Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ich glaube, dass es trotz der Ketten, mit denen wir uns fesseln, einen ureigenen Teil der menschlichen Psyche gibt, der sich noch immer danach sehnt, frei umherzustreifen.

Alan Christoffersens Tagebuch

Zum ersten Mal kam mir die Idee, als ich zusah, wie der Banker mit seinem silbernen Audi rückwärts aus meiner Auffahrt fuhr. In diesem Augenblick kam einer meiner Nachbarn vorbei – der alte Mr. Jorgensen, der drei Häuser weiter wohnte. Mr. Jorgensen trug eine himmelblaue Polyesterjacke und einen Strohhut und stützte sich auf einen Stock. Er hatte Parkinson und zitterte beim Gehen. Ich weiß nicht, wieso sein Anblick der Auslöser war – wer weiß schon, woher Ideen überhaupt kommen? Aber in diesem Augenblick war mir klar, was ich zu tun hatte. Es war vielleicht das Einzige, was ich noch tun konnte. Ich musste weit weggehen.

Rückblickend betrachtet war es nicht das erste Mal, dass mir der Gedanke, eine weite Strecke zu Fuß zurückzulegen, durch den Kopf ging. Als ich fünfzehn war, las ich einmal ein Buch über einen Typ, der einmal quer durch ganz Amerika gelaufen war, und seitdem hatte ich insgeheim immer in seine Fußstapfen treten wollen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich glaube nicht, dass ich mit dieser Fantasie allein bin. Ich glaube, dass es trotz der Ketten, mit denen wir uns fesseln, einen ureigenen Teil der menschlichen Psyche gibt, der noch immer nomadisch ist und sich noch immer danach sehnt, frei umherzustreifen. Wir finden Spuren davon in den Walkabouts der australischen Aborigines und dem Spirit Walk der amerikanischen Ureinwohner. Und wir sehen, wie dieser Teil zögernd sein Haupt in unserer eigenen Kultur hebt, in unserer Literatur und Musik auftaucht. Von Thoreau über Steinbeck bis Kerouac – jede Generation glaubt, sie hätte diesen Traum neu entdeckt.

Aber er ist nicht neu. Jede frühere Generation hat schon davon geträumt, umherzustreifen. Tief in seinem Herzen hat jeder von uns den Wunsch, sich frei zu bewegen.

Vielleicht nicht jeder. Als ich McKale von meinem heimlichen Wunsch erzählte, sagte sie: »Ich nicht. Ich würde lieber fliegen.«

»Aber dann würdest du alles verpassen«, sagte ich.

»Nicht alles. Nur die langweiligen Sachen.«

»Nein, die echten Sachen. Das echte Amerika. Die kleinen Städte mit Namen wie Chicken Gristle und Beaverdale.«

»Genau«, sagte sie. »Die langweiligen Sachen.«

Ich ließ nicht locker. »Willst du mir wirklich erzählen, dass du noch nie einfach deine Sachen packen und loslaufen wolltest?«

»Nie. Aber klammere dich ruhig an diesen Traum, du verrückter alter Narr.«

Ein Zitat meines Lieblingskomikers kam mir in den Sinn: »Jeder Ort ist zu Fuß erreichbar, wenn man die Zeit hat.«

Das war alles, was ich noch hatte. Zeit. Davon hatte ich weitaus mehr, als mir lieb war. Ich holte den Rand-McNally-Straßenatlas aus meinem Arbeitszimmer, suchte die Karte der Vereinigten Staaten und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Ich betrachtete sie einen Moment lang, dann durchstöberte ich die Küchenschubladen nach einem Bindfaden. Das Geeignetste, was ich finden konnte, war ein Päckchen Schnürsenkel. Ich riss das Päckchen auf und legte das Ende eines Schnürsenkels auf die Stadt Bellevue, dann spannte ich den Schnürsenkel bis zum anderen Ende der Karte und bewegte das andere Ende über der Ostküste auf und ab, um den am weitesten entfernten Punkt zu finden, den man zu Fuß erreichen konnte. Key West, Florida. Von dort aus, wo ich mich befand, war landseitig der längste mögliche Weg der nach Key West. Dorthin würde ich gehen. Eine Stunde später rief ich Falene an.

