Keith

3. KAPITEL

Drei Nächte lang streifte ich allein umher. Versteckte mich an den schmutzigsten, verderbtesten Orten der Stadt, in der Gewissheit, nichts Besseres verdient zu haben. Immerhin war ich jetzt eine schmutzige, schändliche Kreatur, oder nicht? Von einem Monster überfallen und in seinesgleichen verwandelt.

Und ich wusste, es war meine Schuld. Denn es gab einen Augenblick, eine kurze Schnittstelle in der Zeit vor dem Biss, da hätte ich Nein sagen können. Ich hätte Tod und Erlösung dem Leben vorziehen können – ewigem Leben und Verdammnis. Ich hätte nicht trinken müssen, als er mein Gesicht an seinen Hals presste. Ich hätte nicht trinken müssen. Aber ich trank. Ich trank. Der übermächtige Wunsch, nicht zu sterben, beherrschte mich ganz. Ich wollte leben! Und so trank ich.

Gott hatte mich auf die Probe gestellt, bevor ich mein Leben ihm widmete. Zweifellos hatte er meine Zweifel gespürt. Meinen wankenden Glauben. Und ich bestand die Prüfung nicht. Versagte jämmerlich.

Aber eines wollte, konnte ich nicht. Nämlich dieses „Leben“ verlängern, indem ich mich von den Sterblichen ernährte. Den Unschuldigen. Den Lämmern Gottes, die selbst jetzt noch in Scharen draußen vorbeigingen. Und mich, die Wölfin, gelüstete nach ihnen. Gott, wie der Hunger in mir brannte! Ich wand mich förmlich in Krämpfen. Wenn einer an meiner Hütte vorbeiging und der Wind zunahm, witterte ich den Geruch des Blutes, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Tränen traten mir in die Augen. Meine Haut kribbelte, meine Nerven reagierten, spielten verrückt und schrien dann vor Verlangen. Jede Faser in mir wollte sich einen von ihnen holen, wie ich es bei dem Monster gesehen hatte. Ich wollte ihnen an den Hals und ihre salzige Haut mit den Lippen kosten. Meine neuen langen, messerscharfen Eckzähne tief in sie schlagen und trinken.

Etwas, ein kleiner Teil der Person, die ich einmal gewesen war, existierte noch in mir, und an diesen Teil klammerte ich mich und stärkte mit ihm meinen Widerstand.

Mit diesem Teil … und dem Kruzifix, das ich um den Hals trug. Das Symbol für alles, woran ich glaubte. Ich strich mit den Fingern über das glatte Holz und betrachtete den verzerrten Gesichtsausdruck Christi, der so winzig war, dass ich ihn vorher gar nicht gesehen hatte. Das alles hielt mich aufrecht. Es bewahrte mich aber nicht vor geistiger Verwirrung. Ich glaube, in jener Nacht war ich dem Wahnsinn sehr nahe, wie ein tollwütiger Hund beim Anblick von Wasser.

Und dann kam er.

Ich roch ihn, wie die anderen. Nein. Nein, das stimmt nicht ganz. Es verhielt sich etwas anders. Seine Witterung schien mir kräftiger als die der anderen. Er betörte meine Sinne noch viel mehr als die anderen, sodass ich mich in einer Ecke zusammenkrümmte, die Knie an die Brust zog, das Gesicht an den Beinen verbarg und betete, dass er vorübergehen würde. Schnell, bevor sein verlockender Duft mich vollends um den Verstand brachte.

Er ging natürlich nicht weiter. Sein Geruch wurde mit jeder Sekunde stärker und köstlicher. Und dann hörte ich ein Geräusch. Leise – seine Schritte, als er auf dem mit Abfall übersäten Boden näher kam. Ich hob den Kopf, und da stand er, sein Atem kondensierte in der Dunkelheit zu kleinen Wölkchen. Er sah mich an, als hätte er nie einen jämmerlicheren Anblick als mich da mitten im Unrat gesehen. Und ich wollte ihn anschreien. Geh weg! Siehst du nicht, was ich bin? Spürst du die Gefahr nicht, in der du schwebst?

„Haben Sie keine Angst“, sprach er mich an. Ich wollte den Kopf heben und brüllend loslachen, hatte jedoch nicht die Kraft dazu. Dieser Mann, dieser unschuldige, sterbliche Mann sagte mir, ich solle keine Angst vor ihm haben. Wie absurd!

