Achtzehntes Kapitel
Mein Herz wurde mit ihr zu Grabe getragen. Von mir aus hätte man gern auch den Rest von mir zusammen mit ihr begraben können. So sehr ich auch darüber nachgegrübelt habe, ich sehe doch keine Möglichkeit, den Schmerz zu vermeiden. Um dem Tod den Schmerz zu nehmen, müsste man dem Leben die Liebe nehmen.
Alan Christoffersens Tagebuch
Am nächsten Morgen regnete es noch immer. Roboterartig duschte ich, rasierte mich und zog mich an. Als ich mein Spiegelbild ansah, sagte ich: »Gott hasst dich.« Das war die einzige Erklärung für mein Leben. Ich hatte zwei Frauen geliebt, und Er hatte mir beide genommen. Gott hasste mich. Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.
Um 10.45 Uhr fuhren mein Vater und ich zusammen zum Bestattungsinstitut. Vor der Beisetzung fand eine einstündige Totenwache statt. Ich stand neben dem offenen Sarg, neben dem leblosen Körper der Frau, die ich liebte. Déjà-vu. Als der Sargdeckel geschlossen wurde, hätte ich vor Schmerz am liebsten aufgeschrien. Ich wollte mich zu ihr hineinlegen.
Die Trauerfeier war schlicht. »Schön«, hörte ich jemanden sagen. Schön. Das ist, als würde man einen Flugzeugabsturz als gut ausgeführt bezeichnen. Die Feier wurde von einem Angestellten des Bestattungsunternehmens durchgeführt, und ein Pfarrer, ebenfalls von dem Bestattungsunternehmen engagiert, sprach ein paar teilnahmsvolle Worte. Ich kann mich nicht erinnern, was er sagte. Mein Verstand war wie benebelt. Irgendetwas vom ewigen Wesen des Menschen. McKales Stiefmutter Gloria, eine ehemalige Opernsängerin, sang eine Hymne. »Wie groß bist Du.« Dann sprach McKales Vater ein paar Worte, oder er versuchte es zumindest. Hauptsächlich schluchzte er sich durch seine Totenrede. Ein Gebet wurde gesprochen, und dann stand der Mann vom Bestattungsunternehmen wieder auf und gab Anweisungen für den Ablauf der Beisetzung.
McKales Vater sowie vier seiner Freunde und mein Vater waren die Sargträger. Sie trugen den Sarg zu dem wartenden Leichenwagen, luden ihn hinten ein und gingen dann zu ihren jeweiligen Wagen. Wir fuhren in einer Prozession eine knappe halbe Meile weit. Am Friedhof angekommen, schulterten die Sargträger den Sarg wieder und trugen ihn eine kleine Anhöhe hinauf.
Nachdem sie den Sarg abgestellt hatten, nahmen sie ihre Ansteckblumen aus den Knopflöchern und legten sie auf den Sargdeckel. Sam trat auf mich zu. »Ich habe sie getragen, als sie ein kleines Mädchen war. Kein Vater sollte so etwas durchmachen müssen.«
McKales Grab befand sich etwa in der Mitte des Friedhofs Sunset Hills und war umgeben von wesentlich älteren Gräbern. Das Bestattungsunternehmen hatte einen Leinenbaldachin aufgestellt, um die Familie vor dem Regen zu schützen, während sich alle anderen unter ihre Schirme duckten. Der Regen hörte nicht auf. Es war ein Dauerregen, der sich schließlich in einem Wolkenbruch entlud, sodass nach dem Ende der Beisetzung alle rasch zu ihren Wagen huschten.
Während sich die Trauergemeinde zerstreute, kam eine ältere Frau langsam auf mich zu. Ich war mir sicher, dass ich ihr noch nie begegnet war, obwohl mir irgendetwas an ihr seltsam vertraut vorkam. Sie war völlig aufgelöst. Ihre Augen waren gerötet und verquollen und ihr Gesicht tränenverschmiert. Als sie vor mir stand, sagte sie: »Ich bin Pamela.«
Ich sah sie verständnislos an. »Entschuldigung. Kennen wir uns?«
»Ich bin McKales Mutter.«
Ich blinzelte verwirrt. »McKale hat keine …« Auf einmal begriff ich. Ich war immer davon ausgegangen, dass McKales Mutter gestorben sei. Als ich sie nun sah, erinnerte ich mich an jeden schmerzerfüllten Augenblick, den McKale seit dem Tag, an dem ich sie kennenlernte, ihretwegen durchlebt hatte. Die Tatsache, dass sie jetzt hier war, erfüllte mich mit Zorn. Ich versuchte, meine Gefühle im Zaum zu halten, um nicht zu explodieren. »Was wollen Sie?«
»Ich habe mir immer gesagt, dass ich ihr eines Tages alles erklären würde. Aber dieser Tag ist nie gekommen.«
»Die Annahme, es gäbe immer ein Morgen«, sagte ich düster.
