Keith
5. KAPITEL
Roland schloss die Augen, als er ihre Lippen an seinem Hals spürte. Ihre Berührung weckte seine Blutgier. Sexuelles Verlangen erfüllte ihn, und er fühlte sich zu schwach, dagegen anzukämpfen. Herrgott, er begehrte sie so sehr. Und was sie jetzt gerade tat, fachte diese ohnehin fast übermächtige Sehnsucht nur noch mehr an. Langsam bröckelte die Fassade der Zurückhaltung, die er so mühsam aufgebaut hatte, unter dem Bombardement der Begierde.
„Genug!“
Er hatte nicht beabsichtigt, dass der knappe Befehl so barsch klingen sollte. Sofort hob sie den Kopf und blinzelte. Roland sah die Leidenschaft in ihren Augen, auch wenn der Schmerz sie trübte.
„Noch mehr, und ich habe nicht mehr die Kraft, dich nach Hause zu tragen, Rhiannon“, log er in deutlich sanfterem Tonfall. Er fürchtete immer noch um ihr Wohlergehen, aber ehrlich gesagt, wenn sie nicht gleich aufgehört hätte, dann hätte er sie womöglich hier und jetzt in das duftende Laub gelegt und sie leidenschaftlich genommen, Schmerzen hin oder her.
„Dann setz mich ab. Ich kann gehen.“
Er schüttelte nur den Kopf und setzte sich wieder Richtung Schloss in Bewegung.
„Ich sagte, setz mich ab. Ich habe noch nie Hilfe von einem Mann gebraucht, und dazu wird es auch nie kommen. Ich komme allein zurecht.“
„Heute Nacht hast du die Hilfe eines Mannes gebraucht, Rhiannon. Und wenn du deinen tollkühnen Lebenswandel nicht beendest, kommt es zweifellos wieder dazu. Und du brauchst sie jetzt auch, ob du es dir eingestehen willst oder nicht, also ruh dich in meinen Armen aus und sei still.“
Sie machte es sich bequemer, doch ihr verkniffener Mund verriet ihm, dass die Diskussion noch nicht beendet war. „Das mache ich, aber nur weil ich die Wahrheit kenne. Du trägst mich, weil es dir gefällt. Du magst es, meinen Körper so nahe an deinem zu spüren. Und was die Hilfe von einem Mann betrifft, da liegst du vollkommen falsch. Ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet, diesem Trottel den Kopf von den Schultern zu reißen. Ich bin ebenso befähigt wie jeder Mann, sterblich oder unsterblich, jung oder alt, und das solltest du nie vergessen.“
Roland verdrehte die Augen. „Ich dachte, ich würde wenigstens ein Wort des Dankes dafür hören, dass ich dir das Leben gerettet habe. Stattdessen handle ich mir Vorwürfe ein, weil ich doch tatsächlich dachte, du könntest Hilfe brauchen.“
Sie schwieg einen Moment und dachte über seine Worte nach. „Na gut, ich denke, ich bin dir zu Dank verpflichtet. Aber glaub nicht, dass ich dir unterlegen bin.“
„Das habe ich nie geglaubt, Rhiannon.“
„Und das ist schamlos gelogen.“
Roland runzelte die Stirn und sah ihr ins Gesicht, während er sie weiter durch den zunehmend dichteren Wald trug. Trockenes Laub und abgebrochene Zweige knisterten unter seinen Füßen. „Warum sagst du das?“
„Dumme Frage.“
Roland konzentrierte sich mehr auf ihren ätzenden Tonfall als das Gewicht ihrer Hüfte, die bei jedem Schritt über seinen Unterleib strich. Er beachtete nicht, wie sie den Kopf an seine Schulter schmiegte und die runden Brüste an seinen Brustkorb presste. „Ich glaube, wenn du von DPI-Agenten angegriffen wirst, versetzt dich das definitiv in eine ungnädige Stimmung.“
Er sah, wie sie den Mund zu einer Antwort öffnete, doch dann blieb sie stumm und runzelte die Stirn. „Ich bin nicht sicher, ob er vom DPI war. Wenn ja, handelte er jedenfalls mehr im eigenen Interesse als in ihrem.“
„Was meinst du damit?“
„Roland, der Mann wusste ungewöhnlich viel über unsere Art. Er hat unsere Schwächen aufgezählt. Und er sprach mich mit meinem Namen an.“
Roland blieb stehen und sah zu der dunklen Mauer aus Stein, die Schloss Courtemanche umgab. Er konnte hören, wie der Fluss Tordu linker Hand rauschend und tosend dahinschoss, bis er irgendwann in die Loire mündete. Rechts, jenseits des Waldrands, lag eine grüne, kühle Wiese, die sich wie ein Teppich von der Schlossmauer bis zu einem kurvenreichen Feldweg erstreckte. Doch die Düfte von Gras, dem Fluss und der Nacht verblassten neben dem Geruch von Rhiannons Haar und Haut.
Roland schüttelte sich, schärfte seine Sinne und suchte nach der Präsenz von anderen. Sie waren gut vorangekommen, doch er fürchtete, die Einsatzkräfte des DPI könnten schon unterwegs sein.
