Keith
2. KAPITEL
„Zwei Wachen tot“, wiederholte DPI-Chef Weston Fuller, obwohl jeder Anwesende dieser Stabskonferenz die Zahl der Opfer bereits kannte. „Sechs weitere verletzt. Und dieser verdammte Jameson Bryant befreit und verschwunden.“ Er schlug mit der nach unten gedrehten Pfeife gegen das Glas des Aschenbechers und klopfte den verbrauchten Tabak heraus.
„Egal.“ Chefattaché Stiles ging seine Checkliste durch und nickte dabei. „Wir haben von ihm, was wir brauchen. Unsere Theorie hat sich bestätigt. Nach der Verwandlung sind die Männer unfruchtbar. Aber vorher, wenn sie noch Menschen sind …“
„Von wegen Menschen. Nur scheinbar. Tiere, allesamt …“
„Ja, hm …“ Stiles räusperte sich. „Jedenfalls, vor ihrer Verwandlung sind sie fruchtbar. Das Belladonna-Antigen scheint keinen Einfluss auf die Zahl der Spermien zu haben.“
„Wie ich befürchtet habe.“ Fuller stieß sich mit dem Sessel vom Konferenztisch weg, sodass die Rädchen unter seinem Gewicht ächzten, bevor er aufstand. Er sah zu Dr. Rose Sversky, die auf die siebzig zuging, aber immer noch die Beste im Forschungsteam des DPI war. Sie hatte kurz geschnittenes schneeweißes Haar und eine zierliche Gestalt. Sie sollte eine Schürze tragen und Enkelkinder auf dem Schoß wiegen, nicht Vampire sezieren, dachte Fuller.
„Haben Sie die Daten?“, fragte er. „Wie sieht es aus?“
Rose rückte die Brille zurecht, deren Gläser dick wie die Böden von Colaflaschen waren, und räusperte sich. „Von den zwölftausendfünfhundert weiblichen Subjekten, die wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten getestet und/oder seziert haben“, sagte sie mit klinischer, kalter Stimme, „hatten nur rund dreitausend lebensfähige Eizellen in den Eierstöcken. Bei achtundneunzig Prozent davon lag die Verwandlung kein Jahr zurück. Bei keiner länger als dreiundzwanzig Monate.“ Sie blickte von ihren Notizen auf und betrachtete die Anwesenden über den Rand ihrer Brille hinweg. „Kurz gesagt, ja, Mr Fuller. Es wäre möglich, dass sich eine frisch verwandelte Vampirin mit einem sterblichen Mann paart und ein Kind zeugt.“
Hilary Garners Bleistiftspitze brach ab. Das Geräusch lenkte Fullers kalten Blick auf sie, er runzelte die Stirn. „Konzentrieren Sie sich, Garner. Wir brauchen diese Aufzeichnungen.“
„Ja, Sir.“ Sie versuchte, sich ihr Grauen nicht anmerken zu lassen, und holte sich vom Schreibtisch einen frischen Bleistift. Auf diese Position, Sekretärin von Weston Fuller, hatte man sie erst vor Kurzem befördert. Damit einher gingen eine deutlich bessere Bezahlung, wesentlich längere Arbeitszeit … und einige schreckliche, abscheuliche Enthüllungen über den wahren Sinn und Zweck dieser Organisation.
Als ihre Mitarbeiterin Tamara Dey sie vor vielen Jahren warnen wollte, hatte sie es nicht glauben wollen. Nichts sprach dafür, dass Tamara die Wahrheit sagte – über Entführungen, Folter, Mord.
Hilary blieb stehen und betrachtete ihr Spiegelbild in dem Bleistifthalter aus reinem Silber auf Fullers teurem Schreibtisch. Karamellfarbene Haut und große braune Augen mit wenigen Krähenfüßchen in den Winkeln blickten ihr entgegen, und ihr Spiegelbild flüsterte: Was zum Teufel machst du hier?
„Beeilen Sie sich doch bitte, Garner. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“
Hilary räusperte sich, nahm einen Stift aus dem Gestell und ging hastig zu ihrem Platz neben Chief Fuller zurück.
