Keith
6. KAPITEL
Jameson ließ White Plains hinter sich und versuchte, sich ausschließlich auf die Straße vor sich zu konzentrieren. Was sich als vergeblich erwies, denn seine Neugier auf die Frau auf dem Beifahrersitz an seiner Seite wuchs mit jeder Meile, die sie zurücklegten. Er hatte sie nach ihrer Herkunft gefragt. Schon zweimal, und zweimal hatte er sich eine grobe Abfuhr eingehandelt. Die Befriedigung, ein drittes Mal zu fragen, wollte er ihr nicht geben.
Aber er konnte nicht anders, als sich Gedanken über sie zu machen. Was für eine Frau mochte sie im Leben gewesen sein? Wann war sie verwandelt worden und von wem? Und warum schien sie ihr eigenes Volk so durch und durch zu verabscheuen?
Sie lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und legte den Kopf mit geschlossenen Augen auf das schwarze Leder. Sie schlief jedoch nicht. Nein. Ganz und gar nicht. Als Jameson sich unbemerkt in ihre Gedanken einschlich, stellte er fest, dass sie mit jeder Faser ihres Körpers der Verbindung zu ihrer Tochter nachspürte, die sie ihm beschrieben hatte. Die ihr verraten würde, ob ihr Kind – sein Kind – in der Nähe war. Im Geiste schien sie fast in der Luft zu schnuppern, durch die sie fuhren, schien jedes Auto, jedes Gebäude, jedes Feld und Waldstück zu untersuchen. Und je länger sie fuhren, desto verzweifelter wurde ihre Suche, bis er fast hören konnte, wie sie mit ganzer Seele nach dem Kind schrie.
Sie hatte nur sehr wenig Nahrung von ihm genommen. Und jetzt wurde ihm klar, dass das nicht ausreichen würde. Sie verbrauchte ihre Energie, verschwendete ihre gesamten Kraftreserven auf diese geistige Suche, und so wenig sie von ihrer eigenen Existenz wusste, war Jameson überrascht, dass sie es überhaupt versuchte. Instinkt, vermutete er.
Sie wurde bleich, ihre Lider bebten, ein Schauer lief durch ihren ganzen Körper. Er wollte sie verabscheuen. Sollte es. Sollte es auf jeden Fall. Sie hatte versucht, ihn zu ermorden, sie hatte sich seinen ältesten Feinden ausgeliefert, sich von ihnen benutzen lassen, und ihretwegen hatten die jetzt sein Kind. Das einzige Kind, das er je haben würde. In den Händen der Menschen, die er am meisten hasste. Und alles wegen ihr.
Dennoch hasste er diese Frau nicht. Es schien logisch, dass er sie im Augenblick nicht hassen konnte. So schwach, wie sie war, konnte sie kaum bei Bewusstsein bleiben. Monate der Gefangenschaft und weiß Gott was für Misshandlungen. Blass, zitternd und kläglich. Nein, eine Person in diesem jämmerlichen Zustand konnte er nicht hassen. Nicht einmal sie. Zweifellos würde es ihm zu gegebener Zeit leichter fallen, seinen Hass wieder zu aktivieren. Er berührte sie an der Schulter.
„Angelica“, sagte er und bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen, ehe er fortfuhr. Sie sollte einen herrischen Unterton haben, nicht diesen besorgten. „Hör auf, du bist nicht kräftig genug.“
Sie schlug die Augen auf, allerdings langsam, und sah ihn blinzelnd an, als wäre sie aus tiefem Schlaf erwacht. Als ihr Blick klarer wurde, kniff sie die Augen zusammen. „Was kümmert es dich, wie kräftig ich bin? Du verabscheust mich, weißt du nicht mehr?“
„Das werde ich auch so schnell nicht vergessen. Und ich sorge mich nur um deine Kraft, Angelica, damit du sie nicht völlig vergeudest und dich selbst umbringst, bevor ich mein kleines Mädchen gefunden habe.“
Da blitzte etwas in ihren Augen. Ein Feuer, das ihn überraschte. Selbst als sie ihn vor Monaten angegriffen hatte, spürte er keine Heimtücke in ihr. Nur Verzweiflung. Dies war anders. Sie erinnerte ihn an eine Löwin, die sich die Lefzen leckt, während sie einen achtlosen Jäger beobachtet. Eine halb tote Löwin, die immer noch genügend Kraftreserven aufbringen konnte, wenn sie eine Bedrohung für ihr Junges spürte.