„Roland, du hörst mir nicht zu. Ich habe keine Spur von diesem Mann entdeckt, obwohl er im Hinterhalt lag. Er kann seine Anwesenheit verschleiern und uns abblocken.“
Roland nickte. „Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie diesen einfachen Trick lernen würden, Rhiannon. Das sollte dich nicht beunruhigen.“
„Er hat mir befohlen, ihn zu verwandeln.“
Roland erstarrte und spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Das ist lächerlich. Er könnte nur verwandelt werden, wenn er einer der Auserwählten wäre. Jeder, der für das DPI arbeitet, müsste das wissen …“
„Was nur bedeuten kann, dass er einer der Auserwählten ist, Roland, und wir hätten seine Anwesenheit spüren müssen. Irgendwie hat er seine geistigen Fähigkeiten geschult. Der Mann ist gefährlich.“
Roland erinnerte sich wieder an den Schock, den er verspürt hatte, als Rhiannon im Stadion die geistigen Fühler nach ihm ausgestreckt hatte. Er erinnerte sich an die Wut, die er empfunden hatte, als er sah, wie der Dreckskerl sie festhielt, das Messer ihre empfindliche Haut durchbohrte und er die Klinge herumdrehte, während sie vor Schmerzen keuchte und Tränen ihr in den Augen standen.
„Du hättest mich ihn töten lassen sollen.“
Sie wurde vollkommen still und sah ihm ins Gesicht. „Und das hättest du fast auch getan, Roland. Ich habe dich noch nie so erlebt.“
„Mit gutem Grund.“ Er sah auf sie hinab. Bei Gott, er wünschte sich, sie hätte diese hässliche Seite von ihm nie gesehen. Aber sie hatte es, und daher schien es sinnlos, sie zu leugnen. „Ich bin zu erschreckender Gewalt fähig, Rhiannon. In mir lauert ein Dämon, der bei Blutvergießen gedeiht.“
Sie runzelte die Stirn, sodass sich ihre Augenbrauen über der zierlichen Nase zusammenzogen. „Ich kenne dich vom ersten Augenblick deiner übernatürlichen Existenz an, Roland, und ich habe noch nie eine Spur dieses Dämons gesehen.“
„Ich halte ihn im Zaum, jedenfalls ist mir das bis heute gelungen.“ Er sah ihr in das wunderschöne, makellose Gesicht. Warum fiel es ihm so schwer, sich zu beherrschen, wenn sie in der Nähe war? Sie war wie ein Magnet, lockte die Bestie aus ihrem verborgenen Bau und erweckte sie allein durch ihre Gegenwart zum Leben. „Er war schon vorher in mir, Rhiannon, als ich noch ein Sterblicher gewesen bin.“
„Du warst ein Ritter! Im ganzen Land für seine Tapferkeit und Tugend bekannt und …“
„Alles beschönigende Umschreibungen für Blutgier. Ich war versiert in der Kunst des Kampfes. Ein geschickter Killer. Mehr nicht.“
Sie erstarrte in seinen Armen. „Du irrst dich. Dieser Dämon, von dem du angeblich besessen bist, ist nichts weiter als Lebenswille. Damals herrschten brutale Zeiten, und nur die Brutalen konnten überleben. Im Kampf muss ein Mann töten, oder er wird getötet. Du hast getan, was notwendig war …“ Plötzlich zuckte sie zusammen und klammerte sich fester an seinen Hals.
Er spürte ihr Unbehagen so deutlich, als wären es seine eigenen Schmerzen. „Drück das Taschentuch fester drauf, Rhiannon. Es fängt wieder an zu bluten.“ Er hielt sie fester, legte die letzten paar Meter bis zur Mauer im Laufschritt zurück und sprang mühelos darüber. Dies war nicht die Stunde für Vorwürfe oder Geständnisse. Nicht solange ihr Leben langsam aus dem Körper floss. Seltsamerweise schien es Roland, als würde auch seine Lebenskraft in perfektem Einklang mit ihrer schwinden.
Er trug sie durch den kahlen Innenhof, an dem verfallenen Brunnen in seinem Zentrum vorbei und weiter durch die große quietschende Tür. Er stellte sie auf die Füße, damit er die Tür schließen konnte.
Die Katze sprang anmutig von der untersten Treppenstufe hoch, blieb vor ihrer Herrin stehen und schien sie fast mit stechenden, intelligenten Augen zu studieren. Pandora hob den Kopf und schnupperte behutsam an Rhiannons blutgetränkter Bluse; das Knurren, das aus ihrer Kehle aufstieg, konnte man als erschrockenen Laut deuten.
„Schon gut, Kätzchen. Das ist nicht mein Ende.“ Rhiannon streichelte der Katze mit einer Hand den Kopf, während sie mit der anderen das Taschentuch an die Taille drückte.
Jamey kam die Treppe heruntergerannt, dicht gefolgt von Frederick. Der Junge blieb einen Meter vor Rhiannon stehen und verzog das Gesicht zu einer steinernen Maske, wie sie kein Kind seines Alters jemals zeigen sollte.
Frederick kam näher, ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und entfernte das Taschentuch ganz kurz, ehe er es wieder auf die Wunde drückte. „Sieht schlimm aus. Das muss genäht werden.“
„Nicht unbedingt“, widersprach Roland und hoffte, dass man ihm nicht anmerkte, welche Wirkung diese Worte auf seine innere Ruhe hatten. Genäht. Das beschwor das Bild herauf, wie ein spitzer Gegenstand ihre empfindliche Haut durchbohrte, ein Gegenstand, den er in der Hand hielt. Die Schmerzen wären unerträglich.
