Keith

14. KAPITEL

Sie umkreisten die Festungsruine zweimal auf der Suche nach Wachen oder Posten, ehe sie über die verfallene Mauer sprangen. Als sie den kahlen Innenhof durchquerten, verlangte es Roland nach einem Schwert, wünschte er sich nichts sehnlicher als den Kolben einer Armbrust an der Schulter. Ein Graben voll grünem Brackwasser, das voller Abfall zu sein schien und zum Himmel stank, umgab die Burg. Die Zugbrücke war hochgezogen.

Sie sprangen Seite an Seite über den Graben und tasteten sich an der Mauer der Festung entlang, um eine Möglichkeit zu finden, leise einzudringen. Beide schirmten sorgfältig ihre Gedanken ab, sogar voreinander. Eine Mauer aus Stahl umgab ihre Aura. Lucien durfte nicht erfahren, dass sie kamen.

Es war schwierig, denn Roland wusste, dass Rhiannon irgendwo hinter diesen verfallenen Mauern aus Stein gefangen gehalten wurde. Geschwächt, vielleicht unter Schmerzen. Wäre es ihr gut gegangen, hätte sie das Gemäuer längst in Stücke gerissen, und Lucien gleich mit. Ihre Geduld wäre am Ende gewesen.

Schließlich gelangten sie zu einer kleinen Öffnung im Stein, einem Fenster, in dem nie eine Glasscheibe gewesen war. Roland kletterte hindurch und sah sich um, während Eric ihm folgte. Es handelte sich zweifellos um eine Ruine. Spinnwebförmige Risse und große Löcher durchzogen die Böden. In den kalten Mauern der Burg war es pechschwarz, doch mit seiner überragenden Nachtsicht bahnte er sich langsam seinen Weg durch baufällige Flure und dachte dabei nur an Rhiannon.

Mit jedem Schritt wurde sein Herz schwerer. In ihrem normalen Zustand wären diese bröckelnden Mauern gewiss kein Hindernis für sie gewesen. Wie sehr er sich wünschte, er könnte sie in ihrem Zorn sehen, wie sie Lucien mit der schieren Kraft ihrer Wut in die Knie zwang. Er schloss einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf. Wie hatte er nur jemals glauben können, er könnte diesen Wildfang zähmen? Sie war unbezähmbar. Genau das machte sie zu Rhiannon.

Nachdem sie durch eine endlose Abfolge von Korridoren gegangen waren, kamen sie an eine Wendeltreppe aus Stein, die verfallen bis in die Eingeweide der Erde selbst hinabzuführen schien. Gerüche von Feuchtigkeit und Fäulnis stiegen ihm in die Nase, als sie hinunterstiegen. Er hörte die Geräusche von tropfendem Wasser, raschelnden Nagetieren und ihren eigenen Schritten. Sie war hier, in dieser Hölle, und glaubte vermutlich, er wäre tot.

Sie traten bei jedem Schritt so vorsichtig und leise wie möglich auf. Roland wagte aus Angst, er könnte Lucien aufschrecken und ihn veranlassen, Rhiannon etwas anzutun, kaum zu atmen. Gott, allein der Gedanke, dass sie sich hier befand, machte ihn fast rasend. War sie in einer eiskalten, winzigen Zelle eingesperrt? Schlotterte sie in diesem Moment vor Kälte und Kummer über sein angebliches Dahinscheiden? Hatte man sie unter Drogen gesetzt und im Angesicht von Luciens Brutalität bis zur Hilflosigkeit geschwächt?

Hatte der Dreckskerl ihr etwas angetan? Sie angefasst?

Wenn ja, würde er sterben, das schwor sich Roland. Sterben würde er so oder so. Die Bestie war frei, und zum ersten Mal freute sich Roland darüber. Er würde Lucien in Stücke reißen, und das mit allergrößter Freude.

Eric berührte ihn am Arm und legte den Kopf schief. Erst da hörte Roland Stimmen, die leise durch diese höhlenartige Unterwelt hallten. Die Stimmen drangen zu ihnen wie rastlos umherziehende Gespenster.