Aber ich lachte nicht. Ich gab keinen Laut von mir, sondern blieb einfach hocken und sah ihn an. Er war wunderschön. Ich sah alles an ihm detaillierter als zu meiner Zeit als Sterbliche. Selbst in der Finsternis des Abrisshauses sah ich ihn deutlich. Denn mittlerweile sah ich ausgezeichnet in der Dunkelheit. Seine Augen – nicht schwarz wie Kohlen, aber dunkel, samtbraun. Mit schwarzen Streifen, wellenförmigen schwarzen Streifen um die Pupillen herum wie Sonnenstrahlen.

Er war wie die Sonne … die Sonne, die ich nie wieder sehen würde.

Das dichte Haar trug er lang. Selbst auf die Entfernung sah ich, wie kräftig und glänzend es aussah. Bestimmt fühlte sie sich wie Seide an, diese lockige, widerborstige Haarpracht. Seine Haut sah nicht leichenblass und krank aus wie meine, sondern bronzefarben, als hätte er seinen Körper nur für mich in Honig getaucht.

Ich leckte mir die Lippen und betrachtete starr den Streifen entblößter Haut an seinem muskulösen Hals. Und dann senkte ich den Blick und schloss die Augen. Ich wollte ihn. Ich wollte sein Blut und seinen Körper. Ich, eine Jungfrau, die ihr Leben Jesus Christus weihen und keusch bis in den Tod sein wollte. Ich begehrte ihn so sehr, dass meine Fleischeslust mich schockierte. Handelte es sich ebenfalls um einen Aspekt meines neuen Charakters? Sollte ich nicht nur eine Dämonin und Mörderin, sondern dazu noch eine Hure geworden sein?

„Gehen Sie doch weg“, krächzte ich. „Sie sind hier nicht sicher.“

Aber der Mann kam näher, ragte über mir auf, machte mir Angst, bis mir einfiel, dass ich stärker war als er. Trotz seiner Größe – und er war ein kräftiger Mann, breitschultrig und sehr groß – hatte ich eigentlich nichts zu befürchten.

Er beugte sich über mich, blickte auf mich herab, und in seinen braunen Tigeraugen las ich nicht Ekel, sondern Mitleid. „Sie sind am Verhungern, nicht?“

Ja, ich war am Verhungern. Und jetzt hörte ich den starken, konstanten Rhythmus seines Herzschlags. Den rauschenden Strom des Blutes, das durch seine Adern floss. Ich hörte alles!

„Bitte!“, rief ich und vergrub mein Gesicht in den Händen. „Gehen Sie weg! Ich ertrage das nicht!“

Stattdessen strich er mir mit den Händen das Haar aus dem Gesicht. Er hielt mein Kinn und hob meinen Kopf, bis ich wieder zu ihm aufschaute. Ich fühlte die Wärme seiner Haut. Jede Linie seiner Handfläche spürte ich. „Sie sind gerade flügge geworden, was?“

Ich hatte unterdessen die Stelle gefunden, wo sein Puls am Hals schlug, und konnte den Blick um nichts auf der Welt wieder abwenden.

„Ich kann Ihnen helfen“, sagte er zu mir. „Alles wird gut, Sie werden schon sehen.“

„Bitte gehen Sie …“ Aber meiner Stimme fehlte es an Überzeugungskraft, denn ich stellte mir schon vor, wie er schmecken würde. Mein Mund auf seiner Haut. Der warme Blutstrom, wenn ich …

„Ich kann nicht einfach fortgehen und Sie hier zurücklassen. Sie leiden, das sehe ich.“

Ich stöhnte, während mir Tränen über die Wangen liefen. Mein ganzer Körper wurde von einem Schluchzen geschüttelt. Ich wollte ihn mehr als meinen nächsten Atemzug. Und doch konnte ich nicht. Wie auch? Er hatte nichts Unrechtes getan. Versuchte sogar, mir zu helfen.

