Epilog
Als ich in der zweiten Klasse war, las uns die Lehrerin ein brasilianisches Märchen mit dem Titel Die kleine Kuh vor.
Ein Meister der Weisheit wanderte mit seinem Gehilfen übers Land, als sie zu einer kleinen baufälligen Hütte auf einem kargen Stück Ackerland kamen. »Siehst du diese arme Familie dort«, sagte der Meister. »Geh hin und frag sie, ob sie ihr Essen mit uns teilen.«
»Aber wir haben doch reichlich«, sagte der Gehilfe.
»Tu, wie ich dich geheißen habe.«
Der gehorsame Gehilfe ging zu dem Häuschen. Der brave Bauer und seine Frau kamen an die Tür. Sie wurden umringt von sieben Kindern. Ihre Kleider waren schmutzig und zerschlissen.
»Seid mir gegrüßt«, sagte der Gehilfe. »Mein Meister und ich sind auf Wanderschaft, und es mangelt uns an Essen. Ich bin gekommen, um zu sehen, ob Ihr etwas habt, das Ihr mit uns teilen könnt.«
Der Bauer sagte: »Wir haben wenig, aber was wir haben, werden wir teilen.« Er entfernte sich und kam dann mit einem kleinen Stück Käse und einem Kanten Brot wieder. »Es tut mir leid, aber wir haben selbst nicht viel.«
Der Gehilfe wollte das Essen nicht annehmen, aber er tat, wie man ihn geheißen hatte. »Danke. Ihr bringt ein großes Opfer.«
»Das Leben ist hart«, sagte der Bauer, »aber wir kommen zurecht. Und trotz unserer Armut sind wir reich gesegnet.«
»Von welchem Segen sprecht Ihr?«, fragte der Gehilfe.
»Wir haben eine kleine Kuh. Sie liefert uns Milch und Käse, den wir essen oder auf dem Markt verkaufen. Es ist nicht viel, aber sie liefert uns genug, um davon zu leben.«
Der Gehilfe kehrte mit der bescheidenen Ration zurück zu seinem Meister und berichtete ihm, was er über die Not des Bauern erfahren hatte. Der Meister der Weisheit sprach: »Ich freue mich, von ihrer Großzügigkeit zu hören, aber ich bin tief betrübt von ihren Lebensumständen. Bevor wir diesen Ort verlassen, habe ich noch eine Aufgabe für dich.«
»Sprecht, Meister.«
»Geh noch einmal zu der Hütte, und bring mir ihre Kuh.«
Der Gehilfe wusste nicht, warum, aber er wusste, dass sein Meister gnädig und weise war, daher tat er, wie man ihn geheißen hatte. Als er mit der Kuh wiederkam, sagte er zu seinem Meister: »Ich habe getan, was Ihr mir befohlen habt. Was wollt Ihr nun mit dieser Kuh anfangen?«
»Siehst du jene Klippen dort drüben? Geh mit der Kuh zu der höchsten davon, und stoße sie hinunter.«
Der Gehilfe war verdutzt. »Aber Meister …«
»Tu, was ich gesagt habe.«
Der Gehilfe gehorchte bedrückt. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte, zogen der Meister und sein Gehilfe weiter.
Im Laufe der nächsten Jahre gewann der Gehilfe immer mehr an Gnade und Weisheit. Aber jedes Mal, wenn er an den Besuch bei der armen Bauernfamilie dachte, plagte ihn sein Gewissen. Eines Tages entschied er, zurück zu dem Bauern zu gehen und sich für das zu entschuldigen, was er getan hatte. Aber als er zu dem Bauernhof kam, war die Hütte verschwunden. Stattdessen stand dort eine große Villa.
»O nein«, rief er. »Die arme Familie, die einst hier gelebt hat, wurde durch mein böses Tun von diesem Ort vertrieben.« Entschlossen, in Erfahrung zu bringen, was aus der Familie geworden war, ging er zu der Villa und klopfte an die große Tür. Ein Diener öffnete. »Ich würde gern mit dem Hausherrn sprechen«, sagte er.
»Wie Ihr wünscht«, erwiderte der Diener. Einen Augenblick später wurde der Gehilfe von einem gut gekleideten Mann lächelnd begrüßt.
»Was kann ich für Euch tun?«, fragte der wohlhabende Mann.