„Nun denn“, fuhr er fort, immer noch an Rose Sversky gewandt. Sie war die beste – und vermutlich, dachte Hilary, die einzige – forensische Pathologin der Welt, die sich auf die Untersuchung der Überreste von Vampiren spezialisiert hatte. Aber Fuller redete weiter, und Hilary sollte besser zuhören.
„Angenommen, eine dieser Frauen würde sich mit einem Sterblichen paaren, der das Antigen in sich trägt. Was wäre die Folge?“
Rose zuckte mit den Schultern. „Ein Baby, nehme ich an.“ Sie blinzelte, ein nervöses Kichern wurde am Tisch laut.
„Ja, aber was für ein Baby?“ Fuller ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und sah alle hochrangigen Agenten am Konferenztisch nacheinander an. „Begreifen Sie denn nicht, worauf ich hinauswill? Sollten diese Kreaturen eine Möglichkeit finden, sich zu vermehren, wären wir innerhalb weniger Jahre in der Minderzahl.“
„Und was sollen wir Ihrer Meinung nach dagegen tun?“ Alle sahen Hilary an, als sie diese Frage hervorstieß. Verdammt, sie sollte hier den Mund überhaupt nicht aufmachen. Nur dasitzen und stumm Notizen machen, während die Bosse ihre Pläne schmiedeten. Neben Hilary war Rose die einzige Frau hier am Tisch, und das auch nur, weil sie auf Rose keinesfalls verzichten konnten.
Wes Fuller lehnte sich in seinem Sessel zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie an, als erwartete er eine Entschuldigung. Hilary ging nicht darauf ein. Sie setzte sich etwas gerader hin und sah ihm starr in die Augen.
Die Spannung stieg bis zum Zerreißen an, bis er sich schließlich nach vorn beugte, mit den Handflächen auf die Tischplatte schlug und sich zu ihr neigte. „Was wir dagegen tun werden, Miss Garner? Wir finden es heraus.“
„W-was heraus …?“
„Wie das Ergebnis so einer Paarung aussehen würde. Forschung, Garner. Das machen wir hier.“ Er nickte Stiles zu und nahm wieder seine bequeme, legere Haltung auf dem Sessel ein, wo er Entscheidungen über Leben und Tod traf, als würde er etwas zum Mittagessen bestellen. „Wir haben die tiefgefrorenen Proben von Jameson Bryant, und Sie sagen, die sind fruchtbar?“
„Ja, Sir.“
„Gut.“ Dann wandte er sich Whaley zu, dem Regionalbereichsleiter Ost. „Wir brauchen eine frisch verwandelte Frau. Vorzugsweise aus der Nähe, damit es keine Probleme beim Transport gibt.“
Whaley nickte zur Bestätigung. „Ich setze jeden Agenten in der Gegend ein. Wir haben binnen einer Woche eine Testperson.“
Fuller lächelte zufrieden, dann sah er Hilary so stechend in die Augen, dass sie sich irgendwie schmutzig vorkam. „Haben Sie irgendein Problem damit?“
Sie blinzelte, senkte den Kopf, sagte nichts.
„Ich hoffe nicht. Mit Angestellten, die die Arbeit hier nicht ertragen, gehen wir nämlich streng ins Gericht, Miss Garner. Sehr streng.“
„Verstehe“, antwortete sie und sah ihn an. Und als sie in diese eiskalten Augen blickte, wusste sie, was er meinte. Sie verstand genau. Wenn sie versuchte auszusteigen, hier wegzukommen … würde sie sterben. Oder verschwinden, wie die hübsche junge Tamara vor so langer Zeit. Und niemand würde etwas mitbekommen.
Fuller entließ sie, ebenso wie alle anderen Teilnehmer der Sitzung. An der Tür hielt er sie jedoch noch einmal auf und nickte zu dem Notizblock, den sie auf dem Tisch vergessen hatte. „Ich möchte diese Notizen binnen einer Stunde abgetippt vorliegen haben.“ Dann zwängte er sich an ihr vorbei.
