Dreiunddreißigstes Kapitel
Die Besitzerin des Bed & Breakfast hatte Bali, China, Nepal, Europa und den Tod gesehen. Aber nicht in dieser Reihenfolge.
Alan Christoffersens Tagebuch
Das Bed & Breakfast in der Morgan Street war ein altmodisches, im viktorianischen Stil errichtetes Haus aus dem Jahr 1896. Die viktorianischen Motive waren schlicht gehalten, aber das Haus besaß noch immer ein paar Zierbalustraden, einen großen Frontgiebel und ein Queen-Anne-Türmchen mit einer glockenförmigen Kuppel.
McKale hätte dieses Haus geliebt, dachte ich. In Bezug auf Bed & Breakfasts war McKale ein echter Connaisseur. Ich erzählte schon, dass sie mich an unserem verlorenen Wochenende mit einem Bed & Breakfast auf Orcas Island überraschen wollte. Sie hatte eine Liste von B&Bs im Pazifischen Nordwesten erstellt, und alle paar Monate verbrachten wir ein Wochenende in einem davon. Einmal, als ich zu viel Arbeit hatte, fuhr sie alleine weg.
Ich drückte die schmiedeeiserne Pforte auf und stieg die Verandastufen hoch. Die Haustür war verschlossen, daher drückte ich auf die Klingel. Fast im selben Augenblick hörte ich Schritte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, und die Tür ging auf. Dahinter stand eine Frau mittleren Alters mit silbergrauem Haar und einer blau umrandeten Brille. Sie trug einen gelben Pullover über einem roten Printkleid.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja. Haben Sie ein Zimmer frei?«
Sie lächelte. »Ja, das haben wir. Kommen Sie herein.« Sie trat von der Tür zurück.
Ich ging hinein und stand auf einem Perserteppich. Drinnen war es warm, und die Empfangshalle machte einen sehr eleganten Eindruck.
»Stellen Sie Ihren Rucksack einfach hier ab.« Sie zeigte auf den Boden neben der Treppe.
»Danke.«
Sie ging zu einem viktorianischen Mahagonischreibtisch an der Wand und nahm ein Gästebuch aus einem Fach. »Sie sind allein?«
»Ja, Ma’am.« Ich nahm den Rucksack von den Schultern und lehnte ihn gegen die Wand.
»Ihr Name, bitte.«
»Alan Christoffersen.«
Sie sah auf. »Sind Sie mit diesem Sänger verwandt?«
»Nein. Mein Name wird auch anders geschrieben.«
Sie beugte sich wieder über das Gästebuch. »Na schön. Wir haben heute Nacht nur noch einen anderen Gast. Das heißt, Sie haben bei den Zimmern die freie Auswahl. Sie werden Ihnen alle gefallen, es sei denn, Sie haben eine Abneigung gegen Treppen.«
»Gegen Treppen habe ich nichts einzuwenden.«
»Sie kosten alle gleich viel, bis auf die Flitterwochen-Suite, aber ich nehme nicht an, dass Sie die wollen.«
»Nein, Ma’am.«
»Mein Name ist Colleen Hammersmith. Aber Sie können mich gern Colleen nennen.«
»Danke.«
»Dann gebe ich Ihnen das grüne Zimmer. Es hat eine hübsche neue Matratze und eine Bettdecke, die ich persönlich ausgesucht habe. Ich brauche dann nur noch Ihre Kreditkarte und etwas, womit Sie sich ausweisen können.«
Ich zückte meine Brieftasche und reichte ihr meine Kreditkarte und meinen Führerschein. »Hier, bitte sehr.«
Sie zog meine Kreditkarte durch, dann gab sie mir die Karte und meinen Führerschein zusammen mit einem Blatt Papier und einem Stift zurück. »Wenn Sie hier bitte noch unterschreiben würden.«
Ich unterschrieb das Formular.
