Keith
1. KAPITEL
Ich bin verflucht, verflucht, verflucht.
An nichts anderes konnte ich denken, als ich in jener ersten Nacht meines neuen Lebens durch die Straßen der Stadt stolperte. Strähniges Haar, zerrissene und schmutzige Kleidung. Passanten starrten mich an und wandten ihren Blick hastig und mit vor Schrecken – oder war es Verachtung? – geweiteten Augen ab, während sie einen großen Bogen um mich machten. Es schien fast, als wüssten sie es.
Ich war auf dem richtigen Weg gewesen. Dachte ich jedenfalls. Vielleicht verhielt ich mich in meiner Rechtschaffenheit etwas zu selbstbewusst. Schließlich kommt Hochmut vor dem Fall. Aber die Sünde des Stolzes rechtfertigte gewiss nicht diese drastische Strafe. Ganz sicher stieß nicht die Hand Gottes mich so tief hinab.
Nein. Nein, Gott hatte nichts damit zu tun. Auch Satan nicht, aber ein Monster. Eine Kreatur, bösartiger als es selbst Luzifer mit all seiner Macht je sein konnte.
Dreizehn Jahre lang war ich so rein und heilig, wie es wohl nur Engel selbst sein konnten. Seit der dunkelsten Nacht meines Lebens – der Nacht, als mich meine Mutter mit dem Versprechen, sie würde bald wiederkommen, am Altar der Christophoruskirche zurückließ – hatte ich nur Gutes getan. Obwohl ich damals kaum alt genug war, um Gut und Böse unterscheiden zu können. Dennoch: Ein neunjähriges Kind, das von seiner Mutter ausgesetzt wurde, lernt schnell. Wenn ich nur immer gut wäre, würde sie bestimmt zu mir zurückkommen; davon war ich überzeugt.
Aber sie kam nicht. Mich bestärkte das freilich nur in der Überzeugung, dass ich nicht gut genug war. Es war mir ein Ansporn, noch besser zu sein.
Die Schwestern unterrichteten mich weise und lehrten mich, was sie über Wahrheit und Rechtschaffenheit in Seinem Namen wussten. Und als ich alt genug war, kehrte ich ihnen nicht den Rücken, sondern klammerte mich an den Halt, den ich bei ihnen gefunden hatte.
Mein Gelübde hätte ich eine Woche nach jener schrecklichen Nacht ablegen sollen. Nur eine Woche. Wäre ich vor dem Monster sicher gewesen, hätte ich den Schleier früher genommen? Kann ein fester Glaube Schutz vor solcher Übermacht sein?
„Ich bin verflucht“, murmelte ich abermals und sank auf die Stufen einer prachtvollen Kathedrale nieder. Weder die Türme noch die prächtigen Buntglasfenster interessierten mich. Ich konnte sie nicht ansehen. Meine Augen schienen vor dem himmlischen Blau und Grün und Gold zurückzuscheuen. Einzig und allein die scharlachroten Scherben fesselten meinen Blick. Dann regte sich Gier in den tiefsten Tiefen meiner Seele. Eine sündige Gier, die ich nicht stillen konnte – nicht stillen wollte.
Ich war, den ernst gemeinten Warnungen der Schwestern zum Trotz, in jener Winternacht allein hinausgegangen …
Die weichen Sohlen meiner Schuhe quietschten, als ich die Holztreppe zu meiner Kammer hinunterlief. Ich konnte es kaum erwarten. Es schneite! Der erste Schnee des Winters, und ich liebte Schnee so sehr. Kurze Zeit zuvor war ich in meiner Kammer auf und ab gegangen, konnte mich aber weder auf meine Studien noch auf sonst etwas konzentrieren. Ich beobachtete unablässig die kleine weiße Uhr an der Wand und registrierte stirnrunzelnd, wie langsam die Zeiger vorrückten, ehe ich mich wieder dem kleinen Fenster zuwandte und sehnsüchtig hinausblickte.
Streng genommen waren wir kein klösterlicher Orden. Wir gingen hinaus in die Welt, aber nur, um dem Herrn zu dienen oder wenn Mutter Mary Ruth es für zwingend nötig hielt. Heute sollte ich im wenige Häuserblocks entfernten Obdachlosenasyl arbeiten. Eigentlich hätte ich mich darüber freuen sollen, dass ich meinen Mitmenschen in Zeiten der Not helfen und damit Gott dienen durfte – doch ich wollte einfach nur in den frisch gefallenen Schnee hinaus.
Ich legte mir einen leichten Schal über meine Tracht, eine einfachere Version der vorgeschriebenen Kleidung für die Schwestern. Bald würde ich eine solche Tracht auch tragen dürfen. In etwas mehr als einer Woche würde ich mein feierliches Gelübde ablegen.