„Bist du bereit?“

„Ich bin bereit, Lucien.“ Rhiannons Stimme war so schwach wie ihr Körper und ihr Geist. Ihr Klang glich einer Folter, wie Roland sie noch nie erlebt hatte. Er schlich näher hin.

„Vergiss nicht, keine Tricks. Wenn mir etwas geschieht, stirbt der Junge in seinem Versteck. Hast du das klar verstanden?“

„Ja.“

„Gut.“

„Meine Zeit wird kommen, Lucien. Und du wirst bezahlen.“

Grimmiges Gelächter erschallte. „Ich wusste, du würdest wegen der Katze außer dir sein. Aber das Tier ließ mir keine andere Wahl, Rhiannon. Als es vor mein Auto sprang, konnte ich der Versuchung einfach nicht widerstehen.“ Eine Pause. „Der Junge hat sich aufgeführt, man hätte denken können, ich hätte seinen besten Freund ermordet.“

Roland schlich weiter. Er konnte sie immer noch nicht sehen, aber umso deutlicher hören. Er hörte Rhiannons rasselnden Atem, dann ihre Stimme, aus der man nur einen Hauch ihrer sonstigen Kraft heraushören konnte, so sehr bebte sie. „Du hast die Katze nicht getötet. Und wenn der Junge in Sicherheit ist, wirst du ihr vielleicht zum Fraß vorgeworfen.“

„Die Katze hat überlebt? Warum bist du dann immer noch so wütend?“

„Dreckskerl!“ Rhiannon holte tief und röchelnd Luft. Das Gespräch schien ihre letzten Kraftreserven zu verbrauchen. „Du kennst … den Grund für meinen Zorn. Was du Pandora angetan hast, ist nichts im Vergleich mit deinen … anderen Verbrechen.“ Sie verstummte und atmete abgehackt und schwer. „Du … du hast mir den … einzigen Mann genommen, den ich je geliebt habe.“ Die letzten Worte flüsterte sie, und man hörte die Tränen in ihrer Stimme deutlich.

Roland stand vollkommen reglos da, als diese Worte durch die Dunkelheit zu ihm drangen. Er schloss die Augen, als ein unerträglicher Schmerz ihn erfüllte, und kam erst wieder zu sich, als Eric ihn drängte.

„Ganz ruhig, alter Freund. Du gewöhnst dich schon daran.“

Er schluckte heftig und setzte sich langsam in Bewegung. Der Schock von Rhiannons Enthüllung ließ nach, seine Wut kehrte zurück.

„Ich werde Roland rächen, Lucien“, flüsterte sie.

„Du lässt mir keine andere Wahl, als dafür zu sorgen, dass es dazu nie kommt, Rhiannon. Man könnte fast glauben, du wünschst dir den Tod.“

Ihre Worte klangen erschöpft und schwach. „Ich habe nichts mehr zu verlieren.“

Man hörte Ketten klirren. Dann ein ersticktes Keuchen. „Spürst du die Nadelspitze, Rhiannon? Wenn ich den leisesten Verdacht habe, dass du mich leer saugen willst, drücke ich zu. Die Dosis ist ausreichend, dich innerhalb von Sekunden zu töten.“

Sie kamen um eine Ecke, und da endlich sah Roland die albtraumhafte, vom flackernden Licht einer einzigen Fackel beleuchtete Szene vor sich. Rhiannon fast leblos, mehr von Ketten an Händen und Füßen als von ihrer eigenen Kraft aufrecht gehalten. Ihre Augen waren trüb und feucht vor Schmerzen, ohne inneres Leuchten. Trostlos. Das Haar hing ihr über eine Seite des Gesichts. Der Saum des dunkelblauen Kimonos war feucht und schmutzig.

Lucien stand breitbeinig vor ihr, er hatte ihnen den Rücken zugewandt und hielt eine Spritze in der rechten Hand, die er ihr durch den wallenden Kimono, den sie trug, an die Seite drückte. Er drehte sie garstig herum; Rhiannon winselte nur, da sie zu schwach war, um laut zu schreien.

