Siebenundzwanzigstes Kapitel

Es ist wieder passiert. Manchmal haben wir in unserer eigenen Haut so viel Angst wie nirgends sonst.

Alan Christoffersens Tagebuch

In der Nacht wachte ich von dem Geräusch von Hagel auf. Es war ein eindrucksvoller Sturm, und trotz des dichten Schutzes der Bäume hörte es sich an, als würden einhundert Kugelhämmer auf das Dach der Hütte trommeln. Murmelgroße Eisbälle flogen zum Fenster herein und prallten wie Popcorn von den Wänden ab, bevor sie sich in frostigen weißen Haufen in einer Ecke sammelten. Das Feuer schwelte noch; die Asche glühte und zischte von Zeit zu Zeit von dem Hagel. Ich überlegte, ob ich das Feuer noch einmal entfachen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Es war zu kalt, um aus meinem Schlafsack zu kriechen.

Auf einmal gehorchte mir mein Körper nicht mehr. Meine Kehle war wie zugeschnürt, meine Haut rötete sich, und mein Herz begann zu rasen. Es war nicht das erste Mal, dass ich eine Panikattacke hatte. Als kleiner Junge war es mir in den Monaten nach dem Tod meiner Mutter oft so gegangen. Ich erzählte meinem Vater nie davon. McKale war die Einzige, die davon wusste. Sie war die Einzige, die mich in solchen Augenblicken getröstet hatte. Jetzt geschah es ihretwegen. Oder wegen der Lücke, die sie hinterlassen hatte.

Ein paar Minuten saß ich einfach nur zitternd da. Ich fasste mir mit einer Hand an die Brust und umklammerte mit der anderen den Ring, den ich an einem Kettchen um den Hals trug.

Dann wühlte ich im Dunkeln in meinem Rucksack, bis ich McKales Mieder fand. Ich zog es heraus und vergrub mein Gesicht darin. Durch den Seidenstoff rief ich: »Warum hast du mich verlassen? Warum hast du mir das Versprechen abgenommen zu leben?«

Es kam keine Antwort außer dem hämmernden Hagel. Ich zog mir den Schlafsack über den Kopf und versuchte, wieder einzuschlafen. Ich konnte nicht aufhören zu zittern.

Ich kann mich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein, aber bei Tagesanbruch wachte ich auf. Der Hagel hatte aufgehört. Ihm war heftiger Regen gefolgt. Ich setzte mich auf. Mein Rücken schmerzte von dem harten Boden. Ich kletterte aus meinem Schlafsack und saß ein paar Minuten einfach nur da und lauschte auf den Regen. Dabei sah ich zu, wie sich ein steter Wasserstrom über die östliche Wand ergoss und sich als See in der Nähe des Kamins sammelte. Meine Brust schmerzte noch immer von der vergangenen Nacht.

Zum ersten Mal wünschte ich, ich hätte mein Handy noch. Ich fühlte mich einsam. Ich wollte mit jemandem reden. Ich war nicht wählerisch: mit jedem, der zuhören würde.

Nicht nur mein Rücken und meine Brust taten weh. Mein ganzer Körper schmerzte. Aber die Schmerzen kamen nicht vom Laufen, und mir war auch nicht schlecht. Jedenfalls nicht körperlich.

Ich sah hinaus in den Regen und seufzte. Ich verspürte kein Bedürfnis, mich wieder auf den Weg zu machen. Allerdings würde es noch unangenehmer sein, weiter in einer feuchten, schimmeligen Bude zu sitzen und zu grübeln.

Außerdem hatte ich fast nichts mehr zu essen. Ich wühlte in meinem Rucksack und förderte die Energieriegel zutage. Ich nahm einen davon, riss die Verpackung auf und verschlang ihn. Danach aß ich auch noch den zweiten, sodass nun auch mein letzter Vorrat aufgebraucht war. Ich warf die Verpackungen auf den Boden – mein Beitrag zu dem Nest. Das Feuer musste ich nicht löschen. Das hatte der Regen bereits erledigt.

Ich zog meinen Poncho über den Parka, setzte meinen Hut auf, schulterte meinen Rucksack und ging in den Sturm hinaus. Der Waldboden war dunkel und schlammig, und Fetzen grüner Blätter übersäten die Erde, zerschreddert vom Hagel der vergangenen Nacht.

Als ich aus dem Schutz des Baldachins der Bäume trat, trommelte der Regen laut auf meinen Hut und meinen Poncho. Meinen Hut liebte ich wirklich. Er machte mich glücklich. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die Aussies mit ihren Akubra-Hüten im Outback Schafe oder Kängurus oder was auch immer zusammentrieben, während der Regen auf sie herunterprasselte und ihnen über die Hutkrempen auf die Schultern lief. Je mehr es regnete, desto mehr liebte ich meinen Hut. Ich fragte mich, ob ich in Key West lächerlich damit aussehen würde.

Es herrschte kaum Verkehr. Vielleicht war es nur zu früh dafür, vielleicht waren alle anderen aber auch einfach schlauer als ich und waren zu Hause geblieben. Die Straße führte noch immer bergab, wenn auch nicht mehr so steil wie auf den ersten Meilen nach dem Pass. Ich war froh darüber, da das Gehen nicht nur meinem Geist, sondern auch meinem Körper widerstrebte. Ich hatte das Gefühl, ihn zu jedem Schritt zwingen zu müssen. Ich setzte meine Hoffnung auf die nächste Stadt.

Anderthalb Stunden später erspähte ich ein Gebäude im Fünfzigerjahre-Stil mit leuchtend rosa Wimpeln und einem Neonschild, das WELTBERÜHMTE SHAKES versprach. Der 59er-Diner war ein relativ ehrgeiziges Projekt für eine Tankstellen-Stadt an einer Durchfahrtsstraße, aber ich war überglücklich, ihn zu sehen.

