unterschlupf gefunden hatte. Ich war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.

Ich nahm die Taschenlampe und mein Reisetagebuch aus meinem Rucksack, um mir ein paar Notizen zu dem Tag zu machen. Ich schrieb ein paar Zeilen über den Obdachlosen in dem Jack in the Box und das Lehrerbuch. Ich fragte mich, ob ich im Laufe der Zeit so werden würde wie er – von Dingen schwafeln, die andere nicht verstehen konnten. Das Lehrerbuch.

Ich hasste die Nacht und die Dämonen, die bis zum Einbruch der Dunkelheit warteten, bevor sie sich zeigten. Obwohl ich den ganzen Tag an McKale und manchmal auch an Kyle und seinen Verrat dachte, besaß das Gehen doch eine Macht, die meine Dämonen in Schach hielt. Aber in der Stille der Nacht kamen sie scharenweise hervor. In solchen Stunden fühlte ich mich wie ein Fremder in meinem eigenen Kopf; ich wanderte durch eine geheimnisvolle und gefährliche Landschaft.

Ich glaube, es war Twain, der schrieb: »Ich nehme an, ich bin wie der Rest der Menschheit: nachts nicht ganz richtig im Kopf.«