Keith

9. KAPITEL

Sie war eine Närrin. Sie musste eine sein, dass sie hier bei ihm blieb. Trotz der Reue, die er empfand, spürte er ihre Gegenwart intensiv. Sein Körper sehnte sich danach, sich abermals mit ihrem zu vereinigen, diese wonnevolle Befreiung zu finden, die den Eispanzer um sein Herz herum fast zerschmettert hätte. Wenn er ihre Hände ansah, musste er daran denken, wie sie ihn in seiner Erregung damit gestreichelt hatte; wie Seide, und dennoch fest und kräftig. So kräftig. Der Anblick ihrer Lippen rief ihm Wärme und Feuchtigkeit ins Gedächtnis zurück, die er dahinter gefunden hatte, und den Geschmack ihrer Zunge. Unter der Seidenbluse trug sie nichts. Er fragte sich, ob ihre Brustwarzen vor Erregung so hart und fest wie Perlen werden würden, wenn der Stoff darüberstrich, und wenn ja, ob er ihr die Bluse vom Leib reißen und an den Brustwarzen saugen würde, bis sie ihn anflehte, dass er aufhören sollte.

Verdammt, sie trug hautenge Jeans. Die schmiegten sich so eng an die Innenseiten ihrer Schenkel wie in der Nacht zuvor sein Körper. Er wollte sein Gesicht in ihrem Schoß vergraben und den bittersüßen Duft einatmen. Er wollte sie wieder schmecken und trunken werden von ihren ureigensten Säften.

„Roland.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er sah, wie sie die Hand nach ihm ausstreckte, und ergriff sie. Sie zog ihn zu sich, bis er neben ihr an dem Baumstamm lehnte. „Erzähl es mir“, drängte sie ihn wieder.

Er nickte. „Es ist keine angenehme Geschichte, Rhiannon.“ Roland holte einmal tief Luft und wappnete sich für ihre Reaktion. „Nach der Schlacht sehnte ich mich danach, nach Hause zurückzukehren. Ich wollte mein Schwert und meinen Blutrausch für immer vergessen.“ Er machte eine Pause und sah eine ganze Weile in ihre unergründlichen Augen. Zweifellos würde sie ihn verabscheuen, wenn er mit seiner Geschichte fertig war. Umso besser. Vielleicht würde sie dann endlich zur Vernunft kommen und ihn endgültig in Ruhe lassen.

„Aber als ich heimkehrte, fand ich meines Vaters Feinde in der Burg. Baron Rosbrook und sein Clan hatten sie erobert.“ Er schloss die Augen, als die Erinnerungen kamen. Der Anblick, der sich ihm bei seiner Rückkehr als Erstes bot, waren die verfallene Burgmauer und dann der schwarze verkohlte Teil der Burg gewesen, der niedergebrannt war.

Rhiannon strich ihm über das Gesicht. „Deine Familie?“

„Ermordet.“ Dieses einzelne Wort wurde tonlos ausgesprochen. Aber Worte konnten nicht beschreiben, was er an jenem Tag empfunden hatte. Er sah aus wie ein Mann, besaß jedoch die Ängste und das Herz eines Knaben, als er den kahlen Innenhof überquerte und gerade noch mit ansehen musste, wie sie den reglosen Leichnam seines Vaters vom Galgen abschnitten und zu den anderen auf einen wackligen Wagen warfen. Er stand reglos da und traute seinen Augen nicht, als der Wagen ihn polternd passierte und zum hohen Burgtor hinausfuhr. Er drehte sich um und folgte ihm wie ein Mann in Trance, bis der Wagen am Rand einer steilen Böschung zum Stillstand kam. Dort warfen sie die Toten einen nach dem anderen in den Abgrund.

Er fing an zu zittern, genau wie damals. Diese Erinnerungen wollte er verdrängen, genau wie er vor so vielen Jahren den Blick von dem herzzerreißenden Anblick abwenden wollte, aber nicht konnte. Sein Vater, seine Brüder wurden weggeworfen wie Abfall, ihre Leichen kullerten in die Felsschlucht hinab. Auch andere Ritter beseitigte man, der Rüstungen beraubt, teils mit grässlichen Wunden, teils scheinbar unversehrt, abgesehen von den verräterisch geschmeidigen Bewegungen der Köpfe auf gebrochenen Hälsen, ohne ein Gebet oder eine Träne, die ihretwegen vergossen wurde. Dann die Frauen. Der erste verkohlte Leichnam war bis zur Unkenntlichkeit entstellt, bis er einen unversehrten Zipfel des Nachthemds erblickte. Des Nachthemds seiner Mutter.

