Keith

10. KAPITEL

Jameson fuhr seit mehreren Stunden schweigend, obwohl er keine klare Vorstellung von seinem Ziel hatte, abgesehen von Tamaras vagem Hinweis auf Petersville. Was zu tun war, wenn sie dort eintrafen, darüber würde er sich später Gedanken machen, wenn es so weit war. Vorerst musste er an andere Sachen denken.

Angelica.

Sie saß ebenso schweigsam neben ihm, und er wusste, sie machte sich Sorgen um Amber Lily. Seit sie sich neben ihn gesetzt hatte, war sie in Gedanken versunken. Da sie ihre Gedanken immer noch nicht vollständig abschirmen konnte – was ihr mit ein wenig Übung fraglos gelingen würde –, war er in der Lage, ein wenig in sie hineinzuhören. Selbst wenn es ihr einmal gelingen sollte, die Mauer um ihre Gedanken zu errichten, könnte er wahrscheinlich trotzdem in ihr Innerstes sehen. Etwas Mächtiges und Wirksames verband sie, und allen Erklärungsversuchen zum Trotz musste dieses Band schon von Anfang an zwischen ihnen bestanden haben. Nur deshalb hatte er als Sterblicher ihr übernatürliches Wimmern hören können. Und es hatte ihn zu diesem Gebäude gelockt. Und darum hatte sie auch die Beherrschung verloren, als sie zum ersten Mal von ihm trank.

Er wusste nicht, was es war. Aber da war etwas gewesen, und es wurde immer stärker. Und er war ein Narr. Ein tausendfacher Narr. Für ihn war sie die schönste, leidenschaftlichste, feurigste, stärkste Frau, die er kannte. Und je öfter er sie ansah, desto mehr wollte er sie.

Doch er hatte sich wahrscheinlich auf ewig ihren Unmut zugezogen. Sie hasste ihn.

Das alles hinderte ihn jedoch nicht daran, sich auf verbotenes Gelände zu wagen. Es kränkte seinen Stolz, und in seinem gekränkten Stolz konnte er tödlicher als ein verwundeter Grizzly sein.

Er wusste, sie wollte nicht, dass er ihre Gedanken teilte, in ihren Verstand eindrang, wie sie es ausdrückte. Aber er konnte nichts dagegen tun. Er hatte es sogar versucht. Aber es funktionierte nicht. Es schien, als würde er alles ebenso wie sie empfinden.

Der Sex hatte das Band zwischen ihnen noch verstärkt. Das wurde ihm immer klarer.

Er hörte ihre Gedanken nicht Wort für Wort, wie am Anfang. Aber Gefühle wurden übertragen. Angst. Lähmende, alles beherrschende Angst. Ihr war regelrecht übel davon. Sie wollte um alles auf der Welt ihre Tochter wiederhaben und wusste nicht, wo sie war.

Und er hatte sich ihr gegenüber ungebührlich grausam verhalten. Das bereute er jetzt, obwohl das eigentlich ganz falsch war, denn sie hatte es verdient. Sie sah auf ihn herunter, als wäre er eine niedrige Lebensform. Betrachtete ihn als Dämon, als Monster. Glaubte, dass er seinem eigenen Kind ein schlechter Vater wäre. Dafür allein verdiente sie seinen Zorn. Glaubte sie tatsächlich, ihre Meinung ließe ihn kalt?

Er sah zu ihr hinüber. Und wusste, dass sie vor allem seine Eitelkeit kränkte. Er wollte, dass sie ihn so rückhaltlos vergötterte wie er …

Aufhören.

Sie saß starr da und konzentrierte sich ganz darauf, eine Verbindung zu dem Kind herzustellen. Doch im Moment schien ihr das nicht besonders gut zu gelingen. Sie fuhren schon seit Stunden, und sie tat nichts anderes. Suchte, sondierte, streckte ihre geistigen Fühler aus. Er beobachtete die verkrampften Linien um die Mundwinkel und auf der Stirn. Und verspürte den lächerlichen Wunsch, sie zu glätten.

„Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass sie nicht bei dieser Garner in Sicherheit ist“, sagte er. Unglaublich, er versuchte tatsächlich, sie zu trösten. Dass es ihn überhaupt interessierte, wie sehr sie augenblicklich leiden musste. Verdammt, wenn er ihre Qual nicht spüren würde, hätte er sie vielleicht ignorieren können.

„Ich weiß“, antwortete sie mürrisch.

„Tamara meint, Hilary ist ein guter Mensch. Das müssen wir ihr glauben.“

Sie nickte. „Ja.“

Und machte sich erneut Sorgen. Sie hatte Kopfschmerzen, die bis in den Nacken ausstrahlten. Er spürte es. Und diese Schmerzen schwächten sie, wie jeden ihrer Art.

„Du machst dich krank, Angelica.“

Sie drehte sich zu ihm um. So viel Schmerz in ihren Augen. So viel … ah, Gott steh ihm bei … Bedürfnisse.