Doch mein Schluchzen entpuppte sich als falsche Vorgehensweise, denn der große, wunderschöne Narr legte die kräftigen Arme um mich, sodass ich jede Wölbung der straffen Muskeln unter seiner Kleidung spürte. Er zog mich an sich, hielt mich sanft, wiegte mich ein wenig. „Psst“, flüsterte er dabei, „alles wird gut. Ich habe Freunde, die wie du sind. Sie können dir helfen. Ich rede mit ihnen. Alles wird gut.“

So redete er unaufhörlich weiter und strich mir dabei über Haar und Rücken. Ich hatte keine Ahnung, warum. Aber seine Bewegungen machten mich rasend vor unnatürlicher Wollust. Rasend nach ihm, seinem Blut, seinem Körper. Und die beiden Begierden schienen miteinander zu verschmelzen, bis ich die Fleischeslust nicht mehr von dem unnatürlichen Hunger unterscheiden konnte. Sie wurden eins. Mein Kopf ruhte an der Beuge seines sehnigen Halses. Ich berührte mit den Lippen sogar seine warme, salzige Haut, während er mich hielt. Und das war das Ende. Ich ertrug es nicht mehr. In diesem Augenblick hatte ich rein gar nichts Menschliches mehr in mir. Ich war ein hungriges Tier und er meine Beute.

Ich schlang die Arme um diesen wunderschönen Mann, öffnete den Mund und schlug meine spitzen neuen Fangzähne tief in ihn. Haut und Muskeln, dann ein Schwall, als ich die Schlagader durchbohrte. Er stöhnte. Wehrte sich aber nicht sehr gegen mich. Tatsächlich beugte er sich sogar näher zu mir, hielt mich fester; ich spürte, wie er erschauerte. Er stöhnte, krallte die Finger in mein Haar und drückte die Hüften gegen mich. Ich spürte seine Erregung, den harten Umriss, der mich zwischen den Beinen anstieß, und krümmte mich ihm entgegen wie eine gewöhnliche Straßenhure.

Ich glaube, er begriff gar nicht, dass dies sein Ende sein würde. Erst als ich ihn fast leer gesaugt hatte. Da wand er sich in meinen Armen und wollte abrücken. Doch so ausgehungert, wie ich war, gelang es ihm nicht. Er konnte sich nicht befreien. Der Blutverlust schwächte ihn bereits.

„Aufhören“, hörte ich ihn dicht an meinem Ohr flüstern. „Bitte aufhören.“

Aber ich drückte ihn noch fester an mich, biss heftiger zu und saugte noch stärker. Seine Kraft strömte durch mich hindurch, füllte mich aus, wärmte mich und erfüllte mich mit pulsierendem Leben. „Verdammt … du … bringst mich um …“ Ein kaum vernehmliches Flüstern.

Diese Stimme, diese seidige Stimme, die wie Musik in meinen Ohren klang, flehte jetzt, völlig ausgelaugt, um ihr Leben. Entsetzt stieß ich ihn von mir. Dann brach er zusammen, lag wie eine leblose Puppe am Boden und sah mich mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen an. Dann fielen sie ihm zu.

„Jesus, Maria und Josef, was habe ich getan?“, flüsterte ich, wandte mich ab und wollte fliehen.

„Keine Bewegung.“

In dieser Stimme klang keine Musik mit. Keine Seide. Sie ertönte schroff und bösartig aus unmittelbarer Nähe der Tür. Eine befehlsgewohnte, herrische und bedrohliche Stimme. Ich erstarrte, und durch die Panik wurde mein ganzer Körper kalt, den ich eben noch mit dem frischen Blut meines Opfers gewärmt hatte. Der Neuankömmling sah den Mann nicht, der mir gerade zum Opfer gefallen war. Nicht von dort. Ich hoffte, er würde ihn gar nicht bemerken. Ich würde es nicht ertragen, wenn jemand erfuhr, was ich getan hatte, was aus mir geworden war.

Er kam näher und hielt eine Waffe auf mich gerichtet. Eine Art Pistole.

„Da drin ist ein Betäubungsmittel“, sagte er. „Wenn du freiwillig mitkommst, muss ich es nicht benutzen.“

Ich sah Waffe und Mann an. „Mitkommen … wohin?“, fragte ich ihn. Dann leckte ich mir die Lippen, schmeckte noch die gute Mahlzeit auf der Zunge. Sündige Gelüste erfüllten mich, als ich den Geschmack kostete.