„Mein Gott, Roland.“ Rhiannons Stimme klang erstickt, sie hielt ihn an den Schultern. Dumpf wurde ihm klar, dass sie in seinen Gedanken gewesen sein musste. Sie hatte die Augenblicke seiner Heimkehr vor langer Zeit genauso miterlebt wie er. „Ich hatte ja keine Ahnung“, flüsterte sie. „Es tut mir so leid.“

„Mir auch, Rhiannon. Wäre ich daheim gewesen, wohin ich gehörte, hätte ich es vielleicht verhindern können.“

„Wie? Roland, du warst ein Knabe, ein Knabe ohne die Ausbildung eines Ritters, als du das Haus verlassen hast. Was hättest du tun können, außer dich ebenfalls abschlachten zu lassen?“

Er sah ihr ins Gesicht und schüttelte den Kopf, während er gegen kindische Tränen und ein Brennen tief in der Kehle ankämpfte. „Das werde ich nie erfahren, was?“ Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und blinzelte die Feuchtigkeit, die ihm die Sicht verschwimmen ließ, aus den Augen. „Leider war ich fortgegangen. Ich war ausgebildet worden und hatte mir dank Gareths Familie den Ruf eines erbitterten Kämpfers erworben. Vorher hätte ich vielleicht wirklich nichts tun können. Aber hinterher …“

„Wenn der Tod Gareths dich so in Wut brachte, muss es nach der Ermordung deiner ganzen Familie und der Eroberung deines Zuhauses noch schlimmer gewesen sein.“

Er nickte, erinnerte sich, erfuhr alles erneut am eigenen Leib, als er es für sie noch einmal durchlebte. „Es geschah binnen eines Augenblicks. Meine erschrockene Lähmung wich Wut und einer Gier nach Rache, die mich an den Rand des Wahnsinns brachten. Es dauerte Wochen, aber ich scharte eine Armee um mich. Einige Männer waren Freunde meines Vaters. Bei den meisten handelte es sich um Ritter in den Diensten von Gareths Familie. Sie unterstützten mich aus Gründen der Ehre. Ich hatte Gareth und seine Gefolgsleute gerächt, daher halfen sie mir, meine Familie zu rächen.“

„Und?“

Er sah ihr in die Augen und wünschte sich, er müsste nicht fortfahren. Aber er fuhr fort. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er sich jetzt nicht mehr bremsen und ihr nicht alles erzählen können.

„Auf meinen Befehl hin gewährten sie keine Gnade, und ich auch nicht. Einige Rosbrooks entkamen der Klinge, aber die meisten starben durch sie. Bis nur eine übrig blieb. Eine jüngere Tochter, nicht älter als ich.“

Er sah, wie Rhiannon die Augen schloss und vermutete, dass ihr vor dem graute, was jetzt kommen musste. „Ihr Name war Rebecca, und sie hatte das Gesicht eines Engels. Aschblonde Locken, große blaue Augen. Sie war so unschuldig. Ich befahl, dass sie in den Kerker geworfen wurde.“

Sie atmete in einem Stoß aus.

„Warum bist du erleichtert, Rhiannon? Weil ich sie nicht auf der Stelle getötet habe? Für sie wäre es besser gewesen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kenne dich, Roland. Sicher ist dir nach ein paar Tagen klar geworden, dass die Sünden ihres Vaters nicht ihre waren, und du hast sie freigelassen.“

„Freigelassen?“ Fast hätte er gelacht. „Nein, Rhiannon. Du kennst mich überhaupt nicht. Aber du hast recht. Mit der Zeit bedauerte ich, dass sie für das leiden musste, was ihr Vater getan hatte. Ich ließ sie aus dem Kerker holen und in ein Gemach im dritten Stock bringen. Ich wollte sie zu ihren Verwandten zurückbringen, doch sie hatte niemanden mehr. Natürlich verabscheute mich das Mädchen für das, was ich getan hatte, so wie ich ihre Familie für die Ermordung meiner verabscheute.“

„Was ist aus ihr geworden, Roland?“

Er nahm Rhiannons Hände von den Schultern, faltete sie in ihrem Schoß und bedeckte sie mit seinen. In ihrem Gesicht suchte er nach der Verachtung, die gewiss bald kommen würde. „Ich entschied, es wäre das Beste für sie, wenn ich sie heiraten würde. Wenn ich sie zu meiner Braut machte, im Schloss behielt und versuchte, das Unrecht wiedergutzumachen, das ihr angetan worden war, indem ich meinen Reichtum und meinen Namen mit ihr teilte.“

Rhiannon blinzelte. „Hast du … hast du sie geliebt?“

„Liebe ist ein Gefühl, zu dem ich nicht fähig bin, Rhiannon. Schon damals nicht. Und seither auch nicht. Empfindet ein Tier Liebe?“

Sie machte den Mund auf und biss sich auf die Lippen. „Was hat sie zu deinem Antrag gesagt?“

„Es war kein Antrag. Es war ein Befehl. Sie konnte mich heiraten oder für immer in den Kerker zurückkehren.“

Sie sah ihm unverwandt in die Augen. „Wofür hat sie sich entschieden?“

„Für keins von beidem. Sie hat sich vom Turm gestürzt.“

„Oh Gott.“ Rhiannon machte die Augen zu; er sah, wie Tränen unter den dichten Wimpern hervorquollen.