Frederick schaute auf und schüttelte den Kopf. „Es hört nicht auf zu bluten.“
Roland schluckte heftig. Frederick war Armeearzt gewesen, ehe seine Geisteskrankheit ihn zum Kind gemacht hatte. Der Mann verstand einiges von Verletzungen. Dennoch, der Gedanke an die Schmerzen … „Sie braucht nur Ruhe.“
„Unsinn“, mischte sich Rhiannon leise ein. „Ich kann ruhen, aber der Schlaf der Genesung beginnt erst im Morgengrauen. Ich glaube, dass ich bis dahin verblutet bin.“
Als er ihre Worte hörte, war es Roland, als hätte man ihm mit der Faust in den Magen geschlagen. So tollkühn und nervtötend sie war, er konnte sie nicht sterben lassen. Allein der Gedanke war unerträglich. Er sah abermals zu Frederick. „Kannst du das?“
Fredericks blaue Augen wurden groß, er schüttelte den Kopf. Offenkundig erfüllte ihn die bloße Vorstellung mit Todesangst.
„Du musst die Wunde nähen, Roland.“ Rhiannons Stimme klang fest und entschlossen, aber er hörte die Schwäche heraus. „Es muss doch in diesem Haus irgendwo eine Nadel geben. Du kannst die Seidenfäden meiner Bluse benutzen. Die ist sowieso ruiniert.“
Er bemerkte ihren zunehmend umwölkten Blick und wusste, dass sie recht hatte. Das geisterhafte Bild der Nadel, die er selbst führte, um ihr qualvolle Schmerzen zuzufügen, machte ihn krank. Doch er riss sich zusammen. Er würde tun, was getan werden musste.
„Ich bringe eine Nadel“, sagte Frederick leise. Er wandte sich um, schlurfte die Wendeltreppe aus Stein hinauf und hielt sich dabei dicht an der Wand, als hätte er Angst, er könnte vielleicht abstürzen, wenn er zu nahe an der offenen Seite ging.
Roland hob Rhiannon wieder hoch. Er wandte sich dem Gewölbekorridor zum Westflügel zu. Jameys leise und bebende Stimme hielt ihn auf. „Das war Rogers, nicht wahr?“
Rhiannon hob den Kopf von Rolands Schulter, als dieser sich zu dem wütenden Jungen umdrehte. „Nein, Jameson“, ließ sie ihn wissen. „Der war es nicht. Es war ein Mann, den ich vorher noch nie gesehen habe.“
„War er vom DPI?“
Sie seufzte. „Weiß ich nicht mit Sicherheit.“
Da sah Jamey Roland an. „Hast du ihn getötet?“
„Nein.“
„Aber das hätte er“, wandte Rhiannon hastig ein, als müsste sie ihn in Schutz nehmen. „Ich musste darauf bestehen, dass wir den Mann in Ruhe lassen und verschwinden, bevor uns die anderen aufspüren konnten.“
„Es wäre keine Lösung gewesen, ihn zu töten, Jameson. Das hätte nur mehr Probleme nach sich gezogen.“
Jamey schüttelte langsam den Kopf. „Das akzeptiere ich nicht.“ Er sah Roland wieder an, und in seinen jugendlichen Augen brannte ein Feuer, das den älteren Mann erschauern ließ. Als würde er in einen Spiegel blicken und sein jüngeres Ich vor sich sehen. „Egal“, sagte Jamey. Er sah Pandora an und neigte einfach nur den Kopf. Dann ging er ihnen voraus den Korridor entlang, und die Katze machte einen Sprung, um ihn einzuholen.
Roland runzelte die Stirn. „Hast du das gesehen?“
Rhiannon, die den dunklen Flur entlangsah, schüttelte den Kopf. „Er verständigt sich mit meinem Kätzchen.“
Sie hörte sich an, als würde ihr das nicht gefallen.
Rhiannon knirschte mit den Zähnen und kniff die Augen fest zu. Roland bohrte die Nadel mit zitternden Händen in ihre Haut und zog den Faden abermals zu einem festen Knoten zusammen. Er schnitt den Faden mit einer kleinen Nagelschere durch, beugte sich über sie und begann erneut.
Sie trug ein beigefarbenes von ihrem eigenen Blut besudeltes Nachthemd. Die ruinierte Bluse und den Rock hatte Roland ihr ausgezogen. Sie lag in Rolands Bett auf dem Rücken. Natürlich war das nicht sein Bett. Er hatte es nur in seiner Kammer stehen, um den Schein zu wahren. Einen Augenblick hatte sie Zeit gehabt, sich darüber zu freuen, dass er es stets frisch bezogen und eine flauschige Decke darauf liegen hatte, dann begann die Folter.
Roland saß mit grimmiger Miene auf der Bettkante. Jamey stand auf der anderen Seite. Nach dem ersten Stich und Rhiannons Stöhnen hatte er ihre Hand ergriffen. Sie drückte sie mit jedem neuerlichen Schmerz fester, bis sie sich daran erinnerte, dass sie seine sterblichen Knochen nicht zu Staub zermalmen sollte.
„Das ist meine Schuld. Ich hätte nicht darauf bestehen sollen, dass ihr mich zu dem Spiel begleitet.“
Rhiannon schüttelte rasch den Kopf. „Ich habe darauf bestanden, dass du gehst, und ich bedaure es kein bisschen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, als Roland sie erneut mit der Nadel pikste. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. „Du hast großartig gespielt, Jamey. Ich hatte einen Riesenspaß.“
„Du hättest sterben können.“
„Auf keinen Fall, Roland war doch dabei.“ Wieder ein Stich, und wieder holte sie zischend Luft. „Natürlich ist es für ihn ein alter Hut, hilflose Frauen zu beschützen.“
„Du bist kaum hilflos, Rhiannon“, meldete sich Roland zu Wort, kniff die Lippen jedoch gleich wieder fest zusammen, als er weiterarbeitete.