„Du bist ziemlich jung, richtig? Wann haben diese Dreckskerle dich verwandelt?“ Plötzlich klang die Stimme voll Sympathie.

„Vor drei Nächten“, antwortete ich aufrichtig, da ich keinen Grund sah zu lügen. Der Mann leuchtete mich mit der Taschenlampe an; das Licht schien mir in die Augen, spiegelte sich funkelnd in dem Kruzifix und zeigte meine zerrissene Tracht.

„Bei Gott“, murmelte er. „Sie sind die vermisste Nonne.“

„Novizin. Keine Nonne. Noch nicht.“ Ich machte die Augen zu und wandte das Gesicht vom Licht ab. „Niemals.“

„Ich kann Ihnen helfen“, sagte er und schaltete die Taschenlampe aus, als wäre das ein Zeichen guten Willens. „Ich arbeite für das DPI – das Department for Paranormal Investigation. Das ist eine staatliche Behörde, Schwester. Wir sind Forscher und …“

„Nennen Sie mich nicht ‚Schwester‘“, sagte ich. „Nennen Sie mich nie wieder ‚Schwester‘.“

„Entschuldigen Sie. Hören Sie mir zu … begleiten Sie mich. Wir arbeiten an einem Heilmittel. Es besteht die Möglichkeit, dass wir Sie retten können.“

Ich kniff die Augen zusammen und sah ihm ins Gesicht. „Wohin?“

„Zu unserem Hauptquartier. In White Plains. Es ist nicht weit, echt nicht. Kommen Sie, begleiten Sie mich. Ich will Ihnen helfen. Sie wollen doch wieder ein Mensch werden, oder nicht?“

Ich blinzelte und betrachtete ihn. War das wirklich möglich? Konnte ich wieder sterblich werden und so meine unsterbliche Seele zurückerlangen?

Nein! Trau ihm nicht!

Ich erstarrte, als ich klar und deutlich die satingleiche Stimme in meinem Kopf hörte. Die Stimme meines Opfers. Nicht wie ein verstreuter Gedanke oder ein Tagtraum. Wirklich und wahrhaftig, schwach und atemlos, in meinem Geist. Seine Stimme. Sie war real.

Ich drehte mich um. Obwohl er die Augen kaum öffnete, sah er mich flehentlich an. Geh nicht mit ihm! Geh nicht …

Ich wandte mich ab und beachtete den sterbenden Mann nicht weiter. Auf ihn sollte ich momentan ganz sicher nicht hören. Er hatte zugegeben, dass er Freunde … wie mich hatte, wie er sich ausdrückte. Andere Vampire. Sollte ich einem Freund dieser Kreaturen vertrauen, dieser Blutsauger in Menschengestalt, dieser Raubtiere der Nacht? Nein. Ich hasste sie, alle. Und ich hasste mich, weil ich eine von ihnen war. Es sollte ein Ende haben! Ich konnte nicht als Monster weiterleben. Unmöglich.

„Ich komme mit“, sagte ich. Und der Fremde nahm meine Hand.

Närrin. Ich hörte seine Stimme weiter im Geiste, während ich mit dem Fremden ging. Allerdings zunehmend schwächer. Verräterin. Du bist eine Verräterin deiner Art. Und du verdienst, was sie dir dort antun!

Ich schloss die Augen und versuchte, seine Stimme zu verdrängen.

Ich hätte dir helfen können. Du wirst dir noch wünschen, du hättest mein Angebot angenommen, ich schwöre es dir …

Und dann nichts. Gar nichts mehr. War er gestorben? Das Herz wurde mir schwer, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich hatte getötet. Nun schon zweimal, und das zweite Mal aus dem einzigen und alleinigen Grund, mein Leben zu retten. Ich war verflucht, aber vielleicht stand mir der Weg zur Erlösung noch offen. Vielleicht war dies einfach nur eine Prüfung oder eine Lektion, die ich lernen musste, bevor ich das letzte Gelübde ablegen konnte. Vielleicht durfte ich doch noch Vergebung erwarten.

Der Fremde öffnete die Tür seines Wagens, ich stieg ein. Als wir wegfuhren, hörte ich seine melodische Stimme erneut, vielleicht im Sterben.

