Dreißigstes Kapitel
Ein langer Marsch heute, hauptsächlich durch Obstplantagen. Die Landschaft hat sich völlig verändert. Diese Gegend ist flach, als wäre Mutter Natur mit einem Nudelholz über die Erde gegangen.
Ich habe angehalten, um einer Frau zu helfen, die Probleme mit ihrem Wagen hatte.
Alan Christoffersens Tagebuch
In der Nacht begann es wieder zu regnen, und gegen drei Uhr morgens stand ich auf und baute mein Zelt auf. Darin wurde ich allmählich immer geschickter. Als ich im Morgengrauen wieder aufwachte, hatte der Nieselregen aufgehört, aber der Boden war aufgeweicht, und als ich die Obstplantage verließ, waren meine Schuhe mehrere Zentimeter dick mit Schlamm verkrustet. Ich kratzte und schüttelte ihn ab, so gut ich konnte, und machte mich wieder auf den Weg.
In Orondo City gabelte sich die Straße, und ich bog nach Osten ab, in Richtung Waterville und Spokane. Ich befand mich in der Schnalle des Obstgürtels von Washington. Mehr als nur die Landschaft hatte sich verändert. Auch die Kultur war eine andere geworden. Mir fiel auf, dass die meisten Ladenschilder auf Spanisch waren.
Ich aß ein Brötchen mit Wurst und Ei an einer Tankstelle nahe der Abzweigung nach Waterville, und ich war der Einzige dort, der nicht Spanisch sprach.
Ein paar Meilen weiter wurde die Landschaft hügeliger, und auf dem Großteil der Strecke verlief der Highway rechts neben einer tiefen Schlucht. Es gab nur einen schmalen Fußweg. Der Highway war nass, und ich wurde von fast jedem Wagen bespritzt, der vorbeifuhr. Die Straße führte wieder bergauf – fast so steil wie an dem Pass –, und ich stellte fest, dass ich in der Zwischenzeit deutlich kräftiger geworden war, da ich mein Tempo kaum verlangsamen musste.
Zwei Stunden später begann es wieder zu regnen. Ich blieb stehen, streifte meinen Poncho über und ging weiter.
In einer der engeren Bergkurven stand ein Wagen am Straßenrand neben dem Schutzgeländer. Der Kofferraum stand offen, und die Warnlichter des Wagens blinkten. Kein guter Ort für eine Panne, dachte ich. Als ich näher kam, sah ich, dass der Wagen, ein silbergrauer Malibu, auf einem Wagenheber stand. Zwei Reifen lagen daneben auf dem Boden, der platte und ein Ersatzreifen.
Ich trat an das Fahrerfenster. In dem Wagen saß eine Frau. Sie war etwa in meinem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Sie hatte blondes, schulterlanges Haar und hielt ein Handy in der Hand. Ein Lufterfrischer mit Kiefernduft und ein Kruzifix baumelten von ihrem Rückspiegel. Am Armaturenbrett klebte das Foto eines kleinen Jungen.
Die Fahrertür war verriegelt und das Fenster hochgefahren. Ich klopfte ans Fenster, und sie zuckte zusammen.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte ich.
Sie kurbelte ihr Fenster ein paar Zentimeter herunter.
»Wie bitte?«
»Brauchen Sie vielleicht Hilfe?«
»Nein«, sagte sie ängstlich. »Mein Mann ist in die Stadt gegangen, um Hilfe zu holen. Er müsste gleich zurück sein.«
»Okay.«
Ich weiß nicht, warum ich einen Blick auf ihre linke Hand warf, aber mir fiel auf, dass sie keinen Ehering trug. Ich überlegte, ob ich einfach weitergehen sollte, aber es war noch nie meine Art, eine Frau in Not allein zu lassen, schon gar nicht auf einem solch gefährlichen Straßenabschnitt. Ich betrachtete ihren platten Reifen. »Hören Sie, Sie sind hier nicht sicher. Offenbar haben Sie einen Ersatzreifen. Wenn Sie nur einen Platten haben, kann ich den Reifen wechseln.«
Sie zögerte, hin- und hergerissen zwischen ihrer Lüge und ihrer Verzweiflung. Schließlich sagte sie: »Ich habe die … Dinger verloren.«
Ich verstand nicht. »Welche Dinger?«
»Die Metalldinger. Die Bolzen.«
Ich betrachtete wieder das Rad, dann begriff ich, wovon sie sprach. Es gab keine Radmuttern. »Was ist mit ihnen passiert?«
»Ich habe sie abmontiert, aber …«
Sie hatte sie abmontiert.
