Erstes Kapitel

»Gib vor allem dein Verlangen zu gehen niemals auf. Ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde.«

– Kierkegaard
Alan Christoffersens Tagebuch

Der Legende nach kann man, sobald man den Sand von Key West in den Schuhen hat, nicht mehr an den Ort zurück, von dem man gekommen ist. Auf mich trifft das zu. Ich bin allein am Strand und sehe zu, wie die blutrote Sonne im Golf von Mexiko getauft wird. Und es führt kein Weg zurück zu all dem, was ich zurückgelassen habe.

Die Luft ist gesättigt von den Gerüchen von Salzwasser und Seetang und erfüllt von den Geräuschen brechender Wellen und kreischender Möwen. Ein Teil von mir fragt sich, ob das hier vielleicht nur ein Traum ist, und hofft, dass ich im Bett aufwachen und feststellen werde, dass ich noch immer in Seattle bin und dass McKale mir sanft mit den Fingernägeln über den Rücken streicht. Sie würde flüstern: »Bist du wach, mein Schatz?« Ich würde mich zu ihr umdrehen und sagen: »Du wirst nicht glauben, was ich eben geträumt habe.«

Aber es ist kein Traum. Ich habe das ganze Land zu Fuß durchquert. Und die Frau, die ich liebe, kommt niemals wieder.

Das Wasser vor mir ist so blau wie Scheibenwischerflüssigkeit. Ich spüre die Brise der Abenddämmerung auf meinem unrasierten, sonnenverbrannten Gesicht und schließe die Augen. Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um hier anzukommen – fast 3500 Meilen. Aber in manch anderer Hinsicht war er noch viel weiter. Ein Weg lässt sich nicht immer in räumlicher Entfernung messen.

Ich nehme meinen Rucksack von den Schultern und setze mich in den Sand, um mir die Schuhe aufzubinden und sie auszuziehen. Meine durchgelaufenen, ehemals weißen und jetzt grauen Baumwollsocken kleben an meinen Füßen, als ich sie abstreife. Dann mache ich auf dem nassen, von Muscheln übersäten Sand ein paar Schritte nach vorn und warte darauf, dass das zurückweichende Wasser wiederkommt und meine Füße umspült. Ich hatte Hunderte von Stunden Zeit, um über diesen Augenblick nachzudenken. Jetzt lasse ich alles über mich hinwegrollen: den Wind, das Wasser, die Vergangenheit und die Gegenwart, die Welt, die ich zurückgelassen habe, die Menschen und die Städte auf meinem Weg. Ich kann kaum glauben, dass ich endlich hier bin.

Nach ein paar Minuten gehe ich zurück und setze mich im Schneidersitz neben meinem Rucksack in den Sand und tue, was ich in den Schlüsselmomenten meines Lebens immer tue: Ich zücke einen Stift, schlage mein Tagebuch auf und beginne zu schreiben.

Das Schreiben habe ich mir schon vor langer Zeit zur Gewohnheit gemacht – lange vor diesem Tagebuch, lange vor meinem Weg. Als ich acht Jahre alt war, schenkte mir meine Mutter zu Weihnachten mein erstes Tagebuch. Es war ein kleines Buch mit einem gelben Plastikeinband und eingeprägten Verzierungen. Am besten gefielen mir daran das Schloss und der Schlüssel aus Messing. Es gab mir ein Gefühl von Wichtigkeit, in meinem Leben etwas so Bedeutendes zu besitzen, dass ich es vor der Welt verschließen musste. An diesem Weihnachtsabend schrieb ich zum ersten Mal in meinem Leben in ein Tagebuch. Wegen des Schlosses nahm ich an, dass nur ich es lesen würde, daher schrieb ich an mich selbst, eine Gewohnheit, die ich für den Rest meines Lebens beibehalten würde.