Du hattest recht, Tam. Verdammt, ich brauche Hilfe … ich … ich …

Dann nichts mehr. Kein Hinweis mehr auf Leben in diesem verfluchten Gebäude. Eine dicke Träne lief mir über die Wange, als wir um eine Ecke bogen und wegfuhren.

„Jameson? Kannst du mich hören?“

„Er kommt wieder auf die Beine, Tamara. Wir waren rechtzeitig dort.“

„Aber Eric …“

„Psst. Lass ihn ausruhen. Er braucht alle Kraft, wenn er aufwacht. Es fällt ihm sicher nicht leicht, damit fertig zu werden. Er war noch nicht bereit.“

„Ich weiß.“ Eine Hand strich über Jamesons Gesicht. „Tut mir leid“, flüsterte sie. „Aber wir konnten dich nicht einfach so gehen lassen.“

Jameson schlug die Augen auf und blinzelte, weil etwas mit seinem Sehvermögen nicht stimmte. Alles schien zu grell. Zu deutlich. Hastig und erschrocken machte er sie wieder zu. „Was ist passiert?“, fragte er und durchsuchte sein Gedächtnis nach irgendwelchen Anhaltspunkten.

„Du bist angegriffen worden“, sagte Tamara leise, und er registrierte erstaunt, dass er die Vibration ihrer Stimmbänder hören konnte, als sie ihn ansprach. Das perfekte Summen ihrer Stimme. Wie Musik. „Du hast mich zu Hilfe gerufen. Wir fanden dich in …“

„Warte … ich erinnere mich. In dieser verfallenden Ruine.“ Da fiel ihm alles wieder ein, aber als er die Hand hob, damit Tamara verstummen sollte, drehte er sie langsam und betrachtete den weißen Verband am Handgelenk. Am anderen Handgelenk war er ebenfalls verbunden. „Was geht hier vor?“, fragte er langsam und sah einen nach dem anderen an.

Rhiannon saß auf einem Stuhl links von ihm. Sie legte ihre elegante Hand um seine deutlich größere. „Ein abtrünniger Dreckskerl hat dich ausgesaugt, bis du fast gestorben wärst. Uns blieb keine andere Wahl.“

Er schüttelte den Kopf, begriff aber dabei allmählich, was sie ihm sagen wollten. Es bestand kein Zweifel. Er hätte es auch ohne ihre besorgten, leicht schuldbewussten Mienen gewusst. Er spürte einfach alles. Jede Falte in der Bettdecke. Seine Haut kribbelte, und er hörte, wie der Wind das einzige tote Blatt zum Rascheln brachte, das noch unten an dem Ahornbaum hing. Wie viele Stockwerke tiefer wuchs dieser Baum in seiner perfekten, kreisrunden Öffnung im Asphalt? Vierundzwanzig?

Wieder betrachtete er die Verbände. „Ich verstehe nicht“, sagte er.

„Du warst bewusstlos“, flüsterte Tamara. „Zu schwach zum Trinken.“

„Und?“

„Du wärst gestorben, Jamey, Jameson“, fuhr sie fort. „Ich dachte …“

Eric drehte sich zum Fenster, blickte in die Nacht, sah Jameson nicht in die Augen. „Ich musste einige Schläuche legen“, sagte er. „Für die Transfusionen.“

„Trans…fusionen?“ Er fixierte so lange Erics Rücken, bis er sich umdrehte. „Eric?“ Dann richtete er den Blick auf Roland, der stumm in einer Ecke des Zimmers stand und nur zuhörte, zusah. „Roland? Großer Gott, wollt ihr damit sagen, dass ich …“

Roland nickte nur einmal. „Ja. Dein Leben als Sterblicher endete letzte Nacht, Jameson. Wir konnten es nicht retten. Wir konnten dir nur ein neues Leben als Ersatz für das anbieten, das der Dreckskerl dir genommen hat. Ein Leben der … ewigen Nacht.“

Jameson schloss fluchend die Augen. Er hörte Tamara leise weinen, spürte Rhiannons Hand fest auf seiner.