Beim Anblick von Schwester Rebecca verlangsamten sich meine Schritte. Wir sollten gemeinsam zum Obdachlosenasyl gehen, doch nun stand sie am Treppenpfosten und sah aus, als wäre ihr schrecklich übel.
„Schwester, was ist los?“ Ich befürchtete bereits, mein Ausflug in den Schnee könnte doch noch vereitelt werden. Im Obdachlosenasyl arbeiteten wir stets zu zweit. Gingen stets gemeinsam hin und wieder zurück.
„Darmvirus, vermute ich“, antwortete sie niedergeschlagen. Sie war jung, wie ich. Ihr feierliches Gelübde hatte sie erst vor einem Jahr abgelegt, und eigentlich war es ein Jammer, dass sie, schön wie sie war, nie geheiratet und Kinder bekommen hatte. Bei dem Gedanken stahlen sich leise Zweifel an meinem eigenen Handeln in mein Bewusstsein, doch ich verdrängte sie. Ein anderes Leben als dieses hatte ich nie gekannt. An die Zeit, bevor meine Mutter mich hier ablieferte, erinnerte ich mich kaum. Ich hätte mich in der Welt nicht zurechtgefunden. Außerdem wollte ich gut sein. Und es gab keine bessere Möglichkeit, oder?
„Keine Bange“, meinte Schwester Rebecca, hob tapfer den Kopf und versuchte, die gequälte Miene mit einem Lächeln zu kaschieren. „Ich kneife nicht. Du hast dich den ganzen Tag darauf gefreut.“
Sah man mir das so deutlich an? Ich wandte das Gesicht ab. „Nein, Schwester Rebecca. Du darfst nicht ausgehen, wenn du dich so schlecht fühlst. Du müsstest das Bett hüten.“ Ich drückte ihr eine Hand auf die Stirn und spürte die Wärme. Dann drehte ich sie um und half ihr die Treppe hinauf. „Geh nach oben und ruh dich aus. Ich kann mich auch ohne eine Gefährtin am Rande des Zusammenbruchs um die Bedürfnisse der Obdachlosen kümmern.“
Sie erstarrte, wie nicht anders zu erwarten. „Du gehst auf keinen Fall allein hinaus! Du kennst die Regeln der Mutter Oberin!“
„Sie würde bestimmt eine Ausnahme machen, wenn sie wüsste, dass du krank bist.“
„Nein. Sie würde darauf bestehen, dass du hierbleibst.“
„Ein Glück für mich, dass sie nicht da ist.“
Schwester Rebecca schüttelte langsam den Kopf. „Sieh dich nur an! Deine Augen leuchten regelrecht. Was versetzt dich so in Aufregung, Angelica?“
„Der Schnee“, sagte ich, wirbelte herum und blieb stehen, als ich durchs Fenster die Schneeflocken sah, die draußen im Licht der Straßenlampe tanzten. „Ich möchte draußen sein. Ihn auf dem Gesicht spüren.“
Sie legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. „Es ist nicht der letzte Schnee, Angelica.“
„Aber der erste. Bitte lass mich gehen. Ich bin eine erwachsene Frau. Erwachsene Frauen gehen jeden Tag allein durch diese Stadt.“
„Keine Frauen dieses Ordens…“, begann sie.
„An sich gehöre ich nicht zu diesem Orden … noch nicht. Also kann ich tun und lassen, was ich will.“
„Angelica …“
Auf dem Weg zur Tür blieb ich stehen und drehte mich noch einmal zu ihr um.
Sie lächelte, die glänzenden Augen und rosigen Wangen verrieten das Fieber. Eine blonde Locke ragte unter der Haube hervor und schmiegte sich an ihre Wange. „Du bist eine sehr willensstarke junge Frau, Angelica“, sagte sie, immer noch lächelnd. „Und abenteuerlustig und mehr als nur ein wenig schalkhaft. Manchmal frage ich mich, ob du wirklich gründlich genug über deine Entscheidung nachgedacht hast.“
Ich zuckte nur mit den Achseln. „Ich gehe zum Obdachlosenasyl. Mutter Oberin kann mir eine Standpauke halten, wenn ich zurückkehre, aber bis dahin war ich wenigstens draußen.“
Sie nickte und gab sich geschlagen. „Dann beeil dich. Verpass nicht den Bus. Falls doch, kommst du unverzüglich wieder hierher …“ Aber ich war schon zur Tür hinaus.