Roland wollte springen, doch Eric hielt ihn am Arm fest. „Wenn du jetzt angreifst, tötet er sie.“ Er flüsterte Roland die Worte schroff ins Ohr. „Wir müssen ihn dazu bringen, dass er die verdammte Nadel wegnimmt, ehe wir ihn uns schnappen.“

Roland ertrug den Anblick der leidenden Rhiannon nicht, wusste aber, dass sein Freund die Wahrheit sprach. Er sah sich um. Finstere Schwärze, wohin er auch blickte. Hoch droben an der Decke hingen weitere Ketten. Roland konnte ahnen, welchem Folterzwecke sie dort dienten. Er stieß Eric an und zeigte darauf.

Eric nickte. „Kannst du da rauf, ohne ein Geräusch zu machen?“

„Das werden wir gleich wissen. Kannst du Lucien auf dich aufmerksam machen, ohne dass es Rhiannon das Leben kostet?“

„Sollte ich wohl, was?“

Roland holte einmal tief Luft, sprang in die Höhe, hielt sich an einem vorstehenden Stein fest und fand mit einer Schuhspitze in einem Riss in der Wand Halt. Er schaute nach unten, sah, dass Eric ihn beobachtete, und nickte einmal kurz.

Eric trat aus den Schatten in das rote Licht der Fackel. „Pardon, Lucien, aber Sie haben vergessen, ihr das eine oder andere zu erzählen, nicht?“

Lucien wirbelte herum und nahm dabei die Spritze von Rhiannons Hüfte. Sie verzog das Gesicht vor Schmerzen. Als sie schrie, drehte sich Roland der Magen um.

„Marquand, nicht? Rogers hat mir von Ihnen erzählt.“ Lucien hob die Spritze wie eine Waffe in seiner pummeligen Pranke und kam näher.

„Sie meinen, bevor Sie ihn getötet haben?“

Roland wartete. Er brauchte noch etwas mehr Platz zwischen Rhiannon und der Spitze der Nadel.

Lucien sah über die Schulter zu Rhiannon. Sie hing nur reglos in den Ketten, und die Hoffnungslosigkeit war ihr so tief ins Gesicht gegraben wie Schrammen in einem alten Schild.

„Seien Sie still, Marquand.“

„Haben Sie Angst, ich könnte alles verraten? Wenn sie es weiß, ist sie sicher nicht mehr so kooperativ, was?“

Roland nickte anerkennend. Lucien würde verlieren, wenn Rhiannon erfuhr, dass Jamey in Sicherheit war. Er musste Eric zum Schweigen bringen.

„Was … weiß?“ Rhiannon hob langsam den Kopf. Sie sah Eric an.

„Na, dass Jamey …“ Er verstummte und wich dem anstürmenden Lucien so anmutig wie ein Matador dem Bullen aus. Roland sprang von seinem Halt an der Wand und ergriff die baumelnde rostige Kette. Sein Schwung brachte sie zum Schwingen und beförderte ihn rasch vorwärts. Eine Sekunde später ließ er los und stürzte sich auf Luciens breiten Rücken. Beide Männer fielen zu Boden.

Lucien ließ die Spritze nicht los, als er sich wand und zappelte und vergeblich versuchte, sie Roland in den Leib zu rammen. Doch der richtete sich auf, bohrte dem deutlich größeren Mann ein Knie in den Rücken und drückte dessen Handgelenk so lange zu, bis er die Knochen mit leisem Knacken brechen hörte. Kreischend ließ Lucien die Spritze los. Aber nicht einmal da gab Roland den Dreckskerl frei. Die Bestie verlangte nach Rache.

Noch etwas mehr Druck, und du kannst ihm ebenso mühelos das Rückgrat brechen. Einfach entzwei. Drück nur noch etwas fester mit dem Knie zu.