„Da kann man nichts machen.“

„Du musst etwas dagegen machen. Versuch, nicht das Schlimmste zu denken. Andernfalls bist du so erschöpft, wenn wir sie finden, dass du mir nicht mehr helfen kannst.“

„Sorgen können mich schwächen?“

„Nein, aber die Kopfschmerzen, die sie verursachen.“

Sie zog die Brauen zu einem Stirnrunzeln zusammen. „Stocherst du schon wieder in meinem Verstand rum? Liest meine Gedanken?“

„Nicht absichtlich, nein.“

Ihr neugieriger Blick glitt über sein Gesicht. „Was meinst du damit?“

Jameson holte tief Luft. Er hatte das Thema nicht zur Sprache bringen wollen. Nicht, wo allein das Nachdenken darüber ihn zu einem Paket unerfüllter Sehnsüchte machte. Aber er schuldete ihr eine Erklärung. „Wir haben unser Blut geteilt, Angelica, und das hat dieses Band geschmiedet. Wir haben ein gemeinsames Kind, und das hat dieses Band gestärkt. Und dann hatten wir … Sex.“ Er sah die Erinnerung in ihren Augen leuchten. Wie eine sengende Sonne, ehe sie sich abwandte. „Das schuf eine noch stärkere Verbindung zwischen uns. Wie die zwischen dir und Amber Lily.“ Er schüttelte den Kopf, seufzte schwer und dachte, dass sie vermutlich noch sehr viel abgestoßener sein würde, wenn ihr klar wurde, wie sehr er ein Teil von ihr geworden war. Und sie Teil von ihm. „Ob es mir gefällt oder nicht, ich spüre, wenn du leidest. Ich spüre deine Schmerzen und nehme an, du meine auch.“

„Ja.“

Keine Abscheu in ihrer Stimme. Gar keine. Nur Bestätigung. Er sah sie rasch an, doch sie verzog keine Miene.

„Ich habe sie schon gespürt, bevor wir uns liebten“, flüsterte sie.

Uns liebten?

„Ich spürte sie, als du angeschossen wurdest. Ich wusste, dass du getroffen warst, noch bevor ich die Wunde gesehen habe. Zuerst glaubte ich, die Kugel hätte mich getroffen, aber als ich nachsah, fand ich keine Kugel in mir. Sie war in dir.“

„Und du hast das gespürt?“, fragte er erstaunt.

„Ja, habe ich.“

Er blinzelte und dachte darüber nach. „Dann war dieses Band zwischen uns – was immer es ist – schon damals stark. Der Sex … hat es nur noch mehr verstärkt. Sehr seltsam.“

„Es ist beunruhigend“, sagte sie.

„Und?“, fragte er weiter. „Was spürst du jetzt in mir, Angelica? Ich habe keine Schmerzen, nichts, das dich beunruhigen könnte.“

„Im Moment empfange ich nur Wut von dir, Vampir. Eine in ihrer Intensität beängstigende Wut. Riesig und schwarz und übermächtig.“ Sie hob den Kopf und sah starr geradeaus, als könnte sie seine Wut tatsächlich sehen. „Und ich riskiere die Vermutung, dass diese Wut in dir sich ebenso schwächend auswirken kann wie mein Schmerz.“

Jameson spürte, wie er die Lippen zusammenkniff. „Wahrscheinlich hast du recht.“

„Warum hasst du sie so sehr?“

„Sie haben unsere Tochter, Angelica. Wie kannst du mich da fragen, warum ich sie hasse?“

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, das ist nicht alles. Du hast sie schon davor gehasst. In jener Nacht … jener Nacht, als ich dumm genug war und mit diesem Agenten gegangen bin, weil ich seinen Versprechungen glaubte, da hast du sie schon gehasst. Ich habe es in deinen Gedanken gesehen, als du mich warnen wolltest.“

„Und trotzdem bist du mitgegangen.“

„Ja. Und das kannst du mir nicht verzeihen, was? Du kannst nicht vergessen, dass es meine Schuld ist, dass sie unser Kind haben. Meine Schuld, weil ich ihnen ihre Lügen glaubte.“ Sie ließ sich zur Seite sinken, bis ihr Kopf die Fensterscheibe berührte. „Ich kann es dir nicht zum Vorwurf machen“, flüsterte sie. „Du hast das Recht, mich zu hassen, weil ich zugelassen habe, dass sie sie wegbringen. Aber du kannst mich unmöglich mehr dafür hassen als ich mich selbst.“

Jameson bemerkte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Sie irrte sich. Früher hatte er ihr vielleicht die Schuld daran gegeben, aber jetzt nicht mehr. Nicht mehr, seit ihm klar geworden war, welche Hölle sie in dem leer stehenden Gebäude durchmachen musste, in das sie sich verkrochen hatte. Um zu verhungern.