Sie war erleichtert, von mir zu hören. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja. Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe.«

»Schon gut. Ich habe mir nur solche Sorgen gemacht.«

»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

»Alles, was du willst.«

»Es ist ein großer. Du musst für mich die Agentur abwickeln. Verkauf einfach alles, was dort noch ist, die Möbel, die Computer, alles. Stell es bei E-Bay oder Craigslist ein. Ich werde dir eine SMS mit der Kontonummer schicken, auf die du das Geld, das du dafür bekommst, überweisen kannst.«

»Was soll ich mit deinen persönlichen Sachen machen?«

»Das ist mir egal. Behalt, was du willst, und wirf den Rest weg.«

»Was ist mit deinen Preisen?«

Die Preise. Meine goldenen Götzen. »Wirf sie weg.«

»Was?«

»Außerdem sind noch ein paar Sachen in meinem Haus. Die Möbel zum Beispiel.«

»Aber die brauchst du doch noch.«

»Nein, nicht mehr. Mein Haus wurde unter Zwangsvollstreckung gestellt.«

Falene stöhnte auf.

»Im Haus sind Möbel und Schrott im Wert von über hunderttausend Dollar. Ich nehme an, du kannst alles bei E-Bay oder so einstellen.«

»Meine Tante besitzt ein Möbellager«, sagte Falene. »Sie kann einen Lastwagen vorbeischicken.«

»Wunderbar. Ach ja, gib bitte den Van der Leasingfirma zurück.« Ich schwieg einen Moment. »Und dann ist da noch Cinnamon …« Cinnamon war McKales Pferd. »Frag doch mal nach, ob der Besitzer des Reitstalls sie haben will.«

»Verstehe«, sagte sie.

»Du kannst die Hälfte des Geldes, das du für die Sachen bekommst, behalten, zahl den Rest einfach auf mein Konto ein.«

»Wo wirst du sein?«

»Ich gehe weg.«

»Wohin?«

»Nach Key West, und zwar zu Fuß.«

Einen Augenblick lang sagte sie nichts. Ich glaube, sie versuchte zu ergründen, ob ich einen Witz machte. »Du meinst, Florida?«

»Ja.«

»Du gehst zu Fuß nach Key West, Florida«, sagte sie ungläubig. »Warum?«

»Das ist der am weitesten entfernte Ort, der von hier aus zu Fuß zu erreichen ist.«

»Du meinst es wirklich ernst«, sagte sie traurig. »Wann brichst du auf?«

»Heute Nachmittag. Sobald ich fertig gepackt habe.«

»Ich würde dich gerne noch einmal sehen, bevor du gehst. Ich kann in einer Dreiviertelstunde da sein. Geh nicht weg, bevor ich da bin. Versprich mir das.«

»Ich werde warten«, sagte ich.

»Ich fahre sofort los. Geh nicht weg«, sagte sie noch einmal und legte auf.

Ich rief Steve an, unseren Buchhalter. Ich wies ihn an, alle unsere Rechnungen zu bezahlen, dann die Auflösung der Firma in die Wege zu leiten, unsere sämtlichen Bankkonten zu schließen und das noch verbliebene Geld auf mein privates Konto zu überweisen. Er bedauerte, uns als Kunden zu verlieren, aber er war nicht allzu überrascht. Bei all dem, was im letzten Monat passiert war, schien auch ihm nun nichts mehr unmöglich.