Hilary nickte nur und sah ihm nach.
„Alles in Ordnung, Liebes?“
Erst jetzt registrierte sie Rose Sversky, die die Aktenhefter vom Tisch sammelte. Sie waren allein in Fullers Büro, Hilary schloss wider besseres Wissen die Tür.
„Rose … wie können Sie bei so etwas mitmachen?“
Rose überflog stirnrunzelnd ein Blatt Papier, ehe sie den Hefter zuklappte und auf den Stapel legte. „Bei was? Das sind Forschungen, und sie sind notwendig.“
„Nicht nur.“
Da sah Rose sie an, sah sie wirklich an. Sie schob die Brille ein wenig zurecht und musterte Hilary eingehend.
Hilary kam näher, als könnte sie so besser auf ihr Gegenüber einwirken. „Dies hier ist ein Gefängnis. Wissen Sie, dass Gefangene in den Kellergeschossen leben? In Zellen eingesperrt wie Tiere.“
„Natürlich weiß ich das, Liebes. Ich bin die Forschungsleiterin.“
Hätte sie Hilary geschlagen, sie wäre nicht schockierter gewesen. „Sie wissen es?“ Rose nickte. Herrgott, dachte Hilary, vermutlich wusste sie es schon die ganze Zeit. Hilary hatte es erst kürzlich herausgefunden und war davon ausgegangen, die freundliche alte Frau wäre ebenso schockiert wie sie. „Aber, Rose …“
„Nichts aber. Wir reden hier nicht über Völkermord. Das sind Tiere, keine Menschen. Sie ernähren sich von Menschen. Um Himmels willen, hier heißt es, sie oder wir. Das muss Ihnen doch klar sein.“
Hilary wich fassungslos einen Schritt zurück. „Aber … aber was sie vorhaben! Ein Baby, um Himmels willen! Und was soll aus ihm werden, wenn sie Erfolg haben?“
„Kein Baby. Ein Welpe. Ein junges Tier, nicht anders als die anderen.“ Erneut schob sie die Brille zurecht und seufzte. „Das wäre die unglaublichste Chance für die Forschung, die wir je hatten.“
Hilarys Kehle war wie zugeschnürt. Das war wahrhaftig ein Albtraum. Sehnte sich diese reizende alte Dame tatsächlich danach, ein Kind aufzuschlitzen? Hilarys Hände waren schweißnass, sie zitterte und fühlte sich schwindelig, so unwirklich kam ihr alles vor. Ihre Knie wurden weich. Sie stützte sich mit einer Hand am Tisch ab, damit sie nicht fiel.
„Hilary“, begann Rose, kam einen Schritt näher und kniff die Augen zusammen. „Sie begreifen doch, warum das alles notwendig ist, oder? Denn wenn nicht …“, ein falsches Lächeln erhellte ihr Gesicht, nicht minder falsche Besorgnis stand in ihren Augen, „kann ich Sie von diesem Fall abziehen lassen. Vielleicht waren Sie noch nicht bereit für diese Beförderung. Nicht jeder verarbeitet die Forschungen, die wir hier betreiben, das weiß das DPI sehr wohl.“
Ihre Stimme hatte sich verändert. War zuckersüß geworden. Und hinter der geheuchelten Besorgnis in ihren Augen lauerte dunkles Misstrauen.
Natürlich weiß das DPI das. Und wer die Arbeit nicht erträgt, der verschwindet spurlos.
Hilary schluckte und schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke, jetzt verstehe ich es besser. Sie haben recht. Es ist notwendig. Ich … bin froh, dass wir darüber gesprochen haben.“
„Gern geschehen“, antwortete Rose, und ihr Lächeln schien an Aufrichtigkeit zu gewinnen „Sie können jederzeit zu mir kommen, wenn Sie etwas auf dem Herzen haben. Okay?“
„Danke. Das werde ich.“ Und du läufst sofort zu Fuller und meldest ihm alles. Verdammt, wahrscheinlich sorgst du sogar selbst dafür, dass diese kurze Unterhaltung in meine Akte kommt.