„So, jetzt weißt du es.“ Er ließ das Kinn auf die Brust sinken. Eine Sekunde später spürte er, wie sie ihm mit den Fingern durch das Haar strich. Ihn erstaunte, dass sie es überhaupt noch über sich brachte, ihn zu berühren. Dass sie es obendrein so zärtlich tat, entzog sich seinem Verständnis völlig.

Er hob den Kopf und sah ihr in die feuchten Augen. „Ich schwöre, ich wollte dir nicht wehtun, Rhiannon. Ich habe einfach die Beherrschung verloren. Ich habe meiner brutalen Seite, die mein wahres Ich ist, freien Lauf gelassen. Das bedaure ich mehr, als du dir je vorstellen kannst.“

„Ich weiß. Wie ich weiß, dass du den Tod dieses Mädchens bedauert hast und wahrscheinlich die Toten aller Kämpfe, die du seither bestehen musstest.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich wurde ein Söldner, ein gedungener Krieger. Ich ließ das Schloss in der Obhut von Verwaltern zurück. Ich konnte es nicht ertragen, dort zu bleiben, wo die Fehler meiner Vergangenheit mich auf Schritt und Tritt verfolgten.“

„Ah, aber jetzt veränderst du die Geschichte, Roland. Denn ich kannte dich lange, bevor du mich kanntest. Der galante Ritter, der für Geld kämpfte, doch stets aufseiten der Schwachen und stets aufseiten der Gerechten. Ich wusste, dass du einer der Auserwählten warst, Roland. Ich war fasziniert von dir.“

Er runzelte die Stirn, da er ihr nicht glaubte.

„Es stimmt“, sagte sie. „Das war natürlich Jahre nach deinem Ritterschlag, und ich wusste nichts von den Schrecken deiner Jugend. Ich habe Geschichten über deine Tapferkeit gehört und dich gesucht. Dir und deinen Männern folgte ich einige Zeit. Gott, was in mir vorging, wenn ich sah, wie du sie befehligt hast, auf deinem prächtigen schwarzen Schlachtross mit Augen, die zu glühen schienen. Dich im Kampf zu sehen, das war noch schlimmer. Die glänzende Rüstung, die Kraft, mit der du das Schwert geführt hast, deine Furchtlosigkeit.“

„Du hast mich kämpfen sehen?“

Sie nickte. „In der Schlacht bei Lothringen, um Mitternacht, um die entführte Lady la Claire zu befreien. Und in der Normandie, als du den Verwundeten, Freund und Feind gleichermaßen, geholfen hast, das Schlachtfeld zu verlassen. Darum weiß ich, dass du deine Kampfeslust übertreibst.“

Er sah sie voller Erstaunen an. „Warum hast du mir das nie erzählt?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte Angst, du würdest mich auslachen. Eine unsterbliche Vampirin, die sich in einen Mann verknallt, den sie nie kennengelernt hat. Aber so war es, weißt du. Ich wollte schon damals zu dir kommen. Noch nie hatte ich einen so starken und so tapferen Mann gesehen. Ich war fasziniert von dir, Roland. Dann hast du von Bryan gehört, Gareths jüngstem Sohn, das Baby, das du vor dem Wolf gerettet hattest, inzwischen ein erwachsener Mann. Er war in Not, und du bist sofort aufgebrochen, um ihn zu unterstützen.“

Roland nickte. „Ja. Seine Burg wurde belagert, und er konnte den Angreifern nicht mehr lange standhalten. Einem Boten gelang die Flucht, er benachrichtigte mich.“

„Und du bist hingeritten, obwohl deine Männer zahlenmäßig unterlegen und noch erschöpft vom letzten Scharmützel waren, mit wenig Vorräten und teils defekten Waffen. Und nachts, sodass ich dir folgen und dich beobachten konnte.“

Er nickte. „Auf einen von uns kamen zehn Gegner“, sagte er und erinnerte sich an seinen Schock, als er sie im Schutz des Waldes gesehen hatte.

„Und du hast sie dennoch angegriffen, aber erst nachdem du jeden aus deiner Armee hast ziehen lassen, der wollte. Soweit ich mich erinnern kann, waren das die wenigsten. Das war die erbittertste Schlacht, die ich je gesehen habe, Roland. Ich hatte schreckliche Angst um dich. Du hast die Angreifer in die Flucht schlagen können, wurdest aber am Ende zu Fall gebracht. Ich fand dich dem Tode nahe am Boden liegend. Erinnerst du dich noch?“

Er nickte, da er sich deutlich erinnerte, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Eine geheimnisvolle, durch und durch mysteriöse Frau im wallenden schwarzen Gewand, die sich über ihn beugte und flüsterte, dass er überleben, dass sie ihn nicht sterben lassen würde. Er erinnerte sich, wie ihre Tränen ihm ins Gesicht fielen und die warme Feuchtigkeit ihn die Schmerzen vergessen ließ.