Oh, dieser wunderbare Schnee! Ich hatte den Winter immer geliebt. Ich hob das Gesicht, ließ die eiskalten, nassen Flocken auf Wangen und Nase fallen und kostete sie sogar wie ein kleines Kind. Sie überzogen alles, so weit das Auge reichte, parkende Autos und Bürgersteige und Fenstersimse und Treppenstufen. Ich bummelte, völlig verzaubert von der weißen Kulisse. Der erste Schnee des Winters ist ein bisschen wie Magie. Als wäre ein Märchen Wirklichkeit geworden. Eigentlich war ich ja viel zu alt, um deswegen derart in Aufregung zu geraten. Darin zu tanzen wie ein kleines Mädchen. Aber ich konnte nicht anders. Ich war aufgeregt.
Und es war falsch, so durch und durch falsch, dass ich allein loszog und mich so unbekümmert über die Regeln des Ordens hinwegsetzte. Doch das hatte ich früher schon oft getan, sodass die Schwestern inzwischen bereits damit rechneten. Regeln missfielen mir. Vermutlich musste ich meine rebellische Art ein wenig ablegen und mich anpassen, wenn ich das Gelübde abgelegt hatte, aber bis dahin schien mir das nicht nötig. Und danach …
Wieder dieser Hauch von Zweifel. Und wieder schüttelte ich ihn ab. Ich würde später darüber nachdenken. Nicht jetzt. Im Augenblick wollte ich nur allein durch die Nacht gehen, bei jedem Schritt die Regeln brechen und die winterliche Zauberlandschaft genießen.
Und genau das machte ich. Als ich endlich zur Bushaltestelle an der Ecke kam, sah ich mein Transportmittel gerade noch ohne mich davonfahren.
Das brachte mich aus der Fassung, aber nur für einen Moment. Schließlich war ich schon so fast eine Nonne. Und ich war gut. Ich hatte mein Leben in den Dienst Gottes gestellt, und ganz sicher nahm niemand seine Aufgabe ernster als ich. Gewiss konnte ich mir, wo immer ich auch hinging, der Gnade Seines Schutzes sicher sein. Ich glaube, ich fühlte mich unverwundbar. Bei den Schwestern hatte ich das sicher nicht gelernt, und durch meine Studien auch nicht. Dennoch kam es mir so vor. Mir schien, als wäre ich von einem Schutzschild umgeben, in dem mir kein Leid zustoßen konnte, daher fasste ich den törichten Entschluss, die sechs Häuserblocks bis zum Obdachlosenasyl zu Fuß zu gehen. Und das, so wurde mir später klar, war der hochmütige Stolz, der zu meinem Untergang führte.
Er wartete. Lauerte im Schatten einer Gasse voller Müll. Das Monster rief nach mir, als ich vorüberging; ich blieb widerwillig stehen. Was war ich doch für eine Närrin.
„Schwester! Schwester, bitte helfen Sie mir.“
Der Schnee fiel in dichten Flocken, als ich in die Dunkelheit blickte. Den Mann mit der flehenden Stimme konnte ich jedoch nirgends entdecken. Ich richtete mich etwas auf und verspürte zum ersten Mal einen Anflug von Furcht. „Wer ist da?“, rief ich. „Kommen Sie her, wo ich Sie sehen kann.“
„Ich kann nicht. Ich bin verletzt. Bitte, Schwester. Lassen Sie mich nicht hier in der Kälte sterben. Helfen Sie mir!“
Die Furcht wollte aus meinen Gedanken nicht weichen, doch meine unerschütterliche Selbstsicherheit erwies sich als stärker. Ich war eine Dienerin des Herrn und würde mich an Orte wagen, wo es selbst Seinen treuesten Engeln grauste, sollte es erforderlich sein. Ich wollte der armen Seele in der Gasse helfen. Aber ich würde es vorsichtig und klug anstellen. Zaghaft trat ich in die Dunkelheit, als ein eiskalter Schauer mir über den Rücken lief und mich erstarren ließ. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte ich es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen und keinen Schritt weitergehen dürfen.
„Hier drüben“, stöhnte er und lockte mich näher zu sich. Näher, bis die beleuchtete, belebte Straße außer Reichweite lag. Und als ich nahe genug war, aber in der Dunkelheit immer noch blind, fiel er über mich her. Knochige starke Arme umfassten mich, zerquetschten mich fast. Eine Hand drückte auf meinen Mund. Ich wehrte mich. Heftig wehrte ich mich. Denn obwohl strenggläubig, war ich nie schüchtern oder schwach oder feige gewesen. Ich trat mit einer Wucht nach ihm, die ihm das Schienbein hätte brechen müssen. Und ich schlug ihm so fest gegen die Ohren, dass ich mit seiner Bewusstlosigkeit rechnete. Ich zappelte, wehrte mich gegen seinen Griff und versuchte, in die Hand auf meinem Mund zu beißen. Aber nichts schien zu wirken. Er zuckte nicht zusammen, holte nicht einmal tief Luft. Mein Herz schlug so heftig, dass ich fast taub davon wurde, als er mich tiefer in die Gasse zerrte. Ich betete um Befreiung aus den Klauen dieses Wahnsinnigen und um mein Leben. Herr, vergib mir meinen Irrtum. Ich hätte für meine unsterbliche Seele beten sollen.