»Hier ist Ihr Schlüssel.« Sie reichte mir einen Generalschlüssel aus Messing. »Sie sind in Zimmer C, gleich oben an der Treppe. Das Bad befindet sich am Ende des Flurs. Normalerweise würden Sie es sich mit dem Bewohner des anderen Zimmers teilen, aber heute Nacht sind Sie der einzige Gast auf der ersten Etage. Mein eigenes Zimmer ist gleich hier am Ende des Flurs, links neben der Küche. Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie noch irgendetwas brauchen.«
»Danke. Ich bin sicher, es ist alles bestens.« Ich nahm meinen Rucksack und trug ihn die Treppe hoch. Ich schloss die Tür auf und betrat das Zimmer. Es wurde spärlich erhellt von einer Messing-Stehlampe, und ich schaltete das Oberlicht ein.
Das Zimmer war im typisch viktorianischen Stil gehalten und machte einen ordentlichen und femininen Eindruck. Die cremefarbenen Wände waren mit gerahmten Bildern von Blumen – Lilien und Narzissen –, einem golden gerahmten Spiegel und Schaukästen mit antikem Spielzeug geschmückt. Es gab einen großen antiken Kleiderschrank im französischen Stil und einen kleinen, mit Leder überzogenen, runden Tisch mit Ball- und Klauenfüßen. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großes Bett mit einem massiven Mahagoni-Kopfteil und einer Bettdecke mit Blümchenmuster, auf der sich Zierkissen mit Spitzenborten türmten.
Ich nahm meinen Rucksack ab und lehnte ihn gegen die Wand, dann zog ich meinen Parka aus und legte ihn auf meinen Rucksack. Ich trat ans Fenster und öffnete die Vorhänge. Die einzige Aussicht, die sich mir bot, war die auf das Bestattungsinstitut Strate und den Parkplatz auf der anderen Straßenseite. Ich zog die Jalousien herunter und zog mich aus. Meine Kleider und Schuhe legte ich am Fußende des Betts auf den Boden. Ich rollte die Decke bis zum Fußende des Betts zusammen, türmte die Zierkissen in einer Ecke des Zimmers auf, schlug dann die Laken zurück und legte mich auf das Bett. Die Bettwäsche roch frisch, so wie unsere, wenn McKale sie aus dem Trockner nahm. Um genau zu sein, roch das ganze Zimmer gut, nach Lavendel, wie ich aus einem lila Stoffsäckchen schloss, das neben mir auf dem Nachttisch lag. Das Zimmer war kein Vergleich zu der Hütte, in der ich erst Anfang dieser Woche mein Lager aufgeschlagen hatte. Ich lag auf dem Bett und dachte nach, als es an der Tür klopfte. Um genau zu sein, war es eher ein Treten.
»Augenblick.« Ich stand auf und schlüpfte in den Morgenmantel, der an der Schranktür hing, und öffnete die Tür. Es war Mrs. Hammersmith. Sie hatte einen Korb mit Blaubeer-Scones in der Armbeuge und in den Händen eine Tasse mit dampfendem Wasser auf einer Untertasse und ein kleines Weidenkörbchen mit Teebeuteln und Süßstoff.
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern einen Tee, bevor Sie zu Bett gehen.«
»Danke.«
Sie ging an mir vorbei und stellte alles auf dem Nachttisch ab. »Ein Löffel ist auch dabei.« Sie lächelte mich an. »Es geht doch nichts über einen Schluck heißen Tee, wenn man gut schlafen will.« Sie ging zurück zur Tür. »Ich werde Sie jetzt nicht mehr stören. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Ich wollte die Tür gerade schließen.
»Bevor ich es vergesse, um wie viel Uhr möchten Sie morgen denn gern frühstücken, Mr. Christoffersen?«
»Vielleicht um sieben, halb acht.«
»Ich bin immer früh auf den Beinen. Das heißt, bis dahin werde ich mit dem Kreuzworträtsel schon fertig sein. Ich werde meine Himbeer-Muffins und eine Eier-Frittata machen. Essen Sie Schinken?«
»Ja.«
»Dann mache ich die Frittata mit Cheddarkäse und Schinken.« Sie wandte sich um und ging die Treppe hinunter. Ich schloss die Tür und schloss sie ab, dann schaltete ich das Licht aus, sodass das Zimmer nur noch von der Stehlampe erhellt wurde.