„Natürlich erinnere ich mich. Ich lag im Sterben. Und dann hast du mich verwandelt.“

„Wohl wissend, dass du der Gabe würdig sein würdest. Möglicherweise würdiger als jeder andere von uns. Und doch trauerst du eine Ewigkeit über die Fehler der Vergangenheit und verurteilst dich selbst wegen deines leidenschaftlichen Naturells.“

Roland stand auf und schaute zu den Sternen. „Du nennst es Leidenschaft. Ich nenne es das Böse.“

Sie sprang auf und war an seiner Seite, ehe er richtig mitbekam, dass sie sich bewegt hatte. Diese Begabung besaß sie, sich lautlos zu bewegen, als würde sie schweben. Sie stand vor ihm und nahm sein Gesicht zwischen die zarten Handflächen. Dann zog sie ihn herunter, dass sie ihm in die Augen sah und nicht mehr zum Sternenhimmel. Sie hatte, dachte er, die bezauberndsten, die klarsten Augen, die er je gesehen hatte.

„Es wird Zeit, dass du die Vergangenheit sterben lässt.“

Er spürte, wie sich ihm das Herz in der Brust zusammenschnürte. „Das kann ich nicht.“

„Doch, du kannst. Es gibt so viel für dich, hier, in der Gegenwart. So vieles, das du dir vorenthältst. So vieles, das du nehmen und genießen könntest …“

„Da gibt es nichts, Rhiannon.“

„Du hast Jamey.“

Er stieß einen abgehackten Stoßseufzer aus, doch der Schmerz in seinem Innern wurde nur noch schlimmer. „Ja, ich habe Jamey. Über ihn habe ich in den vergangenen Tagen eine Menge nachgedacht.“

Sie nahm die Hände von seinem Gesicht und legte sie auf seine Schultern.

„Ich glaube allmählich, du hast recht. Der Junge ist bei seinem leiblichen Vater vermutlich besser aufgehoben. Er braucht ein normales Leben, keines, das von Gefahren und unsterblichen Wesen bestimmt wird. Er sollte in einem Vorstadthaus wohnen, nicht in einer Ruine.“

Sie sog nachdenklich die Luft ein. „Du müsstest dennoch auf ihn aufpassen, selbst wenn du seinen Vater findest. Und es besteht immer die Möglichkeit …“ Sie biss sich auf die Lippen und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Roland spürte ihren inneren Schmerz und wunderte sich darüber. „Die Möglichkeit, dass sein Vater ihn nicht will“, sprach sie zu Ende. Sie ließ die Hände an die Seiten sinken und wich seinem Blick aus.

„Rhiannon, was …“

„Aber auch ohne den Jungen hast du Freunde. Eric und Tamara vergöttern dich, Roland.“

„Sie haben einander.“ Er schüttelte den Kopf. Er konnte ihr nicht sagen, wie schrecklich einsam er sich fühlte, wenn er Zeuge ihrer Zweisamkeit wurde. Es führte ihm seine eigene Vereinsamung nur noch deutlicher vor Augen.

„Und was ist mit mir?“ Sie wandte sich ihm wieder zu und hielt seine Hände. „Sag mir nicht, dass du beim Liebesakt mit mir deinen Schmerz nicht vergessen hast. Sag nicht, dass du nicht dieselbe Lust, am Leben zu sein, empfunden hast, die du mir verschaffen konntest.“

Er schloss die Augen. „Das war kein Liebesakt. Ich habe dich angegriffen.“

Sie zog seine Hände zu sich und legte sie um ihre Taille. Dort ließ sie sie, schlang ihm die Arme um den Hals und zog seinen Körper an sich. „Dann machst du es vielleicht beim nächsten Mal richtig.“

Er stieß sie nicht weg. Das konnte er nicht. Als er in die unendlichen Tiefen ihrer Augen sah, brachte er es einfach nicht fertig. „Es darf kein nächstes Mal geben, Rhiannon.“

„Doch. Es muss eines geben.“ Sie presste die Lippen auf seine, teilte sie, schob ihm die Zunge in den Mund.

Er gab sie frei und wandte sich ab. „Nein.“

„Aber Roland, ich …“

„Nein, Rhiannon. Du begreifst es immer noch nicht, oder?“ Er fuhr ihr mit den Händen grob durch das Haar. „So vieles in dir erinnert mich daran, wie ich einst war. Die Impulsivität, die Leidenschaft, die Art, wie du der Gefahr ins Gesicht lachst. Verdammt, Rhiannon, nie fällt es mir so schwer, mein Naturell unter Kontrolle zu halten, als in deiner Gegenwart. Allein deine Anwesenheit weckt Eigenschaften in meiner Seele, die ich ständig zu unterdrücken versuche.“

Sie sagte nichts. Er brachte es nicht fertig, sie anzusehen. Ihr Anblick würde ihn nur wieder verlocken, die Bestie zu befreien. Es war ironisch, dass er das, was er sich am meisten auf der Welt wünschte, nicht haben konnte. Fast schien es, als würden die Götter ihn verspotten, indem sie seine Beute vor seiner Nase baumeln ließen, nur damit er für seine Sünden büßte. „Rhiannon, manchmal glaube ich, dass du meine Strafe bist. Mein Fluch.“

Er drehte sich um und erstarrte. Einen solchen Schmerz hatte er noch nie in ihren Augen gesehen. Und doch blieben sie trocken. Groß, verletzt und vollkommen trocken. Sie wandte sich ohne ein Wort ab und ging durch das schmiedeeiserne Tor hinaus. Doch ihr schneller Schritt wurde langsamer, als Eric draußen wie ein Gespenst aus dem Nebel auftauchte.