Er warf mich so brutal zwischen den Abfall, dass mir der Atem wegblieb. Und dann stürzte er sich auf mich, als ich auf dem stinkenden Unrat nach Luft schnappte. Der Gestank war ekelerregend. Ich wollte schreien, doch er hielt mir den Mund wieder zu. Er hockte breitbeinig auf mir, riss mir mit der freien Hand den Schleier vom Kopf, befreite mein Haar und packte Strähnen davon mit den Fäusten.
„Schwarzer Satin“, flüsterte er, während er mein Haar befingerte. „Und Augen wie Onyx. Du bist perfekt.“ Ich wand mich unter ihm. „Perfekt. Jetzt werde ich nicht mehr allein sein.“
Ich konnte ihn noch immer kaum erkennen. Nur den Umriss seines Gesichts und die dunklen Augenhöhlen waren sichtbar. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich ganz genau sah.
„Ich beobachte dich schon lange, weißt du. Von den vielen, die ich kenne, habe ich dich auserwählt. Du solltest mir dankbar sein für das Geschenk, das ich dir mache, Angelica.“
Ich wollte den Kopf schütteln – vergeblich.
„Ja. Dankbar“, fuhr er fort. „Für dich gibt es keinen klösterlichen Orden. Kein Gelübde. Dafür bist du nicht bestimmt. Du bist für mich bestimmt.“
Das Monster beugte sich über mich und hob mich leicht von meinem Bett aus Abfall hoch. Er beugte sich über meinen Hals; mir drehte sich der Magen um, als ich spürte, wie er mit seinem kalten Mund meine Haut berührte. Mit einer Hand drückte er mir den Kopf nach hinten, bis ich dachte, mein Genick würde brechen. Und dann kam der Moment, den ich in meinem Leben nie mehr vergessen werde. Der Moment, den ich mir im Traum nie hätte vorstellen können. Ich dachte, er würde mich vergewaltigen und ermorden. Die verschiedensten Szenarien schwirrten mir in Sekundenschnelle durch den Kopf, als sich die Kreatur in jener Nacht über mich beugte. Aber daran dachte ich nie.
Ich verspürte Schmerz – einen kurzen, schockierenden Schmerz, als er die zarte Haut an meinem Hals mit seinen Eckzähnen durchbohrte. Dann ließen die Schmerzen nach, und mich erfüllte Grauen darüber, was mit mir geschah. Er saugte an meinem Hals und das Leben aus mir heraus. Ich spürte, wie es durch die beiden winzigen Löcher in meiner Haut entschwand. Mir wurde schwindelig. Alles verblasste. Der Gestank des Mülls und die Kälte der Winternacht. Das Gefühl der feuchten Schneeflocken auf meinem Gesicht. Der Müllhaufen, auf dem ich lag. Alles verschwand, und mir blieb nichts. Jeder Aspekt meines Daseins schrumpfte auf die winzige Stelle, wo sich das Monster festgesaugt hatte. Es gab im ganzen Universum nichts anderes mehr als meinen Hals und seinen Mund, mit dem er mir das Blut aussaugte.
Er hob den Kopf. Ich blieb still liegen, da ich mich weder bewegen noch einen Ton herausbringen konnte. Er regte sich, und da sah ich ein silbernes Funkeln. Ich erschrak nicht einmal beim Gedanken, dass er ein Messer hatte. Dass er ein Ende machen würde. Ich hörte nichts. Der Lärm der Stadt drang nicht mehr zu mir durch. Nur seine Stimme.
Er hob mich hoch, drückte mein Gesicht an seinen Hals und flüsterte: „Trink, Angelica, trink … und lebe.“
Mit der Hand in meinem Nacken drückte er mich näher an sich. Und ich berührte mit den Lippen die warme Nässe an seinem Hals. Ich wollte mich abwenden, aber ich war zu schwach. Der Geschmack benetzte meine Zunge, meine Sinne rasten. Ein Kick, einem eisigen Wind gleich, jagte durch mich hindurch. Ich glaube, ich riss die Augen weit auf. Ich öffnete keuchend die Lippen, und da strömte noch mehr der dicklichen, salzigen Flüssigkeit in meinen Mund. Ich hätte es nicht tun sollen. Wäre ich so strenggläubig gewesen, wie ich mir einbildete, hätte ich es nicht getan. Ich hätte bereitwillig zu unserem Herrn heimgehen sollen, statt mich an den instinktiven Überlebenswillen zu klammern. Stattdessen schluckte ich. Und da spürte ich erstmals die Macht dieses teuflischen Hungers. Sie strömte durch mich hindurch und überwältigte mein einstiges Wesen. Sie übernahm die Herrschaft über mich, ein Bedürfnis, das ganz unbeschreiblich mächtig ist. Ich heftete die Lippen an die Wunde an seinem Hals … und trank. Hungrig, gierig trank ich, und mein Körper erlebte Empfindungen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. So gefräßig wurde ich, dass er mich wegstoßen musste, als der Fluch erfüllt war. Mich, sein unwilliges Opfer, musste er von seinem Hals wegstoßen.