An der Ostseite des Gebäudes befand sich ein kleiner Garten mit einem saftigen Rasen und einem Holzzaun, der geschmückt war wie für einen Hinterhofverkauf. Er war verziert mit alten Fahrrädern und roten Radio-Flyer-Wagen, einer Parkuhr, rosa Flamingos und einem Paar Autokino-Lautsprecher.

Hinter dem Garten befanden sich drei kleine Bungalows. Sie waren hell angestrichen, sauber und etwa doppelt so groß wie die Hütte, in der ich die Nacht verbracht hatte. Sie sahen heute vermutlich noch genauso aus, wie sie vor ein oder zwei Jahrzehnten ausgesehen hatten.

Ich ging auf das Restaurant zu, hielt die Tür auf, als mir drei Frauen von drinnen entgegenkamen, und trat dann in einen warmen Raum, in dem es köstlich nach Eiscreme und Pfannkuchenteig duftete. Die Inneneinrichtung war knallig bunt und bestand überwiegend aus Fünfzigerjahre-Relikten. Es gab eine neonbeleuchtete Vintage-Jukebox, in der Vinyl-45er liefen – gerade ertönte Elvis’ »Jailhouse Rock« –, und einen Bartresen hinter Barhockern mit Chromgestänge.

Dem Laden war es ernst mit seinen angeblich weltberühmten Shakes. Auf einer Wandtafel standen die Zahl 23 429 – die Anzahl der Shakes, die in diesem Jahr bisher verkauft worden waren – und ein Appell an die Gäste, zu helfen, den Jahresrekord von 27 462 zu brechen.

Eine hochgewachsene, flachsblonde Frau kam auf mich zu. Sie trug eine rosa Schürze und ein Namensschild, auf dem BETTY SUE stand. »Hübscher Hut«, sagte sie. »Sind Sie allein, Süßer?«

»Ja, Ma’am.«

»Na, dann hier entlang.«

Sie führte mich an einen runden, laminatbeschichteten Tisch im hinteren Teil des Restaurants. »Wie wär’s hier?«

»Wunderbar. Danke.«

»Ihre Kellnerin wird gleich bei Ihnen sein.«

Ich nahm meinen Rucksack ab und lehnte ihn gegen die Wand. Dann warf ich meinen Hut auf den Tisch und zog den Poncho aus. Ich rollte ihn zusammen, stopfte ihn in den Rucksack und setzte mich. Die Wände zierte eine Fünfzigerjahre-Collage aus alten Nummernschildern, Life-Titelbildern, Elvis-Souvenirs, Plattencovern, antiken Coca-Cola- und Pepsi-Schildern und Pin-up-Bildern von Fünfzigerjahre-Stars: Marilyn Monroe, Marlon Brando, James Dean und Lucille Ball.

Außerdem gab es gedruckte Reklameposter aus den Fünfzigerjahren, darunter eines für ein Bügeleisen, das 30 Prozent schneller zu bügeln versprach (und so viele Frauen benutzen es!), und ein anderes für kalte Kompressen für »müde Augen«.

Über mir an der Wand war ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher angebracht, auf dem The Three Stooges liefen. Ich war aufrichtig beeindruckt davon, wie viel Mühe man in diesen Laden gesteckt hatte – und das nicht nur, weil ich die Nacht auf einer Müllkippe verbracht hatte.

Ich nahm eine Speisekarte aus dem Chromständer und sah mir die Frühstücksangebote an. Bananenpfannkuchen mit Eiern kosteten nur 2,99 Dollar. Brötchen mit Wurstsauce 3,49 Dollar. Das waren gute Aussichten.

Dann kam meine Kellnerin. Sie war etwas über einen Meter fünfzig groß und füllte die Jeans, die sie trug, kaum aus. Sie hatte lange braune Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und dunkle, mandelförmige Augen. Sie sah mich an, als würde sie mich kennen.

»Hallo. Hübscher Hut.«

»Danke.«

»Ich bin Flo.« Die Vorstellung war überflüssig, da auf ihrer Brust ein nummernschildgroßes Namensschild prangte.

»Flo«, wiederholte ich. »Wie heißen Sie wirklich?«

Sie lächelte. »Wissen Sie, in den drei Jahren, die ich jetzt schon hier bin, sind Sie der Erste, der mich das fragt. Eigentlich heiße ich Ally.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Ally.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften, dann fragte sie: »Geht es Ihnen gut?«

Ich wunderte mich über ihre Frage. »Na klar. Ein bisschen nass. Ein bisschen sehr nass. Aber ansonsten geht es mir gut.«

Sie nickte. »Okay. Wollen Sie schon bestellen?«

»Ja. Ich nehme die Bananenpfannkuchen und die Brötchen mit Wurstsauce.«

»Hungrig«, sagte sie, während sie die Bestellung aufnahm. »Hungrig und durchnässt. Möchten Sie auch etwas trinken?«

»Orangensaft und eine heiße Schokolade.«

»Orangensaft. Heißen Kakao«, sagte sie. »Bin gleich wieder da.« Sie schnellte herum und entfernte sich. Einen Augenblick später kam sie mit einem Becher wieder. Eine Sahnehaube türmte sich darauf, ungefähr halb so hoch wie der Becher selbst. »So, bitte sehr. Ich hoffe, Sie mögen Schlagsahne auf Ihrem Kakao. Ich habe da ein bisschen übertrieben. Ich tue sie wieder runter, wenn Sie sie nicht mögen.«

»Ich mag Schlagsahne«, sagte ich.

»Gut.«

»Sagen Sie mir etwas über diese Bungalows dort hinten?«

»Ja. Was wollen Sie denn wissen?«

»Sind davon noch welche frei?«

»Ich denke schon.«

»Was kosten sie?«

»Etwa hundert Dollar die Nacht.«

»Gibt es dort warmes Wasser?«

Sie lächelte. »Aber ja, natürlich. Sie sind praktisch kleine Hotelzimmer.«

»Wie kann ich einen mieten?«

»Ich hole Ihnen den Prospekt.«

Sie ging durch eine Schwingtür nach hinten und kam dann mit einem kleinen, bunten Flyer wieder. Wie der Diner war auch jeder Bungalow in einem bestimmten Stil gestaltet. Es gab eine Western-Hütte, ein Tropical-Island-Paradies und den Big Bopper, der wie eine Erweiterung des Diners aussah.

