Keith
15. KAPITEL
Meine Tochter war wunderschön. Und gesund.
Und sterblich.
Susan, so hieß die Frau, versicherte mir, dass Amber Lily die Nacht durchgeschlafen hatte. Und was für einen gesegneten Appetit sie hatte. Ich konnte das trotz meiner überwältigenden Gefühle sehr wohl einschätzen. Sie gab meiner kleinen Tochter dieselbe Babynahrung wie ihrer. Sie sagte, Amber Lily hätte schon zwei Pfund zugenommen und ihr Haar würde immer dichter und lockiger werden.
Sie war eine Sterbliche. Sie würde wachsen und sich verändern wie ein sterbliches Kind. Ich wusste nicht, welche Vampireigenschaften sie von mir geerbt haben mochte, wenn überhaupt. Aber ich war so erleichtert, dass sie sich nicht wie ihre Eltern ernähren musste und nicht bis in alle Ewigkeit im Körper eines Neugeborenen gefangen wäre. Und das allein gab mir Hoffnung.
Alles würde gut werden. Endlich, nach all der Zeit, würde alles in Ordnung kommen. Ich konnte es kaum erwarten, bis Jameson zurückkam, damit ich es ihm sagen konnte.
Susan würde ich niemals genug danken können, das war mir klar. Sie verabschiedete sich von mir, denn sie wollte Alicia nach Hause bringen. Sie wünschte mir alles Gute.
„Danke. Das ist nicht genug, aber …“
„Keine Ursache“, beruhigte sie mich. „Jetzt sind wir quitt.“
Ich nickte und muss auf sie wohl wie ein Honigkuchenpferd gewirkt haben mit meinem Lächeln, weil ich Amber in den Armen hielt, die strampelte und um sich trat.
Ich sah Susan und Alicia nach. Erst als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, spürte ich ihre Präsenz. Ich wirbelte herum und sah mehrere Männer durch die Hintertür die winzige Kapelle betreten und deren Heiligstes entweihen.
„Keine Bewegung“, schrie mich einer an und hielt eine Waffe hoch. „Nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Ich habe das Baby im Visier, und wenn Sie auch nur einen Muckser machen, schieße ich es in zwei Hälften. Wir haben Ihre Spielchen satt, Lady.“
Ich rührte mich nicht. Die Situation konnte ich wahrhaftig gut genug einschätzen. Er würde mein Kind ohne zu zögern töten. Das Schwein!
Die anderen umzingelten mich, spritzten mir irgendwas; ich spürte, wie mich die Kräfte verließen. Erst als mir einer meine Tochter aus den Armen riss, geriet ich in Panik. Aber das war nicht nötig. Jameson würde kommen. Er würde uns retten!
Halb zerrten und halb trugen sie mich zur Hintertür, während die Droge ihre Wirkung entfaltete und meinen Körper in eine willenlose Masse Fleisch verwandelte. Beeil dich, Jameson, dachte ich. Er würde kommen und wissen, was passiert war. Er würde wissen, dass sie uns gefangen genommen hatten. Und er würde wissen, wo er nach uns suchen musste.
Sie warfen mich auf den Rücksitz des Autos, dann drehte sich einer um und sah auf die Uhr. Er blieb abwartend stehen, und ich runzelte die Stirn.
Und dann explodierte die Kapelle in einem grellweißen Lichtblitz, der den Boden unter dem Auto erbeben ließ. Ich schrie vor Entsetzen auf. Hoffentlich waren Susan und die kleine Alicia weit genug entfernt und befanden sich in Sicherheit. Der Mann setzte sich lächelnd ans Steuer, und da wusste ich es. Ich wusste, was sie vorhatten. Jameson sollte glauben, dass wir tot waren, in der Kapelle ums Leben gekommen. Damit er nicht weiter nach uns suchte. Und solange sie mir diese Droge spritzten, überlegte ich mir, während ich immer tiefer in den grässlichen schwarzen Schlaf sank, konnte ich mich mit ihm auch nicht in Verbindung setzen. Zwei Männer saßen auf dem Vordersitz des Autos, zwei weitere setzten sich zu mir auf die Rückbank. Einer hielt meine Tochter.
