Keith
13. KAPITEL
Rhiannon blieb wenige Schritte von der Tür der Hütte entfernt stehen, schloss die Augen und sammelte sich. Sie konnte es sich nicht leisten, dass die Sorge um den Jungen oder die extreme Traurigkeit wegen dem Abschied, der nach dieser Prüfung folgen würde, sie ablenkte. Sie musste sich einzig und allein auf Lucien konzentrieren.
Doch bevor sie so weit war, ging auch schon die Tür auf und das Objekt ihrer Gedanken stand vor ihr. „Tritt ein, Rhiannon. Ich gehe davon aus, du hast Wort gehalten und bist allein gekommen?“ Er ließ den Blick über die Umgebung draußen schweifen, während er das sagte, und sie wusste, dass er auch mit dem Geist suchte. Rolands Anwesenheit würde er damit nicht entdecken. Der konnte seine Gedanken mühelos vor diesem Mann verbergen. Sein Geist mochte noch so mächtig sein, aber letztendlich war Lucien doch nur ein Mensch.
„Natürlich. Hast du gedacht, ich würde das Leben des Jungen gefährden oder mich so vor dir fürchten, dass ich Verstärkung mitbringen muss?“ Er richtete den Blick wieder auf sie, und seine Miene veränderte sich, als er ihre Kleidung sah. „Sei nicht albern, Lucien. Ich fürchte keinen Sterblichen.“
Er ging zur Seite, als sie die Hütte betrat. Sie machte große Schritte und ging erhobenen Hauptes. Er sollte kein Anzeichen von Schwäche erkennen.
„Ach nein? Nicht einmal Curtis Rogers?“
Sollte diese Bemerkung sie erschüttern? „Ihn am allerwenigsten. Er ist ein Schwächling, den sein Wunsch nach Rache blind macht. Ich könnte ihn so mühelos töten, wie du eine Fliege zerquetschen würdest. Aber darum geht es jetzt nicht, oder?“
Lucien zuckte mit den Schultern und machte die Tür zu. Rhiannon konzentrierte sich im Geiste ganz auf die Hütte, in der sich offenkundig außer ihnen beiden niemand aufhielt. Sie ging zum Kamin und ließ sich vom Feuer wärmen.
„Du bist ganz anders angezogen als gestern Nacht. Hat das etwas zu bedeuten?“
Sie warf ihm einen überraschten Blick zu. „Ich dachte, du wüsstest alles über mich? Kann es sein, dass deine Recherchen doch nicht ganz so lückenlos sind? Kennst du das Gewand einer ägyptischen Priesterin nicht?“
Er sagte nichts, sondern betrachtete sie nur von Kopf bis Fuß. „Darf ich dir wenigstens den Mantel abnehmen?“
„Das darfst du nicht.“
„Wie du willst.“
Sie betrachtete sein Gesicht. Seine Lider wirkten etwas aufgedunsen. Sie sah dunkle Ringe unter den Augen. „Hast du meine Anweisungen befolgt?“
„Habe ich. Kein Schlaf, nichts zu essen, nichts zu trinken. Um ehrlich zu sein, bin ich momentan durstiger als eine Sanddüne.“
„Das geht vorüber“, versicherte sie ihm. „Wie geht es dem Jungen?“
„Bestens. Er ist in Sicherheit, jedenfalls vorerst. Ich zweifle nicht daran, dass deine Freunde bereits nach ihm suchen.“
Sie zog nur die Brauen hoch. „Denk, was du willst.“
„Ist auch egal. Sie werden ihn nicht finden.“ Er ging durch den Raum zu einer geschlossenen Tür und öffnete sie. Dann trat er beiseite und winkte ihr, dass sie eintreten sollte.
Rhiannon setzte sich in Bewegung; ihr Mantel wallte bei jedem Schritt, der Kimono glitt über den Boden. Unter der Tür blieb sie stehen und sah einen kleinen Raum, möglicherweise ein Schlafzimmer, aber ohne Möbel, abgesehen von einem Tisch und einer brennenden Petroleumlampe.
„Fangen wir an.“ Lucien stand dicht hinter ihr und hauchte ihr seinen kalten Atem in den Nacken.
Sie trat ein, er folgte ihr. Aus einer Innentasche des Mantels holte sie ein kleines Säckchen. Lucien verfolgte jede ihrer Bewegungen.