»Sie sind alle noch frei. Sie kosten 98 Dollar die Nacht«, sagte sie. »Aber ich bin sicher, dass ich den Preis für Sie ein bisschen herunterhandeln könnte.«

»Danke.«

Ally trat vom Tisch zurück. »Ihr Frühstück müsste jetzt fertig sein.«

Ein paar Minuten später war sie mit einer großen Platte wieder da, die sie mit Topflappen hielt. »So, bitte sehr. Aber passen Sie auf, der Teller ist heiß.«

Die großen, leicht gebräunten Brötchen waren mit Wurstsauce übergossen und mit Petersilienflocken und Paprika garniert. Als sie den Teller abstellte, bemerkte ich zwei große Narben, die sich quer über ihr rechtes Handgelenk zogen. Sie ertappte mich beim Hinsehen, zog den Arm rasch zurück und drückte ihn an ihre Seite.

»Ich habe mit dem Besitzer geredet«, sagte sie. »Er sagt, er vermietet Ihnen einen Bungalow für nur 59 Dollar die Nacht. Sie können ihn sofort beziehen.«

»Danke, das ist ein Angebot, das ich sehr gern annehme.«

»Wenn Sie mit dem Essen fertig sind, zeige ich Ihnen die Bungalows. Brauchen Sie sonst noch etwas?«

Ich sah sie an. »Meinen Saft.«

»Natürlich. Entschuldigung.« Sie lief zurück und kam dann mit einem großen Glas Orangensaft wieder. Sie reichte es mir mit der linken Hand. »Das geht auf mich. Guten Appetit.«

»Danke.«

Das Essen war köstlich. Die Brötchen mit Wurstsauce schmeckten besonders gut. Als ich aufgegessen hatte, kam Ally mit meiner Rechnung wieder.

»Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Nein, alles bestens.« Ich reichte ihr meine Kreditkarte.

»Ich rechne das hier schnell ab, dann zeige ich Ihnen die Bungalows.«

Einen Augenblick später kam sie mit meiner Karte, dem Beleg und drei Zimmerschlüsseln wieder. Sie hingen an hölzernen Schlüsselanhängern, die ungefähr so groß wie Bootsruder waren. Auf jedem Anhänger stand der Name des jeweiligen Bungalows.

Ich unterschrieb den Beleg, dann setzte ich meinen Hut auf, schulterte meinen Rucksack und folgte ihr zur Hintertür hinaus.

Der erste Bungalow, den sie mir zeigte, war im Tropenstil eingerichtet, und die Wände waren bemalt mit bunten Blättern, exotischen Vögeln, Papageien und Nymphensittichen. Mir war egal, wo ich schlafen würde, und das sagte ich Ally auch, aber sie bestand darauf, mir ihren Lieblingsbungalow zu zeigen – den Big Bopper. »Ich finde, das ist der hübscheste der drei«, sagte sie, während sie die Tür aufsperrte.

Drinnen war es sehr sauber. Die Wände waren blaugrau gestrichen und hatten dieselbe Farbe wie eine Tiffany-Geschenkschachtel. Das Wohnzimmer hatte einen schwarz-weiß gefliesten Eingangsbereich, eine Couch und einen Fernseher. Überall an den Wänden hingen Fotos aus den Fünfzigerjahren: Sinatra, Brando, Elvis, aber hauptsächlich Marilyn Monroe. Es gab ein großes Poster von ihr, auf dem sie auf einem Bett kniete.

Zur Einrichtung der kleinen Küche gehörten ein kleiner Laminattisch mit zwei Stühlen mit Chromlehnen, ein kleiner Kühlschrank, eine Porzellanspüle, eine Mikrowelle, ein elektrischer Ventilator und zwei rosa Plüschlampen, die von der Decke hingen. Im Badezimmer gab es eine Badewanne mit einem Plastikvorhang, der mit den Silhouetten von Mädchenfiguren in Tellerröcken bedruckt war.

»Wunderbar«, sagte ich. Ich lehnte meinen Rucksack gegen die vordere Wand. »Den nehme ich.«

»Wollen Sie denn den Western-Bungalow gar nicht sehen?«

»Nein, Sie sagten doch, das hier sei Ihr Lieblingsbungalow. Ich nehme Sie beim Wort.«

»Hier ist Ihr Schlüssel.« Sie ging zur Tür. »Ich arbeite heute Abend bis sieben. Wenn Sie noch irgendetwas brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden.«

»Danke.«

»Gern geschehen. Schönen Aufenthalt.«

Sie ging hinaus, und ich schloss hinter ihr die Tür.

Als Erstes kippte ich den Inhalt meines Rucksacks auf den Boden des Wohnzimmers. Alles, was ich hatte, war schmutzig, feucht und roch schlecht. Ich ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen und warf meine ganzen Kleider hinein, auch die, die ich anhatte. Ich kniete mich hin und wusch sie alle mit Shampoo aus. Das Wasser nahm die Farbe von dünnem Kaffee an. Als ich alles gewaschen hatte, ließ ich das Wasser ablaufen, füllte die Wanne mit frischem, kochend heißem Wasser und ließ die Kleider einweichen. Ich wickelte mich in ein Handtuch, dann öffnete ich die Eingangstür und schüttelte meinen Rucksack aus, um ihn von Krümeln, Studentenfutter und Schmutz zu befreien.