„Roland?“

Er hob den Blick von dem bibbernden Fleischkloß unter sich und stellte fest, dass Rhiannon ihn ansah wie ein Gespenst. Im gleichen Moment verschwand die Bestie in seinem Innern. Ihn verlangte es nicht mehr nach Rache, nur noch nach ihr. Nach ihrer Berührung, ihren Lippen auf seinen, ihrem verhaltenen Lächeln und dem schalkhaften Funkeln in den Augen.

Er stand auf und bemerkte, wie Lucien sich auf den Rücken rollte und das gebrochene Gelenk mit der anderen Hand festhielt. Er wusste, Eric würde sich um diesen Bastard kümmern. Seine einzige Sorge galt Rhiannon. Er näherte sich ihr langsam. Ihre Augen wurden groß. Sie machte den Mund ein wenig auf und sprach seinen Namen wieder, aber diesmal vollkommen lautlos.

Dann war er bei ihr und nahm sie in die Arme. Oh, sie so zu spüren, lebendig, atmend, ihr kräftiger Herzschlag an seiner Brust! Er drückte ihren Kopf in die Armbeuge, strich mit den Fingern durch ihr seidiges Haar und plapperte ununterbrochen Worte ohne Sinn und Verstand. Hierher gehörte sie. In seine Arme, den Körper an seinen gepresst. Ihm schien, als könnte er sie nie wieder loslassen.

Sie hob den Kopf und ließ einen so durchdringenden Blick über sein Gesicht wandern, dass er ihn fast wie eine Berührung spüren konnte. „Ich … ich dachte …“ Dann hob sie die Hände, ließ sie dem Pfad ihrer Augen folgen, berührte sein Gesicht, als könnte sie nicht fassen, dass er real war. Die Ketten klirrten bei jeder ihrer Bewegungen.

„Ich weiß“, flüsterte er. „Ich weiß. Ich habe nicht gewagt, dir zu antworten, da ich die übersinnlichen Kräfte dieses Mannes kenne.“ Er nahm eines ihrer Handgelenke, führte es von seinem Gesicht weg und brach die Handschelle mühelos entzwei. Als sie klirrend zu Boden fiel, nahm er sich die andere vor. „Hat er dir wehgetan, Rhiannon? Hat er dich angefasst?“

„Nichts … konnte mir mehr wehtun … als das Wissen, ich hätte … dich verloren.“

Sie sahen einander lange in die Augen, und Roland fragte sich, wie er die Liebe darin so lange hatte übersehen können. Er musste blind gewesen sein.

Da er nicht wusste, was er im Angesicht so starker Gefühle sagen konnte und was sie für sie beide zu bedeuten hatten, ließ sich Roland auf ein Knie nieder und zerschmetterte ihre Fußfesseln. Er spürte ihre Arme auf den Schultern, dann ihr ganzes Gewicht, als sie versuchte, sich von der Wand zu entfernen. Er hob sie hoch. Sie ließ den Kopf erschöpft an seine Schulter sinken, und er schloss die Augen vor wonnevoller Pein. Herrgott, es tat so gut, sie wieder in den Armen zu halten.

Eric warf den inzwischen bewusstlosen Lucien beiseite und stellte sich neben sie.

„Ich hätte ihn töten sollen“, murmelte Roland und sah zu dem Mann auf dem Boden seines eigenen Verlieses.

Eric zog die Stirn kraus und neigte den Kopf in Luciens Richtung. „Nur zu, mein Freund. Im Moment kann er sich nicht einmal wehren. Und da du stets behauptest, dass du so eine Bestie bist, macht es dir bestimmt nichts aus, wenn du dich über ihn beugst und ihm den Adamsapfel zerquetschst. Das dauert nur einen Moment. Na los. Ich halte Rhiannon so lange für dich.“

Roland sah auf Lucien hinab, dann zu der Frau in seinen Armen. Er konnte einen Menschen nicht kaltblütig ermorden. Im Kampf, ja. Es wäre ihm eine große Freude gewesen, auf Leben und Tod mit Lucien zu kämpfen. Aber nicht so. Er sah Eric seufzend an. „Ich nehme an, daraus kann man etwas lernen, mein Freund. Aber momentan möchte ich eigentlich nur Rhiannon hier wegbringen.“

Er ging durch das Gewölbe zurück und dann die verfallene Treppe hinauf. Lucien überließ er seinem Schicksal. Das war vermutlich ein Fehler, aber er konnte nicht anders.