Obwohl ich mich kaum bewegen konnte, gelang es mir, einen Schuh von der Ferse zu schieben, bis er nur noch an meinem Zeh baumelte. Als sich der Mann bückte und ins Auto einstieg, ließ ich den Schuh nach draußen gleiten. Dann schlug er die Tür zu, und wir fuhren davon. Ich betrachtete mein Baby, bis mir die Augen zufielen.
Jameson saß auf dem Boden, und schließlich machte sich Susan bedrückt auf den Heimweg. In Petersville hatte man anscheinend den Brand bemerkt. Ein glänzendes rotes Feuerwehrauto kam angefahren, löschte die brennenden Trümmer und verwandelte die Kapelle in eine Masse schwelender, verkohlter Balken und schwarzer Erde und Asche. Er saß da und bewegte sich nicht. Und er würde sich nicht bewegen, nie wieder. Er würde hier sitzen bleiben, bis die Sonne aufging, und sie voller Dankbarkeit begrüßen.
Er hatte sie verloren. Beide verloren. Verdammt, er hatte kaum eine Chance gehabt, sein eigenes Kind kennenzulernen!
Aber Angelica hatte er kennenlernen dürfen. Ihr Gelächter, das Licht in ihren glänzenden, lila schillernden Augen. Ihre Berührung. Er hatte sie geliebt. Verdammt, er hatte sie von ganzem Herzen geliebt und nie die Möglichkeit gehabt, es ihr zu sagen.
Wie konnte sie so plötzlich fort sein? Von ihm genommen, ohne Vorwarnung? Wie?
Und warum, barmherziger Gott?
„Mein Sohn, warum lassen Sie sich nicht von den Ärzten untersuchen?“
„Seine Frau und sein Baby waren in dieser Kirche“, ertönte eine andere unbekannte Stimme. „Hieß es jedenfalls.“
„Gütiger Himmel, kein Wunder, dass er so aussieht!“
„Ob er uns hören kann?“
„Nein. Ich fürchte, der Mann hat den Verstand verloren.“
„Mein Sohn, kommen Sie. Stehen Sie auf.“
Er sagte nichts, stand aber auf. Die Sterblichen sollten ihn in Ruhe lassen, auch wenn sie es gut meinten. Er wollte fortgehen und allein sein und an seine kleine Familie denken, während er auf die Dämmerung wartete. Mit schlurfenden Schritten schleppte er sich davon, ging um den Trümmerhaufen herum, der einmal eine Kapelle gewesen war. Umkreiste ihn wie ein Planet die Sonne. Es schien, als würde eine unbekannte Macht ihn anziehen und verhindern, dass er den Orbit verließ. Sein Herz … er hatte sein Herz in diesem Trümmerhaufen verloren. Seine Seele. Sein Kind …
Aber … war es wirklich so?
Das DPI hatte Amber als ihren wertvollsten Forschungsgegenstand bezeichnet. Hätten sie sie wirklich ausgelöscht?
Nein …
Er stolperte über etwas und sah gereizt nach unten. „Mein Gott“, flüsterte er beim Anblick des Gegenstandes, über den er gestolpert war. „Gütiger Himmel, das ist Angelicas Schuh.“ Er ließ sich auf die Knie sinken, hob ihn so behutsam auf wie den kostbarsten Schatz, drückte ihn an die Brust und ließ seinen Tränen freien Lauf. Er krümmte sich zusammen und wurde von einem Schluchzen geschüttelt, das ihn innerlich fast zerriss. Das DPI würde Amber Lily vermutlich nicht töten, doch das galt sicher nicht für ihre Mutter. Angelica. Und er wollte nicht ohne sie weiterleben – doch er musste einen Weg finden. Für ihr Baby.