Ich ging zurück zur Badewanne, zog den Stöpsel raus und nahm ein Kleidungsstück nach dem anderen aus dem Wasser. Ich wrang die Wäsche aus und hängte sie dann zum Trocknen über alles, was sich dafür anbot: Stuhllehnen, das Sofa, Handtuchhalter, das Kopfteil des Betts. Die Kleider, die ich als Erstes wieder benötigen würde, hängte ich in der Küche neben dem Ventilator auf. Ich überlegte, ob ich meine Cargohose zum Trocknen in die Mikrowelle legen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Das Letzte, was ich brauchte, war ein Brand.

Ich nahm den Rasierer aus meinem Kulturbeutel und ging zurück ins Bad. Ich ließ die Dusche laufen, bis Dampf aufstieg, dann stellte ich mich darunter und zog den Duschvorhang zu. Zuerst schrubbte ich mich mit Seife und Waschlappen gründlich ab. Es war ein seltsames Gefühl von Luxus, dort zu stehen und mir das heiße Wasser über den Körper laufen zu lassen, während ein schmutziges Rinnsal durch den Abfluss gurgelte. Dann rieb ich mir Gesicht und Hals mit Seife ein und rasierte mich.

Nachdem ich meinen Körper gereinigt hatte, steckte ich den Stöpsel wieder in die Badewanne und ließ sie mit Wasser volllaufen. Dann legte ich mich hinein und drückte mir den Waschlappen über die Augen. Fast eine Stunde lag ich so da und entspannte meine entzündeten Muskeln und Gelenke ebenso wie meinen Geist. Als ich schließlich aus der Wanne stieg, fühlte ich mich wie neugeboren.

Ich trocknete mich ab, dann sah ich nach den Kleidern, die ich neben dem Ventilator aufgehängt hatte. Sie waren fast trocken, bis auf den Hosenbund, den ich mit einem Haarfön bearbeitete.

Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich rüber in den Diner, um zu Mittag zu essen. Es war gegen zwei, und in dem Diner herrschte reger Betrieb. Ally stand vorn und lächelte, als sie mich sah. »Wie gefällt Ihnen Ihr Zimmer?«

»Sehr gut. Ich habe ein Bad genommen.«

»Ein Bad tut immer gut. Sieht aus, als hätten Sie sich auch rasiert. Kommen Sie, setzen Sie sich hier drüben hin.« Sie führte mich zu einer Sitznische im vorderen Bereich und drückte mir eine Speisekarte in die Hand. »Wissen Sie schon, was Sie wollen, oder brauchen Sie eine Minute?«

Ich überflog die Speisekarte. »Was ist denn ein Elvis-Burger?«

»Das ist ein normaler Hamburger, nur mit Erdnussbutter und Banane.«

»Sie machen Witze, oder?«

»Ja. Er ist einfach … fleischig. Da steckt ungefähr ein halbes Pfund Rindfleisch drin. Und dazu gibt’s eine große Dillgurke.«

»Fleischig klingt gut. Dann nehme ich den Elvis-Burger und etwas von Ihrem weltberühmten Blaubeerauflauf.«

»Sehr gute Wahl. Möchten Sie irgendetwas trinken?«

»Nur Wasser.«

»Das sollen Sie haben.«

Eine Viertelstunde später war sie mit meinem Essen wieder da. Ein großer Teller Pommes frites war auch dabei. »Der geht auf mich.« Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. »Rufen Sie mich einfach, wenn Sie noch irgendetwas brauchen.«

»Danke.« Während ich aß, wurde der Diner von einer Busladung Amazonen heimgesucht. Die Frauen trugen alle Trainingsanzüge und sahen nach einem Volleyballteam aus. Ally sauste von Tisch zu Tisch. Sie erinnerte mich an eine Biene in einem Azaleenbusch. Ich aß auf, und dann blieb ich einfach sitzen und wartete darauf, dass sie wiederkam. Ich genoss es, keine Eile zu haben. Schließlich kam Ally mit meiner Rechnung herüber. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Wenn diese Busse vorfahren, sollte man einfach die Tür verrammeln.«

Ich lachte. »Kein Problem, damit verdienen Sie sich schließlich Ihr Gehalt.«

»Von wegen Gehalt. Ich lebe vom Trinkgeld. Und diese Collegekinder sind bekannt dafür, dass sie mit dem Trinkgeld geizen. Letzte Woche hat mir einer einen Golfball dagelassen. Haben Sie noch einen Wunsch?«

»Ja.« Ich nahm Geld aus meiner Brieftasche und legte es zu meiner Rechnung. Das Trinkgeld bemaß ich großzügig. »Ich würde Sie gern etwas fragen.«

Sie sah mich neugierig an. »Okay.«

»Warum haben Sie mich gefragt, ob es mir gut geht?«

Sie legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht. Ich hatte einfach das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Habe ich mich getäuscht?«

»Nein.«

»Es geht Ihnen nicht gut?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie sah mich nachdenklich an. Dann sagte sie: »Ich bin so gegen sieben hier fertig. Wenn Sie nicht zu viel zu tun haben, komme ich anschließend rüber zu Ihnen und bringe Abendessen mit. Dann können wir reden.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Wenn Sie lieber allein sein wollen, ist das auch okay. Das verstehe ich. Aber wenn Sie gern Gesellschaft hätten …«

»Ich hätte gern Gesellschaft«, sagte ich.

»Dann komme ich so gegen sieben vorbei. Manchmal wird es ein bisschen später. Kommt drauf an, wie viel bei uns los ist.« Sie zückte ihren Notizblock. »Beten Sie, dass keine Busse kommen.«

»Mache ich. Behalten Sie den Rest«, sagte ich.

»Danke.« Sie lächelte, dann ging sie zurück in die Küche.

Ich ging rüber zum Bungalow und sah nach meinen Kleidern. Sie waren alle noch feucht, daher drehte ich den Thermostat ein paar Grad höher. Ich nahm mein Reisetagebuch aus dem Rucksack und schrieb ein paar Zeilen, dann legte ich mich aufs Bett und sah dem Deckenventilator beim Drehen zu, bis ich einschlief.