Sie lag in seiner sanften, sicheren Umarmung, manchmal bei Bewusstsein, manchmal nicht. Von der eigentlichen Reise hatte sie kaum etwas mitbekommen, sondern wusste nur, dass sie nach scheinbar erstaunlich kurzer Zeit den großen Saal von Schloss Courtemanche betraten, wo sie jubelnd von Tamara, Jameson und Freddy begrüßt wurden.

Ein tiefes Knurren ließ Rhiannon nach unten sehen. Pandora, die Vorderpfote verbunden, kam zu der kleinen Schar gehinkt. Sie stellte sich auf die Hinterbeine, legte Rhiannon die unverletzte Pfote auf die Brust und strich mit ihrer kalten Nase über die Wange ihrer Herrin.

Rhiannon streichelte das Gesicht der Katze. „Pandora, mein Kätzchen, du bist zu Hause. Ja, ja, es ist schön, dich zu sehen, Süße.“ Sie küsste die Schnauze der Katze, dann scheuchte Roland sie weg.

„Wir haben sie unterwegs abgeholt“, sagte Tamara leise, kam so nahe heran wie die Katze und strich Rhiannon das Haar aus der Stirn. „Ich wollte, dass sie dich hier begrüßen kann, wenn Roland dich nach Hause bringt.“ Die junge Frau betrachtete sie stirnrunzelnd und besorgt. „Alles in Ordnung?“

Rhiannon lächelte bejahend, obwohl sie sich alles andere als in Ordnung fühlte. Durch die Nachwirkung der Droge fühlte sie sich zunehmend müder. Sie suchte Jameys Gesicht und streckte die Hand nach ihm aus. „Jameson. Ich hatte solche Angst um dich.“

Er sah zu Boden. „Es tut mir leid. Du wärst fast wieder getötet worden … meinetwegen.“

Sie schüttelte den Kopf, aber Roland wandte sich von ihnen ab und ging mit ihr auf den Armen den Bogenkorridor zu seinem Gemach entlang. „Wir haben später Zeit zum Reden. Jetzt muss sie sich ausruhen.“ Er sah ihr ins Gesicht, als er das sagte.

Sie sah in seines und wunderte sich über die Unsicherheit, die endlosen Fragen in seinen Augen. Fast schien es, als hätte er Angst vor etwas. Ein höchst ungewöhnlicher Zustand für jemanden, der so tapfer war. Augenblicke später legte er sie auf das Bett, deckte sie mit der leuchtend gelben Decke zu und stützte ihren Kopf auf die Kissen, die sie erst vor so kurzer Zeit gekauft hatte, obwohl sie ihr wie eine Ewigkeit vorkam.

„Roland.“ Sie berührte sein Gesicht mit einer zitternden Handfläche. „Ich muss dir so viel sagen.“

„Pst. Ich möchte, dass du dich ausruhst. Morgen Abend bist du wieder ganz die Alte, das verspreche ich dir. Dann können wir reden.“

„Ganz die Alte?“ Sie blinzelte langsam und dachte an das Versprechen, das sie den Göttern gegeben hatte. Sie würde ihn verlieren, wenn sie diesen Schwur nicht halten konnte. Das wusste sie ohne jeden Zweifel. „Nein, Roland, ich werde nie wieder …“

Er brachte sie zum Schweigen, indem er ihr behutsam den Finger auf die Lippen legte. „Ruh dich aus, kleines Vögelchen. Wir reden später.“

„Ja.“ Sie ließ die schweren Lider sinken und wollte nicht mehr gegen den Schlaf ankämpfen. „Ja. Wir reden später.“

Aber als sie am darauffolgenden Abend aufstand, war sie nicht die Alte, und auch am darauffolgenden Tag kehrte sie nicht zu ihrer normalen Form zurück. Sie wurde kräftiger, ja, das stellte Roland fest. Ihre Augen strahlten wieder klar wie Diamanten; der drogenumwölkte Blick war verschwunden. Aber auch ihre Schalkhaftigkeit, ihr Spott und ihr herausfordernder Blick stellten sich nicht mehr ein. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Still und überaus höflich, gab sie keinerlei Widerworte, so dumm seine Bemerkungen auch sein mochten, mit denen er sie aus der Reserve zu locken versuchte.