Rose lächelte immer noch, als sie den Stapel Hefter an die Brust drückte und das Büro verließ. Hilary lehnte sich an die Tür und kämpfte gegen die Übelkeit an. Sie hatte zu viel gesagt, ihre Worte unbedacht ausgesprochen. Hatte ein Stereotyp in Rose Sversky gesehen. Eine reizende alte Dame. Eine Großmutter. Die Frau des Weihnachtsmannes. Verdammt, ein Wahnsinn, dass sie diese Büchse der Pandora geöffnet hatte. Rose wusste schon seit Jahren über die Scheußlichkeiten Bescheid, die das DPI finanzierte. Seit Jahren! Verdammt, vermutlich steckte sie selbst mit drin!
Und was würde sie jetzt tun? Hatte Hilary noch rechtzeitig die Kurve gekriegt oder sich völlig bloßgestellt? Und was, wenn ja?
Sie hatte Angst. Herrgott, sie hatte solche Angst.
Jameson und die anderen blieben ein paar Tage in Rhiannons Penthouse in Manhattan. Dicke schwarze Vorhänge und darunter dunkle Jalousien säumten jedes Fenster. Und es gab keinen Sarg; alle schliefen in Betten, Befehl von Rhiannon, die ein gutes Leben zu schätzen wusste. Satinlaken auf jeder Koje in der Suite.
Jameson musste über ihr Auftreten lächeln. Sie hielt den konservativen und asketischen Roland eindeutig auf Trab.
Roland. Wie oft hatte er Jameson jetzt schon das Leben gerettet? Dreimal? Viermal? Einmal hatte DPI-Agent Curtis Rogers Jameson entführt, als er – wie alt, zwölf? – gewesen war. Der Dreckskerl ließ ihn gefesselt mitten im tiefsten Winter in einem leer stehenden Gebäude zurück. Natürlich war alles nur ein Manöver, um Tamara zu bekommen. Aber wenn Roland ihn nicht gefunden hätte, als er diese Treppe runtergefallen war …
Und später, nach dem Tod seiner Mutter, hatte dieses Aas Lucien ihn geschnappt und wollte sein Leben gegen die dunkle Gabe eintauschen. Und wieder kam sein Freund ihm zu Hilfe, Rhiannon wäre dabei fast ums Leben gekommen.
Und jetzt waren sie wieder zur Stelle gewesen. Retteten ihn gerade noch rechtzeitig vor dem sicheren Tod. Überzeugt davon, dass er als Sterblicher nicht auf sich selbst aufpassen konnte.
Verdammt, er war doch schon ein halber Vampir. Jedenfalls lebte er wie einer. Schlief tagsüber, arbeitete nachts. Was ihm ganz normal erschien, da er so viel Zeit in ihrer Gesellschaft verbrachte. Selbst als Roland Jamesons leiblichen Vater für ihn ausfindig gemacht und zu ihm nach Kalifornien geschickt hatte, behielt er seine nächtliche Lebensweise bei.
Eines Tages, dachte er, würde er einen von ihnen bitten, ihn zu verwandeln. Eines Tages. Noch nicht. Ihm blieben noch einige Jahre als Sterblicher, und er würde gern noch ein paar Sonnenuntergänge sehen, ehe er sich für immer davon verabschiedete. Er schätzte ein gutes Steak, ein Glas Wein und war noch nicht ganz bereit, das alles für eine reine Flüssigdiät aufzugeben.
„Ihr solltet nicht zu lange in der Stadt bleiben“, warnte er die anderen in jener Nacht, während er auf und ab ging. Es war ihre dritte Nacht in Manhattan. „Ihr wisst, diese Stadt ist praktisch verlaust von diesen DPI-Dreckskerlen.“
Rhiannon lächelte. „Ich wünschte, mir würde einer über den Weg laufen.“ Sie leckte sich die Lippen und handelte sich einen bösen Blick von Roland ein, was sie aber nicht weiter bekümmerte. Sie streichelte Pandora den Kopf, die Raubkatze schlug verspielt mit der Pfote nach ihrer Hand.