„Also, sag es mir“, bat sie. „Warum hasst du sie so sehr?“

Er hob den Kopf, schluckte heftig. „Vor Jahren hatten sie Rhiannon als Gefangene. Hatten sie auf einen Tisch geschnallt, während sie Proben aus ihrem Fleisch schnitten. Das war, bevor sie ihr garstiges Betäubungsmittel erfanden. Sie konnten nur dafür sorgen, dass wir zu schwach waren, uns gegen sie zu wehren, indem sie uns aushungerten. Nichts linderte die Schmerzen ihrer Experimente. Die Dreckskerle haben sie so gefoltert, dass sie fast den Verstand verloren hätte. Aber sie floh. Und dabei hat sie einen ihrer Top-Wissenschaftler getötet. Ihm das Genick gebrochen.“

„Das glaube ich gern.“

Jameson sah sie beim Fahren an und stellte fest, dass sie nach diesen Worten erschauerte. „Als Tamara noch ein Kind war, starben ihre Eltern an einer seltenen Viruserkrankung. Und ein Arzt, der sie unter seine Fittiche genommen hatte, bot sich als ihr Vormund an. Da es sonst niemanden gab, wurde sein Antrag angenommen. Wie sich herausstellte, gehörte der Doc in Wahrheit zum DPI; dass ihre Eltern dem Virus ausgesetzt wurden, war Teil eines perfiden Plans. Sie wussten, dass Tam das Belladonna-Antigen in sich hatte – eine seltene Blutgruppe, die es Menschen ermöglicht, Vampire zu werden. Und sie wussten auch, dass Menschen mit dieser Blutgruppe eine besondere Verbindung zu einem Vampir haben, der über sie wacht.“

Sie stöhnte leise. „Stimmt das? Ich hatte keine Ahnung.“

„Ja, es stimmt. Ein Vampir verspürt eine gewisse Verbundenheit mit einem Sterblichen, fühlt sich zu ihm hingezogen, spürt, wenn er in Gefahr ist. Und greift häufig ein, wenn Gefahr droht, obwohl der Sterbliche davon meistens gar nichts mitbekommt. Eric war Tamaras Beschützer. Er hat ihr einmal als kleines Mädchen das Leben gerettet. Und das DPI wusste es, und auch, dass er eines Tages zurückkommen würde. Darum wollten sie Tamara als Köder. Und sie schreckten vor nichts zurück, um das zu erreichen.“

Angelica schüttelte den Kopf, das Mitgefühl für Tamara stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. „Sie haben ihre Eltern getötet … mein Gott. Das ist schrecklich.“ Dann sah sie ihn mit ihren großen runden Augen an, und er vergaß fast, wütend auf sie zu sein. „Und was ist mit dir, Jameson? Wann hattest du Kontakt mit ihnen?“

„Ich traf Tamara, als sie für das DPI arbeitete.“

„Sie …?“

Er nickte. „Ja. Vergiss nicht, sie wurde von einem von denen großgezogen. Er brachte sie nur deswegen in die Organisation, damit er sie in seiner Nähe haben konnte. Mit den wirklich schlimmen Dingen, die dort vor sich gehen, hatte sie nie etwas zu tun. Die gaben ihr unbedeutende Fälle. Zum Beispiel, etwas über die angeblichen übersinnlichen Fähigkeiten eines zwölfjährigen Jungen zu erfahren.“

„Du?“, fragte sie.

„Ja. Nur, das mit den übersinnlichen Fähigkeiten war gelogen. Die wollten mich unter Beobachtung haben, weil ich das Antigen in mir hatte. Der ganze verdammte Zyklus hätte von vorn angefangen. Aber Tam kam dahinter. Die Dreckskerle hatten mich entführt, um an sie und Eric ranzukommen. Roland hat mir das erste von vielen Malen den Arsch gerettet. Als es vorbei war, mussten meine Mutter und ich das Land überstürzt verlassen. Roland nahm uns mit nach Frankreich, gab meiner Mutter einen Job, schickte mich auf eine Privatschule.“

„Und du hast … hast gewusst, dass sie … Vampire waren?“

„Na klar. Ich war jung, aber nicht blind.“

„Und das hat dir keine Angst gemacht?“

„Diese Dreckskerle vom DPI, die haben mir Angst gemacht.“

Sie nickte. Jameson hatte das Gefühl, dass es sie wirklich interessierte, was er zu sagen hatte, während sie die vielen Meilen fuhren, die sie von ihrem Kind trennten. „Wo ist deine Mutter jetzt?“

„Sie starb zwei Jahre später. Aber Roland kümmerte sich um mich, bis uns diese Dreckskerle vom DPI wieder aufspürten. Danach fand er, dass ich bei meinem leiblichen Vater besser aufgehoben wäre. Er heuerte einen Privatdetektiv an, der ihn aufspürte, und danach lebte ich bei meinem Dad in San Diego, bis er vor zwei Jahren starb. Und meine alten Freunde vom DPI spürten mich erst letztes Jahr wieder auf. Sie schafften mich in einen dieser unauffälligen grauen Kleinbusse und brachten mich zu ‚Tests‘ in ihr ‚Forschungszentrum‘. Die anderen hatten mich erst wenige Tage, bevor wir beide uns begegneten, aus diesem Dreckloch befreit.“

Sie nickte langsam. „Also war dir das DPI fast dein ganzes Leben lang ein Stachel im Fleisch.“

„Die saßen mir immerzu im Nacken. Genau wie den anderen. Niemand sollte so leben müssen, dass er sich ständig über die Schulter sehen muss.“