Roland beugte sich zur Seite und stieß Eric an. „Glaubst du, dass Rogers’ Betäubungsmittel dauerhafte Nachwirkungen haben könnte?“

Eric zog eine Braue hoch. „Warum fragst du?“

„Sieh sie dir doch an. Sie ist so still, fast … schüchtern. Und das geht jetzt verdammt noch mal fast eine Woche lang so.“ Roland sah wieder zu Rhiannon, während er das sagte. Sie saß in einem übergroßen Polstersessel, sah in die Flammen des Kamins und schien sich an dem warmen Feuer in dem kalten Raum zu erfreuen. Geistesabwesend streichelte sie den Kopf der Katze, die an ihrer Seite lag.

Eric zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, sie ist immer noch ein bisschen erschüttert …“

„Rhiannon ist nie erschüttert.“

„Pst, sonst hört sie dich“, flüsterte Tamara, die in Begleitung von Jamey durch das Zimmer ging. „Und du solltest sie nicht gerade jetzt aus der Fassung bringen. Jameys Vater dürfte jeden Moment hier sein. Er sollte nicht gerade hereinkommen, wenn sie eine ihrer ungehaltenen Ansprachen hält, oder?“

„Im Moment würde ich dafür alles geben“, murmelte Roland, als die Gruppe näher zum Kamin und den Sesseln, die dort aufgestellt worden waren, wanderte.

„Der große Saal sieht viel hübscher aus, Rhiannon. Du hast Wunder gewirkt.“

Rhiannon schaute auf, lächelte zaghaft und streichelte weiter die Katze.

„Ja“, bekräftigte Eric, der dort fortfuhr, wo Tamara aufgehört hatte. „Die Kerzen und Lampen lassen den harten Stein weicher wirken, und die Vorhänge und Teppiche harmonieren wundervoll miteinander. Findest du nicht auch, Roland?“

Roland nickte nur und betrachtete Rhiannons Gesicht, während ein Stirnrunzeln seines entstellte.

„Ich finde immer noch, es wäre besser gewesen, du hättest sie deine Bilder aufhängen lassen, Roland“, sagte Tamara.

Roland zuckte mit den Schultern. Er ebenfalls. Er hatte sich nur geweigert, als Rhiannon fragte, weil er sicher war, dass sie einen Streit vom Zaun brechen und mit ihm zanken würde, bis er nachgab. Er hatte sich richtig auf diesen Streit gefreut. Er vermisste ihre Diskussionen. Stattdessen hatte sie nur ergeben genickt und nicht noch einmal gefragt. Am liebsten hätte er sie angeschrien.

Er betrachtete sie, während sie ihn ansah. „Ja, es ist hübsch. Und ein Jammer, dass wir nicht mehr lange bleiben können. Aber da Lucien noch lebt und weiß, wo wir uns verstecken, dürfte es besser sein, wenn wir abreisen.“ Er sah, wie sie mit den Fingern den Stiel ihres Glases umklammerte. Endlich, dachte er, als ihre Knöchel vor Anstrengung weiß wurden. „Mir fällt keine andere Lösung ein. Dir, Rhiannon?“

Einen Moment loderte das Feuer so hell in ihren Augen, dass er fürchtete, die Funken könnten Löcher in die neuen Teppiche brennen. „Die Lösung“, sagte sie mit steifem Rücken und hoch erhobenem Kinn, „wäre, diesen elenden Wurm von einem Mann aufzuspüren und …“ Sie blinzelte hastig und sah nacheinander alle an. Dann sank sie langsam in ihren Sessel zurück wie ein Ballon, aus dem langsam die Luft entweicht, und schüttelte den Kopf. „Was immer du entscheidest, soll mir recht sein, Roland.“

Roland presste zwei Finger an die Stirn, während Tamara Eric einen besorgten Blick zuwarf. Eric schüttelte nur den Kopf.

