Zwanzigstes Kapitel
Bei allem, was man tut, gibt es einen Moment, ab dem es kein Zurück mehr gibt: den Schritt über die Klippe, den Finger, der auf den Abzug drückt, den Hammer, der fällt, die Kugel, die aus der Kammer fliegt, unaufhaltsam …
Alan Christoffersens Tagebuch
In ein leeres Haus zurückkehren zu müssen war noch viel schwerer, als ich gedacht hatte. Der Schmerz schien umso heftiger zu werden, je näher ich meinem Ziel kam. Zwei Blocks von unserem Haus entfernt hyperventilierte ich fast. Ich wurde wütend auf mich selbst. »Reiß dich zusammen, Mann.«
Mein Vater war bereits nach Hause gefahren. Er hatte mir eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen. Sie lautete schlicht: »Nehme den Flug um acht. Ruf an, wenn du kannst.«
Ich ging durchs Haus, unschlüssig, was ich tun sollte. Nicht, dass es nichts zu tun gab. Das Haus war ein einziges Chaos. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, der Wäschekorb quoll über, Fastfoodtüten und -verpackungen lagen auf dem Küchentresen. Stapel ungeöffneter Post und Zeitungen türmten sich noch immer hinter der Tür.
Ich legte mich erst einmal hin, aber ich fand keine Ruhe, daher nahm ich die Wäsche in Angriff. Als mir eines von McKales Unterhemden in die Hände fiel, drückte ich mein Gesicht hinein. Ich konnte sie noch immer riechen.
An jenem Nachmittag klingelte der Postbote an der Tür. Er hielt ein Klemmbrett und ein Einschreiben in der Hand.
»Ich brauche eine Unterschrift«, sagte er.
»Was ist das?«
»Ein Einschreiben. Ich brauche nur Ihre Unterschrift, die den Empfang bestätigt. Hier unten.« Er zeigte auf eine kurze Linie. Ich unterschrieb, damit er wieder ging. Ich schloss die Tür, dann öffnete ich den Umschlag. Es war ein Schreiben von der Bank, in dem mir mitgeteilt wurde, dass mein Haus am nächsten Donnerstag auf dem Wege der Zwangsvollstreckung zur Versteigerung kommen würde. Ich ließ den Brief zu Boden fallen. Es war mir vollkommen egal. Alles war mir egal. Die Welt war ohnehin schon über mir zusammengebrochen; was spielte es da schon für eine Rolle, wenn noch ein oder zwei Ziegelsteine herunterfielen?
An jenem Abend aß ich nichts. Allein die Vorstellung, mir etwas zu essen in den Mund zu schieben, löste bei mir einen Würgereiz aus. Falene rief gegen acht an, aber ich konnte nicht ans Telefon gehen. Nicht einmal für sie. Die Trauer hatte sich um mich gelegt wie Smog. Bei Einbruch der Dunkelheit war mein Herz zu einem Boxring geworden, und zwei Männer kämpften darin um den Besitz meiner Zukunft.
Aus der blauen Ecke kämpft heute Abend, in weißen Hosen, das LEBEN und aus der roten Ecke, in schwarzen Hosen, der TOD.
Der Kampf hatte schon lange, bevor es mir bewusst wurde, begonnen. Vermutlich in dem Augenblick, als ich McKale zum ersten Mal in ihrem Krankenhausbett gesehen hatte.
Nach neun Runden hat der TOD die Oberhand gewonnen. Er zeigt keine Gnade gegenüber dem LEBEN, das von den andauernden Schlägen ins Taumeln gekommen ist. Das LEBEN ist nicht mehr der großspurige, preisgekrönte Sieger, der sich noch vor Wochen als Champion feiern ließ. Das LEBEN hat den Boden unter den Füßen verloren. Es hängt in den Seilen. Der TOD spürt bereits seinen Sieg und holt zum entscheidenden Schlag aus. Er trommelt erbarmungslos auf seinen Gegner ein. Es tut weh, dabei zuzusehen, Leute! Das LEBEN wird zusammengeschlagen, und es ist zu erschöpft und zu benommen, um die Schläge auch nur abzuwehren.