„Ich kann es nicht glauben“, murmelte er. „Herrgott, ich kann es nicht glauben.“ Dann betrachtete er fragend ihre Gesichter. „Wer war es? Wessen Blut fließt jetzt durch meine Adern? Deins, Roland?“

Tamara schniefte, ihr Gesicht war tränenüberströmt. „Das von uns allen“, erklärte sie ihm. „Wir haben alle für dich gespendet, Jameson.“

Er schloss die Augen, schüttelte den Kopf, atmete stoßweise aus. „Verdammt“, sagte er. „Ich will das nicht. Noch nicht. Vielleicht niemals. Verdammt …“

„Genug!“

Er hörte sofort auf zu reden, als er Rhiannons schroffen Befehl hörte. Sie stand von ihrem Stuhl auf, beugte sich über ihn, ihre Augen wurden zu kleinen Schlitzen, und sie erinnerte ihn daran, wie Pandora aussah, kurz bevor sie sich auf ein ahnungsloses Kaninchen stürzte.

„Wir haben dir das Leben geschenkt, Jameson. Die Alternative wäre der Tod gewesen. Du solltest uns dankbar sein.“ Sie beugte sich tiefer, sodass ihr langes, glänzend schwarzes Haar sein Gesicht streifte. „Es sei denn, die zweite Option wäre dir lieber. Aber auch in diesem Fall ist es noch nicht zu spät.“

„Rhiannon!“, schrie Tamara und sprang auf. „Wie kannst du es wagen …“

Rhiannon richtete sich auf und warf das Haar mit einer Kopfbewegung hinter die Schultern zurück. „Ich wage es, Tamara, Darling. Ich wage alles. Das weißt du. Und offen gestanden habe ich es satt, dass der da nie die geringste Dankbarkeit zeigt.“ Sie nickte zu Jameson.

Dass Rhiannon jemals so wütend auf ihn sein würde, hätte er nicht für möglich gehalten, aber es schien aufrichtig zu sein. Ihre Augen blitzten vor Zorn, und als Roland kam und ihr die Hand auf die Schulter legte, schüttelte sie ihn ab und ging weg. Am Fußende des Bettes schritt sie auf und ab. „Wir haben uns deiner angenommen, als du ein Kind warst, Jameson“, begann sie von Neuem, mit einer Stimme, so glatt und geschmeidig wie schwarzer Satin. „Haben dir mehr als einmal das Leben gerettet, mehr als einmal unsere Hälse für dich riskiert. Haben deinen Vater für dich gefunden. Und dennoch beschwerst du dich immer nur. Wir behandeln dich wie ein Kind! Wir rufen dich beim falschen Namen! Du hast nicht genügend Freiraum!“

Jameson setzte sich im Bett auf, schlug die Decke zurück, stellte die Füße auf den Boden.

„Und dann“, fuhr sie fort, „begibst du dich freiwillig in neue Gefahr, und als du im Sterben liegst, bittest du uns mit dem Atemzug, der gut und gern dein letzter hätte sein können, um Hilfe, Jameson. Was im Namen der Pharaonen hast du von uns erwartet? Wir können die Toten nicht wiedererwecken! Du hast um Hilfe gebeten, und wir haben dir die einzig mögliche Hilfe gegeben. Und trotzdem beschwerst du dich noch.“

„Das reicht, Rhiannon“, schaltete sich nun Roland ein. Sie sah ihn finster an, doch er kuschte nicht. „Du weißt nicht, was Jameson jetzt fühlt.“

„Und du schon?“, fuhr sie ihn an.

Roland nickte und richtete den Blick auf Jameson. „Ja. Rhiannon und auch du, Tamara, ihr habt dieses Leben beide gewollt. Ich nicht. Mir wurde es aufgezwungen, Rhiannon, als du mich dem Tode nahe in meiner blutigen Rüstung auf jenem Schlachtfeld gefunden hast.“

„Und mir“, sagte Eric leise. „Als Roland zu mir kam, in diese dreckige Zelle in Frankreich, in der Nacht, bevor ich auf die Guillotine sollte.“ Er sah Jameson in die Augen. „Damals graute mir schrecklich vor dem, was ich geworden war. Und obwohl du uns kennst, gut kennst, hast du vermutlich auch Angst, könnte ich mir denken. Du findest, dass du jetzt ein Monster wie wir geworden bist.“