Ein lautes Klopfen hallte durch den ganzen Saal; Rhiannon stand mit der ihr eigenen Anmut auf. Der lange Rock bauschte sich um sie und berührte weder ihre Beine, noch verriet er deren Form, wenn sie ging. Er war tailliert, aber die Bluse reichte bis über die Taille. Der Kragen war hoch und bis auf den letzten Knopf geschlossen. Am schlimmsten war jedoch, dass sie ihr Haar, ihr wunderbares rabenschwarzes Haar, am Hinterkopf zu einem Knoten hochgesteckt hatte.

Mit einer Nickelbrille und geknöpften Halbstiefeln wäre sie das perfekte Ebenbild einer Lehrerin des 19. Jahrhunderts gewesen.

Sie berührte Jamey am Arm. „Du weißt, dass Roland das nur für dich getan hat.“

„Ich weiß.“ Jamey berührte die Tasche, in der sich, wie Roland wusste, seines Vaters Brief befand, der nach ihrer Rückkehr vom Berg zugestellt worden war. Er hatte nicht gedacht, dass ihr Notar den Mann so schnell finden oder er so schnell antworten würde. „Ich bin nicht wütend. Ich glaube … ich glaube, ich muss das tun.“

Rhiannon strich Jamey über das Haar und drückte ihn an sich. Einen Moment später folgte Tamara hastig ihrem Beispiel, während Rhiannon die Tür öffnete.

Der Mann, der vor ihr stand, war zwölf Zentimeter kleiner als sie. Sein Körperbau deutete auf einen aktiven Lebensstil hin, aber sein dunkles Haar war kurz und schütter, und er hatte eine runde Brille auf der Nase sitzen. Roland dachte, dass er die gütigsten Augen besaß, die er je gesehen hatte, und sie betrachteten die Schönheit an der Tür nur kurz, ebenso wie den großen Saal, dann wurden sie auf Jamey gerichtet und strahlten vor Freude.

Die beiden sahen einander eine ganze Weile nur an. Inzwischen waren mehrere Briefe gewechselt und Telefonate geführt worden, daher waren sie sich nicht mehr völlig fremd. Roland musste James Knudsons unbekümmerte Art akzeptieren. Er hatte Jamey nicht zu überzeugen versucht, dass er über Nacht sein Sohn wurde. Stattdessen bat er den Jungen, ein paar Wochen bei ihm in Kalifornien zu verbringen, um seine Stiefmutter und seinen Halbbruder kennenzulernen. Und Jamey hatte eingewilligt.

Roland spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte, als Jamey zu seinem Vater ging. Jamey blieb vor dem Mann stehen, und die beiden sahen sich einen Moment nur an. Dann nahm der Mann den Jungen fest in die Arme, und sie drückten sich eine Weile. Als sie voneinander ließen, nahm James Knudson die Brille ab und drückte Daumen und Zeigefinger an die Augen.

Das Wissen, dass er den Jungen an dessen Vater verlieren würde, schmerzte Roland. Aber es war richtig, und Roland wusste es schon eine ganze Weile. Herrgott, der Mann war Fußballtrainer der Jugendliga. Was konnte sich ein Junge mehr wünschen?

Jamey drehte sich um und sah Roland an. „V-vater, das ist Roland. Er hat mir das Leben gerettet … inzwischen mehr als einmal.“ Jamey biss sich auf die Lippen. „Und das sind Eric, Tamara und Rhiannon.“ Er sah sie nacheinander mit feuchten Augen an.