»… dann sind sie den Hügel hinuntergerollt.«
Am Straßenrand fiel das Gelände über hundert Meter steil ab. Die Muttern waren futsch.
»Wie ist das denn passiert?«
»Ich bin einfach ungeschickt.«
Keine Radmuttern. Vermutlich kein Handyempfang. Vermutlich wartete sie nur darauf, dass ein Highway-Polizist vorbeikam, was hier allerdings sehr lange dauern konnte. »Soll ich den Reifen für Sie wechseln?«
Sie sah mich zweifelnd an. »Aber es gibt nichts, womit Sie ihn festschrauben könnten.«
»Schrauben können wir uns borgen«, sagte ich.
Sie war noch immer unsicher, aber sie lenkte ein. »Ja, vermutlich.«
»Haben Sie die Handbremse angezogen?«
»Ja.«
»… und den Hebel auf Parkstellung gestellt?«
»Ja.«
Ich stellte meinen Rucksack ab und nahm den Schraubenschlüssel. Dann löste ich damit je eine Radmutter von den anderen drei Rädern. Ich montierte den Ersatzreifen mithilfe dieser drei Muttern und zog sie fest. Damit würde die Frau so weit kommen, wie sie musste. Ich ließ das Auto wieder von dem Wagenheber herunter, legte den platten Reifen, den Schraubenschlüssel und den Wagenheber in den Kofferraum und machte ihn zu. Ich ging zurück zu ihrem Fenster.
»So können Sie erst einmal weiterfahren. Ich habe je eine Radmutter von den anderen Rädern abgeschraubt. Fahren Sie den Wagen einfach in eine Werkstatt, wenn Sie wieder zu Hause sind.«
Zum ersten Mal sah ich sie lächeln. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen.« Ich nahm meinen Rucksack und schulterte ihn wieder. »Schönen Tag noch.«
»Warten Sie, darf ich Ihnen etwas dafür geben?«
»Nein. Machen Sie’s gut.« Ich rückte meinen Hut zurecht und setzte meinen Weg fort. Die Frau wartete einen entgegenkommenden Wagen ab. Kurz darauf hörte ich, wie der Kies unter ihren Reifen aufspritzte, als sie wieder auf die Straße bog. Sie fuhr langsam an mir vorbei und hielt dann fünfzig Meter weiter am Straßenrand an einer kleinen Abzweigung. Als ich ihren Wagen erreichte, hatte sie das Fenster heruntergekurbelt.
»Kann ich Sie wenigstens mitnehmen? Auf dieser Straße kommt meilenweit kein Haus mehr. Und es regnet. Sie werden völlig durchnässt werden.«
»Ich bin es gewohnt, nass zu werden«, sagte ich. »Danke, aber es ist schon gut so. Ich habe Ihnen gern geholfen.« Ich klang so großmütig wie Superman (Ich habe nur meinen Job gemacht, Ma’am), worüber ich mich, ehrlich gesagt, irgendwie ärgerte. Einstein hat einmal gesagt: »Ich ziehe das stille Laster der aufdringlichen Tugend vor.« Ich bin da ganz seiner Meinung.