»Verzeiht, mein Herr, aber könnt Ihr mir sagen, was aus der Familie geworden ist, die einst auf diesem Land gelebt hat?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, erwiderte der Mann. »Meine Familie lebt seit drei Generationen auf diesem Land.«
Der Gehilfe sah ihn verwirrt an. »Vor vielen Jahren kam ich einmal durch dieses Tal und traf einen Bauern mit seinen sieben Kindern. Die Familie war sehr arm und lebte in einer kleinen Hütte.«
»Oh«, sagte der Mann lächelnd. »Das war meine Familie. Aber meine Kinder sind jetzt alle erwachsen und besitzen ihr eigenes Land.«
Der Gehilfe wunderte sich. »Aber Ihr seid nicht mehr arm. Was ist geschehen?«
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, sagte der Mann lächelnd. »Wir hatten diese kleine Kuh, die uns mit dem Allernötigsten versorgte, genug, um zu überleben, wenn auch nicht viel mehr. Wir litten Mangel, aber wir erwarteten nicht mehr vom Leben. Und dann, eines Tages, lief unsere kleine Kuh davon und stürzte über eine Klippe. Wir wussten, dass wir ohne sie verloren sein würden, daher taten wir, was wir konnten, um zu überleben. Erst da stellten wir fest, dass wir mehr Kraft und größere Fähigkeiten besaßen, als wir uns hätten vorstellen können. Wir hätten sie nie entdeckt, wenn wir uns weiter auf diese Kuh verlassen hätten. Was für ein großer Segen des Himmels war es, dass wir unsere kleine Kuh verloren.«
Folgendes habe ich gelernt: Wir können unsere Tage damit verbringen, unsere Verluste zu betrauern, oder wir können an ihnen wachsen. Letztendlich haben wir die Wahl. Wir können Opfer der Umstände sein oder Meister unseres Schicksals, aber täuschen Sie sich nicht, wir können nicht beides sein.
Wir sind alle auf einem Weg, vielleicht nicht in einem solchen wörtlichen Sinne wie ich, aber dennoch auf einem Weg. Ich weiß nicht, was vor mir liegt, aber ich habe noch 3000 Meilen, um es herauszufinden. Es gibt Leute, die ich erst noch treffen muss, die darauf warten, dass mein Weg den ihren kreuzt, damit sie ihre eigene Reise beenden können. Ich weiß nicht, wer oder wo sie sind, aber ich weiß ganz sicher, dass sie warten.
Sie kennen mich nicht. Ich bin niemand Berühmtes oder Wichtiges. Aber genau wie Sie bin auch ich mit einer Rückfahrkarte hier angekommen. Eines Tages werde ich an jenen Ort zurückkehren, von dem ich einmal gekommen bin. Zurück nach Hause, wo McKale wartet.
Wenn diese Zeit gekommen ist, werde ich ihr in die Augen sehen und ihr sagen, dass ich mein Versprechen gehalten habe – dass ich mich entschieden habe, zu leben. Sie wird lächeln, und dann wird sie sagen: »Ich kann nicht glauben, dass du quer durch den ganzen Kontinent gelaufen bist, du verrückter alter Narr.«
So sehe ich es vor mir. Ich könnte mich täuschen, aber das glaube ich nicht. Manchmal, im Schattenland meiner Träume, flüstert sie mir zu, dass sie wartet. Und in diesen Augenblicken weiß ich, dass sie ganz nah ist. Sie hat es selbst einmal zu mir gesagt: »Tot zu sein ist, als wäre man im Zimmer nebenan.«
Vielleicht ist es nur Wunschdenken. Vielleicht ist es Liebe. Vielleicht ist es etwas noch Besseres. Vielleicht ist es Hoffnung.
Ein Gespräch mit dem Autor
Welche Botschaft möchten Sie mit diesem Roman vermitteln?
Ich glaube, dass wir dazu bestimmt sind, als soziale Wesen zu leben, aufeinander zuzugehen und das Leben der anderen zu bereichern. Um mit anderen Worten zu sagen, was Dickens schrieb: Von allen Menschen wird verlangt, sich unter Menschen zu bewegen.
Warum haben Sie sich entschieden, in Tagebuchform zu schreiben und nicht irgendeinen anderen Stil gewählt?