James räusperte sich, da ihn die exzentrische Umgebung und die förmliche Kleidung, die alle außer Tamara trugen, offenbar ein wenig verwirrten. Aber er trat vor und schüttelte jedem nacheinander die Hand. „Ich weiß, wie viel Sie alle meinem … meinem Sohn bedeuten.“ Rolands Hand schüttelte er zuletzt und am längsten. „Ich bin Ihnen mehr als dankbar, das dürfen Sie mir glauben. Wenn Sie mich nicht gesucht hätten, hätte ich vielleicht nie erfahren, dass ich überhaupt einen Sohn habe.“

Roland nickte. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er nicht antworten können. Seine Kehle war so zugeschnürt.

Tamara trat vor und sprach an seiner Stelle. „Vergessen Sie nicht, wir haben ihn alle sehr gern, Mr Knudson. Und nur darauf kommt es an. Die Entscheidung, ob er bei Ihnen bleiben möchte, liegt einzig und allein bei Jamey.“

Er nickte. „Ich würde ihn nie zu etwas zwingen, Miss, äh, Tamara. Ich habe ihn auch sehr gern.“

Sie sah Jamey in die Augen und umarmte ihn erneut. „Du weißt, wie du mich erreichen kannst, wenn du etwas brauchst, Junge.“

„Ich weiß es.“ Jamey umarmte sie ebenfalls und ließ sie wieder los. Er wandte sich an Roland. „Ich … äh … ich werde dich vermissen.“

Roland brach es fast das Herz. „Nein, junger Mann. Ich werde dich so oft besuchen, dass es gar nicht dazu kommt.“

Jamey streckte die Hand aus; Roland ergriff sie und schüttelte sie zweimal heftig.

Der Junge wandte sich an Pandora, die beim Kamin geschlafen und bis jetzt keinen Laut von sich gegeben hatte. Jamey ging zu ihr, bückte sich und legte ihr die Arme um den Hals. Die Katze peitschte mit dem Schwanz, rollte sich herum und zog den Jungen mit. Er richtete sich lachend auf, die Katze legte ihm eine Pfote auf das Knie.

„Pass gut auf sie auf, Pandora.“

Die Katze schien ihm mit ihren grünen Augen zu versichern, dass sie das tun würde. Dann stand Jamey wieder auf und ging zu seinem staunenden Vater zurück. Als der Mann den Blick von dem schwarzen Panther losreißen konnte, gingen sie gemeinsam zur Tür und blieben dort stehen.

„Wir passen weiter auf dich auf, Jamey“, sagte Rhiannon leise.

Eric nickte. „Wenn du in Gefahr gerätst, erfahren wir es. Darauf kannst du dich verlassen.“

„Curtis ist nicht mehr, von ihm haben wir also nichts mehr zu befürchten“, flüsterte Tamara.

„Und Rhiannons Freundin, die Computerexpertin, löscht deine gesamten Dateien aus dem System des DPI. Für sie hast du nie existiert.“ Roland ging näher zu Rhiannon, während er das sagte, da er bei diesem schmerzvollen Abschied jemandem nahe sein musste. „Du kannst so viel Spaß haben, wie ihn ein Vierzehnjähriger haben sollte, und musst dich nicht mehr um Mantel-und-Degen-Kram kümmern.“

Jamey machte den Mund auf und wieder zu. Statt etwas zu sagen, ging er noch einmal zu Roland und drückte ihn fest. Dann ging er rasch zur Tür und zu seinem Vater. „Jetzt bin ich bereit.“

Sein Vater legte Jamey einen Arm um die Schultern. Er sah die anderen an. „Ich hoffe, wir bleiben in Kontakt.“

„Ganz bestimmt, da seien Sie unbesorgt“, versicherte ihm Roland.

Das Paar ging in die Nacht hinaus, die Tür fiel langsam hinter ihnen ins Schloss. Eric nahm Tamara in die Arme. Roland wünschte, er könnte mit Rhiannon dasselbe machen, zögerte jedoch. Seit dem Zwischenfall mit Lucien hatte sie ihn nicht mehr zu so etwas ermutigt, und er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie das getan hätte, wenn sie es wollte.

Vielleicht hatte er die Liebe, die sie einst für ihn empfunden haben mochte, endgültig mit seiner Hartherzigkeit getötet. Warum jetzt, wo er sie sich so verzweifelt wünschte?