Und da lag ich im Abfall. Mein Blick klärte sich. Ich konnte sehen. Ich sah alles. Jede Winzigkeit seines weißen Gesichts, die schwarzen Augen, die blutigen Lippen. Jedes Sandkörnchen in den Mauersteinen des angrenzenden Hauses. Jeden Stern am Himmel. Neues Leben, neue Empfindungen brachten meine Haut zum Kribbeln. Ich fühlte auf eine mir völlig unbekannte Weise. Die Form jeder Schneeflocke, die auf meiner Haut landete. Jedes Molekül der kalten Luft, die mein Gesicht liebkoste. Jedes Steinchen und jedes Stück Abfall unter mir. Ich konnte jeden widerlichen Geruch identifizieren. Und mein Gehör … ich hörte die Gespräche von Leuten, die auf der Straße vorbeikamen. Reifen auf dem nassen Asphalt. Das vom Schnee gedämpfte Quietschen von Bremsen.
Ich hörte, wie die Ampel auf Grün umschaltete.
„Was ist das?“, schrie ich, und sogar meine Stimme hörte sich erschreckend anders an, so voll und klar, dass ich die Hände auf die Ohren presste und die Augen ganz fest zukniff.
„Du wirst lernen, das alles zu kontrollieren“, erklärte er mir. „Du kannst es ausblenden, nur hören, was du hören willst. Ich bringe es dir bei.“ Er nahm mir die Hände von den Ohren und drückte sie in den Unrat um mich herum. „Ich bringe es dir bei. Du wirst ewig leben, Angelica. Du bist keine Sterbliche mehr. Du bist jetzt wie ich.“
„Wie Sie?“ Entsetzen überkam mich.
„Ja.“
Mein Herz schien zu rasen, als mir klar wurde, was er getan, was ich zugelassen hatte. „Ich bin verflucht“, flüsterte ich.
„Komm. Deine erste Lektion wartet.“ Er zog mich auf die Füße und zerrte mich zum Anfang der Gasse, trotz meiner Gegenwehr. Meine Tracht zerriss, als er mich packte. „Stark“, flüsterte er. „Schon jetzt bist du so stark. Und du wirst noch stärker, Angelica, wenn wir uns gelabt haben.“ Er blieb stehen und ließ den Blick seiner seltsamen schwarzen Augen über die Passanten schweifen.
„Gelabt?“, wisperte ich entsetzt.
„Ja“, sagte er und lächelte. Ich sah sein Gebiss, dann die Fangzähne, spitz und glänzend wie Nadeln. „An ihnen.“ Er nickte zu den Leuten, die vorübergingen.
Grauen erfüllte mich. Er war ein Monster! Ein Dämon. Ein … ein Vampir. Ich erschauerte, als ich die Bedeutung des Wortes begriff. Aus mir hatte er eine Kreatur gemacht, wie er eine war. Und ich hatte es zugelassen … ich …
Er nahm mich trotz meiner Proteste in die Arme und führte mich in die Gasse zurück. Dann packte er mich auf seine Schultern und kletterte die Fassade des Gebäudes hinauf. Wie eine Spinne, immer weiter hinauf, und ich wehrte mich nicht mehr, aus Angst, zu fallen. Höher und höher ging es, oben wehte der Wind kräftiger. Die zuvor mich zart liebkosenden Schneeflocken wurden zu winzigen Pfeilen, die der Engel des Herrn herunterschleuderte, um mich zu bestrafen. Sie schnitten mir ins Gesicht. Und dennoch zitterte ich nicht oder erschauerte wegen der Kälte. Ich spürte sie nur viel intensiver als jemals zuvor.
Er kletterte auf das Dach und bewegte sich wie eine Katze über die Dachlandschaft, sprang von einem Dach zum nächsten. Sicher habe ich in diesen Augenblicken geschrien, wenn wir am Nachthimmel dahinzuschweben schienen wie wahrhaftige Dämonen. Heute ist das alles nur noch eine vage Erinnerung.