Alles war verloren, die Welt stand still, und in seiner Schwachheit ließ er sich einfach mit dem Gesicht nach unten auf die staubige Straße fallen, nässte die Reifenspuren im Sand mit seinen bitteren Tränen.
Nur langsam dämmerte es ihm. Sehr langsam. Aber mit einem Mal schien er von seiner Höllenqual erlöst. Es bot sich ein Strohhalm und mit ihm ein wenig … Hoffnung. Er richtete sich auf und betrachtete den Schuh genauer. Keinerlei Brandspuren. Nicht einmal angesengt. Oder zerrissen oder beschädigt.
Er inspizierte die Umgebung und sah die nassen, qualmenden Überreste der Kirche ein gutes Stück entfernt liegen. Und als er den Boden absuchte, sah er keine anderen Trümmer. Die Explosion hatte nichts so weit weggeschleudert. Und die Reifenspuren …
Er befand sich hinter der Kapelle. Ja, der schmale Weg führte auch um die Kapelle herum, aber die Leute aus der Stadt hatten alle vorn gehalten. Niemand fuhr hinten herum.
Jameson stand auf, suchte den Boden ab, näherte sich langsam wieder der Kirche. Und da fand er tatsächlich Fußabdrücke. Männerschuhe. Mehrere Männer. Und dazwischen unbenmäßige Spuren, als wäre etwas geschleift worden. Oder jemand.
„Sie lebt“, flüsterte er. Er hielt den Schuh in einer Hand und ließ sich auf die Knie niedersinken. Er beugte den Kopf, schloss die Augen. „Sie lebt … muss leben. Gott, ich danke dir.“
Jameson stand allein vor dem DPI-Hauptquartier in White Plains. Dort befand sich Angelica. Das wusste er so sicher wie seinen eigenen Namen. Und es war alles bereit. Er hatte die anderen nördlich der Stadt getroffen und ihnen erklärt, was geschehen war. Tamara hatte sich mit Susan Jennings in Verbindung gesetzt und ihr mehr Geld angeboten, als sie in ihrem Leben je gesehen hatte, wenn sie mit ihnen käme und sich tagsüber um Amber kümmerte. Niemand erklärte ihr, warum das so sein musste. Sie fragte nicht. Jameson vertraute ihr.
Er hatte eine kurze, kostbare Zeit mit seiner Tochter verbringen dürfen. Doch das ging jetzt nicht mehr. Mehr würde er nicht bekommen. Aber er würde sie vor diesen Dreckskerlen retten. Und danach dafür sorgen, dass sie sich nie wieder Gedanken wegen ihrer Verfolger machen mussten. Er würde die gesamte Anlage vernichten … heute Nacht. Die Welt sollte sicher für seine Tochter sein. Wahrscheinlich würde er dabei sterben, doch das schien ihm ein lohnendes Opfer. Er konnte dafür sorgen, dass Angel und Amber das Leben führten, das sie verdienten. Und zum Teufel mit den Konsequenzen. Das waren sie ihm wert, und noch mehr.
Er sprang über den Zaun, und die Mission nahm ihren Lauf. Er tat, was getan werden musste. Und er machte es allein.
Doch plötzlich blieb er stehen, denn jemand landete sanft neben ihm auf dem Boden. „Nicht allein“, ertönte eine Stimme. Jameson drehte sich erstaunt um. Eric stand neben ihm. Er lächelte. „Auf gar keinen Fall, mein Freund.“
Die Worte waren noch nicht aus seinem Mund, da traten andere aus den Schatten der Nacht hervor, nacheinander, und reihten sich um ihn herum auf. Tamara gehörte dazu, Roland und Rhiannon. Selbst Rhiannons Katze war mitgekommen. Und noch andere. Einer der Vampire sah aus wie ein König.