„Was ist das?“
Sie zog die Kordel auf und holte mehrere Kerzen, ein Päckchen Weihrauch und eine silberne Schale heraus, die sie in einem kleinen Kreis auf dem Boden aufstellte. „Nichts, wovor man Angst haben müsste, Lucien. Siehst du?“
Er kniete nieder, hob eine Kerze hoch, betrachtete sie eingehend, roch daran. Danach nahm er das Kräutersäckchen, untersuchte auch das und schüttete sich ein wenig auf die Handfläche.
„Weihrauch“, sagte sie. „Für die Schale in der Mitte des Kreises aus Kerzen.“
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu, schüttete den Weihrauch aber wie geheißen in die Schale. „Soll ich sie anzünden?“
Er war nervös. Sie sah es daran, wie er sich ständig die Lippen leckte und unablässig den Blick schweifen ließ. „Nein. Darum kümmern wir uns gleich. Lösch bitte das Licht.“
Er runzelte die Stirn, stand aber auf. Er hielt die Hand über die Rückseite des Glases und pustete in die Lampe. Es wurde unmittelbar stockdunkel in dem Zimmer. Sie konnte ihn deutlich sehen. Er sah gar nichts, bemühte sich jedoch, sie im Blick zu behalten, und blinzelte dabei wie ein Maulwurf.
„Setz dich mit überkreuzten Beinen auf den Boden.“
Er befolgte ihre Anweisung. Rhiannon ging um den Kreis der Kerzen herum und setzte sich ihm gegenüber. Zaghaft erforschte sie seinen Geist, doch er schirmte ihn vollkommen vor ihr ab.
„Konzentrier dich, Lucien. Nichts darf dich erfüllen außer den Kerzen. Konzentrier dich auf ihre Dochte. Denk an nichts anderes. Stell dir Flammen vor, die auf dein Geheiß hin auflodern. Jetzt gleich.“
Sie sah, wie er gebannt auf die Kerze direkt vor sich starrte. Als sie den Strahl ihrer Gedanken dorthin richtete, loderte einen Moment später mit leisem Plop ein Flämmchen empor.
Lucien zuckte zusammen, als wäre er heftig geschlagen worden.
„Sehr gut“, schnurrte Rhiannon. „Für einen Menschen hast du einen starken Geist.“ Wieder suchte sie nach seinen Gedanken und fand nichts. „Aber du konzentrierst dich nicht genug. Streng deinen Verstand an.“
Er gehorchte. Er starrte eine weitere Kerze an, doch sie ließ ihn eine ganze Weile schmoren, ehe sie sie anzündete. So entflammte Rhiannon nach und nach alle Kerzen, während Luciens Wachsamkeit langsam nachließ.
Seine Augen waren groß vor Staunen, und das weiche Licht der Kerzen erhellte sein Gesicht. „Jetzt den Weihrauch. Das ist ein wenig schwieriger. Konzentrier dich.“
Sie beobachtete, wie er die silberne Schale anstarrte, entzündete die Kräuter aber nicht. Stattdessen durchforstete sie seine Gedanken und suchte in den nebulösen Tiefen nach Hinweisen auf Jamey.
Einen Moment sah sie den Jungen mit einer Wolldecke zugedeckt auf einer Holzpritsche liegen. Doch das Bild verschwand, als Lucien sie ansah.
„Es funktioniert nicht.“
„Du konzentrierst dich nicht genug. Versuch es noch mal.“
Er gehorchte. Es war lächerlich, wie er vor Anstrengung das Gesicht verzog. Der Narr knirschte sogar mit den Zähnen. Wieder suchte Rhiannon in seinem Geist, und diesmal sah sie ein wenig mehr. Einen stockdunklen Raum. Ein vernageltes Fenster. Staubige Spinnweben in den Ecken.
Sie betrachtete den Weihrauch, der zu schwelen begann. Sie drang ein wenig tiefer in seinen Geist vor und versuchte den Ort zu finden, wo sich Jameys Gefängnis befand. Er war nahe. Ganz nahe, aber nicht in dieser Hütte. Ah, da. Noch eine Hütte, dieser nicht unähnlich, aber vollkommen verfallen. Auf dem Berg?, fragte sie sich. Nein. Darunter, aber nicht im Dorf.