Wir gingen die noch offenen Forderungen durch, und ich gab ihm Falenes Telefonnummer für den Fall, dass es irgendwelche Probleme geben sollte. Ich dankte ihm für seine Dienste und sagte ihm, dass ich mich in ein paar Monaten wieder bei ihm melden würde. Sein letzter Ratschlag an mich lautete: »Vergiss nicht, dich mit Sonnencreme einzureiben.«

Falene war binnen einer Stunde da. Ich konnte sehen, dass sie geweint hatte. Wir umarmten uns, und dann gingen wir von Zimmer zu Zimmer und redeten über die Möbel. Es war wirklich nichts dabei, was ich nicht zurücklassen konnte. Schließlich standen wir in der Diele.

»Und? Wirst du mir helfen?«

»Ja. Aber die Hälfte ist zu viel. Ich werde nur so viel behalten, wie es meinem Gehalt entspricht.«

»Es wird viel Arbeit sein. Du wirst jemanden einstellen müssen, der dir hilft.«

»Ich werde meinen Bruder fragen. Er hat gerade keine Arbeit.«

Ich reichte ihr ein Blatt Papier. »Hier ist meine Kontonummer. Ich habe mit Steve gesprochen, er wird die Firmenkonten schließen und den Restbetrag ebenfalls auf dieses Konto überweisen. Ich habe ihm gesagt, dass er dich anrufen kann, wenn er irgendwelche Fragen hat. Ist dir das recht?«

»Natürlich.«

Ich sah ihr in die Augen. »Bist du sicher, dass du das schaffst?«

»Natürlich. Ich bin doch jetzt Vizepräsidentin, hast du das vergessen?«

Ich lächelte. »Aber bist du auch sicher, dass du es willst?«

»Ich bin mir sicher, dass ich es nicht will. Ich will, dass alles wieder so ist wie früher. Aber das ist ja keine Option, oder?«

»Schön wär’s«, sagte ich.

Sie betrachtete das Blatt Papier, dann steckte sie es in ihre Handtasche. »Wie werde ich dich erreichen können?«

»Gar nicht. Aber ich werde ab und zu anrufen.«

Sie wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte.

»Danke, Falene. Deine Freundschaft ist das einzig Gute, was bei dieser ganzen Geschichte herausgekommen ist. Du bist einer der feinsten Menschen, denen ich je begegnet bin.«

Sie schlang die Arme um mich, und wir hielten einander ein paar Augenblicke. Als wir uns voneinander lösten, hatte sie Tränen in den Augen. »Ich wünschte, du würdest das nicht tun.«

»Was könnte ich sonst tun?«

Sie sah mich mit einem düsteren, traurigen Gesichtsausdruck an, dann küsste sie mich auf die Wange. »Pass auf dich auf.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, während sie das Haus verließ. Ich fragte mich, ob ich sie je wiedersehen würde.

Es gab nur zwei Dinge, von denen ich mich nicht trennen konnte. Zum einen war da McKales Schmuck. McKale besaß nicht viel Schmuck – sie hatte ein schlichtes Auftreten immer bevorzugt –, aber im Laufe der Jahre hatte ich ihr doch ein paar hübsche Stücke gekauft. Sie besaßen für mich auch einen ideellen Wert, denn jedes einzelne Stück rief mir in Erinnerung, wo wir gewesen waren, als ich es ihr geschenkt hatte, und wie sie darauf reagiert hatte. Ich nahm ihren Ehering und hängte ihn mir an einem Goldkettchen um den Hals. Den Rest – einen Opalring, eine Rubin-Smaragd-Halskette und eine rosa Saphir-Diamant-Brosche – legte ich in einen kleinen Beutel, den ich in meine Hosentasche steckte.

Zum anderen waren da meine Tagebücher aus über zwanzig Jahren. Während ich sie durchsah, stieß ich auf ein dunkelbraunes, ledernes Notizbuch, das ich ein paar Jahre zuvor auf einer Italienreise gekauft hatte und das noch unbenutzt war. Das Leder war weich, eher eine Schutzhülle als ein Buchumschlag. Ein einzelner Lederriemen, der um das Buch gewickelt war, hielt die Buchdeckel zusammen. Ich entschied, dass es sich gut als Reisetagebuch eignen würde.