Wir kletterten nach unten, auf die Straße, und plötzlich konnte ich mich wieder orientieren. Wir befanden uns in der Nähe des Obdachlosenasyls, das ich noch vor wenigen Stunden mutig und voller Lebenslust alleine hatte aufsuchen wollen. Oh, warum hatte ich nur so rebellisch sein müssen? Warum?
Er deutete auf eine Menschengruppe, ich sah hin. Eine Handvoll Obdachlose standen um ein Feuer in einem Fass herum und wärmten sich die Hände an den Flammen. Orangerotes Licht erhellte ihre hageren Gesichter und leuchtete auf ihrer fadenscheinigen Kleidung.
„Da“, sagte er. „Unsere Opfer … ganz für uns allein, Angelica. Ihr Leben ist kein großer Verlust.“
Die Menschen, denen ich seit Jahren half. Dieses Monster hatte die Absicht, sich von ihnen zu ernähren, um sein verfluchtes Leben zu erhalten. „Nein“, flehte ich ihn an. „Nein, bitte, das dürfen wir nicht. Es ist eine Sünde, zu töten!“ Denn mir war klar, dass er Mord im Sinn hatte.
Er ließ mich los, damit ich fliehen konnte. Dabei musste er gewusst haben, dass mir das unmöglich sein würde, dieses Tier. Er schlich sich an die Männer an wie ein großer Wolf auf der Pirsch. Aber er war unglaublich schnell. So schnell, dass mir keine Zeit blieb, sie zu warnen. Und dann schnappte er sich, ohne zu zögern, einen von ihnen. Nach einem erschrockenen Aufschrei verschwanden die anderen fluchtartig in der Nacht. Sein auserkorenes Opfer blieb jedoch in den Krallen des Jägers. Ein von Grauen gezeichnetes altes Gesicht, das ich schon einmal gesehen hatte. Im Obdachlosenasyl. In der Suppenküche, wo ich arbeitete. Von mir hatte er Decken bekommen und den Pullover, den er trug. Ich hatte mit ihm gebetet.
Ich rannte los, aber zu spät. Die Bestie hatte die Zähne schon in den Hals des unschuldigen alten Mannes geschlagen. Ich holte nach dem Kopf aus, krallte nach dem Gesicht, aber der Unhold ließ sein Opfer erst los, als er sich gütlich getan hatte. Er hob den Kopf und sah mich lächelnd an. Seine Lippen leuchteten im Feuerschein scharlachrot. Ich wich zurück, schüttelte den Kopf, bewegte die Lippen, bekam aber keinen Ton heraus.
Der Mann, dessen Name mir nicht mehr einfiel, sank mit offenen, schon glasigen Augen zu Boden. Der tanzende Schein der Flammen im Fass an seiner Seite verwandelte sein Gesicht in das Antlitz des Todes.
Das Monster leckte sich die Lippen, dann packte es so schnell wie eine angreifende Kobra eine Strähne meines Haars und zog so fest daran, dass ich vor Schmerzen aufschrie. „Du wirst nie wieder die Hand gegen mich erheben, Angelica. Du gehörst jetzt mir. Mir, hast du verstanden? Ich beobachte dich schon dein ganzes Leben und warte auf dich. Du begleitest mich. Gehorchst mir. Nimmst Nahrung zu dir, wenn ich es tue.“ Als er an mir vorbei in die Schatten sah, stellte sich das böse Lächeln wieder ein. „Dein erstes Opfer wartet schon auf dich. Da hockt er zitternd in der Nacht und bildet sich ein, wir könnten ihn in der Dunkelheit nicht sehen.“ Er sah mir ins Gesicht. „Ich bring ihn zu dir, und du nimmst ihn, Angelica. Du saugst ihn aus, oder du bekommst meinen Zorn zu spüren.“ Und dann ließ er mich los und setzte sich in Bewegung. Ich sah den Jugendlichen, einen Knaben, schlotternd und mit großen Augen in der Dunkelheit kauern. Und ich konnte nicht zulassen, dass diese Kreatur ihm das Leben nahm. Ich konnte es nicht.
Ich ergriff ein Stück Holz, das aus dem Feuer im Fass ragte. Das Ende, das ich hielt, brannte nicht, aber als ich es herauszog, sah ich die Flammen am anderen Ende züngeln. Mit einem leisen Knurren, das unmöglich von mir stammen konnte, sprang ich vorwärts und hob die Waffe mit meiner ganzen, neu erlangten Kraft.