Plötzlich schob sich eine Mauer vor seinen Verstand. „Du willst mich austricksen, nicht?“
Er wusste, dass sie spioniert hatte. Sie hielt seinem vorwurfsvollen Blick stand. „Unsere Gedanken müssen sich ebenso vermischen wie unser Blut, Lucien. Das klappt nicht, wenn du nicht kooperierst.“
Füge dich, sang sie stumm. Mein Wille wird deiner, Lucien.
Sie sah, wie seine Augen trüb wurden.
„Du musst dich entspannen. Tief durchatmen. Genau so.“ Sie führte es ihm vor, er ahmte sie mehrere Augenblicke nach. Seine Lider sanken ein wenig herunter. Fast hätte sie triumphierend gelächelt.
„Viel besser. Und jetzt konzentrier dich auf nichts. Versuche deinen Geist vom Körper zu lösen, bis du glaubst, dass du schwebst.“
Die Lider sanken etwas tiefer. Er atmete jetzt aus freien Stücken tief und regelmäßig, sie musste es ihm nicht mehr vormachen.
„Stell dir vor, dass du ein Geist bist, wenn du willst. Spüre, wie die Ketten deines Körpers von dir abfallen.“
Dein Wille ist meiner, Lucien. Du hast keinen anderen Wunsch, als mir zu gehorchen. Du kennst nur die Gedanken, die ich dir übermittle. Ergib dich mir, Lucien. Kapituliere.
Langsam fielen ihm die Augen zu. Sein Atem wurde noch regelmäßiger und kam in langen, gleichmäßigen Zügen. Der Kopf hing ihm an einem erschlafften Hals auf die Brust.
Wo ist der Junge?
Roland konzentrierte sich mit jeder Faser auf Rhiannon. Er wartete so lange, wie er es ertragen konnte, dann näherte er sich dem winzigen Bauwerk. Er wollte weitergehen, bis er ein Fenster gefunden hatte, durch das er sehen konnte, was passierte. Sie konzentrierte sich so ausschließlich auf Lucien, dass er ihre Gedanken nicht orten konnte und mithin auch keine Ahnung hatte, was sich da drinnen abspielte.
Roland verließ sein Versteck hinter den Felsen und konzentrierte sich voll und ganz auf Rhiannon. Der Schuss kam aus dem Dunkel. Etwas bohrte sich in seine Brust.
Er hob die Hand und umklammerte den Gegenstand, der ihm brennende Schmerzen in der Brust verursachte. Zwar konnte er ihn herausreißen, doch sein Bewusstsein schwand. Ein schwarzer Nebel senkte sich langsam über sein Denken, während er den blutigen Pfeil betrachtete, den er sich aus dem Brustkorb gezogen hatte.
Er sank auf die Knie und schaute auf. Curtis Rogers stand nur wenige Meter von ihm entfernt, ein gemeines Lächeln spielte um seine Lippen. Verdammt! Roland hatte sich so sehr auf Rhiannon konzentriert, dass er die Umgebung nicht nach anderen sondiert hatte. Er hatte versagt. Er hatte Rhiannon im Stich gelassen.
Im Geiste flüsterte er eine Warnung und hoffte, dass sie sie hören konnte, bevor er nach vorn kippte und in die Dunkelheit fiel.
Rhiannons Gedankengänge wurden von einer plötzlichen Erkenntnis unterbrochen. Roland war etwas zugestoßen.
In diesem Augenblick der Ablenkung brach der Bann, in dem sie Luciens Geist hielt; er schüttelte den Kopf. Dann sah er sie böse an und sprang auf die Füße. „Ich weiß, was du versuchst. Ich hätte wissen müssen, dass ich euresgleichen nicht trauen kann.“
Sie erhob sich ebenfalls. „Führ mich nicht in Versuchung, Lucien, sonst stirbst du hier und jetzt. Sag mir, wo du den Jungen versteckt hast.“
„Du hast nie die Absicht gehabt, deinen Teil der Übereinkunft einzuhalten. Warum sollte ich das tun?“
„Weil du sterben wirst, wenn du es nicht tust.“ Sie ging um die Kerzen herum auf ihn zu, erstarrte aber, als die Tür hinter Lucien aufgerissen wurde und Curtis Rogers dastand und eine Art Waffe auf sie richtete.