Ich setzte mich aufs Bett und tat einen Teebeutel in die Tasse. Während der Tee zog, nahm ich einen Bissen von dem Scone. Es schmeckte gut, aber ich war noch satt vom Abendessen, daher legte ich es zurück in das Körbchen. Ich nahm den Teebeutel aus der Tasse und legte ihn auf die Untertasse, dann schüttete ich zwei Päckchen Süßstoff hinein. Ich rührte mit dem Löffel um, legte ihn auf die Untertasse und stellte sie neben dem Bett ab. Ich schlürfte den Tee in kleinen Schlucken.
Im Zimmer war es gemütlich und warm, aber ich war nicht glücklich dort. Die Umgebung erinnerte mich zu sehr an all das, was McKale und ich zusammen erlebt hatten. Es war, als würde ich zu einer Party gehen, bei der die Gastgeberin fehlte.
Mein Herz verkrampfte sich, und ich bekam Angst, dass sich eine neue Panikattacke ankündigte. Ich stellte den Tee ab, schaltete die Lampe aus und kroch unter die Bettdecke, in der Hoffnung, einzuschlafen, bevor die Panik mich fand.
Ich wachte gegen sieben auf. Durch die seitlichen Ritzen der Jalousie drang Morgensonne. Ich schlüpfte in meinen Morgenmantel, schnappte mir frische Kleider und Unterwäsche und ging den Flur hinunter zum Bad, um mich zu duschen und zu rasieren. Auf dem Weg zurück in mein Zimmer hörte ich unten im Speiseraum Geschirr klappern. Der köstliche Duft eines warmen Frühstücks stieg mir in die Nase.
Ich hängte den Morgenmantel auf, nahm meinen Straßenatlas aus dem Rucksack und ging die Treppe hinunter. Zu meinem Erstaunen saßen keine anderen Gäste im Speiseraum. Mrs. Hammersmith lächelte, als sie mich sah.
»Guten Morgen, Mr. Christoffersen«, sagte sie fröhlich.
»Nennen Sie mich Alan«, sagte ich.
»Alan, sehr gern«, erwiderte sie. »Ich habe einen Neffen, der Alan heißt. Er ist ein durchaus virtuoser Cellist.«
»Dann ist der Name alles, was wir gemeinsam haben«, sagte ich. »Meine musikalischen Fähigkeiten beschränken sich im Wesentlichen auf meinen iPod.«
Sie lächelte. »Ich hoffe, Sie haben Hunger. Mir fällt es immer schwer, für so wenige Leute zu kochen. Ich mache immer viel zu viel.«
»Ich bin beinahe am Verhungern. Wohin soll ich mich setzen?«
»Wohin Sie möchten. Der Tisch dort drüben am Fenster ist ein schöner Platz.«
Ich ging hinüber und setzte mich. »Bin ich der einzige Gast hier?«
»Jetzt ja. Die Gandleys sind eben aufgebrochen, ein paar Minuten bevor Sie herunterkamen. Gigi hatte es eilig, zurück nach Boise zu kommen. Möchten Sie Kaffee?«
»Ja, bitte.«
Sie ging zu einem Serviertisch, um die Kaffeekanne zu holen. »Haben Sie gut geschlafen? War das Bett in Ordnung?«
Ich hatte nicht gut geschlafen, aber das lag nicht an dem Bett. »Das Bett war wunderbar. Sehr weich.«
»Nicht zu weich, hoffe ich. Die Matratze ist neu. Wie war das Zimmer?«
»Das Zimmer ist wunderschön. Meine Frau …« Ich brach ab.