„Rhiannon, Gott sei Dank habe ich dich gefunden. Ist Roland …“

„Hier, Eric“, rief Roland. Er kam näher und betrachtete Rhiannons betroffenes Gesicht. Er hatte ihr wieder wehgetan. Diesmal sogar sehr. Er spürte es so sicher wie den feuchten Wind vom Fluss im Gesicht und hatte keine Ahnung, wie er es wiedergutmachen sollte und ob er das überhaupt konnte.

„Entschuldigt mich“, sagte sie und lief stolpernd in den dichteren Teil des Waldes.

Roland wollte ihr folgen, doch Eric legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihn auf. In der Ferne hörte er, wie sich Rhiannon würgend übergab. Er schüttelte Erics Hand ab und wollte ihr wieder folgen.

„Verdammt, Roland, hör mir zu. Jamey ist fort.“

Roland blieb auf dem dunklen Trampelpfad stehen; Nebel wallte um seine Beine, klamme Luft vom Fluss strömte ihm in die Lungen. Eine eiskalte Hand schloss sich um das Herz in seiner Brust. Er drehte sich um. „Fort? Was meinst du damit?“

„Er ist gegangen. Weggelaufen.“ Eric griff in seine Tasche und drückte Roland ein zusammengelegtes Stück Papier in die Hand. „Das haben wir in seinem Zimmer gefunden.“

Roland sah wieder in die Richtung, in die Rhiannon gegangen war. Jetzt hörte er nichts mehr. Mit suchenden Fingern tastete er nach ihrem Verstand, doch sie schirmte ihn ab.

„Ich gehe“, sagte Eric leise. „Aber lies den verdammten Brief, und dann treffen wir uns im Schloss wieder.“

Roland sah ihm nach, dann strich er das Blatt Papier mit zitternden Händen glatt und las:

Liebe Tamara,

ich muss gehen. Bitte versucht nicht, mich zu finden. Ich bin jetzt ein Mann und kann selbst auf mich aufpassen. Aber solange ich bei Roland bin, glaubt er, er müsste mich beschützen. Jetzt wiederholt sich alles. Curtis ist wieder da. Das DPI macht alle wahnsinnig, und das nur wegen mir. Es war meine Schuld, dass Rhiannon nach dem Spiel mit dem Messer angegriffen wurde. Und ich weiß, es war meine Schuld, dass sie gestern Nacht wieder verletzt wurde. Ich habe Dich und Eric reden hören. Ich weiß nicht, was passiert ist, nur dass Roland ihr irgendwie wehgetan hat und es an der dummen Droge liegt, die er genommen hat, damit er wach bleibt. Ohne mich hätte er sie nicht genommen. Und er hätte sie nicht nehmen sollen. Selbst ich habe Verstand genug, mich nicht auf Drogen einzulassen.

Sagt Eric, er soll von den Chemikalien lassen. Ständig versucht er zu ändern, was er ist, was Ihr alle seid. Sagt ihm, ich finde, Ihr seid so perfekt, wie man es sich nur vorstellen kann. Besser als alle normalen Menschen, die ich kenne, meine Mom ausgenommen.

Macht Euch keine Sorgen, dass mich die DPI-Leute erwischen könnten. Ich bin nicht dumm. Ich kann vorsichtig sein. Ich schreibe, wenn ich herausgefunden habe, wo ich bleiben und mein Leben wieder auf die Reihe kriegen möchte, damit Ihr wisst, dass es mir gut geht.

Ich habe Euch alle wirklich sehr lieb. Alle, aber besonders Dich, Tam. Du warst wie eine ältere Schwester für mich. Ich werde Dich vermissen, aber ich muss das tun. Versuch bitte, es zu verstehen.

Alles Liebe,

Jamey

Roland schloss langsam die Augen und zerknüllte das Blatt Papier in der Faust. „Verdammt.“

Sie erstarrte, als sie die Schritte hörte, aber es war nur Eric. Sie schluckte die bittere Galle in ihrem Hals und formte ihr Gesicht zu einer emotionslosen Maske. Nicht um alles in der Welt würde sie Eric sehen lassen, dass ihr das Herz gebrochen worden war. Er würde es nur Roland sagen. Lieber würde sie sterben, als ihn sehen lassen, wie sehr er sie gekränkt hatte.