„Du hast recht, Jamey“, sagte Tamara, ging zum nächsten Fenster, zog die Vorhänge auf und riss kurz an der Jalousie, damit sie sich aufrollte. Dann betrachtete sie die funkelnde Silhouette der Stadt. „Aber ich will erst weg, wenn du aufbrichst. Ich weiß, du bist noch wütend. Und du sinnst auf Rache.“
Er zuckte mit den Schultern. „Das ist mein Problem. Ich muss euch nicht darüber informieren. Ich will nicht, dass ihr euch meiner Probleme annehmt, Tam. Eines Tages findet ihr den Tod, weil ihr eure Nasen in Angelegenheiten steckt, die …“
„Ich hatte einen Traum.“
Jameson verstummte, als Tamara sich langsam umdrehte und ihn mit ihren großen, dunklen Augen ansah. „Jamey, ich hatte einen Traum … von dir.“
Eric sah seine Frau nach diesem Bekenntnis verwundert an und legte das Buch weg, in dem er gelesen hatte. Ein neues über Quantenphysik. „Davon höre ich zum ersten Mal.“
„Beim ersten Mal habe ich nichts gesagt … aber … heute hatte ich ihn wieder.“ Sie richtete den Blick wieder auf Jameson und lächelte traurig. „Nichts Visuelles. Nur so ein Gefühl. Das schreckliche Gefühl, dass dir was zustoßen wird, Jamey. Hier, in dieser Stadt. Und darum reise ich nicht ab. Nicht vor dir.“
Jameson senkte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, mit Tamara zu streiten. Sie war schon als Sterbliche wie eine Schwester zu ihm gewesen. Eine ängstliche und zugleich liebevolle Glucke.
„Also“, schnurrte Rhiannon und schlich so anmutig wie ihr „Kätzchen“ durch das Zimmer zu Tamara. „Ganz meine Meinung. Wir bleiben. Wenn jemand Jameson auch nur ein Haar krümmt, werden wir …“, sie lächelte dieses anzügliche Lächeln, von dem er, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, feuchte Träume bekam, „… etwas unternehmen.“
Jameson biss die Zähne zusammen. Es spielte keine Rolle, dass er größer war als Roland und seine Muskeln nach Stunden im Fitnessstudio kräftiger waren als die von Eric. Es spielte keine Rolle, dass er in seinen pechschwarzen Haaren vergangene Woche ein vereinzeltes graues Haar gefunden oder einen Monat zuvor seinen vierunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte – sie würden immer das schutzbedürftige Kind in ihm sehen. Immer.
Er drehte sich um, ging zur Apartmenttür und nahm unterwegs den Mantel. „Ich gehe spazieren.“ Die Hand auf dem Türknauf, sah er alle durchdringend an. „Und wenn mir einer von euch folgt, komme ich nie wieder her, das schwöre ich bei Gott.“
„Jamey!“ Tamara lief zu ihm und nahm seine Hand, als wollte sie ihn aufhalten.
„Jameson“, verbesserte er sie sanft. „Sieh mich an, Tamara. Nein, wirklich, sieh mich an. Ich bin nicht mehr Jamey.“ Sie gehorchte, ließ den Blick ihrer schwarzen Augen über sein Gesicht wandern, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie nickte. Er strich mit der Hand durch ihre dunklen Locken, bückte sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Bitte versteh das, Tam. Ich brauche etwas Freiraum, okay?“
Ihre Unterlippe bebte, sie nickte. „Sei vorsichtig“, flüsterte sie.
„Ich bin immer vorsichtig.“
Er wandte sich ab und verließ das Apartment.