»Ihre Frau?«
»Ach, nichts.«
Sie musterte mich kurz, dann schenkte sie mir Kaffee ein. »Es freut mich zu hören, dass Ihnen das Zimmer gefallen hat. Ich muss Ihnen sagen, dass sich ein, zwei Leute über die Aussicht auf das Bestattungsinstitut beklagt haben. Ich persönlich glaube ja, sie hatten einfach Angst vor dem Tod.«
»Na ja, das kann ich verstehen. Jeder hat Angst vor dem Tod.«
Sie stellte die Kanne auf dem Nebentisch ab. »Ich nicht«, sagte sie. »Jedenfalls nicht mehr seit meinem zwölften Lebensjahr.«
Ich sah sie neugierig an. »Warum denn nicht?«
»Weil ich damals gestorben bin«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da und bringe Ihnen Ihr Frühstück.«
Sie verließ den Speiseraum, sodass ich allein zurückblieb, um über die Worte nachzugrübeln, die sie so beiläufig fallen gelassen hatte, als bräuchten sie keine Erklärung. Etwa drei Minuten später kam sie mit einem Teller in der Hand wieder. »Hier ist Ihre Schinken-Käse-Frittata. Und das hier ist ein Himbeer-Streusel-Muffin. Sie werden begeistert sein. Ich habe das Rezept von der Magnolia-Bäckerei in New York City bekommen. Er schmeckt, als sei er nicht von dieser Welt.«
Sie stellte mir den Teller hin. Ich interessierte mich weniger für das Essen als für das, was sie zuvor gesagt hatte. »Was haben Sie damit gemeint – dass Sie gestorben sind, als Sie zwölf Jahre alt waren?«
»Nur dass ich gestorben bin.«
Ich wusste immer noch nicht, was sie damit meinte. »Aber Sie sind doch nicht tot.«
»Nein. Ich bin zurückgekommen.«
»Zurück vom Tod?«
Sie nickte.
Ich war schon immer fasziniert von Geschichten über Nahtoderfahrungen. »Würden Sie mir davon erzählen?«
Sie sah mich kurz an, dann sagte sie: »Lieber nicht. Die Leute reagieren meist ein bisschen …« Sie wählte das Wort vorsichtig. »… verstört darauf.«
»Bitte. Es würde mir sehr viel bedeuten.«
Sie sah mich kurz an, dann seufzte sie. »Na schön. Essen Sie, und ich rede.«
Sie nahm auf dem Stuhl mir gegenüber Platz. »In dem Sommer, als ich zwölf war, kletterten mein kleiner Bruder und ich auf einen Baum in unserem Vorgarten. Uns war gar nicht aufgefallen, dass der Baum in eine Stromleitung hineingewachsen war, und während ich hochkletterte, griff ich versehentlich nach einem Kabel. Ich weiß nur noch, dass es einen hellen Blitz und einen lauten Knall gab. Siebentausend Volt schossen durch meinen Körper. Sie rissen sogar Löcher in den Hosenboden meiner Keds. Mein Fleisch schmolz an der Stelle, wo ich nach der Leitung gegriffen hatte.« Sie hob ihre Hand. »Das ist mir davon geblieben.« Eine tiefe, gefurchte Narbe zog sich quer über ihre Finger. Sie sah mich an. »Sie essen ja gar nichts.«
»Entschuldigung.« Ich nahm aus Höflichkeit einen Bissen.
»Ich stürzte etwa vier Meter tief auf die Erde. Mein Bruder kletterte den Baum hinunter, rannte ins Haus und schrie nach meiner Mutter. Das wusste ich, weil ich ihm ins Haus folgte. Ich wusste gar nicht, was los war, bis die Tür vor mir zuknallte und ich einfach hindurchging.«
Ich sah sie fragend an. »Sie meinen, Ihr Geist?«
»Mein Wesen«, sagte sie, als hätte sie etwas gegen das Wort Geist. »Meine Mutter kam aus dem Haus gerannt, und wir liefen alle zu meinem Körper. Ich kann Ihnen sagen, es ist schon seltsam, auf sich selbst hinunterzusehen. Man würde es nicht vermuten, aber wir nehmen uns selbst so wahr, wie wir uns auf Bildern oder im Spiegel sehen – immer zweidimensional. Mir wurde bewusst, dass ich mich selbst noch nie wirklich gesehen hatte. Nicht so, wie andere mich sehen. Ich sah anders aus, als ich gedacht hatte.