Die restlichen Tagebücher packte ich in einen Karton und klebte ihn zu. Ich schrieb eine Notiz für Falene, in der ich sie bat, den Karton an die Adresse meines Vaters zu schicken.

McKale hätte gewollt, dass ihre Kleider an ein Frauenhaus gespendet wurden, daher packte ich ihre Sachen in große Kartons und beschriftete sie. Für Falene hinterließ ich eine Notiz mit der Bitte, die Kleider dem Frauenhaus zu übergeben. Mit einer Ausnahme: Ich behielt eines ihrer Seidenmieder. Dann begann ich, für meinen Weg zu packen.

Einer der ehemaligen Kunden meiner Agentur war ein örtlicher Einzelhändler namens Alpinnacle, ein Anbieter hochwertiger Wanderausrüstung. Er war unser kleinster Kunde. Normalerweise bewarb ich mich um Aufträge dieser Größenordnung gar nicht erst, aber in dem Fall hatte ich eine Ausnahme gemacht, da McKale und ich gern wandern gingen und von den Produkten der Firma begeistert waren.

Jedes Jahr stellten wir einen Katalog für Alpinnacle her, und die Warenmuster für die Fotoshootings durften wir behalten. Sie wurden unter den Angestellten verteilt, und ich war immer der Erste, der sich aus der Beute etwas aussuchen durfte. Daher besaß ich bereits mehrere Rucksäcke, einen kleinen tragbaren Propankocher, einen Poncho, einen Daunenschlafsack mit einer selbstaufblasbaren Isomatte und ein Einmannzelt. Das alles konnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich wählte den besten Rucksack aus und packte meine Ausrüstung hinein.

Wir bewahrten unsere Wanderausrüstung in einem Wandschrank im Keller auf, und ich ging hinunter, um noch ein paar andere Dinge zu holen, die ich benötigen würde: eine LED-Radiotaschenlampe mit Handkurbel, einen Feueranzünder und ein Schweizer Armeemesser. Ich packte alles in den Rucksack.

Als ich den Wandschrank durchstöberte, stieß ich auf meinen Lieblingshut: einen Akubra Coober Pedy, einen australischen Haarfilzhut mit einem Lederband, das mit einem kleinen Opal verziert war (Coober Pedy ist ein Ort in Australien, der berühmt ist für seine weißen Opale). Ich hatte den Hut sechs Jahre zuvor auf einer Geschäftsreise nach Melbourne gekauft. Obwohl ich den Hut wirklich mochte, hatte ich ihn doch nur selten getragen, da McKale mich jedes Mal aufzog, wenn ich es tat. Sie sagte, dass ich damit wie der Typ aus Snowy River aussehen würde, was ich persönlich für ein Kompliment hielt. Der Hut hatte eine breite, feste Krempe und war wie gemacht für das Wetter im australischen Outback – Sonne, Graupelschauer und Regen. Ich setzte ihn auf. Er passte mir noch immer gut.

Ich ging wieder nach oben und holte meine Ray-Ban-Wayfarers-Sonnenbrille, außerdem eine Rolle Toilettenpapier, sechs Paar Socken, zwei Cargohosen, einen Parka, eine Feldflasche und fünf Sets Unterwäsche.

Ich zog meine Jogginghose an, dicke Wollsocken, ein T-Shirt und ein Seattle-Super-Sonics-Sweatshirt. Zum Glück hatte ich gute Wanderstiefel. Sie waren leicht, aber robust und bereits eingelaufen. Ich setzte mich hin und schnürte sie zu. Dann schulterte ich den Rucksack. Er war nicht allzu schwer, vielleicht zehn Kilo.

Die Tür fiel automatisch hinter mir ins Schloss, und ohne einen einzigen Schlüssel in der Tasche stand ich auf der Veranda vor dem Haus. Ohne mich noch einmal umzusehen, ging ich los.