„Eines musst du begreifen, Vampir“, herrschte sie ihn an, und selbst dieses atemlose Flüstern klang bösartig. „Ganz gleich, was du mir antust, ganz gleich, was du auch versuchst, dieses unschuldige Kind wirst du nie in die Finger bekommen. Ich bin seine Mutter, auch wenn ich das vor einer Weile noch nicht für möglich gehalten hätte. Und ich werde sie auf anständige und moralische Weise großziehen. Deinesgleichen bekommen sie nie in die Finger. Sie soll nicht von deinem Bösen verdorben werden. Wenn du sie willst …“ Sie schloss die Augen und holte tief Luft, als würde allein das Sprechen sie überanstrengen. „Musst du mich töten.“
Jameson blinzelte kurz und schüttelte den Kopf, als wollte er seine Verwirrung abschütteln. „Meinesgleichen?“, wiederholte er und betrachtete ihr erschöpftes Gesicht mit kurzen Seitenblicken. „Angelica, du bist meinesgleichen.“
„Nein.“ Sie wandte sich von ihm ab und sah zum Fenster hinaus in die Nacht. „Ich werde niemals wie du sein.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein, wo du doch keine Ahnung hast, wie ich bin?“ Er nahm die Ausfahrt, die zu dem Anwesen auf Long Island führte, das durch eine Reihe trickreicher juristischer Manöver und mehrere Überschreibungen immer noch rechtmäßig Eric gehörte. Man hatte ihn dort so viele Jahre nicht mehr gesehen, dass das DPI das Haus nicht mehr beobachten ließ. Aber Eric war dort gewesen. Und beschäftigt.
„Ich weiß, wie du bist“, sagte sie, ihr Flüstern klang deutlich schwächer.
Sie erinnerte sich. Erinnerte sich an etwas, bei dem sich ihr der Magen umdrehte und ihr Herz vor Angst schneller schlug. Eine dunkle Gasse, ein erstaunlich kräftiger Mann, der sie zu Boden drückte und …
„Aufhören!“ Sie drehte ruckartig den Kopf zu ihm um und sah ihn mit wütenden Blicken an. „Lass meine Gedanken in Ruhe, verdammt!“
Wut stieg in ihm empor, verrauchte jedoch recht schnell wieder. Sie hatte ein Recht, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Er sollte Verstand genug haben und nicht die Gedanken von jemand anderem ohne dessen Erlaubnis lesen. Er war nur so verdammt neugierig, was sie anbetraf … und diese beängstigenden Erinnerungen stachelten seine Neugier noch mehr an. Er seufzte tief. „Ich mag dich nicht, Angelica. Das ist kein Geheimnis. Aber wenn du mir dabei helfen willst, unsere Tochter zu finden, musst du ein klein wenig mehr über unsere Natur erfahren. Ich nehme an, es gibt keinen anderen, der dir etwas beibringen könnte, daher …“
Sie ließ den Kopf auf die Sitzlehne fallen. „Ich will nichts wissen, was du mir beibringen könntest.“
Er sah sie erstaunt an. „Nicht? Nicht einmal, wie du deine Gedanken abschirmen kannst? Nicht einmal, wie man Monster wie mich daran hindert, die eigenen Gedanken zu lesen, wann immer es ihnen in den Sinn kommt?“
Sie warf ihm einen langen Blick voller Argwohn und Misstrauen zu.
„Das ist ganz einfach, Angelica, und wenn du die Technik erst einmal gelernt hast, kann man deine Gedanken nur dann lesen, wenn du es auch willst.“
Sie drehte den Kopf ein wenig weiter und kniff die Augen zusammen. „Zweifellos schwarze Künste. Zauberei, Satanismus.“
„Ich glaube nicht an Satan“, antwortete er. „Das kann es also nicht sein.“
„Ketzerei“, murmelte sie.