„Und du möchtest derjenige sein, der das beendet.“

„Jemand muss es tun.“ Seine Muskeln spannten sich an, und er versuchte sich zu beruhigen. „Herrgott, Angelica, als ich dich geholt habe, waren noch andere da. Diese elenden Zellen waren allesamt belegt. Manche waren tot, andere lagen im Sterben, einige hielten diese Tiere nur so lange am Leben, bis sie ihre verfluchten Experimente mit ihnen abgeschlossen hatten. Das darf so nicht weitergehen. Darf es einfach nicht.“

„Aber kann ein einzelner Mann sie aufhalten?“

„Dieser hier schon.“ Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Ich habe die Motivation, Angelica. Unsere Tochter“, erklärte er ihr. „Ich lasse sie nicht in der ständigen Gefahr aufwachsen, dass diese Dreckskerle hinter ihr her sind. Das kann ich nicht.“

Sie blinzelte und nickte. Als würde sie es … womöglich … verstehen.

„Jetzt weißt du, was mich zu so einem Monster macht“, sagte er. „Ich hasse sie. Ich will, dass sie für alles büßen müssen. Und ich habe vor, die Strafe eigenhändig zu vollstrecken. Sobald meine Tochter in Sicherheit ist.“

Sie senkte den Kopf, schüttelte ihn. „Du lässt dich von deiner Wut beherrschen. Du könntest bei diesem jämmerlichen Versuch sterben.“

„Dann sterbe ich wenigstens für eine gute Sache“, sagte er voller Überzeugung. „Immer noch besser, als hilflos und lammfromm in einem Sarkophag aus Stein zu verrecken.“

Sie senkte hastig den Kopf, seine Worte schmerzten sie. Und verdammt, er hätte mal wieder nachdenken sollen, bevor er den Mund aufmachte. „Du wirst mir nie vergeben, dass ich mich ihnen selbst ausgeliefert habe“, sagte sie.

Er suchte nach Worten, um ihr zu sagen, dass er ihr jetzt schon verziehen hatte. Fragte sich, warum er es nicht einfach offen aussprechen konnte, und wusste, dass ihm wieder sein verdammter Stolz in die Quere kam. „Du hast gedacht, dass ich ein Monster bin. Du hast gedacht, bei dem DPI-Agenten wärst du sicherer als bei mir.“

„Das habe ich. Ja, es ist die Wahrheit. Derjenige, der … der mich verwandelt hat …“ Sie verstummte und ließ den Satz unvollendet.

„Was ist mit ihm?“ Er spürte ihre Reaktion, als sie nur an ihn dachte. Entsetzen. „Du hast es mir nie erzählt, Angelica. Was ist dir zugestoßen?“

Sie sah ihn an und seufzte. „Ich glaube nicht, dass das deine Einstellung ändern wird.“

Er würde sie bestimmt nicht anflehen, es ihm zu erzählen. Verdammt, er hatte ihr seine ganze Lebensgeschichte erzählt, und sie konnte ihm nicht diese winzige Einzelheit verraten? Na gut. Sollte sie sich von ihm abwenden, wenn sie es so wollte. Sie wollte sich nicht öffnen, wie er es getan hatte. Das machte ihn schon wieder so verdammt wütend.

Nach unserem Gespräch schwieg er mehrere Meilen, genau wie ich. Er hatte mir eine Menge Stoff zum Nachdenken geliefert. Sogar seinen irrationalen Hass auf das DPI konnte ich jetzt verstehen. Aber ich missbilligte seine Absicht, jeden in der Organisation zu vernichten, nach wie vor. Es gab in jeder Gruppe Gute.

Sogar unter den Vampiren, wie ich erfahren durfte. „Ich habe es dir nie gesagt, Vampir“, meldete ich mich schließlich nach einem längeren Schweigen wieder zu Wort, „aber mir tut es leid, was ich dir in unserer ersten Nacht angetan habe.“

„Mir nicht.“

Ich sah ihn an, und er schien mir meine Überraschung anzumerken.

„Oh, ich dachte, ich wäre noch nicht für die Verwandlung bereit.“ Ich spürte, dass er so aufrichtig wie noch nie zu mir war. „Aber ich bin jetzt besser als vorher. Stärker. Und klüger. Ich erfahre das Leben jetzt, wie es mir vorher nie möglich gewesen wäre. Ironisch, nicht? Erst als mein Leben als Sterblicher zu Ende war, konnte ich es wirklich genießen.“

Ich nickte stumm und gab ihm Zeit weiterzureden.

„Als du … als du in jener Nacht von mir getrunken hast … Gott, ich hatte keine Ahnung, dass es so sein würde. Ich habe mich nicht einmal gewehrt, Angelica. Weißt du das noch?“

„Doch“, sagte sie. „Ganz am Schluss.“

„Das war Ekstase“, flüsterte er. „Ich wollte nicht, dass es aufhört.“

Ich erinnerte mich. Wie gut ich mich an diese erotische Explosion erinnerte, die mich erfüllte, als ich an seinem Hals nuckelte wie ein Baby. Es hatte mich gleichzeitig erregt und verängstigt und verwirrt. Damals verstand ich das nicht. Ich war nicht sicher, ob ich es heute verstand. Mich erstaunte sein Geständnis jedoch. Konnte er mich wirklich hassen, wo er doch so bereitwillig bei allem mitgemacht hatte?