Ich begann vor fast fünfzehn Jahren, meinen zweiten Roman, Timepiece, in Tagebuchform zu schreiben. Das hat mir viel Spaß gemacht, und er ist dadurch zu einem sehr lesenswerten, interessanten Buch geworden.
Der Roman besitzt insofern eine spirituelle Seite, als Alan mit seinen Gefühlen gegenüber Gott ringt. Warum haben Sie sich entschieden, die Geschichte um diesen Aspekt zu erweitern?
Nach meiner Erfahrung stellt sich fast jeder, der einen schweren Verlust erlitten hat – egal, ob er an Gott glaubt oder nicht –, die Frage nach Gott und ringt entweder mit Vorwürfen oder mit Verwirrung. Das war ein Punkt, den ich offen ansprechen wollte. Deshalb lasse ich Ally, die Bedienung, zum Beispiel fragen: Warum machen wir Gott für das Schlechte verantwortlich, aber nicht für das Gute?
Sind Sie wie Alan, der sagte, jeder hätte ein tiefes Bedürfnis, alles hinter sich zu lassen und sich einfach in Bewegung zu setzen? Oder ziehen Sie es vor, in der Nähe Ihres Zuhauses zu bleiben?
Nachdem ich in den letzten drei Wochen in mehr als dreizehn Städten gewesen bin, nehme ich an, ich bin Alan ähnlicher, als ich glauben will. Aber je älter ich werde, desto mehr sehne ich mich danach, einfach nur zu Hause zu sein.
Warum haben Sie sich entschieden, jedem Kapitel bestimmte Passagen aus Alans Tagebuch voranzustellen?
Das ist ein Stil, den ich beim Schreiben schon früher verwendet habe, und einer, der bei meinen Lesern sehr gut ankommt. Während des Schreibens konzentriere ich mich darauf, eine Geschichte zu entwickeln, die rasch fließt, damit der Leser sich in der Erfahrung verliert. Prosaischere Passagen können diesen Fluss leicht unterbrechen. Ich habe festgestellt, dass es mehr Freude beim Lesen bereitet, wenn diese Passagen herausgegriffen und an den Beginn eines Kapitels gestellt werden, an einen Punkt, an dem sich der Leser ohnehin in einem Übergang befindet.
Sie zeichnen ein sehr anschauliches Bild des US-Bundesstaates Washington, durch den Alans Weg führt, und scheinen viel über die Gegend zu wissen. Sind Sie selbst dort unterwegs gewesen?
Meine Tochter Jenna und ich haben ein Auto gemietet und sind die Strecke abgefahren, wobei wir genau darauf geachtet haben, was Alan sehen würde, wo er anhalten würde und was er essen würde. Anfangs habe ich versucht, diese Geschichte in meinem Arbeitszimmer zu schreiben, aber dann wurde mir bewusst, dass das unmöglich ist, ohne dort gewesen zu sein. Das heißt, dass meine Tochter und ich in den nächsten Jahren viel durch Amerika reisen werden, etwas, worauf ich mich schon sehr freue.
Alan grübelt auf seinem Weg über eine wichtige Frage nach, die wir auch Ihnen stellen möchten: Wer hat wirklich die besten Milchshakes?
Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin Diabetiker, daher habe ich keine gekostet. Meine Tochter mochte Zeke’s.
Am Anfang des Weges ist das erste Buch einer Reihe, die Sie planen. Welche anderen Abenteuer haben Sie für Alan auf seinem Weg noch in petto?
Das werden Sie abwarten müssen.
Sie haben eine ganze Reihe von Bestsellern geschrieben. Was gefällt Ihnen so am Schreiben? Wie gehen Sie vor, wenn Sie sich Geschichten ausdenken, an denen die Leser so viel Freude haben?
Ich nehme an, ich habe eine blühende Fantasie, und das Schreiben ermöglicht es mir, sie auszuleben. Ich habe wirklich das Gefühl, als ob ich ein Kanal für diese Geschichten bin, und es gibt Zeiten, da weiß ich nicht einmal, was ich schreibe, bis es durch mich hindurchgeflossen ist und ich es auf dem Blatt vor mir sehen kann. Die Leute suchen nach Inspiration, und meine Bücher sind manchmal die Vehikel für das, was die Leute suchen. Aber es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass sie unterhaltsam sind.
Woran arbeiten Sie im Augenblick?
An Miles to Go, der nächsten Folge um Alan Christoffersen.