Im Zimmer war es dunkel, als ich von einem Klopfen aufwachte. Ich setzte mich auf und sah mich um. Im ersten Augenblick hatte ich ganz vergessen, wo ich war. Dann klopfte es noch einmal. Ich knipste eine Lampe an, ging zur Tür und öffnete. Ally stand da, zwei Papiertüten in einer Hand und zwei Becher Malzcreme an ihren Körper gedrückt. Sie hatte ihr Kellnerinnenkleid ausgezogen und trug jetzt einen figurbetonten Pullover und Jeans.

»Habe ich Sie geweckt?«

»Nein, ich habe nur …« Ich grinste. »Ich habe geschlafen. Kommen Sie herein.«

»Danke.« Sie ging gleich durch in die Küche. Auf dem Weg dahin sagte sie: »Ich habe ein paar Sandwiches mitgebracht – unser Spanky’s Clubhouse, das ist ein Dreifachdecker mit Truthahn, Schinken, Speck und Käse, und das Hackfleisch-Sandwich. Dan macht tolles Hackfleisch. Sie nehmen sich einfach das, was Sie wollen. Ich habe hier auch noch eine Taco-Backkartoffel, ein Körbchen Zwiebelringe und natürlich unsere weltberühmte Schoko-Schoko-Malzcreme.«

Sie stellte die Tüten auf den Küchentisch und die Malzcremes in den Kühlschrank. »Wollen wir gleich essen?«

»Ja …«, sagte ich mit Blick auf meine weißen Slips, die über den Küchenstuhllehnen hingen, »… aber die hier sollte ich vielleicht erst mal wegräumen.«

Sie lächelte. »Meinetwegen nicht …«

Ich sammelte meine Unterwäsche ein, dann schob ich einen der Stühle zurück. »Nehmen Sie Platz.«

»Danke.«

Ich brachte meine Unterwäsche ins Schlafzimmer, dann kam ich zurück und setzte mich zu ihr an den Tisch.

»Wenigstens muss ich jetzt nicht die Boxershorts-oder-Slips-Frage stellen«, sagte sie.

»Ich bin froh, dass wir das geklärt haben«, sagte ich.

Sie nahm das Essen aus den Tüten und breitete es auf dem Tisch aus.

»Das ist ja genug für ein ganzes Dorf.«

»Wir müssen ja nicht alles aufessen«, sagte sie, während sie mit der Gewandtheit einer Kellnerin ein Metallbesteck für mich zurechtlegte. »Ich hasse es, mit Plastikbesteck zu essen«, sagte sie. »Wie wär’s, wenn wir uns die Sandwiches teilen?«

»Von mir aus gern.«

Sie hatte die beiden Sandwiches bereits in der Mitte durchgeschnitten und reichte mir eine Hälfte von jedem. Sie schmeckten beide gut. »Sie haben also Ihre Wäsche gewaschen.«

»Ja. Ich hoffe nur, dass alles noch trocken wird, bevor ich wieder losmuss. Ich habe schon überlegt, ob ich ein paar Sachen in der Mikrowelle trocknen soll.«

Darüber musste sie lächeln. »Das ist keine gute Idee«, sagte sie. »Und das Zimmer ist okay?«

»Es ist das Vier Jahreszeiten verglichen mit dem Ort, an dem ich letzte Nacht geschlafen habe.«

»Wo haben Sie denn geschlafen?«

»In diesen kleinen Hütten etwa fünf Meilen den Berg hoch.«

Mit noch vollem Mund sagte sie: »Ja, die kenne ich. Es sind vier oder fünf. Eine davon ist eingestürzt.«

»Die meine ich.«

»Im Sommer hängen Jugendliche dort herum und feiern Partys.«

Ich nahm einen Bissen von dem Hackfleisch-Sandwich. »Sind Sie von hier?«

»Nein, ich bin aus Dallas.«

»Wie verschlägt es einen denn aus Dallas in den 59er Diner?«

»Ich hatte einen Freund, der hierhergezogen ist, um die Blockhütte seiner Tante wieder in Schuss zu bringen, und ich bin ihm gefolgt.« Sie legte die Stirn in Falten. »Und dann ist er mit einer anderen durchgebrannt.«

»Und hat Sie hier sitzen lassen?«

»Ich bin hier ja nicht angekettet. Es gefällt mir. Zumindest im Augenblick. Niemand bleibt ewig hier. Bis auf Dan.«

»Wer ist denn Dan?«

»Ihm gehört der Diner.« Sie tunkte einen Zwiebelring in Ketchup. »Sie haben schöne Augen«, sagte sie. »Traurig, aber schön.«

»Danke.«

»Keine Ursache. Und wo kommen Sie her?«

»Aus Seattle, jedenfalls zuletzt.«

Sie nahm einen weiteren Bissen. »Und davor?«

»Ich bin in Colorado geboren und in Pasadena aufgewachsen.«

»Ich habe mal einen Sommer in Boulder, Colorado, verbracht. Ich bin viel gewandert. Das hat Spaß gemacht. Wie lange sind Sie schon auf der Straße?«

»Nicht lange. Fünf, sechs Tage.«

»Wohin gehen Sie?«

»Weg.«

Sie nickte. »Das ist ein bisschen … vage.«

»Als ich Bellevue verließ, beschloss ich, so weit zu gehen, wie es zu Fuß auf diesem Kontinent möglich ist. So kam ich auf Key West, Florida.«

»Sie gehen zu Fuß nach Key West?«

»Ja.«

»Wow. Wie viele Meilen sind das denn?«

»Dreitausend oder so.«

Sie dachte darüber nach. »Ich bewundere Sie. Ich glaube, die meisten Leute träumen davon, so etwas zu tun, aber sie tun es nie. Das Leben legt ihnen zu viele Fesseln an. Wie stellt man das denn an – alles einfach so zurückzulassen? Sie müssen doch einen Job gehabt haben, Freunde, Familie.«