„Das ist die Verlockung des Vampirs. Seine Opfer geben sich ihm bereitwillig hin und sterben in einem Sturm der Gefühle, der weit über den körperlichen Orgasmus hinausgeht.“

„Ja“, flüsterte ich, machte die Augen zu und erinnerte mich, wie ich mich fühlte, als er mir in der vergangenen Nacht, in den frühen Morgenstunden, einen ähnlichen Höhepunkt beschert hatte. Eine Verzückung, die sich nicht mit Worten beschreiben lässt.

„Darum trinken wir nicht von den Lebenden, Angelica. Es wäre zu leicht, sich gehen zu lassen. Ihnen zu schaden, indem man zu viel nimmt. Wir gönnen uns dieses Hochgefühl nicht, um ihnen nicht zu schaden. Aber das Verlangen ist immer da. Immer.“

Ich nickte. Denn er hatte recht. Das Verlangen war da. Es brannte in mir. Flüsterte mir zu, dass wir voneinander nehmen könnten, was wir den Lebenden nicht nehmen durften. Flüsterte mir zu, wenn er wirklich meinen Schmerz spüren konnte, dann würde er auch gewiss die Sehnsucht spüren, die mich innerlich auffraß und mich dazu brachte, dass ich mich wieder nach seiner Berührung, seinen Zähnen, seinem Geschmack sehnte.

Rhiannon hatte mich davor gewarnt. Und wenn wir uns dieser Lust erneut hingaben, würde sie beim nächsten Mal noch stärker werden. Zum ersten Mal begriff ich, welche Macht Drogen über die Süchtigen haben konnten, denen ich einst im städtischen Asyl half. Aber diese Droge war schlimmer. Viel schlimmer.

Jameson räusperte sich und lenkte seinen Blick auf mich. Sein Kiefer wirkte verkrampft. Leidenschaft brannte in seinen Augen. „Das Schild“, sagte er mit rostiger Stimme. „Petersville, fünf Meilen.“

„Endlich. Wir sind fast da.“

„Wir brauchen eine Unterkunft“, fuhr er fort. „Wir sind die ganze Nacht gefahren. Es wird bald dämmern.“

Unsere Blicke begegneten sich, und ich wusste, er spürte meinen Hunger, denn ich sah dasselbe in seinen Augen. Ich schwor mir, nicht noch einmal schwach zu werden. Schande über mich zu bringen. Er mochte mich nicht und ich ihn nicht. Oh, ja, inzwischen glaubte ich, dass nicht alle seiner Art verflucht waren. Aber er verfluchte sich selbst mit seiner Wut und seinem Hass. Und ich schämte mich so für die Gefühle, die ich für ihn empfand. Fürchtete so sehr, er könnte seinen Schwur beherzigen und es mir wieder ins Gesicht schleudern, sollte ich ihm zeigen, wie sehr ich ihn begehrte.

Ohne ein Wort darüber zu verlieren, hatte er meine Entscheidung erkannt. Denn in seinen Augen loderte neuerlicher Zorn, und sein Mund wurde noch verkniffener.

Er hielt bei einem verfallenen, leer stehenden Haus eine Meile hinter den ordentlichen Reihenhäuschen der Gemeinde Petersville. Es war vor längerer Zeit ein bescheidenes Heim gewesen, ein einstöckiges Farmhaus mit quadratischem Grundriss. Und es sah nicht allzu baufällig oder morsch aus. Allerdings waren die Fenster alle eingeschlagen, das Holz grau und verwaschen – es hätte dringend einen Anstrich gebraucht. Er fuhr das Auto nach hinten, damit man es von der Straße aus nicht sehen konnte. Und als er den Motor ausmachte, blieben wir noch einen Moment stumm und angespannt in der Dunkelheit sitzen.

„Ich denke, wir sollten reingehen“, sagte er schließlich, und ich hörte, wie gepresst seine Stimme klang. „Uns vergewissern, dass es einen Raum gibt, wohin kein Sonnenlicht gelangt, wo wir ruhen können.“

„Ja.“ Ich öffnete meine Tür, stieg aus und trat auf das trockene, verdörrte Gras, das mir über die bloßen Waden und den Saum des schwarzen Kleids strich, das ich trug. Ich wollte nicht mit ihm in dieses Haus gehen. Ich wollte nicht neben ihm liegen. Noch nicht, da es noch über eine Stunde dauern würde, bis das Sonnenlicht mich einschlafen ließ.

„Du hast Angst.“ Er stellte sich neben mich vor ein zugenageltes Fenster. „Du vertraust mir nicht, oder, Angelica?“

Wie konnte ich ihm sagen, dass ich mir selbst nicht vertraute?