„Sie!“
„Ah, so sieht man sich wieder, Prinzessin.“
Sie machte einen Schritt, weiter kam sie nicht. Der Pfeil bohrte sich in ihre Schulter, sie schrie vor Schmerz auf. Als sie die Augen schloss, war sie sich sicher, dass der Pfeil das Betäubungsmittel enthielt und ihre Zeit abgelaufen war. In den letzten Augenblicken, die sie noch bei Bewusstsein war, schickte sie ihren Geist auf die Reise zu Tamara, teilte ihr alles mit, was sie erfahren hatte, und flehte sie an, Mittel und Wege zu finden, wie sie den Jungen und Roland retten konnte. Sie kippte vornüber, fiel gegen eine Wand und rutschte langsam daran hinunter, da ihre Beine sie nicht mehr trugen.
„Ihr Freund war draußen“, hörte sie Rogers sagen, doch seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.
„Nehmen Sie ihn auch?“ Das war Lucien.
„Nein. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Ich will mich nicht um zwei von denen gleichzeitig kümmern müssen. Von jetzt an immer nur noch einer. Er kann nicht weg. Den Rest erledigt die Sonne.“
Sie spürte, wie ihre Nackenmuskeln schmolzen und ihr Kopf nach vorn kippte. Eine Hand in ihrem Haar zerrte ihn grob wieder hoch. Luciens verzerrtes Gesicht schwebte vor ihr. „Bevor du dein Schläfchen machst, sollst du noch etwas wissen: Der Wissenschaftler, den du vor Jahren getötet hast, Daniel St. Claires Partner, war mein Vater. Und ich werde erst ruhen, wenn alle deiner Art für seinen Tod gebüßt haben.“
Sie versuchte, Worte mit den Lippen zu formen. „A-aber … du … du wolltest …“
„Einer von euch werden? Ja. Der Stärkste von allen, damit ich die anderen umso leichter erledigen könnte. Damit ich leben und den Letzten von euch unter Qualen sterben sehen könnte.“
„Du“, flüsterte sie mit dem letzten Rest Kraft, den sie noch besaß, „bist derjenige … der sterben wird.“
Der Morgen graute fast.
Roland spürte die Dämmerung in jeder Zelle seines Körpers näher rücken und konnte sich immer noch nicht bewegen. Es war ihm nur gelungen, die Augen zu öffnen. Jetzt konnte er sehen, wie der Horizont langsam heller wurde, von Tiefschwarz zu Mitternachtsblau zu verschiedenen Abstufungen von Grau.
Die Hütte war leer. Keine Spur mehr von Rogers, Lucien … oder Rhiannon. Er wusste, sie mussten sie mitgenommen haben. Wieder würde sie ihre grausamen Foltern ertragen müssen. Seinetwegen.
Roland verzog unter Schmerzen das Gesicht und dachte daran, dass sich Rhiannon jetzt in Rogers’ Händen befand. Er musste überleben – und wenn es nur war, um sie zu befreien.
Er konzentrierte sich verbissen auf jeden einzelnen Muskel, knirschte vor Anstrengung mit den Zähnen und schleppte seinen Körper vorwärts. Er konnte nicht warten, bis Eric ihm zu Hilfe kam. Dazu reichte die Zeit nicht mehr, und vielleicht war sein Freund ja auch außer Gefecht gesetzt worden. Wieder grub Roland die Finger in Erde und Stein. Wieder zog er seinen Körper Zentimeter weiter. Bei dem Tempo würde er es nicht vor Mittag bis zu der Hütte schaffen. Trotzdem musste er es weiterversuchen.
Er schleppte sich in den Schatten der Felsen. Halb auf die ebene Lichtung, ohne Schutz vor der aufgehenden Sonne. Halb bis zur Hütte. Abermals krallte er sich fest und zog sich voran, während er nach Osten blickte, wo er den fahlen orangeroten Schein sehen konnte, der gerade den Rand des Firmaments einfärbte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und liefen ihm brennend in die Augen. Er klammerte sich erneut am Boden fest und grunzte vor Anstrengung.
Aus der entgegengesetzten Richtung hörte er ein tapsendes Geräusch, das immer näher kam. Er drehte den Kopf und ließ alle Luft aus seinen Lungen entweichen. Links von ihm die Sonne. Und jetzt rechts von ihm ein Wolf, so groß wie ein Bernhardiner, aber mit Muskeln, die sich unter dem seidigen Fell abzeichneten, kein Fett. Wenn ihn die Sonne nicht tötete, dann ganz gewiss dieses Tier. Er hatte keine Kraft mehr, gegen einen davon anzukämpfen.