Jameson spürte einen Kloß im Hals, seine Augen brannten. „Ich habe euch nie als Monster gesehen, Eric. Das müsst ihr wissen. Das … ist nur alles so …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich dachte, ich hätte Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Ich dachte, dass ich selbst entscheiden würde, ob und wann ich bereit dafür bin.“ Er hob den Kopf und sah Rhiannon in die Augen. „Du hast recht, Prinzessin. Ich bin ein Trottel, und es tut mir leid. Ohne eure Hilfe wäre ich jetzt tot, und dafür wäre ich noch viel weniger bereit gewesen.“

Er bemerkte, wie sie sich entspannte. Rhiannon mochte es, wenn sie mit ihrem rechtmäßigen Titel angesprochen wurde. Immerhin war sie die Tochter eines Pharaos. Nicht dass sie einen aus ihrer Umgebung das je vergessen ließ. Jameson machte die Augen zu und senkte den Kopf. „Hier bin ich also. Es ist geschehen. Lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Ich sollte mich besser daran gewöhnen.“

„Du schaffst das schon, Jameson.“ Tamara sah ihn liebevoll an. „Ich verspreche es dir.“

Er hob den Kopf. Wahrscheinlich war es gar nicht das Schlechteste, das ihm bisher passiert war. Mit seinen neuen Fähigkeiten konnte er sogar noch besser gegen das DPI vorgehen. Er spannte die Hände und fragte sich, wie stark er ab sofort sein würde. Vielleicht stark genug, um der Anlage in White Plains einen Besuch abzustatten und sie bis auf die Grundmauern niederzureißen. War er stark genug, um sie zu zwingen, ihm die letzten Testreihen auszuhändigen? Und sie danach alle zu töten?

„Ich nehme an, als Erstes müssen wir dir beibringen, wie man seine Gedanken abschirmt“, bemerkte Roland und sah ihm direkt in die Augen. „Wenn sie allerdings so töricht sind wie dieser letzte, wäre es vielleicht doch besser, wenn wir sie alle kennen, hm?“

„Ich mache dir keine Vorwürfe, Jameson“, sagte Rhiannon, deren Zorn fürs Erste verraucht zu sein schien. „Ich will schon seit Jahren alles vernichten, was mit dieser teuflischen Organisation auch nur im Entferntesten zu tun hat. Aber alle sind gegen mich.“ Sie nickte zu den anderen im Raum.

„Mit gutem Grund“, konterte Roland. „Wenn wir das machen würden, bestätigten wir nur, dass alles wahr ist, was sie über uns denken. Wir wären die herzlosen Raubtiere, für die sie uns halten. Tödlich, destruktiv und gefährlich. Und sie hätten einen Grund mehr für ihren gnadenlosen Vernichtungsfeldzug gegen uns. Rhiannon, kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn andere Regierungsorganisationen sich einmischen würden? Zum Beispiel das Militär?“

Sie warf den Kopf zurück. „Lass sie nur kommen.“

Roland verdrehte leicht genervt die Augen, aber Jameson lachte laut über Rhiannons Bemerkung. Und dann kam Eric näher und sah ihm ins Gesicht. „Genug davon“, sagte er leise. „Jameson, erzähl uns von der Bestie, die dich angegriffen hat. Wer war er? Kannst du ihn beschreiben?“

„Ja“, warf Roland ein. „Wir können ihn nicht davonkommen lassen.“

„Nicht ihn“, erklärte Jameson, stand auf und drehte sich zu ihnen um. „Sie.“ Er sah ihr Stirnrunzeln, als er fortfuhr: „Und wir müssen sie nicht aufspüren. Sie hat sich vor meinen Augen einem DPI-Agenten ergeben. Ist ohne zu zögern mit ihm gegangen. Ich glaube, sie hat ihm abgekauft, dass er wieder einen Menschen aus ihr machen könnte.“

„Mein Gott!“ Tamara sprang auf. „Wer war sie, Jameson? Hast du sie gekannt? Hast du sie schon einmal gesehen?“

Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich glaube, der Agent wusste, wer sie ist, allerdings hatte ich so gut wie das Bewusstsein verloren. Ich kam gerade wieder zu mir, als er sie aufforderte, ihn zu begleiten, sich von ihm helfen zu lassen.“

„Es ist besser, dass er sie gefunden hat, nicht ich“, sagte Rhiannon.