»Hatte ich.«

»Sie meinen, bis Sie gegangen sind?«

»Nein, man könnte sagen, sie haben mich verlassen.«

Sie nickte, als hätte sie plötzlich verstanden, was ich meinte. »Wollen Sie darüber reden?«

Zu meiner Verblüffung wollte ich das. »Es ist die typische Geschichte vom reichen Mann, der alles verliert. Ich hatte das perfekte Leben. Und in weniger als sechs Wochen war es dahin.«

»Was haben Sie in diesem perfekten Leben denn gemacht?«

»Ich hatte eine Werbeagentur in Seattle.« Mein Tonfall wurde sanfter. »Ehrlich gesagt, war mein Vermögen dabei der kleinste Verlust. Eines Tages wurde meine Frau von ihrem Pferd abgeworfen. Sie war von der Taille an abwärts gelähmt. Einen Monat später starb sie an den Komplikationen. Während ich mich um sie kümmerte, stahl mir mein Geschäftspartner meine Agentur, und mein Haus wurde unter Zwangsvollstreckung gestellt. Ich hatte alles verloren. Und das war der Punkt, an dem ich beschloss, wegzugehen.«

»Sie sind die ganze Zeit bei Ihrer Frau geblieben?«

Ich nickte. »Natürlich.«

»Das ist wirklich cool. Das mit Ihrer Frau tut mir leid. Es muss furchtbar gewesen sein.«

Ich nickte.

»Und das mit diesem Schuft von einem Geschäftspartner tut mir auch leid. Es gibt einen besonderen Ort in der Hölle für Leute wie ihn.«

»Davon habe ich gehört.«

Wir aßen schweigend zu Ende, ließen das ernste Gespräch nachwirken. Sie betrachtete meinen leeren Teller. »Möchten Sie jetzt vielleicht Ihre Malzcreme?«

»Gern.«

Sie holte die beiden Becher aus dem Kühlschrank, dann nahm sie wieder Platz und stellte mir einen der Becher hin. »Etwas Positives hat Ihr Abenteuer aber auch. Wenn Sie so viel laufen, können Sie vermutlich essen, was Sie wollen.«

»Ich nehme an, ich verbrenne ungefähr fünftausend Kalorien am Tag. Vermutlich genau so viel, wie diese weltberühmte Malzcreme hier hat.«

Sie grinste. »Die habe ich selbst gemacht. Sie ist es wert. Glauben Sie mir.«

Ich nahm einen Löffel in die Hand. »Und wie lange wollen Sie noch hierbleiben?«

»Eigentlich wohne ich gar nicht hier. Ich wohne ein paar Kilometer weiter, in Peshastin. Aber ich weiß es nicht. Vielleicht noch ein, zwei Jahre. Ich nehme an, ich warte nur.«

»Worauf?«

Sie zuckte die Schultern. »Auf ein besseres Angebot.« Sie nahm noch einen Löffel Malzcreme, dann sagte sie: »Und Sie? Verlassen Sie uns morgen Früh?«

»Das habe ich vor. Was ist denn die nächste größere Stadt?«

»Das ist immer noch Leavenworth. Bis dorthin sind es etwa zwanzig Meilen. Sind Sie schon mal dort gewesen?«

»Nein.«

»Wenn es so wäre, würden Sie sich daran erinnern. Leavenworth ist eine Touristenattraktion.«

»Worin besteht denn die Attraktion?«

»Leavenworth war früher einmal eine Holzfällerstadt. Aber nachdem das Sägewerk dichtgemacht hatte, ging es mit Leavenworth rapide bergab. Dann hatte irgendjemand die Idee, die Stadt in einen bayerischen Weiler zu verwandeln.«

»In einen was?«

»In einen bayerischen Weiler. Ein kleines Fleckchen Deutschland mitten in Washington. Jetzt darf man dort nicht einmal niesen, wenn man es nicht auf Deutsch tut. Die Leavenworther behaupten, dass sie das größte Oktoberfest außerhalb Münchens feiern. Schade, Sie haben es gerade verpasst.«

»Schlechtes Timing«, sagte ich, doch ich war froh, dass ich es verpasst hatte.

»Wie dem auch sei, der Plan ist aufgegangen. Heute zieht die Stadt jedes Jahr Millionen von Besuchern an. Sie haben ein Stadtzentrum, Parks und – man höre und staune – das größte Nussknacker-Museum der Welt. Es beherbergt an die fünftausend verschiedene Nussknacker.«

»Das muss ich mir ansehen«, sagte ich.

»Na klar«, witzelte sie. »Wissen Sie, es ist fast ein bisschen paradox, aber wenn es mit Leavenworth damals nicht so rapide bergab gegangen wäre, dann würde die Stadt heute nicht so gut dastehen, wie sie es tut. Das zeigt doch nur, dass nicht alles Schlechte im Leben wirklich schlecht ist.« Sie nahm noch einen Löffel von der Malzcreme. »Sie müssen müde sein von dem vielen Laufen.«

»Ein bisschen. Der Aufstieg zum Stevens-Pass im Schnee war recht anstrengend.«

»Das glaube ich gern. Wie geht es Ihren Füßen?«

»Sie schmerzen.«

»Kommen Sie her.« Sie stand auf, nahm meine Hand und führte mich zum Sofa. »Setzen Sie sich«, sagte sie. Ich nahm Platz, und sie setzte sich im Schneidersitz vor mir auf den Boden und band meine Schuhe auf.

»Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«, fragte ich.

»Absolut. Das heißt, falls Sie nichts dagegen haben.«

»Das habe ich ganz und gar nicht.«

Sie zog mir die Schuhe aus und begann, meine Füße sanft zu kneten.

»Sagen Sie mir, wenn es zu fest oder nicht fest genug ist.«

»Es ist genau richtig«, sagte ich.

Ein paar Augenblicke saßen wir schweigend da. Ich konnte nicht glauben, wie gut es tat, berührt zu werden. Ich lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.