Er ging allein und vollkommen furchtlos durch die Dunkelheit. Abgesehen von vereinzelten Begegnungen mit Leuten vom DPI, wollten sich die wenigsten mit Jameson anlegen, wenn sie ihm einmal in die Augen sahen. Vermutlich leuchtete der alte Zorn darin. Und ab jetzt wohl mehr denn je. Jetzt, da sie ihn als Erwachsenen mit ihren dreckigen Fingern benutzt und gedemütigt hatten. Oh, er kannte sie gut. Wie sie Tamaras Eltern töteten, nur damit sie Tamara selbst in die Hände bekamen. Schon als kleines Mädchen benutzten sie sie als Köder, wohl wissend, dass sie das Antigen in sich trug und früher oder später einer der Untoten auftauchen und nach ihr Ausschau halten würde.
Und als ihr sterblicher Aufpasser, der gütige alte Daniel St. Claire, es sich anders überlegte und beschloss, dass er sich nicht mehr an der Verschwörung gegen das Kind beteiligen wollte, da hatten sie auch ihn beseitigen lassen.
Sie waren ruchlose, blutrünstige Monster. Sie jagten die Untoten wie Tiere, und wenn sie sie fanden, setzten sie sie völlig gewissenlos ihren Experimenten aus.
Dreckskerle.
Jameson musste wissen, warum sie ihn diesmal geholt hatten. Was für Informationen sie suchten. Warum sie diese speziellen Proben entnommen hatten und was sie jetzt planten.
Er musste es wissen. Aber wie sollte er das herausfinden? Darüber musste er nachdenken, und zwar allein. Im Freien, wo die kalte, klare Winterluft seine Gedanken beflügelte und niemand ständig besorgt über ihn wachte.
Er ging schnell und genoss die Anstrengung und die Kälte. Und er plante. Er könnte ins DPI-Hauptquartier einbrechen und dort die Akten durchsehen. Sich vielleicht in ihre Computer hacken und feststellen, ob sich da Informationen finden ließen. Vielleicht könnte er einen von denen entführen. Die Nazi-Ärztin Rose Sversky vielleicht, oder Stiles, Fullers Schoßhündchen. Sie so lange foltern, bis sie redeten. Möglicherweise sogar Fuller selbst. Jameson lächelte, als er an die Schmerzen dachte, die er dem Mistkerl gern zufügen würde, der so viele andere schon so lange quälte.
Trotzdem – er konnte nichts tun, bis er Eric, Tamara, Roland und Rhiannon davon überzeugt hatte, dass sie hier verschwinden und ihn allein lassen mussten. Wenn sie blieben, würden sie in das Schlamassel hineingezogen werden, das er anrichtete, wie immer, und das wollte er nicht. Er wollte seine Freunde – eigentlich seine Familie – keiner Gefahr aussetzen, nur weil er seinem alten, stetig wachsenden Zorn Luft machen musste. Seiner Leidenschaft, längst überfällige Gerechtigkeit geschehen zu lassen. Dabei durfte er sie nicht in der Nähe haben. Es würde nicht schön werden.
Daher musste er wohl oder übel warten und …
Jameson blieb auf der Straße stehen, verharrte mit leicht schräg gelegtem Kopf, während der kalte Wind ihm das Haar zerzauste und auf seinen Wangen brannte. Er hatte etwas gehört … etwas so Leises, dass es keinem anderen Passanten aufzufallen schien. Oder es kümmerte keinen. Er konzentrierte sich, das Geräusch im Lärm von Motoren und Hupen und zischenden Druckluftbremsen wiederzuerkennen. Nachts war es nicht ganz so laut wie tagsüber, aber es war immer noch laut genug.
Eine Sekunde verging, dann zwei. Und dann hörte er es wieder. Ein Stöhnen, ein gequältes, schmerzvolles Stöhnen.
Und diese Stimme gehörte einem Vampir. Einer Vampirin, um genau zu sein.
Jameson spürte eine Gänsehaut auf dem Rücken, als er nach dem Ursprung des Geräusches suchte. Ein leer stehendes Gebäude mehrere Meter entfernt. Bröckelnde Mauersteine und zerbrochene, schmutzige Fensterscheiben. Schnee auf den alten Dachgauben. Monsterfratzen entlang der Dachfirste, auch wenn von diesen grimmigen Wächtern kaum mehr etwas übrig war. Man konnte nicht einmal mehr ihre Konturen erkennen, abgesehen von aufgerissenen Mäulern und schneebedeckten Engelsflügeln.