Roland, der sich an seine letzte Begegnung mit einem Wolf erinnerte, wünschte sich, die Sonne würde sich sputen. Dann stand die Bestie über ihm, und er wusste, es war zu spät.
Doch was war das? Kein Knurren gab der Wolf von sich, und die Zähne bleckte er auch nicht. Stattdessen blieb er vor Roland stehen, senkte den enormen Kopf und schob die Schnauze unter Rolands so gut wie nutzlosen Arm.
Roland konnte nur staunend und fassungslos zusehen, wie der Wolf seinen Körper vorwärtsschob. Er hörte erst auf, als Rolands Schultern vom kräftigen Rücken des Tieres gestützt wurden. Roland hatte keine Ahnung, was hier geschah oder warum. War das ein Traum, den er in den Zuckungen des Todes träumte? Er bemühte sich nach Kräften, den anderen Arm um den Hals des Tieres zu legen, bis er die Hände ineinander verschränken konnte. Kaum hatte er das geschafft, setzte sich der Wolf in Bewegung und musste sich trotz Rolands Körpergewicht nicht einmal anstrengen. Rolands Oberkörper wurde getragen, der Rest mitgeschleift. Doch der Wolf zog ihn in die falsche Richtung.
Er hätte vor Frustration schreien können. Hätte er den Wolf doch nur dazu bringen können, dass er ihn in die Hütte zog, wie Rhiannon Pandora Befehle gab. Er versuchte es, doch der Wolf wollte nicht hören. Er hob mühsam den Kopf, damit er nach vorn sehen konnte, strich dabei mit der Wange am dichten, weichen Fell des Wolfs entlang und atmete den Duft des Tieres ein. Er traute seinen Augen kaum. Der Wolf hatte ihn zu einer kleinen Höhle in der Seite der steilen Felswand geschleppt. Durch den Überhang aus Felsgestein und die Findlinge an den Seiten konnte man sie kaum erkennen. Er selbst hätte nie etwas von der Existenz dieser Höhle geahnt.
Das Tier zerrte ihn hinein, dann über den kalten unebenen Boden um eine Biegung herum bis in den hinteren Teil. Roland vermutete, dass die Sonne nie und nimmer bis hierher scheinen würde. Er ließ den Hals des prachtvollen Wolfs los und sank zu Boden.
Der Wolf stand über ihm und sah ihm einen Moment in die Augen. Seine Augen waren von einer Weisheit beseelt, die dort eigentlich nicht sein sollte.
„Ich weiß nicht, was du bist, Wolf …“ Die Erinnerung an Rhiannons Geschichten über Altvordere, die ihre Gestalt verändern konnten, über Damien, strömte in ihn ein. „Aber ich danke dir“, brachte Roland heraus. Seine Augen waren schwer, er konnte die Worte kaum aussprechen. „Schwacher Lohn dafür, dass du mir … das Leben gerettet hast. Ich weiß.“
Er rechnete damit, dass das Tier kehrtmachen und verschwinden würde. Stattdessen ließ es sich wenige Schritte von ihm entfernt auf den Felsboden sinken und schloss die Augen. Wenige Sekunden später folgte Roland seinem Beispiel. Sein letzter Gedanke galt Rhiannon. Wo war sie jetzt, da die grausame Sonne am Himmel stand? War sie in Sicherheit? Vor den verheerenden Strahlen geschützt?
Als Roland wieder erwachte, war er allein. Er betrachtete die Felswände ringsum und fragte sich, ob er die Begebenheit mit dem Wolf nur geträumt hatte.
Es war wieder Nacht. Er fühlte sich stark, lief aus der Höhle und hatte nur einen Gedanken im Kopf: Rhiannon. Er musste sie augenblicklich finden, noch ehe eine weitere Minute verging.
Er näherte sich der Hütte. Dort wollte er mit der Suche nach Hinweisen beginnen.
„Roland!“
Er blieb wie angewurzelt stehen, als er den Ruf hörte, wusste jedoch schon im nächsten Moment, dass es Eric war. Er wandte sich zu seinem Freund um und ließ sich die ungestüme Umarmung gefallen. „Roland, was ist passiert? Wir waren krank vor Sorge.“
Seine Seele kam ihm so leer und trostlos vor, wie sich seine Worte anhören mussten. „Rogers. Er hat mich mit einem seiner Pfeile ausgeschaltet und draußen liegen lassen, damit die Sonne den Rest erledigt.“
„Und Rhiannon?“
Roland spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Er schloss die Augen. „Ich … ich weiß nicht.“
Eric packte Roland am Arm, und beide Männer näherten sich der Hütte. Eric stieß die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte, dann gingen sie beide in unterschiedliche Richtungen und durchsuchten das Innere nicht eben zimperlich.