Es schien der Frau unangenehm zu sein, sich nicht revanchieren zu können. Sie griff in ihre Handtasche, zückte eine Visitenkarte und reichte sie mir. »Hier, falls Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie mich einfach an. Das ist meine Handynummer.«
Ich nahm die Karte und steckte sie in meine vordere Hosentasche, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Danke.«
»Ich habe zu danken. Schönen Tag noch.«
»Ihnen auch.«
Ich wartete, bis sie in einem Schauer aus Straßenwasser abgefahren war, dann setzte ich meinen Weg fort. Ich sah ihrem Wagen nach, bis er um eine Kurve verschwunden war. Ich fragte mich, wie lange sie schon dort gestanden hatte und was wohl passiert wäre, wenn ich nicht vorbeigekommen wäre.
Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne stand hoch am Himmel, als ich das kleine Städtchen Waterville erreichte. Der Highway verlief mitten durch die Stadt, und der Coffee-Shop des Orts hieß treffenderweise Highway 2 Brew. Ich ging hinein und bestellte einen großen Kaffee, einen Cranberry-Orangen-Muffin und einen Biscotto mit Schokoladenguss. Ich setzte mich auf einen betonierten Platz vor dem Coffee-Shop, um meine Karte zu studieren.
Offenbar würde mein Weg in den nächsten Tagen durch eine öde Wildnis führen – die Art Gegend, durch die man im Auto am liebsten bei voll aufgedrehter Stereoanlage fährt. Ich wollte sie rasch hinter mich bringen.
Die Häuser von Waterville säumten den Highway, und zum ersten Mal seit Bellevue ging ich wieder durch einen Vorort, wenn auch nur durch einen sehr kleinen.
Waterville schien mir ein seltsamer Name für eine Stadt zu sein, die im Vergleich zu der Gegend, die ich zuvor durchquert hatte, wie das Death Valley aussah. Zuerst nahm ich an, dass der Name nur ein Marketingtrick war, wie zum Beispiel Grönland, wo es ungefähr so grün ist wie in einem Eisfach – und ein ganzes Stück kälter. Dann fiel mir wieder ein, was ich über die Benennung von Städten gelesen hatte, und ich kam zu dem Schluss, dass hier ein Mr. Waterville entweder die Bank oder jedermanns Hypothek besaß.
Ich fragte mich, womit sich die Leute in einer Kleinstadt wie dieser die Zeit vertrieben, bis ich Randy’s Eisdiele und den Golfplatz Putt Putt sah. Ich möchte wetten, in Waterville kann jeder Normalbürger putten wie Jack Nicklaus.
Nach weiteren zwanzig Meilen erreichte ich Douglas. Am Straßenrand gab es keinerlei Tankstellen, Diners oder Motels, daher bog ich vom Highway ab und baute etwa hundert Meter weiter mein Zelt auf. Die Sonne ging bereits unter, und es war kalt, nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt. Ich wollte ein Feuer machen, aber es gab nichts, was ich hätte verbrennen können.
Zum ersten Mal auf meinem Weg nahm ich meinen Propankocher aus dem Rucksack und machte ihn an. Ich öffnete die Dose Spagetti, die ich mir in Leavenworth gekauft hatte, öffnete sie und stellte sie auf die blaue Propanflamme, bis der Doseninhalt zu köcheln begann. Dummerweise hatte ich vergessen, Essbesteck zu kaufen. Ich riss ein Stück von meinem Baguette ab und löffelte die Spagetti damit. Zum Nachtisch aß ich ein Ding Dong. Ich knüllte die Alufolie, in die es verpackt gewesen war, zusammen und warf damit nach einem Kaninchen, das mich aus einiger Entfernung beobachtete. Ich verfehlte es.
Zum ersten Mal in dieser Woche konnte man die Sterne sehen, und ich erlebte einen dieser Momente, die wir vermutlich alle kennen: Ich blickte zum Nachthimmel hoch und kam mir erstaunlich klein und unbedeutend vor. Das gab mir Hoffnung. Vielleicht hatte Gott doch größere Pläne, als mein Leben zu ruinieren. Ich kletterte in mein Zelt und legte mich schlafen.