Die Menge riecht Blut und grölt. Es ist ihr egal, wer gewinnt. Sie will nur einen guten Kampf sehen.
Um zwei Uhr morgens ging der Kampf in die letzte Runde. Ich saß am Küchentisch und hielt zwei geöffnete Fläschchen mit McKales unbenutzten Medikamenten in der Hand – Oxycodon und Codein. In jedem einzelnen waren genug Tabletten, um den Kampf zu beenden. Auf dem Tisch vor mir stand etwas, um sie hinunterzuspülen – eine Flasche Jack Daniel’s.
Ironischerweise hatte ich in den Anfangstagen meiner Werbeagentur für die Gesellschaft zur Suizidprävention in Seattle ehrenamtlich ein paar Aufträge übernommen. Die Worte, die ich mir für ihren Radio-Werbespot einfallen gelassen hatte, hallten mir noch immer in den Ohren:
Selbstmord – eine endgültige Lösung für
ein
befristetes Problem.
Ein griffiger Slogan, aber für mich klangen die Worte hohl. An McKales Tod war nichts befristet. Ich hatte alles verloren: meine Firma, mein Zuhause, meine Autos und vor allem meine Liebe. Meine Hoffnung. Es war nichts mehr übrig. Es gab keinen Grund mehr zu leben, bis auf die natürliche menschliche Abneigung gegen den Tod. Aber selbst die schwand allmählich. Ich konnte spüren, wie sie von einem Übermaß an Schmerz, Verzweiflung und Wut verdrängt wurde. Wut auf das Leben. Wut auf Gott. Vor allem Wut auf mich selbst.
Ich betrachtete die Pillen. Worauf wartete ich noch? Es war an der Zeit, es hinter mich zu bringen. Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Ich schüttete mir die Tabletten in die hohle Hand.
Ich war gerade dabei, den Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gibt, zu überschreiten, als etwas passierte. Etwas, das so völlig anders war als alles, was ich je zuvor erlebt hatte. Etwas, das, wie ich glaube, von Gott kam – oder aus einem Teil Seiner Welt.
Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Mutter von Gott. Sie war ein großer Fan von Ihm – selbst dann noch, als sie im Sterben lag. Erst recht, als sie im Sterben lag. Sie betete, nicht wie manche Leute, die einfach den Text eines Gebets oder eines Kirchenlieds aufsagen oder in ein leeres Universum schreien, sondern so, als wäre Er tatsächlich mit ihr im selben Zimmer. Manchmal schlug ich, während sie betete, die Augen auf und sah mich um, um zu sehen, mit wem sie redete.
Genau in diesem Augenblick, einen Sekundenbruchteil bevor ich die Grenze überschritt, sprach jemand zu mir. Ich weiß nicht, ob die Worte wirklich zu hören waren, da sie von meinem Verstand zu kommen und zugleich an ihn gerichtet zu sein schienen, aber sie besaßen eine Autorität, die weitaus größer war als die, die mein eigener Verstand aufbringen konnte. Es waren nur acht Worte. Acht Worte, die mich abrupt innehalten ließen.
Du hast kein Recht, dein Leben zu beenden.
Meinem ersten Impuls folgend, schaute ich mich um, um zu sehen, wer da gesprochen hatte. Als ich begriff, dass ich wirklich allein war, ließ ich die Pillen auf den Boden fallen. Dann sprach noch eine andere Stimme zu mir. Eine sanftere Stimme. Die Stimme meiner Liebe.
»Lebe.«
Zum ersten Mal begriff ich das volle Ausmaß des Versprechens, das McKale mir abgenommen hatte. Sie kannte mich. Sie wusste, dass ich ohne sie nicht leben wollen würde.
Ich fiel auf die Knie und begann zu weinen. Ich kann mich nicht erinnern, was danach geschah. Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.