Doch nicht die Kraft meines Hiebes gab den Ausschlag. Das brennende Ende des Holzes traf den Kopf des Vampirs, er ging zu Boden. Ich bin jedoch sicher, dass der angerichtete Schaden ihm nichts anhaben konnte. Es lag an den Flammen. Die Glut schien auf ihn überzuspringen, das Feuer erfasste sein Haar, dann die Kleidung. Er sprang auf die Füße und kam zähnefletschend auf mich zugelaufen. Aber das Feuer … ich bekreuzigte mich, als ich sah, wie es ihn einhüllte. Die Flammen breiteten sich so schnell aus, als wäre er mit Benzin übergossen worden. Ich wich zurück, als er die Hände nach mir ausstreckte. Und dann war es vorbei. Er fiel zu Boden, grellweiße Flammen loderten empor. Und dann war es still. Das Feuer erlosch, als hätte es nie existiert. Winzige Funken und Glut schwebten noch in die Nacht und verschwanden nach und nach. Nicht einmal Asche besudelte den blütenweißen Schnee zu meinen Füßen.
Der Junge im Schatten floh; ich hörte seine Schritte, die sich hastig entfernten. Ich selbst wich schockiert, entsetzt, abgestoßen zurück. Ich hatte getötet. Ich war verwandelt worden. Ich war eine Kreatur wie die, die ich ermordet hatte. Ich war verflucht. Verflucht.
Er hatte ein ausgezeichnetes Gehör. Kein übernatürliches – er war ja noch ein Sterblicher –, aber gut genug, um zu wissen, was vor sich ging. Die Dreckskerle würden ihn töten.
Seit drei Tagen lag er auf diesen Tisch geschnallt in dieser winzigen Zelle. Wissenschaftler des DPI, des Department for Paranormal Investigation, der Abteilung für paranormale Ermittlungen, in ihren weißen Laborkitteln piksten und malträtierten ihn, bis es keinen Zentimeter Haut mehr an ihm gab, den sie nicht besudelt hätten. Keinen. Nicht eine Körperflüssigkeit, von der sie keine Proben genommen hätten. Nicht eine. Aber er verspürte keine Demütigung. Er verspürte Wut. Und diesmal würden die Mistkerle dafür bezahlen. Jameson Bryant mochte kein Vampir sein, aber er war auch kein Kind mehr. Er war ein erwachsener Mann und seit heute Nacht auf Rache aus. Wenn er freikam, würde er dieses Gebäude dem Erdboden gleichmachen. Er würde die Abteilung für paranormale Ermittlungen und jeden ihrer Mitarbeiter vernichten.
Jameson war klar, welches Interesse das DPI an ihm hatte. Er wusste – seit seiner Kindheit –, dass er anders war. Nicht nur seine Blutgruppe war wirklich außergewöhnlich. Das Belladonna-Antigen machte ihn zum Studienobjekt dieser sogenannten Wissenschaftler. Die seltenen, vereinzelten Individuen mit dieser Blutgruppe konnte man als Einzige verwandeln. Umkrempeln … Vampire aus ihnen machen. Jeder existierende Vampir hatte als lebendiger Mensch das Belladonna-Antigen in sich gehabt.
Im Bemühen, alles über die Untoten zu erfahren – um die Welt von ihnen zu befreien –, griff das DPI häufig auf lebende Versuchsobjekte zurück. Bei Jameson hatten sie ihre Chance bereits vor langer Zeit gehabt, als er noch ein Knabe war, und damals hätten sie ihn um ein Haar getötet. Wenn seine untoten Freunde nicht gewesen wären. Besonders Roland. Dennoch stand ihnen Jameson Bryant eine Zeit lang zur Verfügung. Ganz sicher konnten sie heute nichts mehr von ihm lernen.
Herrgott, der Gedanke, dass Tamara einst für diese elende Bande gearbeitet hatte! Aber sie wusste es ja nicht. Sie wusste es nicht.
Jameson begriff nicht, weshalb sich nicht alle übernatürlichen Wesen auf diesem Planeten zusammentaten und das DPI vernichteten, so wie das DPI sie vernichten wollte. Sie verdienten die ständigen Belästigungen, die ständige Angst nicht, in der sie wegen dieser geheimen Regierungsorganisation leben mussten. Oh, natürlich gab es Böse unter den Untoten. Genau wie in jedem Volk. Aber die Vampire gehörten mehrheitlich zu den besten Wesen, die Jameson je kennenlernen durfte. Sie hatten ihn aufgenommen, als seine Mutter starb.
Wenn Roland und Eric und die anderen nicht bald etwas unternehmen würden, um diese Organisation zu vernichten, würde Jameson es tun. Es wurde Zeit. Höchste Zeit.
Sie hatten ihre „Proben“, hörte er sie sagen. Das Experiment wurde in Rekordzeit abgeschlossen, jetzt konnte es mit Phase zwei weitergehen, was immer das heißen mochte. Na ja, dumm waren sie nicht. Das DPI wusste aus Erfahrung, dass man sich mit Jameson Bryants Freunden besser nicht anlegen sollte. Jetzt wollten sie „das Subjekt entsorgen“, bevor seine untoten Beschützer etwas mitbekamen.