„Keine Bange“, fuhr er mich an, als ich nicht antwortete, ihn nicht einmal ansah. „Ich werde dich nicht wieder anfassen. Das sagte ich doch schon, oder nicht?“

Ich schloss meine Augen und versuchte, meine Gedanken zu verdrängen. Aber es wollte mir nicht gelingen. Und ich gab mir allergrößte Mühe, damit er sie nicht lesen konnte. Ich wollte, dass er mich anfasste. Ich wollte meinen Verstand verlieren, so wie gestern Nacht. Er sollte mich nehmen, ohne dass ich Zeit zum Nachdenken haben würde. Ich wollte, dass er mich mit Gewalt nahm, damit ich das brennende Verlangen stillen und dennoch ein reines Gewissen haben konnte.

Ich schämte mich dieser Gedanken, senkte den Kopf und folgte ihm ins Haus.

„Es gibt einen Keller. Dort wäre es am sichersten.“ Er sprach förmlich, seine Worte wirkten steif. „Der Boden ist aus Beton. Nicht bequem, aber besser als feuchte Erde.“

Er stand an der schwarzen Türöffnung und sah hinab. Und ich ging so nahe zu ihm, wie ich mich traute, und blickte an ihm vorbei. Es gab keine Treppe, früher schon, doch jetzt waren nur noch ein paar morsche Bretter übrig. Ohne ein Wort sprang Jameson vorwärts und landete unten auf den Füßen. Er drehte sich um und wischte sich mit den Händen Staub von den Jeans. „Kommst du?“

Ich holte Luft und schluckte. Rhiannon sagte, ich wäre so stark wie er. Es war schwer, sich daran zu gewöhnen. Und noch schwerer für eine Frau, die sich nach wie vor für eine Sterbliche hielt. Einfach so vom oberen Ende einer nicht vorhandenen Treppe ein Stockwerk tiefer auf Beton zu springen. Ich schluckte, machte die Augen zu und sprang.

Er wich zurück, aber ich prallte dennoch gegen ihn. Stieß mit ihm zusammen, sodass wir beide stürzten. Ich landete auf ihm. Und drückte mich mit dem ganzen Körper an ihn, genau wie in jener Nacht. Und ich roch den maskulinen, exotischen Duft seiner Haut, hörte sein Blut in den Adern darunter pochen. Mein eigener Puls hämmerte noch heftiger. Der konstante Puls in meinem Hals wurde stärker, fordernder.

Er legte mir die Hände auf die Schultern und hob mich behutsam hoch, dann wand er sich unter mir hervor. Er räusperte sich, sah jedoch nicht in meine Richtung. „Du brauchst mehr Übung.“

Übung war ganz und gar nicht das, was ich brauchte. Ich brauchte eine Fluchtmöglichkeit. Ich musste weg von ihm. Noch eine ganze Stunde war ich wach, und dieses brennende Verlangen nach ihm würde mich ganz bestimmt wahnsinnig machen.

„Ich glaube“, sagte ich und hörte selbst, wie heiser meine Stimme klang, wie abgehackt die Worte, „wir sollten uns trennen.“

„Wirklich?“

Ich nickte und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. „Wir könnten unsere Suche intensivieren und Amber Lily viel schneller finden.“

„Du meinst, du würdest sie schneller finden. Du bist diejenige mit dem Band zu ihr. Und was dann, Angelica? Würdest du mit dem einzigen Kind verschwinden, das ich je haben werde?“

Ich hob den Kopf. „Ich gebe dir mein Wort, Vampir. Ich werde nicht weglaufen.“

„Ah, aber du gehörst doch jetzt zu den Verfluchten, oder nicht, Angel? Ein Monster wie ich, ohne Seele oder eine Spur Menschlichkeit. Was ist dein Wort da wert?“

„Ich laufe nicht weg“, wiederholte ich. „Außerdem sagst du, dass auch zwischen uns jetzt eine … eine Verbindung besteht. Du würdest mich sicher finden, sollte ich weglaufen.“ Ich stellte ihn auf die Probe.

„Ich würde dich finden“, sagte er leise. „Und wenn ich bis ans Ende der Welt fahren müsste, dunkler Engel, würde ich dich finden. Bilde dir nur keine Schwachheiten ein.“

„Und warum lässt du mich dann nicht auf eigene Faust suchen?“

„Weil ich dich nicht suchen will. Und weil ich dir nicht traue. Du musst zugeben, bis jetzt hast du nicht gerade ein gesundes Urteilsvermögen bewiesen. Ich will nicht, dass du einen Fehler machst, der meine Tochter das Leben kostet.“

Ich senkte den Kopf, machte die Augen zu und setzte mich auf den Betonboden. „Also hast du mir im Auto nur Lügen erzählt. Ich hätte es wissen müssen.“

Er kam näher und setzte sich neben mich. „Reden wir über Lügen, ja, mein dunkler Engel, hmm?“

Ich hob den Kopf und sah ihn an. Sah die Wut in seinen Augen. „Ich habe dich nicht belogen“, sagte ich.