In dem kleinen leeren Zimmer blieb Roland stehen und betrachtete schweren Herzens den Kreis der Kerzen um die Weihrauchschale herum. Der exotische Duft hing noch in der Luft. Dann sah er den blutigen kleinen Pfeil in einer Ecke auf dem Boden liegen. Mit einer vor Schmerz heiseren Stimme rief er nach Eric und zeigte ihm die Stelle. „Sie haben sie mitgenommen“, flüsterte er.
„Wir befreien sie.“
Roland nickte, dann sah er seinem Freund ins Gesicht. „Wo ist Tamara?“
„Die ist mit dem Jungen zum Schloss zurück, Roland. Sie sind außer Gefahr. Jamey wurde gestern Nacht plötzlich freigelassen. Die wollten ihn gar nicht, sie wollten nur Rhiannon. Als sie sie hatten, ließen sie ihn gehen. Sie werden sie als Köder benutzen, um den Rest von uns auch noch anzulocken.“
Roland nickte. Diese Erklärung ergab Sinn.
„Ich hätte dir geholfen, Roland, aber Jameson wurde einfach in einem Wald ausgesetzt und sich selbst überlassen. Wir haben fast die ganze Nacht nach ihm gesucht, und ich hatte keine Ahnung, was hier oben geschehen ist … ich glaube aber, Tamara schon.“
Roland sah ihn verblüfft an. „Wie das?“
Eric zuckte mit den Schultern. „Sie hat etwas von Rhiannon gehört … das hat uns überhaupt erst in dieses spezielle Waldstück geführt. Danach hörte sie nichts mehr. Sie hat immer wieder gesagt, dass etwas nicht stimmt, wusste aber nicht, was.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte solche Angst um dich, Roland. Wie konntest du der Sonne mit diesem Betäubungsmittel im Blut nur entkommen?“
Roland dachte wieder an den Wolf, an das Wissen in den Augen des Tieres. „Ich bin nicht sicher.“ Er schüttelte sich. „Spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Wir müssen Rhiannon finden.“
Die Wirkung der Droge ließ nach und ging nahtlos in den Tagesschlaf über. Dazwischen kam Rhiannon nur ganz kurz einmal zu sich. Sie sah sich auf eine benommene, umnachtete Weise um und erkannte, dass sie sich an einem kalten Ort ohne Fenster, Türen oder Lichtquelle befand. Sie saß auf einem harten kalten Boden und hatte eine weitere kalte Fläche im Rücken. Wenn sie Arme oder Beine bewegte, konnte sie Metall auf Metall klirren hören.
Danach schlief sie wieder, daher dachte sie sich, dass es Tag sein musste. Als der Schlaf zu Ende ging, war es Nacht. Oder nicht? Denn normalerweise begleitete ein Strom frischer Energie und ein unternehmungslustiges Kribbeln in allen Nervenenden den Sonnenuntergang. Die Nacht brachte Stärke und Macht.
Aber warum fühlte sie sich dann, als wären ihre Gliedmaßen aus Blei und ihr Kopf mit feuchter Baumwolle vollgestopft?
Luciens lasziv grinsendes Gesicht ragte über ihr auf. „Keine Bange, Rhiannon. Du fühlst dich nur wegen Curtis Rogers’ praktischer kleiner Droge so schwach. Ich habe dir kurz vor Sonnenuntergang eine halbe Dosis gegeben. Das war offenbar ausreichend.“
Langsam funktionierte ihr Gehirn wieder. Sie spürte die klamme Kälte abgestandener Luft um sich herum und nahm den Gestank von Brackwasser und Nagetierkot wahr. „Rogers … sagte, er würde Ihnen die Droge … niemals geben.“
„Diesbezüglich hatte Rogers keine andere Wahl. Hast du wirklich geglaubt, ich würde zulassen, dass er dich in ein steriles Labor unter militärischer Bewachung schleppt, bevor ich bekommen habe, was ich von dir will?“ Er lachte kehlig und schüttelte den Kopf. „Der hatte ebenso wenig vor, das Versprechen zu halten, das er mir gegeben hatte, wie du.“
Schwach und matt richtete sich Rhiannon auf und stellte fest, dass Fesseln aus Eisen, die mit Ketten an Wänden aus Stein befestigt waren, ihre Knöchel festhielten. Die Handgelenke waren ebenso gefesselt, nur mit etwas längeren Ketten. Sie drehte den Kopf auf die eine, dann auf die andere Seite und prüfte die Stärke der Ketten, indem sie versuchsweise daran zog. Das kalte Eisen schnitt ihr ins Fleisch.