Meine Mutter schüttelte meinen Körper, und ich stand da, neben ihr, und sah ihr dabei zu. Ich sagte: ›Ich bin hier drüben, Mom‹. Aber sie konnte mich nicht hören. Sie legte nur ein Ohr auf meine Brust.
Auf einmal war vor mir ein Licht. Man hört ja oft Leute von dem Licht reden. Sie sagen, geh aufs Licht zu. Ich glaube nicht, dass ich auf das Licht zuging. Ich glaube vielmehr, dass es auf mich zukam. Es war einfach da und ging durch mich hindurch.
Auf einmal war ich irgendwo anders, und ein Wesen aus Licht stand neben mir. Ich verspürte dieses Gefühl absoluter Freude, wie in den schönsten Momenten meines Lebens, bei allen Weihnachtsfesten und Sommerferien und neuen Lieben. Es fühlte sich an wie alles zusammen, aber es war noch schöner. Das Gefühl war unbeschreiblich.
Das Wesen sagte mir, dass ich noch gar nicht dort sein solle und dass ich zur Erde zurückkehren müsse. Ich weiß noch, dass ich nicht gehen wollte. Ich flehte Ihn an, mich bei Ihm bleiben zu lassen. Aber Er sagte, dass ich nur für kurze Zeit fort sein würde und dass ich wiederkommen könne, nachdem ich meine Mission erfüllt hätte.
Und dann war ich auf einmal wieder in meinem Körper. Ich lag auf der Erde, und ich fing vor Schmerzen an zu weinen. Meine Mutter erzählte mir an jenem Abend, dass mein Herz nicht mehr geschlagen hätte und dass sie gedacht hätte, dass ich tot sei. Erst Jahre später erzählte ich ihr, was mir passiert war.«
»Hat sie Ihnen geglaubt?«
»Ja. Sie hat mir immer geglaubt. Ich habe ihr nie einen Grund gegeben, an meinen Worten zu zweifeln.«
»Was hat sie gedacht?«
»Ich weiß nicht, was sie gedacht hat, aber sie sagte, sie sei froh, dass ich gezwungen wurde, zurückzukommen.«
»Und was war das für eine Mission, die Sie eben erwähnten?«
»Jeder hat einen Zweck, zu dem er auf die Erde kommt. Ich hatte meinen noch nicht erfüllt.«
»Und was ist Ihre Mission?«
»Nichts, was Schlagzeilen machen wird, falls Sie das meinen. Ehrlich gesagt habe ich mein Leben lang versucht, das herauszufinden. Ich habe Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass die Suche der Weg war. Es war ganz einfach. Meine Mission ist es, zu leben und zu akzeptieren, was immer meinen Weg kreuzt, bis ich wieder nach Hause kommen kann. In mein wahres Zuhause.«
»Sie klingen, als ob Sie es kaum noch erwarten können.«
»Ich nehme an, so ist es auch. Ich bin nicht scharf auf das, was ich vielleicht noch durchmachen muss, um dorthin zu kommen, aber ich kann Ihnen sagen, dass es eine Reise ist, die sich lohnt. Ungefähr so wie eine Reise nach Bali.«
»Sie waren auf Bali?«, fragte ich.
»Bali, Nepal, Italien, China, Taiwan. Dass ich in Davenport lebe, heißt noch lange nicht, dass ich die Welt nicht gesehen hätte.«
»Sie können sich glücklich schätzen, diese Erfahrung gemacht zu haben.«
»Das haben schon viele Leute gesagt, aber ich weiß nicht, ob es stimmt. Es hat mir das Leben erschwert. Ich habe mich immer anders gefühlt, so als ob ich gar nicht hierhergehören würde. Aber ich nehme an, genau darum geht es. Niemand von uns gehört hierher.