Sie war da drin.
Jameson hatte keine Ahnung, woher er das wusste, wie er auch nur ihre Stimme hören konnte. Sie schien unhörbar. Jedenfalls für die Ohren von Sterblichen. Aber da lag ja das Problem. Er hatte die Ohren eines Sterblichen. Warum also hörte er sie, spürte sie da drinnen? Warum empfand er ihren Schmerz?
Jameson Bryant war kein Narr. Er hatte schon andere übernatürliche Wesen getroffen, die ihm fremd waren. Und er ging ihnen stets aus dem Weg. Sicher, es widersprach ihrer Natur, einem der Ihren Schaden zuzufügen – einem der Auserwählten. Einem der seltenen Sterblichen, in dessen Adern das Belladonna-Antigen floss. Dieses Antigen erkannten sie immer. Rochen es oder ahnten es vielleicht. Und die meisten Untoten beschützten und behüteten Sterbliche mit dem Antigen. Dunkle Wächter. Dunkle Engel. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln, so ironisch kam ihm das vor.
Aber es gab Ausnahmen für jede Regel. Und jede Gattung, jede Art kannte ihre Monster. Es entsprach nicht Jamesons Gewohnheit, dass er sich einfach fremden Vampiren näherte und die Hand ausstreckte.
Aber diesmal verhielt es sich anders. Er verspürte eine Art Zwang, als würde ihn eine unsichtbare Macht anziehen, die er weder kannte noch begriff. Sie könnte wahnsinnig sein. Sie könnte ein Killer sein. Sie könnte ihn angreifen. Aber er konnte nicht anders, er musste über die grauen, kreuzförmig vernagelten Bretter am Eingang des Gebäudes klettern und sich durch den Schutt einen Weg zu ihr bahnen.
Und als er sie endlich sah, setzte sein Herzschlag für einen Moment aus.
Sie kauerte in Embryonalhaltung in einer Ecke. Ihr schwarzes Kleid – eine Tracht oder etwas Ähnliches – war zerrissen und schmutzig. So schmutzig wie ihr verfilztes schwarzes Haar, das ihr Gesicht bedeckte. Sie sah unglaublich blass aus. So blass, dass sie in der Dunkelheit fast wie ein Phantom leuchtete. Und dünn. Richtig ausgemergelt. Ihre Hände … großer Gott, er konnte die Knochen dieser kalkweißen Hände sehen.
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, da hob sie ruckartig den Kopf und sah mit aufgerissenen, furchtsamen Augen zu ihm auf. In diesem Moment gaben die Wolken den Mond frei, dessen Licht durch die geborstenen Fensterscheiben fiel und ihr Gesicht und die Augen in seinen ätherischen Schein tauchte. Sie war beängstigend dünn, aber dennoch wunderschön. Im Mondschein glich ihr Gesicht einer Skulptur. Hohe, vorstehende Wangenknochen und ein zierliches Kinn. Volle Lippen, leicht geöffnet, ein langer, schlanker Hals, den Jamesons Blick nicht mehr loslassen wollte. Dann bewegte sie den Kopf fast unmerklich, und das Licht fiel auf ihre Augen; er hielt den Atem an. Sie waren lila, leuchtend lila. So leuchtend, dass er die Farbe für unecht gehalten hätte, hätte er es nicht besser gewusst. Große, strahlende Augen von leuchtender Farbe. Da sie so mager war, wirkten diese Augen noch größer, und zweifellos wirkte ihr Knochenbau durch ebendiesen Zustand und die hohlen Wangen wie der einer Göttin oder eines Engels.
Doch sie war kein Engel. Sie war eine Vampirin, möglicherweise eine gefährliche. Das wusste er.
Und er wusste noch mehr.
Er wusste, dass diese Vampirin kurz vor dem Verhungern war. Er wusste, dass sie die Grenze zum Wahnsinn womöglich längst überschritten hatte. Er wusste, er sollte gehen.
Und er wusste verdammt gut, dass er das nicht tun würde.