„Er war ein Ritter. Hast du das gewusst?“ Sie musste etwas sagen, egal was, damit sie Jamey von der bitteren Wut ablenkte, die ihn, wie sie spürte, zu übermannen drohte, und sich selbst von ihrer eigenen Qual. Es war unfair, dass man so stark und gleichzeitig so schwach sein konnte. Sie versuchte zwar, ihre Schmerzen vor den beiden zu verbergen, wusste aber, dass sie damit kläglich scheiterte. Mit jedem Stöhnen, das sie von sich gab, wurde Rolands Gesicht blasser und der Hass in Jamesons Augen brennender.
Aber wenigstens schienen ihre Versuche, den Jungen abzulenken, Früchte zu tragen, denn Jameys Augen wurden groß. Zur Abwechslung sah er einmal nicht wie ein gequälter junger Mann aus, sondern wie ein staunender kleiner Junge. „Ein Ritter? Mit Rüstung und Schwertern und alledem?“
„Ja. König Ludwig VII. hat ihn für seine Tapferkeit zum Ritter geschlagen. Aber er hat mir die ganze Geschichte nie erzählt.“ Sie kniff die Augen fest zu, um heiße Tränen zurückzuhalten, als die Nadel sie wieder pikste. Ihr wurde klar, dass sie die Geschichte wirklich hören wollte. Sie würde sie wenigstens teilweise von den Schmerzen ablenken. Außerdem spürte sie, dass Roland sich alles einmal von der Seele reden musste.
Er warf ihr einen Blick zu, der sie zum Schweigen bringen sollte, doch sie antwortete mit einem raschen Kopfschütteln.
„Erzählst du sie uns jetzt, Roland?“
Roland sah kurz zu Jamey.
„Ja, ich wünschte auch, das würdest du“, ertönte eine tiefe Stimme jenseits der offenen Tür. Rhiannon sah hastig auf und erblickte einen großen, hübschen Mann und eine zierliche Frau mit schwarzer Lockenpracht und perfekten runden Rehaugen. Unsterbliche, alle beide.
„Eric.“ Roland stand sofort auf und legte sein Folterinstrument auf den Nachttisch. Die beiden Männer trafen sich in der Mitte des Zimmers und umarmten sich wie Brüder. Jamey lief zu der Frau, die die Arme um ihn legte und schniefte wie ein rührseliger Mensch.
Aus den Augenwinkeln sah Rhiannon, wie Pandora sich duckte. Die Katze spannte die Lippen und fletschte die Zähne zu einem bedrohlichen Fauchen. Sie fuhr die Krallen auf eine beängstigende Länge aus und ging in eine geduckte Haltung, als sie sich darauf vorbereitete, die Frau anzuspringen, die Jamey hielt.
Es blieb keine Zeit für einen Warnruf. Rhiannon schnellte vom Bett hoch, landete auf der Katze und hielt sich an deren Hals fest. Die Stiche, die Roland so mühsam genäht hatte, rissen wieder auf; Rhiannon stieß vor Schmerzen einen lauten Schrei aus.
Die zierliche Frau rückte von Jamey ab und ließ sich neben Rhiannon auf die Knie fallen. Pandora befreite sich aus dem schwachen Klammergriff ihrer Herrin, wurde jedoch gleich wieder von Jamey festgehalten. Dann hob Roland Rhiannon wieder aufs Bett und fluchte verhalten.
„Könntest du uns vielleicht sagen, was zum Teufel hier los ist, alter Freund?“
Roland sah Eric nicht an. Sein gequälter Blick galt Rhiannons Gesicht. Er strich ihr das Haar aus den Augen. „Wir hatten einen kleinen Zusammenstoß mit dem DPI. Ich erzähle euch später alles.“ Roland suchte nach seiner Nadel und versuchte vergebens, den Faden einzufädeln. Durch brennende Tränen sah Rhiannon, wie seine Hände heftig zitterten.
Die zierliche Frau berührte ihn an der Schulter. „Lass mich.“
Roland seufzte vor Erleichterung, gab die Instrumente weiter und stand auf. Die Frau nahm seinen Platz auf der Bettkante ein. „Ich bin Tamara.“
„Rhiannon“, antwortete sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Und ich ertrage diese Nadel nicht mehr.“
Tamara betrachtete die Wunde stirnrunzelnd und schob das Nachthemd ein wenig hoch. „Sieht nicht so aus, als ob du eine Wahl hättest.“ Sie drehte den Kopf ruckartig herum, als die Katze näher kam und an ihrer Hand schnupperte. Jamey hielt den Panther noch an dem diamantbesetzten Halsband fest.
„Pandora, meine Katze“, erklärte Rhiannon, deren Stimme mit jeder Sekunde, die verstrich, schwächer klang.
„Was macht ihr hier?“ Rolands Stimme klang abgehackt, als er sich an Eric wandte. „Im Dorf wimmelt es von DPI-Agenten.“
„Ja, darum sind wir gekommen. Wir dachten, ihr könntet Verstärkung gebrauchen.“
„Aber woher habt ihr das gewusst?“
Tamara biss sich auf die Lippen, als sie die Nadel ansetzte. „Meine Freundin Hilary Garner arbeitet immer noch für sie. Sie hält uns auf dem Laufenden. Das DPI weiß, dass ihr in der Gegend seid, aber nichts vom Schloss. Jedenfalls noch nicht.“
Rhiannon schüttelte den Kopf. Die Frau arbeitete schnell und konzentriert. Bald würde sie es überstanden haben, wenigstens darauf konnte sie sich verlassen. „Curtis Rogers weiß es. Er stand gestern Abend vor dem Tor.“
„Curtis ist hier?“ Tamara wurde blass, ihre Hand zitterte kurz.