Lieber Alan,

heute ist Weihnachten. Ich habe ein Rock’em-Sockem-Roboterspiel, Walkie-Talkies und einen roten Zuckerfisch geschenkt bekommen, den ich schon aufgegessen habe. Mom hat mir dieses Tagebuch mit einem Schloss und einem Schlüssel geschenkt und gesagt, dass ich jeden Tag etwas hineinschreiben soll. Ich habe sie gebeten, etwas auf die erste Seite zu schreiben.

Mein lieber Sohn,

danke, dass du mich in dein besonderes Buch schreiben lässt. Und frohe Weihnachten! Es ist ein ganz besonderes Weihnachten. Eines Tages wirst du das verstehen. Lies von Zeit zu Zeit diese Worte, und denk daran, wie sehr ich dich liebe und immer lieben werde.

– Mom

Mom sagt, dass es egal ist, was ich schreibe, und dass ich mit dem Schreiben nicht auf die wichtigen Dinge warten soll, da ich sonst vermutlich nie etwas schreiben werde, weil die wichtigen Dinge genauso aussehen wie alles andere auch, außer wenn man darauf zurückblickt. Es geht darum, zu schreiben, was man denkt und fühlt. Mom sah besser aus heute. Ich glaube, es wird ihr bald besser gehen.

Ich habe diese Zeilen so oft berührt, dass sie kaum noch zu entziffern sind. Der Eintrag meiner Mutter war eines dieser Ereignisse, von denen sie gesprochen hatte, die Art Ereignis, das nach gar nichts aussieht, außer im Rückspiegel der Zeit. Meine Mutter starb neunundvierzig Tage später an Brustkrebs – am Valentinstag.

Es war früh am Morgen, noch vor der Zeit, zu der ich normalerweise für die Schule aufstand, als mein Vater mich in ihr Zimmer führte, um sie zu sehen. Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett standen eine einzelne gelbe Rose in einer Langhalsvase und meine selbst gebastelte Valentinskarte mit der Zeichnung eines Herzens, durch das ein Pfeil geht. Ihr Körper war da, aber sie war es nicht. Sie hätte gelächelt und mich beim Namen gerufen. Sie hätte meine Zeichnung gelobt. Ich wusste, dass sie nicht da war.

Es entsprach der typisch stoischen Art meines Vaters, dass wir nie über ihren Tod sprachen. Wir redeten nie über Gefühle oder die Dinge, die Anlass zu ihnen gaben. An jenem Morgen machte er mir das Frühstück, und dann setzten wir uns an den Tisch und lauschten der Stille. Die Leute vom Bestattungsunternehmen kamen und gingen, und mein Vater erledigte alles so nüchtern, als ob es sich um einen Geschäftsvorgang handelte. Ich will nicht sagen, dass es ihm egal war. Er wusste nur nicht, wie er seine Gefühle zeigen sollte. Das war mein Vater. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal geküsst. So war er eben.

Der Grund, weshalb wir Dinge beginnen, ist selten der Grund, weshalb wir sie fortführen.

Alan Christoffersens Tagebuch

Ich begann, in mein Tagebuch zu schreiben, weil meine Mutter es mir gesagt hatte. Nach ihrem Tod fuhr ich damit fort, denn damit aufzuhören hätte bedeutet, eine Kette zu zerreißen, die mich mit ihr verband. Dann, allmählich, änderte sich das. Damals war es mir nicht bewusst, aber der Grund, weshalb ich schrieb, änderte sich ständig. Als ich älter wurde, schrieb ich zum Beweis meiner Existenz. Ich schreibe, also bin ich.

Ich bin. In jedem von uns steckt irgendetwas, das der Welt mitteilen will, dass wir existiert haben. Dies ist meine Geschichte – mein Zeugnis meiner selbst und der größten Reise meines Lebens. Sie begann, als ich am wenigsten damit rechnete. Zu einer Zeit, als ich dachte, es könne niemals irgendetwas schiefgehen.