„Ich halte dich schwach genug, dass du sie nicht aus der Wand reißen kannst, Rhiannon. Darauf kannst du dich verlassen.“
Sie drehte sich zu ihm um und spürte Zorn in sich aufsteigen. „Was ist mit Roland?“
„Dein Freund, der vor der Hütte gewartet hat? Curtis hat ihn mit einem Pfeil außer Gefecht gesetzt, genau wie dich, und liegen lassen, damit die Sonne den Rest erledigt. Vermutlich ist er inzwischen tot. Von ihm kannst du keine Hilfe mehr erwarten.“
Seine Worte trafen sie wie Peitschenhiebe. Sie schloss die Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf.
„Oh, wie rührend“, sagte Lucien, hielt sie am Kinn und hob ihren Kopf hoch. „Und wenn du ihm nicht folgen willst, nachdem du zugesehen hast, wie ich den Jungen töte, dann verwandelst du mich jetzt.“
Sie riss die Augen auf. „Du hast Jamey immer noch?“
„Natürlich.“
Sie studierte sein Gesicht und fragte sich, ob er die Wahrheit sagte. Sie war mit dem Gefühl erwacht, dass Jamey wohlbehalten und in Sicherheit war. Hatte sie das nur geträumt? War es Wunschdenken? Oder hatte jemand versucht, sie zu beruhigen?
„Ich kann dich ewig hierbehalten, Rhiannon. Ich habe genügend Drogen und alle Zeit der Welt. Wenn das Leben des Jungen kein überzeugendes Argument ist, dann können wir versuchen, dich durch Schmerzen zu überzeugen. Ich weiß, wie sehr du das verabscheust.“
Sie fühlte sich so schwach, dass sie kaum den Kopf heben konnte, als er die Hand wegnahm. Die Erinnerung an die Zeit, als der Vater dieses Mannes und sein Partner Daniel St. Claire sie gefangen gehalten hatten, bedrängte ihre Sinne, als wollte sie sie in den Wahnsinn treiben. Sie verdrängte sie mühsam aus ihrem Gedächtnis. „Und wenn ich kapituliere? Wenn ich dich in die Welt der ewigen Nacht einführe, was dann? Soll ich etwa darauf vertrauen, dass du mich dann freilässt, wo du doch schon eingestanden hast, dass es dein höchstes Ziel im Leben ist, mich tot zu sehen?“
„Du kannst glauben, was du willst. Ich befreie den Jungen, wenn du tust, was ich dir sage. Wenn nicht, werdet ihr beide sterben. Es ist deine Entscheidung, holde Rhiannon.“
Sie ließ den Kopf sinken, bis das Kinn auf ihrer Brust ruhte. Dann war es hoffnungslos. Sie musste nicht mehr gegen ihre Angst ankämpfen, denn die wurde von Kummer verdrängt.
„Ich muss etwas erledigen. In einer Stunde komme ich wieder, dann erwarte ich deine Entscheidung.“ Damit verließ er sie; seine Schritte hallten in dem dunklen Gewölbe aus Stein.
Ja, Gewölbe. Wohin um alles in der Welt hatte er sie gebracht? Ein Gewölbe gehörte zu einem Schloss. Befanden sie sich noch in Frankreich, vielleicht sogar im Tal der Loire? Dort lagen Tausende mittelalterlicher Burgen, die von Roland mit eingeschlossen.
Roland.
Allein der Gedanke an ihn erfüllte sie mit Seelenqualen. Sie rief nach ihm, ließ die Stimme ihres Geistes als trauriges Wehklagen durch die Nacht erschallen. Wieder und wieder rief sie nach ihm, bekam jedoch keine Antwort.