„Im Augenblick nicht. Ich habe ihn in die Irre geleitet.“
„Wenn Rogers es weiß, behält er es für sich“, sagte Eric mit tiefer, gefährlicher Stimme. „Zweifellos möchte er sich ganz allein rächen.“
Plötzlich blickte Tamara auf und sah Jamey durch das Zimmer in die Augen. Ihr Blick wurde sorgenschwer. „Genug von Curtis und dem DPI. Ich kann es kaum erwarten, diese Mittelaltergeschichte zu hören. Roland ein Ritter? Kein Wunder, dass du immer diesen ritterlichen Charme versprühst.“
Rhiannon warf Tamara einen verkniffenen Blick zu. Dieses unverhohlene Flirten missfiel ihr.
„Ich war ein Ritter. Sonst gibt es dazu nicht viel zu sagen.“ Rolands Miene war misstrauisch.
„Das bezweifle ich doch sehr, Roland“, meinte Eric.
„Du kannst bezweifeln, so viel du willst. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Belassen wir es dabei.“
Sein barscher Tonfall ließ keinen Zweifel an seinem Standpunkt. Eric hob die Brauen, nickte aber. „Wenn du es wünschst.“
Tamara tat den letzten Stich, zog den Faden straff, machte einen Knoten und legte die Nadel weg. Rhiannon seufzte laut. „Gott sei Dank, es ist vorbei.“
„Bleib bis zum Morgengrauen still liegen, Rhiannon. Wenn du sie vorher aufreißt, muss ich wieder von vorn anfangen.“
Rhiannon konnte es nicht fassen. Drohte ihr dieser Grünschnabel etwa? Ihr? Rhiannon? Prinzessin von Ägypten?
Dann sah die schlaksige junge Frau zu ihr herab und blinzelte. „Es ist spät, Jamey, du solltest ins Bett gehen.“
Zu Rhiannons Überraschung widersprach Jamey Tamara nicht. Er nickte und sah zu dem Stuhl in der Ecke, wo Freddy bereits in sich zusammengesunken saß und schnarchte.
Eric hatte im Kamin ein prasselndes Feuer hinter der Abschirmung entfacht. Rhiannon lag immer noch in dem riesigen Bett, und Roland fand, dass selbst sie in den aufgebauschten Kissen und Decken klein aussah. Tamara hatte er seit dem Tod von Jameys Mutter vor acht Monaten nicht mehr gesehen. Tamara und Kathy Bryant waren vor Tamaras Verwandlung Freunde gewesen, daher hatte das junge Mädchen es schwer verkraftet. Er sah den Schmerz immer noch in ihren Augen. Aber daneben sah er auch Sorge um Jamey.
„Er ist so anders. So voller … Zorn.“
„Und der richtet sich überwiegend gegen das DPI und Curtis Rogers im Besonderen“, teilte Roland ihr mit. „Das beunruhigt mich. Und es beunruhigt mich noch mehr, dass ich den Jungen tagsüber schutzlos zurücklassen muss. Abgesehen von Frederick gibt es keinen, der auf ihn aufpasst.“
„Also, dieses Problem können wir lösen, jedenfalls vorübergehend.“
Roland reagierte mit Stirnrunzeln auf Erics Bemerkung. „Was in aller Welt meinst du damit?“
„Ich habe mit einer neuen Droge experimentiert, einer Art von superwirksamem Amphetamin. Wenn ich sie einnehme, kann ich tagsüber wach und handlungsfähig bleiben.“
„Im Sonnenlicht?“ Roland war ziemlich erstaunt. Sicher, er kannte Erics Leidenschaft für Reagenzgläser und Chemikalien, aber derartige Resultate hätte er sich nie träumen lassen.
„Nein, vor der Sonne muss ich mich hüten.“
Rhiannon richtete sich ein wenig auf, und sofort stand die stets aufmerksame Tamara an ihrer Seite und half ihr, sich in eine sitzende Haltung aufzurichten. Während sie Rhiannon mit Kissen im Rücken stützte, sagte die junge Frau: „Es gibt Nebenwirkungen, Roland. Ohne die Wirkung des heilsamen Schlafes wird er schwach und müde, ganz zu schweigen von reizbar.“
„Das ist unwichtig“, sagte Roland hastig. „Du gibst mir diese Droge, dann kann ich Jamey tagsüber beschützen.“
„Ich beschütze ihn selbst, Roland. Bis uns eine bessere Lösung eingefallen ist.“
Roland schüttelte schnell den Kopf. „Nein. Ich trage die Verantwortung …“
„Ihr könnt es beide machen“, schaltete sich Tamara ein. „Wechselt euch ab, um Himmels willen.“
Rhiannon seufzte schwer und schüttelte den Kopf. „Eine prima Lösung, aber eine vorübergehende. Ich glaube, ihr überseht alle das Offensichtliche.“
Roland trat näher an das Bett. Sie verzog das Gesicht immer noch bei jeder Bewegung vor Schmerzen, aber davon abgesehen hielt sie sich wacker. „Was denn, Rhiannon?“
„Irgendwo auf diesem Planeten hat der Junge einen Vater, oder nicht?“
Ihre Worte waren wie eine scharfe Klinge in seinem Herzen. „Einen … Vater?“ Er warf Tamara einen fragenden Blick zu.