Er zog an den Gurten, die seine Arme und Beine an dem kalten Metalltisch festhielten. Denen stand eine Überraschung ins Haus, wenn sie glaubten, er würde kampflos aufgeben. Dies mochte nicht Jamesons erste Begegnung mit dem DPI sein, aber ganz bestimmt seine letzte!
So oder so.
„Jamey!“
Als das schroffe Flüstern ertönte, drehte Jameson den Kopf, so weit die Fesseln es zuließen. Dann fluchte er, denn Roland stand vor seiner Zelle und bog die Gitterstäbe auseinander, als wären sie aus Gummi.
„Was zum Teufel machst du hier?“
„Was zum Teufel denkst du denn?“ Roland betrat die Zelle und zerriss mühelos die Gurte, die Jameson festhielten. „Alles in Ordnung, Jamey?“
„Bestens. Und es heißt jetzt Jameson.“ Er setzte sich auf, sprang von dem Tisch herunter und sah den Mann an, den er wie einen Vater liebte. Einen Mann, der Jahrhunderte alt war, aber nicht viel älter aussah als Jameson selbst. Ein wenig blasser und mit Augen, die etwas mehr leuchteten als bei einem Sterblichen.
Roland lächelte. „Das kann ich mir einfach nicht merken. Sieh dich nur an. Neben dir wirke ich inzwischen klein.“
„Und du kannst dir auch nicht merken, Roland, dass ich nicht möchte, dass meine Freunde ihr Leben für mich riskieren.“
„Es wäre riskanter gewesen, dich ihnen zu überlassen“, antwortete Roland und machte eine entschuldigende Geste. „Rhiannon hätte mich an ihre Katze verfüttert.“
Jameson versuchte, sich zu beherrschen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass Rolands Lebensgefährtin Rhiannon solche Drohungen aussprach, und da es sich bei ihrer „Katze“ um einen ausgewachsenen Panther handelte, sollte man die auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Nicht dass sie sie je in die Tat umsetzen würde. Sie vergötterte ihren Mann.
Jameson umarmte Roland, der ihn ebenfalls liebevoll umschlang. Sie hatten einander lange nicht gesehen. Jameson führte unter falschem Namen ein vergleichsweise normales Leben in San Diego und hätte nicht gedacht, dass das DPI ihn je wiederfinden würde. Er war dort Inhaber einer Bar und verdiente nicht schlecht.
Eines Tages, als er gerade die Bar abschließen und zu seinem Auto gehen wollte, wurde er von zwei Männern in dunklen Anzügen überfallen und erwachte in White Plains, auf einen Tisch gefesselt. So etwas nannte man Déjà-vu.
„Wir können uns später unterhalten“, sagte Roland und ließ ihn los. „Eric ist …“
„Eric ist hier?“, fragte Jameson, von einem neuen Wutanfall gebeutelt. Verdammt, wann würden sie endlich lernen, sich nicht jedes Mal selbst in Gefahr zu bringen, wenn er in Schwierigkeiten steckte? „Und Tamara?“
„Sie wartet mit Rhiannon draußen.“
„Verdammt, Roland, wie konntest du Tamara hierherkommen lassen? Du weißt, was passieren könnte. Was sie mit ihr anstellen würden, wenn sie sie wieder in ihre dreckigen Finger bekämen.“
„Sie ließ sich nicht halten. Du kennst sie doch und weißt …“
„Beeilt euch, ja?“ Eric stand vor der Zellentür, Blut floss aus einer kleinen Schnittwunde an seiner Stirn. „Einer von ihnen ist entkommen und …“ Er verstummte und bekam große Augen, während er Jameson von Kopf bis Fuß betrachtete. „Großer Gott, ist es schon so lange her? Sieh dich nur an!“
Jameson schüttelte den Kopf und fragte sich, wie sie einen vierunddreißigjährigen Mann immer wieder dazu bringen konnten, sich wie ein Vierzehnjähriger zu fühlen. Vermutlich ging das nur, wenn die fraglichen Leute selbst mehrere Jahrhunderte alt waren. Daran würde sich vermutlich nie etwas ändern, solange er lebte. Roland packte ihn am Arm, verließ die Zelle und zog Jameson mit. Sie liefen auf dem Flur hinter Eric her, der vor dem ersten Fenster stehen blieb.
Jameson starrte von einem Mann zum anderen. „Ihr macht Witze, ja? Wir sind im zehnten Stock …“
Die beiden nahmen ihn zwischen sich, hielten ihn an den Armen fest und sprangen.