»Wie bitte?«
Ich rieb mir die Nase. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie sehr Sie sie verletzt haben?«
Ich konnte sehen, wie tief meine Worte sie trafen. »Es tut mir leid.«
Einen Augenblick lang sah ich in ihr erschöpftes, runzeliges Gesicht. »Sie haben einen ganz besonderen Menschen verpasst. McKale war eine wunderschöne Frau. So leid mir mein eigener Verlust auch tut, ihrer tut mir noch viel mehr leid.«
Tränen traten ihr in die Augen. Dann wandte sie sich um und ging davon.
Ein paar Minuten später trat Sam auf mich zu. »Du hast Pamela kennengelernt.« Ich nickte. Er legte die Arme um mich und vergrub den Kopf an meiner Schulter. »Weißt du überhaupt, wie sehr McKale dich geliebt hat? Du warst ihre Welt.«
»Sie war meine«, erwiderte ich. Wir weinten beide.
»Wir bleiben in Verbindung«, sagte er. Gloria nahm ihn beim Arm. »Wenn du irgendetwas brauchst, Alan, …«
»Danke.«
Sie gingen Arm in Arm die Anhöhe hinunter zu ihrem Wagen.
Mein Vater trat auf mich zu. Er hielt einen Regenschirm in der Hand. »Bist du so weit, mein Sohn?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht verlassen.«
Er nickte verständnisvoll. »Ich werde mit Tex zurückfahren.« Er bot mir seinen Schirm an, aber ich schüttelte den Kopf. Er legte mir eine Hand auf die Schulter, dann ging er langsam davon.
Ich sah ihm nach, wie er vorsichtig den Hügel hinunterstieg. Er war alt geworden in den letzten Jahren. Ich hatte immer Probleme mit meinem Vater gehabt. Ich weiß, wer hat das nicht? Offenbar ist es ein beliebter nationaler Zeitvertreib, die Eltern für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen. Aber in diesem Augenblick empfand ich nichts als Mitleid. Er hatte dasselbe durchgemacht. Und irgendwie hatte er es überstanden. Er war ein besserer Mensch als ich.
Als alle anderen fort waren, stand ich allein neben ihrem Grab, während der Regen mich völlig durchnässte. Es war mir egal. Es gab keinen anderen Ort, an dem ich sein wollte. Eine halbe Stunde später stellte ich fest, dass noch jemand geblieben war. Falene trat auf mich zu. »Komm, Alan.«
Ich rührte mich nicht.
Sie legte mir eine Hand auf den Arm. »Komm schon. Du bist ja triefend nass. Du wirst noch krank werden.«
Ich wandte mich um und sah sie an. Mein Gesicht war nasser von Tränen als vom Regen. In diesem Augenblick brach der emotionale Damm. »Ich kann sie nicht verlassen …«
Falene schlang die Arme um mich und zog mich an sich. Sie hielt mich fest, im Regen. Immer wieder sagte sie: »Es tut mir so leid. Es tut mir so leid.«
Ich weiß nicht, wie lange wir so dort standen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Als ich keine Tränen mehr hatte, sah ich sie an. Sie weinte ebenfalls. »Komm mit zu mir nach Hause, bitte.« Sie nahm meine Hand. »Ich werde mich um dich kümmern.«
Sie führte mich zu ihrem Wagen, dann öffnete sie die Beifahrertür, und ich stieg ein. Sie nahm auf dem Fahrersitz Platz, streckte eine Hand aus und schnallte mich an. Sie fuhr mich zu ihrer Wohnung. Auf der Fahrt dorthin sprach keiner von uns ein Wort.