»Erzählen Sie mir von sich«, sagte sie.

»Das habe ich eben getan.«

»Das betraf Ihr früheres Selbst. Niemand macht all das durch, was Sie durchgemacht haben, ohne sich zu verändern.«

Ich schlug die Augen auf. »Was wollen Sie denn wissen?«

»Die wichtigen Dinge. Zum Beispiel, was Sie tun werden, wenn Sie nach Key West kommen.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht einfach immer weitergehen, ins Meer hinein.«

»Tun Sie das nicht.« Sie lächelte.

»Was wollen Sie sonst noch wissen?«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Glauben Sie an Gott?«

»Das ist vielleicht eine Frage«, sagte ich.

»Bekomme ich eine Antwort darauf?«

»Sagen wir nur so viel: Ich bin viel zu wütend auf Ihn, um nicht an Ihn zu glauben.«

»Sie machen Gott für das verantwortlich, was Ihnen widerfahren ist?«

»Vielleicht. Vermutlich.«

Sie runzelte die Stirn, und ich konnte sehen, dass ihr nicht gefiel, was ich gesagt hatte. »Ich wollte Sie nicht kränken«, sagte ich.

»Das haben Sie auch nicht. Ich frage mich nur, warum wir Gott für alles verantwortlich machen, nur nicht für das Gute. Haben Sie Ihn auch dafür verantwortlich gemacht, dass Er Ihnen Ihre Frau geschenkt hat? Wie viele Leute gibt es, die in ihrem Leben nie eine solche Liebe erfahren?«

Ich blickte zu Boden.

»Ich will damit nicht sagen, dass Sie nicht das Recht haben, wütend zu sein. Das Leben ist hart.« Die Art, wie sie das sagte, ließ erkennen, dass sie wusste, wovon sie sprach. Ich musste an ihre Narben denken.

»Darf ich Sie fragen, was mit Ihrem Handgelenk passiert ist?«

Sie hörte auf, meinen Fuß zu massieren, und senkte für einen Moment den Blick. Als sie wieder zu mir hochsah, lag eine Kraft in ihren Augen, die ich bis dahin noch gar nicht an ihr bemerkt hatte. »Na ja, wie ich schon sagte«, begann sie leise, »das Leben ist hart. Mein Stiefvater hat mich sexuell missbraucht, seit ich sieben war. Mit zwölf kam ich zu dem Schluss, dass der einzige Ausweg wäre, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Aber es floss eine Menge Blut, bis ein Nachbarsmädchen dann den Notarzt gerufen hat.

Im Krankenhaus hat mich eine Sozialarbeiterin dazu gebracht, ihr zu erzählen, warum ich mir die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Mein Stiefvater kam schließlich für sieben Jahre ins Gefängnis. Meine Mutter gab mir die Schuld an der ganzen Situation. Sie beschuldigte mich, ihn verführt zu haben, und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Daher kam ich, als ich dreizehn war, in das erste einer ganzen Reihe von Heimen. Mit fünfzehn bin ich von meinem sechsten Pflegeplatz abgehauen, zusammen mit meinem neunzehnjährigen Freund, der irgendwann genug von mir hatte und mich sitzen ließ.

Ich habe fast ein Jahr lang auf den Straßen von Dallas gelebt, bis ich in einem Walmart beim Ladendiebstahl erwischt wurde und für drei Monate in die Jugendstrafanstalt von Dallas County gesteckt wurde.

Dort habe ich Leah kennengelernt. Leah war schon älter. Sie war keine jugendliche Straftäterin, sondern eine der ehrenamtlichen Gemeindehelferinnen. Sie wurde meine Freundin und Mentorin. Als ich entlassen wurde, wollte sie, dass ich bei ihr einzog. Ich versprach ihr zunächst nicht mehr, als dass ich eine Woche lang bleiben würde. Aber sie war so gut zu mir, dass ich immer wieder um eine Woche verlängert habe.« Sie lächelte liebevoll bei der Erinnerung. »Ich blieb bei ihr, bis ich zwanzig war und wegging, um das College zu besuchen.«

Sie streifte den Ärmel hoch und zeigte mir die beiden großen Narben an ihrem Handgelenk. »Es ist seltsam, aber jetzt bin ich dankbar für sie. Sie sind eine Mahnung für mich.«

»Wozu ermahnen sie Sie?«

Sie sah mir in die Augen. »Zu leben.«

Ich dachte über ihre Worte nach. »Als McKale starb, da hätte ich mir fast das Leben genommen. Ich wollte Tabletten nehmen.«

»Was hat Sie davon abgehalten?«

»Eine Stimme.« Ich kam mir komisch vor, als ich das sagte, aber Ally schien es kein bisschen seltsam zu finden.

»Was hat die Stimme gesagt?«

»Sie hat mir gesagt, dass ich kein Recht hätte, mein Leben zu beenden.« Ich rieb mir das Kinn. »Kurz bevor sie starb, hat McKale mir das Versprechen abgenommen zu leben.«

Sie nickte. »Ich glaube, wir müssen uns alle erst dafür entscheiden. Im Diner begegnen mir jeden Tag tote Leute.«

»Was meinen Sie damit?«

»Menschen, die aufgegeben haben. Das ist alles, was der Tod von uns verlangt – dass wir das Leben aufgeben.«

Ich fragte mich, ob ich ein solcher Mensch war.