„Oh doch, das hast du. Du willst nicht wegen des Babys von mir weg. Sondern deinetwegen. Du erträgst es nicht, Angel, oder? Eine Heilige wie du. Es macht dich durch und durch krank, dass du so scharf auf ein Monster wie mich bist. Oder etwa nicht?“ Ich wandte mich ab, doch er nahm mein Gesicht in die Hände und drehte mich wieder zu sich um. „Glaubst du, ich sehe es nicht, Angel? Du willst mich. Du verbrennst innerlich vor Sehnsucht nach mir. Du kannst an gar nichts anderes denken, ist es nicht so? Meine Hände an dir. Meine Lippen an dir.“ Er lächelte verbittert und schüttelte den Kopf. „Der Geist der armen kleinen Angel ist im Krieg mit ihrem Fleisch, und das stößt sie ab.“

„Du irrst dich. Ich will dich nicht! Ich will dich nicht einmal im selben Zimmer haben! Ich hasse dich!“

„Ich weiß, dass du mich hasst“, flüsterte er. „Aber das ändert nichts, oder?“

Ich schüttelte verneinend den Kopf, stand auf und drehte ihm den Rücken zu. Aber er stellte sich direkt hinter mich, so nahe, dass ich seine warme Haut spüren konnte. Und dann strich sein Atem über meinen Nacken, berührte sein Körper meinen. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht atmen. Mit einer Hand strich er mein Haar beiseite, senkte den Kopf und hielt die Lippen dicht über meinen Hals, ohne ihn jedoch zu berühren. Ich zitterte am ganzen Körper, von Kopf bis Fuß, ich erschauerte. Und innerlich schrie ich nach seiner Berührung.

Er bewegte die Hüften, sodass ich die Härte seiner Erregung spürte. Und dann beugte er sich tiefer, strich mir mit den Lippen über den Hals. Ich gab einen langen Stoßseufzer von mir, mit dem jede Gegenwehr dahinschmolz, legte den Kopf nach hinten und zur Seite und bot ihm schamlos den entblößten Hals dar.

Sein Atem strich jetzt in heißen Stößen über meine Haut. „Ich dachte, du willst mich nicht im selben Raum haben“, flüsterte er, aber es war ein atemloses, gequältes Flüstern.

„Bitte“, stöhnte ich aus tiefstem Hals.

Und da löste er sich von mir, wandte sich ab, strich sich mit den Händen durch das Haar. „Und wer ist jetzt die Lügnerin, Angelica?“, knurrte er.

Ich schlang die Arme um mich, drückte mich selbst und sank langsam auf die Knie. Mit gesenktem Kopf weinte ich bittere Tränen der Frustration.

„Glaub mir. Für mich ist es genauso abstoßend, dass ich jemanden begehre, dessen Anblick ich nicht ertragen kann. Aber wenigstens bin ich nicht so verdammt selbstgefällig, dass ich deswegen lüge. Du kannst nicht weg, also müssen wir beide mit der Situation leben.“

Ich erhob mich, und meine Wut und die Kränkung gaben mir die Kraft zurück, die mich seine Nähe noch vor wenigen Augenblicken gekostet hatte. Ich drehte mich um und sah ihm in die Augen. „Den Teufel müssen wir“, fuhr ich ihn an, drehte mich zur Tür, drückte die Knie durch und stieß mich ab. Zu meinem Erstaunen segelte ich so mühelos nach oben, wie ich einst über eine Fuge im Bürgersteig getreten war, und landete oben auf dem Boden. Dann rannte ich aus dem Haus und in die Nacht.

Der Wind flüsterte in meinen Ohren und strich über mein Haar, als ich lief. Ich wusste, dass er mir folgte, drehte mich jedoch nicht um. Ich rannte einfach nur, und Sekunden später hatte ich meinen Verfolger vergessen, meinen Dämon. Der Nervenkitzel, so schnell zu laufen, dass alles um mich herum verschwamm, war ungeheuerlich. Ich rannte nicht gegen etwas an, obwohl ich so schnell lief, dass ich kaum etwas sehen konnte. Eine Art innere Steuerung, von der ich bis jetzt gar nichts gewusst hatte, übernahm das Kommando und lenkte mich um Hindernisse und Gefahren auf dem Weg herum. Ich lief Meilen durch den Wald. Meilen rannte ich.

Und dann blieb ich stehen. Und war nicht einmal außer Atem. Erstaunlich. Das Blut rauschte durch meine Adern, mein Herz schlug schnell und kräftig in der Brust. Ich fühlte mich stark. Stärker als jemals in meinem Leben. Ich verstand plötzlich, was Jameson gesagt hatte. Auch ich konnte mein Leben erst voll und ganz auskosten, als es zu Ende war.

Oh, aber sonst verstand der Narr herzlich wenig. Ich ekelte mich nicht vor ihm! Ich sehnte mich nach ihm. Warum musste er so grausam sein?

„Verdammt, Angelica, was denkst du dir eigentlich?“

Ah ja, mein Luzifer hatte mich endlich eingeholt. Ich drehte mich zu ihm um. „Du kannst mich nicht gegen meinen Willen festhalten“, sagte ich. „Ich bin genauso stark wie du.“

Er verdrehte die Augen. „Erinnere mich daran, dass ich mich bei Rhiannon dafür bedanke, dass sie dir das gesagt hat, ja?“

Sein Sarkasmus war nicht gemein. Nicht ätzend. Und ich lächelte fast darüber. Vielleicht hatte diese kleine Anstrengung die Anspannung zwischen uns beseitigt.