Er war größer als alle anderen und dunkler, mit großen, faszinierenden Augen. Seine Stimme war einem Donnergrollen gleich. „Ich bin Damien.“ Er hielt Jameson die Hand hin, der schockiert und gleichzeitig ehrfürchtig aussah, als er sie schüttelte. Das war der Älteste … der Erste von ihnen allen. „Und ich bin dir dankbar, dass du uns endlich aufgerüttelt hast.“
„Aber ich habe nicht …“, begann er.
„Nein. Nein, es war deine Angelica. Aber sie hat sich für dich eingesetzt.“
Jameson drehte sich irritiert zu dem Gebäude um, wo sie festgehalten wurde.
„Offenbar hat sie ihre übersinnlichen Fähigkeiten endlich in den Griff bekommen“, erklärte Rhiannon leise. „Und obwohl geschwächt und unter Drogen, nahm sie Kontakt mit uns auf. Sie wusste, dass du kommen würdest, Jameson. Und sie flehte uns an, dich das nicht allein durchziehen zu lassen. Sie teilte uns mit, sie würde lieber sterben als mit dem Wissen leben, dass du hier beim Versuch, sie zu retten, selbst ums Leben gekommen wärst.“
„Ihr war völlig klar, was du heute Nacht unternehmen würdest, und sie beschämte uns damit, dass wir dich nicht unterstützen“, fügte Damien hinzu. „Und hier sind wir.“ Er nickte zu den Leuten, die ringsum standen, allesamt Vampire. „Meine Braut Shannon. Der ehemalige DPI-Agent Ramsey Bachman und seine Frau Cuyler Jade. Und jeder andere Vampir in Reichweite von Angelicas herzzerreißendem Hilferuf.“ Er legte Jameson eine Hand auf die Schulter. „Wir machen das alle gemeinsam“, sagte er. „Deine Amber Lily ist nicht nur dein Kind, Jameson. Sie ist unser aller Kind, die Erste einer neuen Generation, sei sie nun sterblich oder sonst wie. Und sie wird das am meisten vergötterte Wesen sein, das wir je unter uns hatten.“
„Ihr müsst euch um sie kümmern“, sagte die elfengleiche Frau namens Cuyler Jade leise. „Das dürfte nicht leicht werden, da ihr tagsüber schlaft. Aber es gibt einen Ort im hohen Norden, wo die Dunkelheit den größten Teil des Jahres so viel länger dauert als der Tag. Und ich möchte, dass ihr euer Kind dorthin bringt, damit es, und nicht die Sonne, entscheiden kann, wann ihr schlafen sollt.“
„Ja“, meinte der Mann an ihrer Seite. „Und wir sollten ein weiteres Heim in der südlichen Hemisphäre errichten, für die restliche Zeit des Jahres.“
„Wir helfen alle mit“, sagte die Elfe.
Eric nickte. „Vorerst wartet eine warme, sichere Zuflucht auf uns, und Susan, eure sterbliche Freundin, ist schon bereit. Sie wird sich tagsüber um Amber kümmern.“
Jameson nickte und begriff, dass es tatsächlich möglich war. Dass für Angel und das Baby alles Erdenkliche getan werden würde. „Du kannst sie vielleicht selbst dorthin bringen, Eric. Ich habe nicht die Absicht, von hier wegzugehen, bevor diese Anlage dem Erdboden gleichgemacht ist.“
„Schon klar“, antwortete Eric und warf Damien einen Blick zu.
Damien nickte. „Es muss getan werden. Wir wissen es alle und sind hier, damit es auch tatsächlich geschieht.“
Jameson sah staunend die gesamte Länge des Maschendrahtzauns hinauf und hinab. Es waren Hunderte, vielleicht Tausende. Und vor seinen Augen reichten sie einander um das ganze Gebäude herum die Hände. Eine Kette der lebenden Toten, die sich langsam vorwärtsbewegte und die feste Absicht hatte, das Recht auf ihre eigene Existenz einzufordern.
Jameson konzentrierte sich auf Angelicas Geist, als er sich mit ihnen in Bewegung setzte. Er spürte eine Hand an seiner Linken, eine andere an seiner Rechten. Wie eine lebendige Mauer der Gerechtigkeit näherten sie sich der Zentrale ihrer Verfolger.