Sein Fluch. Vielleicht hatte er damit ja recht. Sie war ihres Vaters Fluch gewesen und jetzt Rolands. Von den beiden einzigen Männern auf der Welt abgelehnt, deren Anerkennung sie gewollt hatte. Von den beiden einzigen Männern verstoßen, die sie je geliebt hatte.

Geliebt?

Pah, sie liebte Roland nicht. Sie war nicht töricht genug, sich gefühlsmäßig einzulassen, wo es doch um eine rein körperliche Anziehung ging. Sie hatte einmal und nur einmal geliebt. Sie hatte ihren Vater geliebt, und dessen Zurückweisung hatte sie gelehrt, nie wieder zu lieben.

Als Eric hastig näher kam, schaute sie auf. Sie wartete, bis er bei ihr war.

„Bist du wohlauf?“

Sie hob die Hände und sah an sich hinab. „Sieht ganz so aus, oder nicht?“

„Dir war schlecht. Ich habe es gehört …“

„Trockenes Würgen. Eine Reaktion auf zu viel Anstrengung nach allem … nach allem, was passiert ist. Mehr nicht, das versichere ich dir.“

Er kniff die Augen zusammen, und da wusste sie, dass er ihr nicht glaubte. Sie rechnete ihm hoch an, dass er nicht weiterbohrte.

„Los, sag mir, was passiert ist. Du bist doch nicht in den Wald gerannt, um dich nach meinem Befinden zu erkundigen.“

„Nein, das nicht. Aber vielleicht hätte ich das tun sollen.“ Er nahm ihre Hände und betrachtete ihr Gesicht mit besorgten Blicken. „Komm mit mir. Ich erkläre dir unterwegs alles.“

Das tat er, und als sie den großen Saal betraten, wusste Rhiannon, wie ernst die Lage war. So entschlossen Jamey auch sein mochte, es würde ihm unmöglich gelingen, das DPI an der Nase herumzuführen oder ihm zu entkommen. Ihre Sorge um Jamey wirkte als Puffer gegen Rolands Geringschätzung. Sie hatte etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte.

Tamara ging mit tränenfeuchtem Gesicht und blutunterlaufenen Augen auf und ab. Als sie eintraten, wirbelte sie zur Tür herum. Ihre Enttäuschung, als sie sah, dass es sich nicht um den Jungen handelte, war herzzerreißend.

Frederick saß auf dem Boden und hatte die Knie, so fest er konnte, an die breite Brust gezogen. Er sah aus, als hätte er ebenfalls geweint.

Rhiannon ging zu Tamara und nahm die zierliche Frau in die Arme. „Du musst nicht so traurig sein, Grünschnabel. Wir finden die kleine Ratte im Handumdrehen.“

„Wie? Wir wissen nicht einmal, wo wir anfangen sollen.“

„Ihre Katze ist auch weg“, stöhnte Frederick auf. „Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen. Es ist alles meine Schuld. Wenn diese bösen Männer Jamey jetzt in die Finger bekommen? Was werden sie ihm antun?“

„Keine bösen Männer werden Jamey bekommen“, wandte Eric ein.

Tamara schniefte und richtete sich auf. „Es ist nicht deine Schuld, Frederick. Wir sollten alle auf ihn aufpassen. Jamey ist zu klug für uns, das ist alles.“

„Ich bin dumm“, meinte Frederick leise. „Wenn ich nicht so dumm wäre …“

Rhiannon ging zu ihm, bückte sich und zog ihn auf die Füße. „Freddy, du bist weder jetzt dumm, noch bist du es je gewesen. So einen Unsinn möchte ich nicht noch einmal von dir hören. Jamey ist uns allen entwischt. Findest du, dass wir dumm sind?“

Er schüttelte den Kopf.

„Da hast du recht. Das sind wir nicht. Und du auch nicht. Jetzt aber …“ Sie drehte sich langsam um und wandte sich an alle. „Genug geweint und geklagt. Ich ertrage das nicht. Ihr vergesst alle das Wichtigste.“

„Und das wäre?“ Das kam von Roland. Er stand dicht bei der Tür. Sie hatte ihn nicht eintreten hören; jetzt sah er ihr in die Augen, doch sein Blick drückte keine harte Verachtung aus, sondern eine verzweifelte Bitte um Hilfe.

„Wer ich bin“, sagte sie mit einer leisen Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, aber dennoch so klar und deutlich wie Glockenläuten. „Rhianikki, Tochter des Pharaos, Prinzessin von Ägypten. Ich war eine Priesterin der Isis, habe die Worte von Osiris studiert. Ich spürte den heißen Sand Ägyptens unter den Füßen, als die Pyramiden noch neu waren. In meiner Seele besitze ich die Weisheit der Jahrhunderte, Jungvolk, und es gibt nichts, nichts, das ich nicht vollbringen könnte.“

Sie beobachtete Rolands Reaktion auf ihre Rede und rechnete damit, die altbekannte Skepsis zu sehen. Doch sie glaubte, dass sie Erleichterung sah.