»Die Sache ist die: Das einzige wirkliche Zeichen von Leben ist Wachstum. Und Wachstum erfordert Schmerz. Sich für das Leben zu entscheiden heißt, den Schmerz zu akzeptieren. Manche Leute betreiben einen solchen Aufwand, um Schmerz zu vermeiden, dass sie dabei das Leben aufgeben. Sie begraben ihr Herz, oder sie betäuben sich mit Drogen oder Alkohol, bis sie gar nichts mehr fühlen. Die Ironie dabei ist, dass ihre Flucht dadurch letztendlich noch schmerzlicher wird als das, wovor sie fliehen.«

Ich blickte zu Boden. »Ich weiß, dass Sie Recht haben. Aber ich weiß nicht, ob ich ohne McKale leben kann. Ein Teil von mir ist mit ihr gestorben.«

»Es tut mir so leid.« Sie massierte meine Waden. Einen Augenblick später sagte sie: »Wissen Sie, sie ist nicht wirklich von Ihnen gegangen. Sie ist noch immer ein Teil von Ihnen. Welcher Teil von Ihnen, das ist Ihre Entscheidung. Sie kann eine Quelle der Dankbarkeit und der Freude sein, sie kann aber auch eine Quelle der Bitterkeit und des Schmerzes sein. Es liegt ganz bei Ihnen.«

Der Gedanke, dass ich McKale zu etwas Schlechtem machte, war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen.

»Sie müssen lernen, durch den Schmerz hindurchzusehen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Leah hat mich gelehrt, dass das größte Geheimnis des Lebens darin besteht, genau das zu finden, was man sucht. Trotz all der Dinge, die uns zustoßen, entscheiden wir letztendlich selbst, ob unser Leben gut oder schlecht ist, hässlich oder schön.«

Ich dachte darüber nach.

»Leah hat mir einmal eine Geschichte erzählt. Irgendeine Zeitung führte ein Experiment durch. Ich weiß nicht mehr, in welcher Stadt es war, jedenfalls schickten sie einen Mann mit einer Geige hinunter in die U-Bahn, damit er dort Musik machte. Es war zur Rushhour, und Tausende von Leuten gingen an ihm vorbei, während er spielte.

Ein paar Leute warfen ihm Geld hin, aber ansonsten achtete niemand auf ihn. Als er fertig war, ging er einfach wieder.

Was niemand wusste, war jedoch, dass dieser Musiker Joshua Bell war, einer der berühmtesten Geiger der Welt. Er hatte eben erst in der Carnegie Hall ein ausverkauftes Konzert gegeben. Eine Karte dafür kostete hundert Dollar. Das Stück, das er spielte, war eines der schwierigsten und schönsten Musikstücke, die je geschrieben wurden, und er spielte es auf einer zwei Millionen Dollar teuren Stradivari.« Sie lächelte mich an. »Ich liebe diese Geschichte«, sagte sie. »Weil sie Leahs Leben auf den Punkt bringt. Sie wäre stehen geblieben, um zuzuhören.

An dem Abend bevor ich sie verließ, um aufs College zu gehen, sagte Leah zu mir: ›Ally, manche Leute auf dieser Welt haben aufgehört, nach Schönheit zu suchen, und dann wundern sie sich, warum ihr Leben so hässlich ist. Werde nicht so wie sie. Die Fähigkeit, Schönheit zu erkennen, vor allem in anderen Menschen, kommt von Gott. Suche nach Schönheit in jedem Menschen, dem du begegnest, und du wirst sie finden. Jeder hat etwas Göttliches in sich. Und jeder, dem wir begegnen, hat etwas mitzuteilen.«

Ich dachte an Will, den Obdachlosen in dem Jack in the Box.

»Sehen Sie Leah noch oft?«, fragte ich.

»Nein. Sie ist in meinem vorletzten Jahr auf dem College gestorben.« Ally traten Tränen in die Augen. »Sie hatte Krebs. Aber ich hatte das Glück, noch bei ihr gewesen zu sein, bevor sie starb.«

Sie senkte für einen Moment den Kopf, wischte die Tränen weg und sah dann wieder zu mir hoch. »An dem Abend bevor sie starb, saß ich neben ihr im Bett. Sie hob eine Hand, streichelte meine Wange und sagte: ›Als du in die Anstalt gesteckt wurdest, da konnte das Gericht nur eine junge Dame sehen, die in Schwierigkeiten steckt. Aber ich wusste schon in dem Moment, als ich dich das erste Mal sah, dass du etwas ganz Besonderes bist. Und ich hatte Recht, stimmt’s? Vergiss nie, Ally, Gott bringt Menschen aus einem bestimmten Grund in unser Leben. Nur indem wir anderen helfen, können wir uns selbst retten.‹«

Ich nickte langsam. »Deswegen haben Sie mich gefragt, ob es mir gut geht.«

»Ich hatte dieses Gefühl, dass Sie einer dieser Leute sind, denen ich begegnen sollte.«

»Ich bin froh, dass Sie es getan haben«, sagte ich.

Sie drückte zärtlich meinen Fuß. »Ich lasse Sie jetzt besser schlafen.«

Mir schwirrte immer noch der Kopf von ihren Worten. Ich wollte sie noch nicht gehen lassen. »Arbeiten Sie morgen?«, fragte ich.

»Nein. Da habe ich meinen freien Tag, und ich habe einer Freundin versprochen, ihr beim Wohnzimmerstreichen zu helfen.«

Ich stand auf, nahm ihre Hand und half ihr beim Aufstehen. Wir gingen zur Tür. Einen Augenblick lang sahen wir uns nur an. »Danke«, sagte ich. »Für die Fußmassage, das Essen, den Stoff zum Nachdenken …«

»Ich hoffe, es hat geholfen.« Sie beugte sich vor und umarmte mich. Als wir uns voneinander lösten, sagte sie: »Werden Sie mir Bescheid geben, wenn Sie in Key West angekommen sind?«

»Ja. Wie kann ich Sie finden?«

»Ich bin auf Facebook. Allyson Lynette Walker.«

»Ihr Nachname ist Walker?«

Sie lächelte. »Ja. Das sollte Ihrer sein.«

Ich lachte. »Versprochen. Ich werde Ihnen etwas Sand schicken.«

»Das würde mich freuen.« Sie ging hinaus. »Ally«, sagte ich.

Sie wandte sich noch einmal um. »Danke.«

Sie beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. »Viel Glück auf Ihrem Weg.« Dann drehte sie sich um und ging.