Ich wusste nicht, ob die anderen meinen Plan gehört hatten. Aber ich wusste, dass Jameson kam. Das spürte ich mit jeder Faser meines Daseins. Die Droge, aber auch die Anstrengung, mit den anderen Kontakt aufzunehmen, sie um Hilfe für ihn zu bitten, hatten mich so geschwächt, dass ich kaum klar denken konnte. Ich hatte gehofft, noch genügend Kraft und Zeit aufbringen zu können, um Jameson zu sagen, was ich für ihn fühlte, falls dies meine letzte Chance sein sollte. Doch meine Kraft war zu Ende. Und doch sah ich das Ende der Nacht kommen. Binnen einer Stunde würde es dämmern. Gut möglich, dass Jameson ein Opfer der Sonne wurde, bevor die Leute des DPI ihn überwältigen konnten. Um seine Chancen, den Kampf zu gewinnen, war es schlecht bestellt. Und doch betete ich inbrünstig, dass Gott ihn beschützen möge und meine Tochter. Denn ich liebte sie beide über alle Maßen.
Sie hielten uns noch nicht lange hier fest. Amber und ich waren in einer Zelle in einem der untersten Stockwerke eingesperrt; draußen vor der undurchdringlichen Tür standen Wachen, warteten auf die Ankunft ihres Chefs und dessen Befehle. Ich fragte mich, wie diese Befehle lauten mochten. Wie würden sie diesmal versuchen, mich zu töten, und was sollte dann aus meinem kostbaren kleinen Mädchen werden?
Sie hatten mich nicht angekettet. Wahrscheinlich nahmen sie an, dass ich von dem Medikament zu geschwächt war, um ihnen ernsthaft Schwierigkeiten zu machen. Ich saß in der Ecke, drückte Amber an mich und sang für sie wie in den einsamen Monaten vor ihrer Geburt. Sie strahlte mich an. Sie lächelte, während ich sang.
Es war so, wie Jameson es sich vorgestellt hatte. Sie befanden sich im Krieg und mussten entsprechend handeln. Diese Leute hatten die Absicht, seinesgleichen zu ermorden. Kaum hatte man sie entdeckt, kamen bewaffnete Wachen heraus und feuerten hauptsächlich konventionelle Munition auf sie ab, doch einige hatten auch die verhassten Betäubungsmittelgewehre in der Hand. Aber gegen so eine Übermacht hatte der Gegner einfach keine Chance.
Sie waren unsterblich. Sie bewegten sich schneller, als das menschliche Auge sehen konnte, und waren nur schemenhaft erkennbar. Sie konnten aus der Flugbahn der Kugeln springen, die auf sie abgefeuert wurden, und den Schützen mit einer Handbewegung bewusstlos schlagen. Und noch viel mehr.
Und Damien …
Jameson beobachtete voll ehrfürchtiger Bewunderung die unbändige Kraft des ältesten Unsterblichen von allen. Wie er den stechenden Blick seiner Augen auf etwas richtete, bis es Feuer fing. Wie er herumwirbeln konnte, bis er in der Nacht verschwand.
Aber nur einen kurzen Augenblick wurde er abgelenkt. Sein Ziel verlor er jedoch nicht aus den Augen. Die erste Verteidigungslinie der Sterblichen war fast schon gefallen, und Jameson war der erste Vampir, der sie überquerte; in seinem Zorn trat er eine Tür ein und stürzte ins Innere.
Alle, die sich ihm in den Weg stellten, wurden durch die Luft geschleudert, prallten gegen Wände und rutschten blutig und reglos zu Boden. Jemand schrie hinter Jameson; er wirbelte herum und sah die schlanke Pandora auf einen Wachmann springen, der ihm gerade in den Rücken schießen wollte.
Die Schreie des Mannes waren grässlich.
