Siebenunddreißigstes Kapitel
Ich weiß nicht, was hinter dem Horizont liegt. Ich weiß nur, dass die Straße, auf der ich gehe, für mich bestimmt war. Das ist genug.
Alan Christoffersens Tagebuch
Ich wachte in einem weichen Bett auf, eingehüllt in frische weiße Laken. Ein Plastikschlauch kam hinter meinen Ohren hervor und blies mir Sauerstoff in die Nase. Zu beiden Seiten fühlte ich Metallstäbe. Irgendetwas schnürte mich ein. Ich streckte eine Hand nach unten aus. Ich hatte einen Verband um den Unterleib.
Auf einmal wurde mir bewusst, dass eine Frau neben mir saß. Ich drehte mich zu ihr um. Noch immer sah ich alles ein bisschen verschwommen, und das Fenster hinter ihr ließ sie aussehen, als würde sie strahlen. Ich wusste nicht, wer sie war, obwohl mir irgendetwas an ihr bekannt vorkam. Ich wusste nicht einmal, wo ich war.
»Willkommen zurück«, sagte sie leise.
Einen Moment lang sah ich sie einfach nur an. Mein Mund war wie ausgedörrt, und meine Zunge klebte an meinem Gaumen, als ich versuchte zu sprechen. »Wo bin ich?«
»Im Sacred Heart Hospital in Spokane.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin die Frau, der Sie in der Nähe von Waterville geholfen haben.«
Ich verstand nicht. »Waterville?«
»Erinnern Sie sich nicht? Sie haben meinen Reifen gewechselt.«
Ich erinnerte mich. Es schien so lange her zu sein. »Ich hätte Ihr Angebot, mich mitzunehmen, annehmen sollen.«
Sie lächelte. »Ich denke schon.«
Ich verstand nicht, wieso sie hier war. In diesem Augenblick verstand ich gar nichts. »Warum sind Sie hier?«
»Die Polizei hat mich angerufen. Sie haben die Visitenkarte gefunden, die ich Ihnen gegeben hatte. Sie sagten, es sei die einzige Telefonnummer, die sie bei Ihnen finden konnten.« Sie streckte die Hand aus und berührte meinen Arm. »Wie geht es Ihnen?«
»Mir tut alles weh.« Als wollte er meinen Worten Nachdruck verleihen, raubte mir ein plötzlicher Schmerz den Atem. Ich stöhnte auf.
»Vorsicht«, sagte sie.
»Was ist mit mir passiert?«
»Sie wurden von einer Gang überfallen und ziemlich übel zugerichtet.«
»Ich dachte, sie würden mich umbringen.«
»Das hätten sie vielleicht getan, wenn nicht zufällig zwei Männer vorbeigekommen wären. Sie waren auf dem Rückweg von der Jagd und hatten Schrotflinten dabei. Sie haben Ihnen vermutlich das Leben gerettet.«
Ich schloss die Augen.
»Ich habe die Telefonnummern der Männer, falls Sie sich bei ihnen bedanken wollen.«
»Ist mein Rucksack gestohlen worden?«
»Nein, Ihre Sachen sind bei der Polizei. Ich glaube, sie brauchen sie als Beweismittel.«
Ein paar Minuten später kam eine Ärztin herein. Sie war jung und sah ein bisschen wie Monnie aus, meine ehemalige Nachbarin, nur dass sie kurze rote Haare hatte. Sie überprüfte meine Infusion, dann sah sie mich an. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich bin noch nicht tot.«
Sie grinste. »Das hatte ich gehofft. Ich bin Doctor Tripp. Das war ganz schön knapp. Sie haben viel Blut verloren.«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Sie wurden gegen ein Uhr morgens eingeliefert, und jetzt …« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »… ist es fast zwei.«
Mein Verstand war immer noch benebelt. »Zwei Uhr morgens?«
»Nachmittags«, sagte sie.
»Was ist mit meinem Magen passiert?«
»Man hat mit einem Messer auf Sie eingestochen. Sie brauchten eine Bluttransfusion.«
»Wie viele Stiche habe ich abbekommen?«
»Sie haben zwei größere Wunden am Bauch und eine Fleischwunde an der Seite. Zum Glück wurde Ihre Leber nicht getroffen, sonst würde es Ihnen noch viel schlechter gehen. Außerdem haben Sie eine Gehirnerschütterung.«
»Deswegen tut mein Kopf so weh«, sagte ich. »Dieser große Typ hat die ganze Zeit auf meinen Kopf eingetreten.«
»Sie wurden ganz schön in die Mangel genommen. Sie sollten sich wirklich einen anderen Freundeskreis suchen.«
»Ich werde es mir merken.«
»Die Polizei würde gern mit Ihnen reden, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Die Beamten warten draußen auf dem Flur.«
»Die Polizei ist hier?«
»Einer der jungen Männer, die Sie überfallen haben, wurde angeschossen. Er liegt auf der Intensivstation.« Dann fügte sie hinzu: »Keine Sorge, er wird nirgendwo mehr hingehen. Außer in den Knast.« Sie wandte sich an die Frau neben mir. »Sind Sie seine Frau?«
»Ich bin eine Bekannte.«
Ich atmete langsam aus. »Wie lange werde ich hierbleiben müssen?«, fragte ich.
»Eine Weile. Mindestens ein paar Tage. Vielleicht eine Woche.«
»Aber dann kann ich mich wieder auf den Weg machen?«
Sie legte die Stirn in Falten. »Es tut mir leid, aber Sie werden Ihre Pläne erst einmal auf Eis legen müssen. Sie sind nicht in der Verfassung, sich auf irgendeinen Weg zu machen. Ihre nächste Station ist zu Hause.«
Ich antwortete nicht.
»Wo sind Sie zu Hause?«, fragte die Frau.
»Ich bin obdachlos«, sagte ich. Es laut auszusprechen war mir unangenehm.
»Er kann mit zu mir kommen«, sagte die Frau.
Die Ärztin nickte. »Okay, das klären wir, wenn es so weit ist. Ich werde in ein paar Stunden wieder nach Ihnen sehen.« Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich bin froh, dass es Ihnen schon so gut geht.« Sie verließ das Zimmer.
Ich wandte mich an die Frau. »Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Ich weiß, dass Sie jemand sind, der einer Fremden hilft. Außerdem kannten Sie mich ja auch nicht, als Sie mir zu Hilfe gekommen sind. Ich revanchiere mich nur für einen Gefallen.«
»Woher wollen Sie denn wissen, dass ich kein Serienkiller bin?«
»Wenn Sie einer wären, dann hätten Sie mein Angebot, Sie mitzunehmen, nicht ausgeschlagen.« Da hatte sie Recht. »Vermutlich nicht«, sagte ich. Ich streckte mich wieder aus und atmete einmal tief durch. Das hier war ein Umweg, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Aber war damit nicht auch mein ganzes Leben ziemlich gut auf den Punkt gebracht? »Ich kenne nicht einmal Ihren Namen«, sagte ich.
»Entschuldigung.« Sie streckte einen Arm aus und berührte meine Hand. »Ich heiße Annie. Aber alle nennen mich Engel.«