Als ich älter wurde, hatte ich viele Fragen. Ich habe mit einem Psychiater gesprochen, aber der hielt mich für verrückt und verschrieb mir Prozac. Ich habe einem Priester davon erzählt, und der sagte mir, ich solle nicht darüber reden. Das habe ich nie verstanden. Mit neunzehn erfuhr ich, dass es Gruppen gibt für Leute, die solche Erfahrungen gemacht haben wie ich. Daher fuhr ich zu einer ihrer Konferenzen. Das bestätigte, was ich erlebt hatte, aber die Leute waren nicht glücklich. Leute, die NTEs hatten, wie sie es nannten, haben Probleme damit, ihren Job zu behalten oder verheiratet zu bleiben. Ich nehme an, uns langweilt all das, was es hier gibt, einfach schnell. Normale Leute kennen nichts anderes, daher leben sie so, als wäre dieses Leben alles, was es gibt.
Zum Beispiel Mrs. Santos, die ein Stück die Straße hinunter auf der Delgado-Ranch wohnt. Sie ist nie weiter von zu Hause weggekommen als bis Seattle. Sie hat keine Ahnung, was es dort draußen alles gibt. Sie kennt nicht einmal den Nebel, der über dem Sonne-Mond-See aufsteigt, oder hätte gar gesehen, wie die italienische Sonne die Weinberge im Chianti vergoldet. In gewisser Weise sind die Lebensklammerer genauso.«
»Lebensklammerer?«
»Dieses Wort habe ich mir ausgedacht. Das sind die Leute, die sich an dieses Leben klammern, weil sie glauben, dass das hier schon alles wäre. Aber sie täuschen sich, wenn sie glauben, dass sie an diesem Leben festhalten können. Alles auf dieser Welt ist vergänglich. Alles. Man kann nicht eine einzige Sache festhalten. Aber weiß Gott, sie versuchen es. Manche Leute lassen sogar ihren Körper einfrieren, damit sie irgendwann später wieder zum Leben erweckt werden können. Was für Dummköpfe! Sie müssten sich nur umsehen, dann könnten sie sehen, dass auf dieser Welt nichts von Dauer ist.«
»Na ja, wir kommen nicht alle in den Genuss, die andere Seite zu sehen«, wandte ich vorsichtig ein.
»Nein, aber es finden sich überall Beweise, dass es die andere Seite gibt. Fragen Sie doch mal irgendjemanden, der beruflich mit dem Tod zu tun hat – Geriatrieärzte oder Hospizmitarbeiter. Jeder von ihnen kann Ihnen sagen, was passiert, wenn jemand stirbt. Wie oft kommt es vor, dass jemand, der im Sterben liegt, hochblickt und einen Besucher von der anderen Seite grüßt? Das ist die Regel, nicht die Ausnahme. Aber keiner redet darüber. Sie reden nicht einmal über den Tod, als ob er verschwinden würde, wenn man nicht darüber redet. Aber wie kann man das Leben verstehen, wenn man den Tod nicht versteht?« Sie sah auf meinen Teller. »Jetzt haben Sie gar nichts gegessen, und alles ist kalt geworden. Ich wärme es Ihnen rasch noch einmal auf.«
Sie nahm meinen Teller und trug ihn zurück in die Küche. Ironischerweise war das, was sie über die »Lebensklammerer« gesagt hatte, genau dasselbe, was ich über die Bewohner all der kleinen Städte gedacht hatte, die ich durchquert hatte. Ich hatte mich gefragt, ob sie wussten, dass es dort draußen noch eine ganz andere Welt gab. Aber in Wahrheit war ich selbst nicht anders als sie. Ich war ein Lebensklammerer.
Kurz darauf kam Mrs. Hammersmith wieder. Sie hielt meinen Teller mit einem Ofenhandschuh. »Vorsicht, der Teller ist ein bisschen heiß.« Sie stellte ihn vor mich hin.
»Danke.« Ich griff nach einer Gabel. »Und danke, dass Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben.«
»Vergessen Sie nur eines nicht, Alan. Der Tod ist der Anfang. Das hier ist der Winter. Und danach kommt der Frühling.« Sie seufzte. »Ich mache mich besser wieder an die Arbeit. Ein B & B zu haben ist, als hätte man eine große Familie. Irgendjemand braucht immer irgendetwas.«
Mit diesen Worten ging sie hinaus. Ich frühstückte zu Ende und ging dann wieder nach oben. Ich nahm meine Karte und studierte sie, dann packte ich meine Sachen und ging wieder hinunter. Mrs. Hammersmith räumte gerade meinen Tisch ab.