Überall um Jameson herum schrien Leute, wurden Waffen abgefeuert, erschütterten Explosionen den Boden. Er rannte nach hinten. Er kämpfte sich durch die Scharen bewaffneter Männer, die sich in die Schlacht stürzten. Auch Feiglinge waren unter ihnen, die wussten, was sie erwartete – die vielleicht die ganze Zeit gewusst hatten, dass dieser Tag der Abrechnung kommen würde, die nur noch an Flucht dachten. Sie rannten zu den hinteren Ausgängen wie Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Jameson passierte das Forschungslabor, als die Fensterscheiben zertrümmert wurden und Horden von Vampiren es stürmten, um sämtliche Informationen zu vernichten, die die Dreckskerle gesammelt hatten. Er hörte, wie Computer zu Boden geworfen wurden, roch den Rauch, als Aktenschränke in Flammen aufgingen. Aber er verweilte nicht. Er stieß immer weiter vor und suchte die Treppe, die Fahrstühle waren zu unsicher. Und seine Instinkte hatten ihn nicht fehlgeleitet, denn auf halbem Weg nach unten gingen die Lichter aus. Jemand benutzte seinen Kopf. Vampire konnten in der Dunkelheit perfekt sehen. Menschen dagegen …
Er packte einen Idioten im weißen Kittel, der um Gnade winselte, am Kragen und stieß ihn gegen die Wand. „Wo sind sie?“ Und als der Mann nicht gleich antwortete, stieß er ihn noch einmal gegen die Wand, so fest, dass ihm die Brille von der Nase fiel.
„U-u-unten … d-d-da lang … b-b-bitte …“
Jameson ließ den Mann los und rannte davon. Im kalten, dunklen Flur der untersten Etage blieb er ruckartig stehen. Weil … er sie gehört hatte.
Sie sang. Ihre Stimme klang voll und zugleich schwach … aber sie war da und sang, und es war das Schönste, das er je in seinem Leben gehört hatte.
„Angel …“ Seine Knie gaben vor Erleichterung fast nach, aber er zwang sich, auf den Beinen zu bleiben, und rannte zu der Tür, die zwischen ihnen lag. Vor Anstrengung knurrend riss er sie einfach aus den Angeln und schleuderte sie den Flur hinab.
Sie saß auf dem Boden, hob den Kopf und blickte ihn an. „Du bist gekommen“, flüsterte sie. Tränen liefen ihr über das Gesicht.
„Das wusstest du doch.“ Jameson ließ sich auf die Knie fallen, hielt ihren Kopf, sah sie an. „Alles in Ordnung? Sag mir, dass alles in Ordnung ist, Angel, denn ich kann nicht glauben …“
„Mir geht es gut. Es ist die Droge. Mehr nicht.“
Er schloss die Augen nur für einen Moment der Erleichterung, öffnete sie aber gleich wieder, als er die Berührung einer winzigen Hand am Kinn spürte. Das Kind, das wohlbehalten in den Armen seiner Mutter lag, war der schönste Anblick, den er sich vorstellen konnte. „Und dir geht es auch gut, meine Süße, nicht wahr?“
Sie gurrte und krähte wie ein junger Vogel, der gerade seine Stimme erprobt.
„Ihr geht es mehr als gut“, flüsterte Angelica. „Sie ist sterblich, Jameson. Sie isst und schläft und wächst … wie jedes gewöhnliche Kind.“
„Nicht wie jedes andere Kind“, sagte er zu ihr. „Nein, nicht meine Amber. Sie ist alles andere als gewöhnlich. Sie ist die Tochter eines Engels.“
Er beugte sich vor, presste die Lippen auf Angelicas und sah, wie sie die Augen schloss und den Kuss genoss. Als er sich wieder aufrichtete, schob er die Arme unter sie und hob sie hoch. „Halt Amber Lily fest, meine süße Angel. Ich bring euch beide hier raus.“
Sie sah blinzelnd zu ihm auf. „Ja … aber, Jameson, es sind noch andere hier. Andere Gefangene, die leiden müssen, und ich …“
„Das, meine Teuerste, wird erledigt“, ertönte eine königliche Stimme von der Tür. Jameson drehte sich mit Angelica auf dem Arm um und sah Rhiannon mit einer spindeldürren, halb bewusstlosen Vampirin auf dem Arm. „Und jetzt kommt. Ich will die kostbare Kleine hier raushaben.“
Jameson eilte voraus und wieder zur Treppe zurück. Er trug Angelica hinauf, zum Eingang hinaus und musste Rauch und Feuer ausweichen. Geschossen wurde kaum noch. Das Schlachtgetümmel ließ bereits nach. Er lief hinaus, trug Angelica und Amber Lily zum Zaun und ließ sie im Schutz einiger Büsche zu Boden sinken.