Und ohne jeden Zweifel sah sie Hoffnung in Tamaras runden Augen. „Was sollen wir tun, Rhiannon?“

„Nicht wir, Tamara. Du. Du stehst Jamey am nächsten. Zwischen euch beiden hat schon ein enges Band gestanden, bevor Eric dich verwandelt hat, oder nicht?“

„Ja, aber …“

„Kein Aber. Du musst dich nur auf den Jungen konzentrieren. Such ihn mit deinem Geist.“

Tamara schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht. Ich spüre ihn nur, wenn er versucht, mich zu erreichen – oder wenn er Schwierigkeiten hat.“

„Du kannst es. Du brauchst nur die Kraft deines Geistes. Ich weise dir den Weg, Tamara.“ Rhiannon wandte sich an Roland. „Wir brauchen ein ruhiges Zimmer. Wo uns keine anderen Auren stören können.“

Roland runzelte die Stirn. „Die Räume im dritten Stock hat seit Jahrhunderten keiner mehr benutzt.“

Sie nickte und wandte sich an Frederick, der unbedingt eine Beschäftigung brauchte. „Freddy, in Rolands Gemach findest du in der kleinen Kommode neben dem Bett zwei spezielle Kerzen und ein Päckchen Weihrauch in einem silbernen Kelch. Würdest du mir das bitte holen?“

Frederick entfernte sich hinkend, um ihrem Wunsch zu entsprechen. Eric verzog das Gesicht. „Weihrauch und Kerzen? Was ist das für ein Unsinn? Wir sollten nach dem Jungen suchen gehen.“

„Jederzeit gern, Eric. Du kannst nach Herzenslust suchen. Aber du vergeudest deine Zeit. Wir müssen wissen, wo er ist.“

Eric schüttelte den Kopf. „Nimm es nicht persönlich, Rhiannon. Ich bin ein Mann, der an die Wissenschaft glaubt, nicht an Hokuspokus.“

„Wenn du noch ein Mensch wärst, würdest du zweifellos auch nicht an die Existenz einer Rasse unsterblicher Blutsauger glauben“, konterte sie.

Er sah zu Boden.

„Eric, hör auf sie“, beschwor ihn Tamara leise. Sie wandte sich von ihm ab. „Ich vertraue dir, Rhiannon. Sag mir nur, was ich tun muss.“

Eric hob die Hände in die Luft und wandte sich an Roland.

„Hast du vor, dir das alles schweigend anzusehen?“

Roland zuckte mit den Schultern. „Wenn du keinen besseren Vorschlag hast oder eine Idee, wo wir mit der Suche beginnen sollten …“

Frederick kam mit den Kerzen und dem Weihrauch zurück. Rhiannon nahm sie und führte Tamara die Steintreppe hinauf, Roland und Eric folgten. Im dritten Stock ging sie an mehreren verfallenen Türen vorbei, ehe sie vor einer stehen blieb. Sie verweilte einen Moment, dann nickte sie. „Die hier.“

„Warum?“ Roland sah sie durchdringend an.

„Einwände?“

Sie sah ihn einen Moment an, während er um eine Entscheidung rang. Warum, wusste sie nicht und redete sich ein, dass es ihr auch einerlei wäre. Er hatte ihr klipp und klar gesagt, was er für sie empfand. Um seine Gefühle wollte sie sich keine Gedanken mehr machen. Ihr einziges Ziel war es, den Jungen zu finden. Dann würde sie fortgehen und nie wiederkommen.

Schließlich seufzte Roland und nickte knapp. „Geh.“

Sie stieß die Tür auf und trat ein, dicht gefolgt von Tamara. Einen Moment verweilte sie in der Dunkelheit und sondierte den Raum mit ihren übernatürlichen Sinnen. Die Außenmauer folgte der Rundung des Turms, aber die drei anderen waren gerade. Zwei Fenster an der runden Außenmauer. Schmale Scharten, außen noch schmaler als innen, und ohne Scheiben, die den Nachtwind abgehalten hätten, der hereinwehte. Zwei Bänke aus dem Stein der Burg, die einander gegenüberstanden, befanden sich unter den Fenstern. Uralte Teppiche bedeckten den Boden, so trocken wie ausgedörrte Kadaver, und knisterten unter Rhiannons Füßen. Die Gobelins, einst brillante Kunstwerke, hingen in Fetzen an den Wänden.

Rhiannon wandte sich an Roland und Eric. „Es wäre besser, wenn ihr zwei unten warten würdet.“

„Und lassen Tamara allein mit dir, damit sie Zauberinnenspielchen spielen kann? Auf keinen Fall, Rhiannon. Ich bleibe.“ Eric betrat das Zimmer, lehnte sich mit dem Rücken an eine Steinmauer und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Eric …“

„Schon gut, Tamara“, meinte Rhiannon. „Ich bin daran gewöhnt, dass mir Männer misstrauen.“

„Das ist nicht …“

Sie unterband Erics Einwände mit einem Blick. „Wenn du unbedingt bleiben musst, brauche ich deine Unterstützung. Du musst vollkommen still und reglos bleiben, und du musst deinen Geist vor uns abschirmen, so gut es geht. Einverstanden?“

„Prima.“

Sie sah kurz zu Roland, obwohl selbst dieser knappe Blick sie mit so intensivem Schmerz erfüllte, dass sie ihn kaum verbergen konnte. „Du merkst gar nicht, dass ich hier bin“, versprach er ihr.