„Kathys Mann hat sie vor Jameys Geburt verlassen. Er weiß vielleicht nicht einmal, dass er einen Sohn hat. Sein Name war James. James Adam Knudson.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich wüsste nicht einmal, wo ich mit der Suche nach ihm anfangen sollte.“
„Nicht dass es wichtig wäre. Ein Mann, der eine Frau und ein Kind verlässt, hat keinen Anspruch mehr darauf.“ Roland rückte von Rhiannon ab. Sie widersprach diesem Standpunkt nicht. Und niemand wagte noch einmal anzudeuten, dass es Jamey bei seinem leiblichen Vater besser gehen könnte.
Roland informierte seine Freunde darüber, was sich im Stadion abgespielt hatte, und Rhiannon berichtete von dem seltsamen Mann, der sie angegriffen hatte, und seiner Forderung.
Kurz vor Morgengrauen brachte Eric Tamara in den Kerker zu einem der verborgenen Plätze, die Roland für sie als Versteck bereithielt. Nach einer stundenlangen Diskussion hatte Eric schließlich eingewilligt, dass Roland die Droge nahm und tagsüber wach blieb, damit er auf Jamey aufpassen konnte. Er hatte Roland drei Phiolen mit Flüssigkeit gegeben, die er in Abständen von vier Stunden nehmen sollte, bevor die Trägheit ihn übermannte.
Roland trank die erste leer und verzog wegen des bitteren Geschmacks das Gesicht. Er steckte die leere Phiole in eine Tasche und ging die Treppe hinauf, um nach Jamey und Frederick zu sehen. Pandora lag am Fußende von Jameys Bett. Jamey schlief ruhig und friedlich.
Er kehrte in seine Kammer zurück. Immer noch eine Stunde bis zum Morgengrauen. Rhiannon lag noch im Bett, schien jedoch zwischenzeitlich einmal auf gewesen zu sein. Lange genug, dass sie sich eines seiner weißen Hemden „borgen“ und das blutgetränkte Nachthemd ablegen konnte, ebenso jeden anderen Fetzen Stoff, den sie am Leib trug. Sie lag auf der Seite und gewährte ihm einen unverhüllten Blick auf das lange schlanke Bein, das unter dem Saum des Hemdes hervorragte.
„Wenn es dämmert, bringe ich dich nach unten.“
Sie drehte sich auf den Rücken, wobei sie leicht das Gesicht verzog, und winkelte ein Knie an. „Ich habe nicht die geringste Lust, meine Knochen in einem Kerker auszuruhen.“
„Rhiannon, hier ist es nicht sicher.“ Er drehte sich um und entfernte sich ein Stück. „Hat dich dieser Vorfall kein bisschen Vorsicht gelehrt?“
„Pst, Roland, dies ist ein vollkommen sicherer Ort zum Ausruhen. Zieh deine staubigen alten Vorhänge zu, verriegle die Tür – fertig. Erfüll mir nur einmal einen Wunsch. Ich verspreche dir, ich mache es mir nicht zur Angewohnheit, deine kostbare Ruhe durch meine Nickerchen zu stören.“
„Da alle möglichen Leute im Schloss herumspazieren, ist es mit meiner Einsamkeit sowieso vorbei. Hier, meine Teuerste, ist der einzige Ort, wo du in absehbarer Zukunft deine Nickerchen machen wirst. Ich möchte dich hierhaben, wo ich gewiss sein kann, dass du in Sicherheit bist.“
Sie biss sich auf die Unterlippe, als müsste sie darüber nachdenken. Er wusste, dass ihr sein gebieterischer Tonfall gegen den Strich ging. Aber auf keinen Fall würde er sie allein in einem kleinen Häuschen so nahe an einem Dorf lassen, wo es von Agenten des DPI nur so wimmelte.
„Es stimmt, der einzige Garant für meine Sicherheit ist Pandora. Da sie Jamey bewacht, könnte ich bei mir zu Hause in Gefahr sein. Ich denke vielleicht darüber nach, ob ich hierbleibe …“
„Da gibt es nichts nachzudenken. Du bleibst hier.“
„Unter bestimmten Bedingungen, Roland.“
Er sah sie erstaunt an. „Bedingungen?“
„Als Erstes schlafe ich hier, im Bett. Wenn du so sehr um mein Wohlergehen besorgt bist, kannst du gern unter meine Decke schlüpfen. Sollte mich jemand angreifen, während ich schlafe, wird einer von uns bestimmt früh genug aufwachen, um Pandora zu rufen, die dann Hackfleisch aus dem Eindringling macht. Und wenn Erics neue Droge funktioniert, ist sowieso immer einer von euch wach.“
Roland schüttelte langsam den Kopf. „Ich gebe deinem Wunsch nach, wenn du mir versprichst, dass du darauf verzichtest, wenn eine zusätzliche Bedrohung auftritt oder Grund zu der Annahme besteht, dass das DPI hier aufkreuzen könnte.“
Sie nickte. „Ich bin noch nicht fertig. Ich kann mich einfach nicht in einem Zimmer ausruhen, das so aussieht. Du wirst mir daher gestatten, dass ich es ein wenig aufpoliere.“
Er kam stirnrunzelnd näher und setzte sich auf die Bettkante. „Deine Ziele scheinen mir reichlich hoch gesteckt. Du hältst dich doch nicht etwa für eine Schlossherrin?“
„Ich möchte es nur gemütlich haben, Roland. Nichts weiter.“ Sie hob den Arm zu einer ausladenden Geste. „Es stört dich doch sicher nicht, wenn ich ein paar Spinnweben und Staub entferne.“
Er kniff die Augen zusammen. „Ich kenne dich zu gut, um zu glauben, dass du nichts weiter vorhast.“
Sie zuckte die Achseln und senkte die Wimpern über niedergeschlagene Augen. „Ich dachte mir, neue Vorhänge könnten auch nicht schaden. Ich will nur sicher sein, dass kein Tageslicht hereindringt.“
Er nickte knapp. „Also gut, Vorhänge und abstauben. Das wäre dann aber alles. Okay?“
„Und ich möchte das Feuer im Kamin behalten.“ Sie sah ihn wieder an, und der Ausdruck in ihren Augen hätte ihn warnen sollen. „Es gibt mir das warme, behagliche Gefühl, das ich hatte, als du mich auf deinen Armen durch den Wald getragen hast.“
„Du forderst dein Schicksal heraus, Rhiannon.“ Seine Stimme klang matt. Auch er dachte daran, wie er sie in den Armen gehalten und ihre Lippen an seinem Hals gespürt hatte.