»Sie wollen los?«, fragte sie.
»Ich mache mich wieder auf den Weg. Können Sie mir sagen, wie viele Meilen es noch bis Spokane sind?«
»Es sind noch ungefähr 36 Meilen, vielleicht sind es ein paar Meilen mehr, vielleicht aber auch ein paar weniger.« Sie lächelte. »Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Aufenthalt.«
»Nun, den hatte ich.« Ich ging zur Tür. »Nochmals vielen Dank für alles. Sie haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben.«
»Gern geschehen«, sagte sie warmherzig. »Oh, Augenblick noch.« Sie lief zurück in die Küche und kam gleich darauf mit einem in eine Serviette gewickelten Muffin zurück. »Hier ist noch einer für unterwegs. Besuchen Sie uns bald mal wieder.«
»Ja, das mache ich vielleicht.« Dankbar für meinen Aufenthalt hier, verließ ich das Haus.
Während ich Davenport hinter mir ließ, fragte ich mich, ob ich es wirklich bis zum Einbruch der Dunkelheit bis nach Spokane schaffen würde. Die längste Strecke, die ich je an einem Tag zurückgelegt hatte, waren 31 Meilen gewesen, und danach war ich ziemlich erschöpft gewesen. Aber ich fühlte mich gut, und ich war entschlossen, mein Ziel zu erreichen. Ich entschied, einfach zu sehen, was der Tag mir bringen würde.
Ohne Proviant war mein Rucksack viel leichter, und ich kam zügig voran. Zum Mittagessen kehrte ich in Dean’s Drive-in ein. Auch er hatte weltberühmte Shakes im Angebot, auch wenn sich das Eigenlob hier auf die Heidelbeer-Shakes beschränkte. Um zwei Uhr nachmittags überquerte ich die Grenze des Bezirks Spokane, und drei Stunden später erreichte ich den westlichen Ausläufer der Fairchild Air Force Base. Der Stützpunkt, der auf einem riesigen Stück Land errichtet worden war, war eine Stadt für sich. Ich fragte mich, warum die Air Force nicht einfach Kornkreise in ihr eigenes Gelände brannte.
Um acht Uhr erreichte ich die Stadt Airway Heights. Dort kehrte ich im Hong Kong Restaurant & Bar zum Abendessen ein. Ich hatte mich noch immer nicht endgültig entschieden, ob ich es wirklich weiter bis Spokane versuchen sollte, aber ich fühlte mich noch immer gut. Daher aß ich einen Teller Kung-Pao-Shrimps mit gefüllten Teigtaschen und machte mich dann wieder auf den Weg.
Ich war optimistisch, Spokane noch an diesem Abend zu erreichen, bis mein Körper gegen elf Uhr an eine Art physische Grenze stieß, vielleicht dieselbe, von der Marathonläufer oft erzählen. Auf einmal war ich einfach zu erschöpft, um noch weiterzulaufen.
Dennoch zwang ich mich, meinen Weg fortzusetzen, bis ich in der Ferne ein Hotel sah. Ich humpelte fast in den Hilton Garden Inn neben dem Rusty Moose Restaurant. Zu meinem Erstaunen war kein Zimmer mehr frei. Der Mann am Empfang schlug mir vor, dass ich einfach noch ein paar Meilen weiter bis nach Spokane fahren solle.
Ich überlegte, ob ich meinen Beinen in der warmen Lobby des Hotels eine kleine Pause gönnen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Wenn ich erst einmal saß, so befürchtete ich, würde ich womöglich Krämpfe in den Beinen bekommen. Es war eine Entscheidung, die ich mein Leben lang bereuen sollte. Ich bedankte mich bei dem Hotelangestellten und ging wieder hinaus zum Highway, während ich mir versprach, mir den nächsten Tag freizunehmen. Es war ein Versprechen, das ich halten würde, wenn auch aus einem Grund, den ich nicht in Betracht gezogen hatte.