Oh doch, das würde sie.

Sie ging in die Mitte des Zimmers, kniete nieder und wartete, bis Tamara zu ihr kam. „Ich möchte, dass du dich hinlegst“, bat sie, während sie die Kerzen aufstellte und etwas Weihrauch in den Kelch füllte.

„Ich habe Streichhölzer“, bot Roland an.

„Still.“ Rhiannons Flüstern duldete überhaupt keinen Widerspruch; Roland sagte nichts mehr.

Rhiannon streckte sich auf den brüchigen Teppichen aus und legte sich auf den Rücken. Rechts, nahe ihrer Schulter, aber dennoch in sicherer Entfernung, stand eine blutrote Kerze, an ihrer Taille der silberne Kelch mit getrocknetem Weihrauch, nahe ihrer Hüfte die zweite Kerze. Jenseits dieser drei Gegenstände lag die reglose Tamara.

Rhiannon schloss die Augen. „Entspann dich, Tamara. Mach die Augen zu. Verdränge alle Ängste und Sorgen aus deinem Geist. Spüre, wie der Steinboden unter deinem Rücken weicher wird. Atme langsam und tief durch. Gut so. Halte den Atem einen Moment in der Lunge. Zieh alle Nahrung aus der Luft, ehe du sie wieder entweichen lässt. Langsam … langsam. Ja, komplett. Jedes Quäntchen, bis deine Lungen vollkommen leer sind. Jetzt warte … warte … und atme wieder ein. Füll deine Lungen, bis sie platzen, aber langsam. Ja.“

Sie sprach mit leiser, hypnotischer Stimme. „Mit jedem deiner Atemzüge wird der Boden weicher. Spürst du es? Jetzt ist er wie Daunen. Du spürst, wie du darin einsinkst, nicht?“

„Ja.“

„Gut. Und jetzt mach genauso weiter. Ich ebenfalls. Du spürst es, wenn dein Geist frei schwebt, Tamara. Und dann streckst du deine Fühler nach Jamey aus. Denk an ihn. Stell ihn dir vor. Beschwöre die Erinnerung an seinen Geruch herauf. Konzentriere dich auf jede einzelne Locke seines Haars, an sein Lachen, seine warme Berührung. Auf diese Weise findest du ihn.“

Dann begann Rhiannon selbst mit der rituellen Atmung. Sie entspannte sich und sank in den Abgrund ihrer eigenen Psyche hinein. Sie würde sich auf Pandora konzentrieren und hoffen, dass sie durch die Raubkatze einen Hinweis bekam.

Roland stand neben Eric, lehnte sich an die Wand und beobachtete das bizarre Ritual. Sicher, er hatte Rhiannon eine Chance geben wollen, zumal er kaum wagte, ihr zu widersprechen. Er schien sie jedes Mal zu kränken, wenn er mit ihr redete. Warum nur?, fragte er sich. Warum tat er ihr immer so weh? Absichtlich gewiss nicht. Weiß Gott, das hatte sie nicht verdient. Er hatte Rhiannon in sein schrecklichstes Geheimnis eingeweiht und war sich sicher gewesen, dass sie ihn danach hassen und fürchten würde. Stattdessen hatte sie ihn getröstet. Verdammt, sie hatte sogar Tränen für ihn vergossen! Und als Dank hatte er sie verletzt.

Seit sie ihm auf dem cimetière den Rücken zugewandt hatte, hatte sie ihm so gut wie gar nicht mehr in die Augen gesehen. Er bedauerte, dass er ihr so viel Schmerz zugefügt hatte. Aber wenigstens schienen ihre Gefühle für ihn jetzt deutlich abgekühlt zu sein. Sie mussten auf Distanz zueinander bleiben, andernfalls würde einer von ihnen irreparablen Schaden nehmen. Und wenn er ihren schlanken Körper betrachtete, der entspannt und in einem tranceähnlichen Zustand auf den Teppichen des Bodens lag, wusste er ziemlich genau, dass er es nicht sein würde.

Aber je mehr Zeit verstrich, desto größere Zweifel an ihr kamen selbst Roland. Warum veranstaltete sie solch eine Hexerei? Wie sollten sie Jamey helfen, wenn sie auf uralten Teppichen herumlagen?

Er brannte darauf, sich auf den Weg zu machen und den Jungen zu suchen, und fürchtete, das DPI könnte ihm zuvorkommen. Plötzlich loderten mit einem leisen Zischen Flammen von den Kerzen empor, die zwischen den beiden Frauen standen. Einen Moment später begann der Weihrauch im Kelch zu glimmen und ließ eine hellgraue Spirale duftenden Rauchs in die Höhe steigen.