„Oh, aber ich bin noch nicht fertig.“ Sie richtete sich vorsichtig auf, nahm eine seiner Hände zwischen ihre und malte mit den Fingernägeln unsichtbare Muster auf seine Handfläche, bis er erschauerte. „Ich möchte, dass du mir von deinem Leben erzählst, bevor ich dich kennengelernt habe. Ich möchte wissen, wie du ein Ritter geworden bist.“
„Über dieses Thema möchte ich nicht sprechen.“
Sie sah ihn so durchdringend an, dass er spürte, wie sie an den Vorhängen zupfte, mit denen er seinen Geist abschirmte. „Roland, du frisst deine Vergangenheit schon ziemlich lange in dich hinein, und ich glaube, damit auch ein hohes Maß an Schmerz. Du hast die Ereignisse so lange gedreht und gewendet, bis du als ein Teufel dagestanden hast. Glaubst du nicht, eine objektive Einschätzung könnte dein Los verbessern?“
Seltsamerweise verspürte er den Wunsch, ihr alles zu erzählen. Aber er fürchtete, Rhiannon könnte abgestoßen sein, wenn sie die ganze Wahrheit erfuhr. Dann fragte er sich wiederum, ob das nicht gut sein würde. Sollte sie seine schwarze Seele selbst sehen, dann würde sie vielleicht verstehen, warum er sich ihr nicht hingeben wollte. Vielleicht kam sie sogar zu dem Ergebnis, dass sie ihn gar nicht mehr wollte.
Einige Zeit später fragte er sich, wie er so leicht kapitulieren konnte. Was hatte sie, dass sie ihm derart ihren Willen aufzwingen konnte?
Wie auch immer, er saß mit dem Rücken am Kopfteil und hatte die Beine auf der Matratze ausgestreckt. Rhiannon machte es sich gemütlich und legte den Kopf auf seinen Oberschenkel. Er strich ihr geistesabwesend über das Haar, während er sprach.
„Ich war der jüngste von vier Söhnen. Der größte Wunsch meiner Eltern war es, dass ich ins Kloster gehe. In jenen Zeiten hatte ein jüngster Sohn keine großen Auswahlmöglichkeiten. Wäre ich Mönch geworden, hätte das Ruhm und Ansehen für meine Familie bedeutet.“
Sie strich mit der Hand über seinen Schenkel. Die seidenweichen Finger hinterließen eine brennende Spur. „Du, ein Mönch?“ Sie sagte es, als wäre es eine lächerliche Vorstellung.
„So habe ich das auch empfunden. Mit vierzehn lief ich weg und war fest entschlossen, meinen eigenen Weg zu gehen. Nichts wünschte ich mir mehr auf der Welt, als ein Ritter zu sein. Als ich zwei Wochen lang gerade genug zu essen zusammengekratzt hatte, fand ich einen Säugling, noch kein Jahr alt. Er lag auf einer Decke im Gras, während seine Mutter und ihre Fräulein in der Nähe Beeren pflückten. Keine sah den Wolf. Aber ich.“
„Ein Wolf?“ Rhiannons Augen wurden groß, ihre Hand auf seinem Schenkel reglos. „Der sich an das Kind anpirschte? Was hast du getan?“
„Zuerst war ich starr vor Angst. Dann sah das Baby zu mir und lächelte. Es gab dieses blubbernde Gurren von sich und fuchtelte mit den Ärmchen in der Luft.“ Roland schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich zückte das Messer, die einzige Waffe, die ich besaß, und sprang den Wolf an, als er sich das Kind holen wollte. Es war eine närrische Tat. Ich wäre beinahe in Stücke gerissen worden.“
Sie richtete sich langsam auf und sah ihn an. Ihn überraschte, dass sie rasch blinzelte, um Feuchtigkeit aus ihren Augen zu vertreiben. Ihr Gesicht war seinem so nahe, dass er ihren hechelnden Atem spüren konnte. „Hast du diesen Wolf getötet, Roland?“
„Ja, offenbar. Nach den ersten Bissen kann ich mich an fast nichts mehr erinnern.“ Sie schloss die Augen und erschauerte heftig. Ihr Haar fiel über ein Auge; Roland streckte ohne nachzudenken die Hand aus und strich es zurück. Er ließ die Finger zärtlich auf ihrem Gesicht verweilen. Und er dachte, er würde in ihren Augen versinken, diesen großen, exotisch schrägen schwarzen Augen. „Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem weichen Bett, wo sich Diener um mich kümmerten. Das Kind war der Enkel eines großen Barons und Sohn eines Ritters gewesen, Sir Gareth de Le Blanc. Als ich genesen war, machte er mich zu seinem Knappen. Zwei Jahre behandelte er mich fast wie einen Sohn. Er brachte mir alles bei, was ich wissen musste, und ließ mich im Burghof mit seinen Rittern trainieren.“
„Und mit deiner störrischen Entschlossenheit, die ich an dir kenne, hast du dieses Training sicherlich verbissen ernst genommen. Du bist mit jedem Tag stärker und gewandter geworden.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe mir ein paar Grundkenntnisse angeeignet.“
„Erzähl mir den Rest.“ Wie ein Kind, das seine Gutenachtgeschichte will, dachte er träge, während er mit den Fingern weiter durch ihr Haar strich.