Konnte er wirklich tot sein? Für immer dahin, bevor sie ihm die Wahrheit sagen konnte, die sie sich selbst so lange nicht hatte eingestehen wollen?
„Ich liebe dich, Roland de Courtemanche, Baron, Ritter, Unsterblicher, Mann. Ich liebe euch alle“, flüsterte sie. Sie hob den Kopf himmelwärts, als wollte sie es den Göttern entgegenschreien. „Bringt ihn mir wieder, und ich schwöre, ich werde sein, was er will. Nie wieder will ich mich in Gefahr begeben und ihr ins Gesicht lachen. Nie wieder will ich tollkühn sein und unsicheren Schrittes am Rande des Wahnsinns dahinschreiten. Ich werde die stille und fügsame Frau, die er sich wünscht, die er braucht. Nie wieder will ich von seiner Seite weichen, wenn ich nur noch eine Chance bekomme!“
Ihre Worte endeten in einem abgehackten, schluchzenden Schrei, und sie ließ den Kopf wieder auf dem schlaffen Hals nach vorn kippen. Das Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper, und sie fiel nur wegen der Ketten nicht zu Boden. Denn sie wusste in der Tiefe ihres Herzens, dass sie ihre Chance vertan hatte. Roland hatte nicht auf ihre verzweifelten Rufe geantwortet. Er war ihr genommen, aus ihrem Herzen gerissen worden, bevor sie selbst überhaupt wusste, dass es ihm gehörte.
Ihr Kummer lähmte sie, sie konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu weinen, wahre Sturzbäche von Tränen ergossen sich aus ihren Augen.
Und doch wusste sie: Wenn Roland jenseits des Grabes etwas von ihr erwartete, dann, dass sie Jameson beschützte. Das letzte Geschenk, das sie ihm machen konnte, sollte das Leben des Jungen sein. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich Luciens Wunsch zu beugen. Er würde sie töten, wenn es vollbracht war, daran hegte sie keinen Zweifel mehr. Sie konnte nur hoffen, dass es schnell und schmerzlos geschah.
Ihre Schreie erreichten ihn auf halber Höhe des Berghangs. Roland hob ruckartig den Kopf, sein Magen krampfte sich zusammen, als er die Verzweiflung in ihrer Stimme spürte.
Eric umklammerte seine Schulter fest wie mit einem Schraubstock. „Antworte ihr nicht.“
„Bist du verrückt? Hör sie dir doch an …“
„Das tue ich. Und Lucien zweifellos auch. Wenn du antwortest, ist er gewarnt und wartet auf uns. Er hat schon zu viele Trümpfe in der Hand, Roland. Diese Droge, Rhiannons Leben, Curtis Rogers’ Unterstützung. Es hätte keinen Sinn, ihn auch noch zu warnen.“
Roland schluckte heftig. Rhiannons Schreie ließen nicht nach, er hörte den Kummer, die Tränen, die Qual. Herrgott, ihm war nie klar gewesen, wie viel ihr wirklich an ihm lag. Kein Wunder, dass seine unbedachten Worte sie immer wieder so verletzt hatten. Jetzt verfluchte er sich selbst, weil er ihr noch einmal wehtun musste, und schwor bei den Gräbern seiner Familie, dass er ihr bis in alle Ewigkeit nie wieder Schmerzen zufügen würde, und sollte es ihn das Leben kosten.
Er schottete seinen Verstand ab; ihre Rufe machten ihn fast wahnsinnig und immer wütender. Er konzentrierte sich nur noch darauf, ihren Aufenthaltsort zu bestimmen und wandte sich schließlich in diese Richtung.
Dann rannten sie durch die Nacht, bis Eric auf einmal schlitternd zum Stillstand kam und Roland am Arm packte. „Was Luciens Trümpfe angeht, habe ich mich geirrt. Sieh doch.“ Er zeigte eine steile Böschung hinunter.
Tief unten lag das rauchende Wrack von Curtis Rogers’ Cadillac. Roland konzentrierte sich auf die Trümmer und sah Rogers’ verkohlte Leiche am Lenkrad.
„Das war kein Unfall“, sagte er leise. „Er starb durch Luciens Hand.“
Eric nickte zustimmend. „Dann hat Lucien also nicht die Absicht, Rhiannon dem DPI zu übergeben, wenn sie ihn verwandelt hat.“
„Nein.“ Rolands Stimme klang grimmig. „Er hat vor, sie zu töten.“