„Vielleicht war sie wahnsinnig. Schmutzig, Kleidung zerrissen. Sie schien sehr jung zu sein … und ich bin sicher, sie war kurz davor, zu verhungern. Ich hörte sie weinen, darum ging ich zu ihr. Ich wollte sie zu euch bringen, weil ich dachte, ihr könntet ihr helfen.“

„Was wir natürlich auch getan hätten“, sagte Tamara zu ihm.

„Und sollte ich sie je wiedersehen, dreh ich ihr den hübschen Hals um.“ Jameson dachte daran, wie zerbrechlich sie wirkte … kurz bevor sie die Eckzähne in seinen Hals geschlagen hatte. Dann dachte er ein wenig weiter und musste sich von den anderen abwenden.

Sie weckte Gefühle in ihm wie noch keine andere vorher. Hatte ihn schockiert, als sie in sein Fleisch biss, aber danach …

Herrgott, warum hatte keiner ihm gesagt, wie es sein würde? War es normal, dass man so reagierte? Er war in seinem ganzen Leben noch nie so erregt gewesen wie in dem Moment, als sie ihn an sich drückte und seinen Hals mit Mund und Zähnen bearbeitete. Und er wollte es. Wollte sie. Ein paar Minuten dachte er tatsächlich, es würde gut werden. Dass sie nur genug nehmen würde, um zu überleben, und dann aufhören.

Aber sie hörte nicht auf. Das Miststück wollte ihn töten. Und seine Erregung ließ nicht nach, bis er zu ihren Füßen zusammenbrach.

Herrgott.

„Ich töte sie“, flüsterte er.

„Rache ist eine vergeudete Emotion, Jameson“, sagte Tamara zu ihm.

„Sie hat versucht, mich zu töten.“

„Vielleicht wusste sie es nicht besser.“

„Oder“, warf Rhiannon ein, „vielleicht hat sie einfach die Selbstbeherrschung verloren. Man weiß, dass das passieren kann … unter bestimmten Umständen.“

Jameson blickte hastig auf und fragte sich, ob sie gerade jeden seiner Gedanken mitbekommen hatten. Aber Rhiannon sah Roland an wie ein saftiges Steak, und er bildete sich ein, dass Rolands Augen ebenfalls leuchteten. Jameson beschloss, nichts von dieser unglaublichen Erregung zu erwähnen. Nicht mehr daran zu denken, fiel ihm allerdings weitaus schwerer.

Höchste Zeit, das Thema zu wechseln. „Passt auf, die Schläger des DPI treiben Vampire für eine neue Runde von Experimenten zusammen, vielleicht wäre es an der Zeit, dass ihr alle endlich die Stadt verlasst.“

„Exakt“, sagte Roland. „Aber vergiss nicht, mein Freund, du bist jetzt auch ein Vampir.“

Jameson runzelte die Stirn. Verdammt.

„Selbst wenn du deine Pläne in die Tat umsetzen und herausfinden möchtest, weshalb sie diese letzten Tests an dir vorgenommen haben, Jameson, musst du doch zustimmen, dass es besser wäre zu warten. Du brauchst Zeit, dich an dein neues Dasein zu gewöhnen. Zu lernen, wie du es kontrollierst. Die Grenzen deiner Kraft und Ausdauer zu erproben.“

Das war allerdings nicht von der Hand zu weisen.

Roland lächelte, als er diesen Gedanken wahrnahm. „Du musst noch viel über das Leben als Vampir lernen, Jameson.“

„Verflucht, Roland, ich weiß mehr über das Leben als Vampir, als du denkst. Ich habe fast mein ganzes Leben bei euch verbracht.“

„Ja, das stimmt. Aber das Leben eines Untoten zu führen ist etwas ganz anderes, als es nur zu sehen. Das hast du schon herausgefunden, oder nicht?“

Richtig. Es war anders, ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Seine Sinne schienen verändert, irgendwie verbessert worden zu sein. Und es gab neue zu entdecken.

„Na gut“, gab Jameson schließlich klein bei. „Na gut, wir gehen alle. Aber ich komme wieder. Ich finde heraus, was diese Dreckskerle von mir wollten, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

Alle sahen besorgt drein. Außer Rhiannon. Sie ließ ihr Mona-Lisa-Lächeln sehen. Rätselhaft wie immer. Und Jameson fragte sich, was zum Teufel sie dachte.