„Eines Tages war ich mit Sir Gareth unterwegs. Er wollte an einem Turnier teilnehmen. Natürlich waren noch andere unterwegs, Ritter und deren Knappen, die mit uns ritten. Eine Bande von Rittern, die in Treue zu einem eingeschworenen Feind von Gareths Vater standen, lauerte in einem Hinterhalt.“
Sie sagte nichts, aber sie hob die Hand und berührte sein Gesicht, als könnte sie die Qual der Erinnerungen dort sehen. „Gareth und die anderen kämpften erbittert und töteten einige, aber die Übermacht war einfach zu groß.“ Er schüttelte langsam den Kopf, während die Vergangenheit wieder lebendig wurde, als wäre es gestern gewesen. Das Klirren von Stahl auf Stahl. Die Schreie und das Stöhnen der Gefallenen. Das panische Wiehern der Pferde. Die donnernden Hufe.
„Als Gareth stürzte, geschah etwas mit mir. Ich weiß nicht, was. Ich zerrte ihn vom Schlachtfeld ins Gebüsch und zog ihm Helm und Kettenhaube ab. Mit seinem letzten Atemzug drückte er mir das Schwert in die Hand und bat mich weiterzukämpfen.“
„Aber du warst noch ein Knabe!“
Er schüttelte den Kopf. „Mit sechzehn war man damals fast schon ein Mann, Rhiannon. Das weißt du. Ich verlangte, dass mich die anderen Knappen unterstützten, als ich Gareths Brustpanzer und Armschienen abnahm und selbst anlegte. Es schien ewig zu dauern, aber wir schafften es in wenigen Minuten. Ich zog Kettenhaube und Helm auf und streifte mir Gareths Handschuhe über. Mit seinem Schwert in der Hand und einer Eiseskälte im Herzen marschierte ich mitten in das Schlachtgetümmel. Eine Kraft, die ich nicht kannte, trieb mich an. Das war der Dämon, den ich damals in meiner Seele entdeckt habe. Ich fand das Pferd meines Meisters, einen enorm großen Wallach, der Geschmack am Kampf hatte, und bestieg es.“
„Und du hast an seiner Stelle gekämpft“, hauchte sie.
„Mehr als gekämpft. Ich war außer mir. Ich kann mich an kaum etwas erinnern, außer dass ich endlos das Schwert geschwungen habe, das mit wuchtigen Hieben sein Ziel fand. Ich erinnere mich an den Lärm, die Schreie der Gefallenen und meinen eigenen Schlachtruf. Ich war ein besessener Mann, Rhiannon. Als die Schlacht zu Ende war, war nur noch ich übrig. Rings um mich herum lagen tote Männer.“
Er schüttelte die Erinnerungen ab und sah in Rhiannons Augen. Schockiert sah er, dass ihr eine Träne über die Wange lief. Aus einem unerfindlichen Grund beugte er sich vor, drückte die Lippen darauf und kostete den salzigen Geschmack.
„Ich habe diese Geschichte keiner Menschenseele je erzählt, Rhiannon.“ Er bewegte die Lippen an ihrer nassen Wange, als er diese Worte flüsterte und sie ihm mit den Fingern durch das Haar strich.
„Und ich werde es auch nicht“, versprach sie ihm. „Nicht unter Todesqualen.“ Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken. „Was geschah dann?“
„Die Knappen hatten sich verzogen, aber nicht weit genug weg, dass sie den Kampf nicht gesehen hätten. Als wir in die Burg von Gareths Vater zurückkehrten, berichteten sie, was sie gesehen hatten. Ich wurde wie eine Art Held behandelt. Es dauerte nicht lang, da beorderte man mich an den Hof von König Ludwig, der ein Vetter zweiten Grades von Gareths Vater, dem Baron, war. Ich wurde als Belohnung für Tapferkeit, wie sie sich ausdrückten, zum Ritter geschlagen. Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen. Aber ich wollte ihn nicht mehr. Ich wollte nur zu meiner Familie zurückkehren und nie wieder eine solche Brutalität erleben.“
„Und hast du es getan?“
Er lächelte sie gezwungen an. Ihre Lider wurden schwer. Offenbar wirkte Erics Trank, denn er verspürte keinen Hauch von Müdigkeit. „Den Rest der Geschichte hebe ich mir für eine andere Nacht auf, Rhiannon. Du musst jetzt schlafen und gesund werden.“
Sie schüttelte den Kopf, als sie ihn von seiner Schulter genommen hatte. „Du hast diesen Gareth geliebt. Es ist kein Wunder, dass du so gekämpft hast. Dein Kummer hat dir diese Kraft gegeben, kein Dämon.“
Er schloss die Augen und wünschte sich, er könnte es glauben. „Ruh dich aus, Rhiannon. Wir unterhalten uns weiter, wenn du wieder wach bist.“
Sie rutschte auf dem Bett hinunter, bis sie mit dem Kopf wieder auf seinem Schoß lag, und schlang die Arme um seine Hüften. Es war ausgesprochen seltsam, fand er, dass er sich in so unmittelbarer Nähe zu ihr wohlfühlte und nicht beunruhigt. Mehr noch, sein Herz schien leichter zu sein als vorher.