Er richtete sich auf und sah wieder zu dem Gebäude.
Angelica hielt ihn am Arm fest. „Du gehst nicht zurück.“
„Ich muss.“
„Du könntest getötet werden“, rief sie.
Er sah ihr in die Augen. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Du und das Baby, ihr seid in Sicherheit. Es spielt keine Rolle mehr.“
„Nein, Jameson. Ich lass dich da nicht mehr reingehen. Es spielt eine Rolle, begreifst du das immer noch nicht? Eine größere Rolle denn je.“
Er sah sie fragend an und erblickte frische Tränen in ihren Augen. „Aber …“
„Kein Aber. Verdammt, Vampir, wenn ich das alles nur überlebt habe, um dich jetzt zu verlieren …“ Sie verstummte und biss sich auf die Lippe.
Jamesons Herz machte einen Sprung, aber er wagte nicht zu hoffen … nein, sie stand unter dem Einfluss der Droge und war von Dankbarkeit überwältigt. „Angelica.“ Er kniete neben ihr nieder. „Du und Amber Lily seid jetzt in Sicherheit. Und frei. Und ich habe keinen Grund mehr, dich zu zwingen, dass du dich in meiner Nähe aufhältst. Du …“ Er seufzte schwer. „Du kannst gehen, wenn du willst. Aber, Angel, ich … ich glaube nicht, dass ich lange genug leben möchte, dich Lebewohl sagen zu hören.“
„Du bist unsterblich“, sagte sie leise. „Und selbst damit wirst du nicht lange genug leben.“
Er sah auf sie hinab. „Was sagst du da, Angel?“
„Ich sage, dass ich dich liebe, Jameson. Ich liebe dich.“
Die Welt fing an, sich um Jameson zu drehen. „Angelica …“ Er konnte nicht fortfahren, konnte nicht sprechen.
Sie senkte den Kopf. „Ich hatte gehofft, dass du … auch etwas für mich empfindest. Vielleicht … vielleicht irre ich mich ja …“
Jameson nahm sie in die Arme, Angelica und Amber Lily, und küsste die junge Frau voller Leidenschaft.
„Ich habe dich die ganze Zeit geliebt, Angel. Schon in der allerersten Nacht spürte ich etwas … etwas, das ich nicht erklären konnte. Ich redete mir ein, dass ich dich hasse, aber das stimmt nicht. Ich konnte dich nicht hassen. Du bist alles für mich, Angel. Alles.“
Als sie ihn voller Liebe anlächelte, da küsste er sie erneut. Er hielt sie in den Armen, liebkoste ihr Gesicht, schwebte in einem Meer von Glück. Während sie einander umarmten, kamen die anderen aus dem Gebäude, ganze Heerscharen. Die Gefangenen waren befreit, manche schwach, manche dem Tode nahe, aber alle unendlich glücklich. Als keiner mehr in dem Gebäude war, trat Damien vor und richtete den Blick lange und intensiv darauf. Und plötzlich explodierte es in einem grellen Feuerball. Jeder Stein zerfiel. Der Knall ließ die Erde erbeben, die Flammen erhellten die Nacht. Die Menge der Vampire stieß ein ohrenbetäubendes Triumphgebrüll aus.