Nein. Das brauchten wir nicht. Aber es war besser als nichts.

Und dann hörte ich etwas. Einen Schrei, sehr weit entfernt. Den Schrei … eines Kindes. Und das Wimmern und Schreien wurde lauter und beharrlicher.

„Das Baby“, flüsterte ich. Und als Jameson mir in die Augen sah, war jegliche Feindschaft daraus verschwunden. Wir drehten uns beide um und rannten so schnell wir konnten in die Richtung, aus der der Ruf erklungen war. Einen bewaldeten Hügel flogen wir hinab, brachen durch dichtes Unterholz und Dornengestrüpp und taumelten regelrecht auf den Schotterweg, der unten verlief.

„Da!“, rief Jameson. Ich drehte mich um und sah eine Frau reglos am Boden liegen. Mit einem einzigen Sprung war ich neben ihr, hob Kopf und Schultern an und schüttelte sie.

„Aufwachen! Wo ist sie? Sagen Sie mir, wo meine Tochter ist!“

Sie schlug benommen die Augen auf. Mit einem panischen Blick sah sie sich um. Und dann schrie sie und drückte die Handflächen ans Gesicht. Sie schrie und schrie und hörte gar nicht mehr auf.

Ich folgte ihrem Blick, und dann sah ich das umgestürzte Auto. Es lag auf dem Dach. Das darin gefangene Kind heulte vor Angst. Die Flammen, die von der Unterseite des Automobils in den Nachthimmel loderten, kamen dem Benzintank immer näher.

„Mein Baby!“, schrie die Frau immer wieder. „Bitte retten Sie mein Baby!“

Ihr Baby. Nicht meins. Es war nicht mein Baby, das in dem brennenden Auto gefangen war.

„Beeilung!“, rief sie und wollte aufstehen. „Beeilen Sie sich um Himmels willen, der Benzintank!“ Und dann brach sie zusammen und wurde von Schluchzen geschüttelt.

Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Jameson kletterte über das Fahrzeug zur Tür. Die Flammen – ich hatte mit eigenen Augen gesehen, was für eine verheerende Wirkung Feuer auf Vampire hatte – loderten um ihn herum. So nahe an seinem Körper …

Ich stand auf, ließ die Frau liegen, ging näher hin. Der Vampir riss die Tür ab und schleuderte sie in hohem Bogen in die Nacht. Gut, dass die Mutter ihn in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Und dann kroch Jameson hinein und zerrte an den Gurten, die das Kind festhielten. Nicht weniger als dreimal musste er aufhören und Flammen ersticken, die auf seine Kleidung übergriffen. Aber jedes Mal ging er wieder zu dem Kind zurück.

Ich rannte zu ihm hin, als er gerade mit dem Baby auf dem Arm herauskroch. Er lief zu mir, drückte mir das Kind in die Arme, ließ sich auf die Knie fallen, und da erst sah ich, dass seine empfindliche Vampirhaut schwelte. Dünne Rauchfahnen stiegen empor in den Nachthimmel wie Gespenster. Er sah mich einen Moment direkt an, und ich erkannte den Schmerz in den schwarzen Augen. Und dann spürte ich es, die heiße Verbrennung, die seine Haut zerfraß, als wäre es mein eigener Schmerz. Er erhob sich, stolperte von uns weg, und da sah ich in der Ferne den Bach fließen. Ich hörte das Platschen, als er dort anlangte, und das brennende Gefühl auf meiner Haut ließ nach, aber nicht die Höllenqualen.

Das Baby gurrte und murmelte und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah hinab und drückte es zärtlich an die Brust, konnte den Blick nicht abwenden. Es brach mir fast das Herz. Das dichte Haar war nicht rabenschwarz, sondern rot. Die Augen nicht dunkel, sondern babyblau. Und die feisten Wangen und das Doppelkinn verrieten mir, dass das Baby um einiges älter sein musste als meine Amber Lily.

Mit einer pummeligen Hand griff es nach oben, nahm eine Strähne meines Haars und zog übermütig daran.

„Bitte …“

Ich schaute auf. Der Mutter war es gelungen aufzustehen, jetzt stand sie vor mir. Das Gesicht voller Blutergüsse, Haare zerzaust, blutende Lippe. Sie streckte die Arme nach dem Kind aus, während ihr Tränen über das Gesicht liefen.

Ich schluckte heftig. Wie gut konnte ich ihre Gefühle verstehen. Ihr Kind. Ich beugte mich hinab, hauchte dem Baby einen Kuss auf die seidenweiche Wange und gab es dann der liebenden Mutter in die Arme.

Sie drückte das Baby fest an sich, während ihr ganzer zierlicher Körper von einem Weinkrampf durchgeschüttelt wurde. Da ertönten Sirenen in der Ferne. Ein weiteres Fahrzeug hielt am Straßenrand. Scheinwerfer erhellten die Dunkelheit und durchdrangen deren Reinheit mit ihrem künstlichen Licht. Licht, das nicht in diese Nacht gehörte, dachte ich. Ein Eindringling.

Mit einem letzten Blick auf Mutter und Kind schlich ich mich davon, in die Schatten, wohin ich gehörte.