Jameson zuckte mit den Schultern. „Mach die Augen zu und stell dir deinen Verstand als Haus und deine Gedanken als dessen Bewohner vor. Und dich als Gebieterin dieses Haushalts.“
Sie runzelte die Stirn, machte aber weder die Augen zu, noch befolgte sie eine seiner Anweisungen. Aber sie speichert alles ab, um später darüber nachzudenken, dachte er.
„Andere möchten in dein Haus eindringen. Du hast die Pflicht, die Bewohner zu beschützen. Also baust du eine Mauer. Nimm ein beliebiges Material deiner Wahl. Stein oder Stahl oder Ziegel. Aber stell dir sehr genau vor, wie du diese Mauer baust, sie solide und stark machst, sie höher und höher ziehst, bis dein Haus kein Haus mehr ist, sondern eine Burg. Eine Festung. Uneinnehmbar.“
Das Misstrauen verschwand wenigstens teilweise aus ihren lila Augen. Sie weiteten sich und sahen zur Abwechslung einmal direkt in seine. Es traf ihn wie ein Schlag gegen die Brust. Als ihre Blicke sich begegneten, passierte etwas Unglaubliches. Es schien, als würde sie mit dem Blickkontakt die Erinnerungen freisetzen, die er unbedingt aus seinem Denken verdrängen wollte. Die Gefühle … das Verlangen … die Berührung ihrer Lippen und …
Er blinzelte, sah wieder auf die Straße vor sich und unterbrach dadurch die mächtige Verbindung. Als er feststellte, dass er die Ausfahrt verpasst hatte, wendete Jameson um hundertachtzig Grad und fuhr in die andere Richtung zurück. Dann räusperte er sich und gab sich allergrößte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Verstand. Er hatte ihr erklärt, wie sie ihren Verstand schützen konnte. „Du musst dich als Hüterin der Mauer sehen, die du gebaut hast“, sagte er. „Du kannst den anderen nach Gutdünken Nachrichten schicken und …“
„Das kann ich?“
Er sah sie wieder an, bemerkte das Staunen darin. Noch vor wenigen Augenblicken waren sie voller Leidenschaft gewesen, als sie beide dasselbe empfanden. Aber sie hatte sich so sehr bemüht, es zu verbergen, wie er. Und sich stattdessen auf seine Worte konzentriert. Worte, die an der Oberfläche eines stillen Sees schwebten, während tief unter ihnen das Chaos brodelte.
Im Moment sah sie so unschuldig aus. So überrascht von dem, was er ihr erzählte. Er ertappte sich dabei, wie er sie fast angelächelt hätte, und beherrschte sich blitzschnell. „Natürlich kannst du das. Und du kannst auch die Gedanken von anderen hören.“
„Ja“, sagte sie ganz leise. „Die höre ich. Von allen, andauernd. Das macht mich wahnsinnig. Wie ein unablässiges Brüllen in meinem Kopf, aber nichts wird klar. Alles durcheinander und unverständlich. Ich …“ Sie sah hastig auf, als wäre das eben Gesagte ohne ihre Zustimmung über die Lippen gekommen. Als hätte sie eben erst festgestellt, dass sie sich mit ihm unterhielt, als wäre er kein Monster. Und sie kniff den Mund zu und schüttelte unmerklich den Kopf.
Das erboste ihn. Dennoch redete er mit ihr. „Deine Mauer lässt nur die Botschaften durch, die du empfangen willst. Alle anderen prallen daran ab wie schlecht gezielte Pfeile.“
Sie zog die Brauen hoch und sah ihn zweifelnd, aber doch voller Hoffnung an, das spürte er.
Er schüttelte den Kopf und blickte starr geradeaus, um das Misstrauen in ihren Augen nicht mehr sehen zu müssen. „Versuch es doch selbst, wenn du so sicher bist, dass ich lüge. Na los doch. Konzentrier dich. Bau deine Mauer.“
Ihre Lippen wurden schmal, sie verdrehte die Augen, aber Sekunden später sah er, wie sie sich zurücklehnte, entspannte und innerlich auf alles konzentrierte, was er ihr gesagt hatte. Er ließ ihr Zeit, wartete mehrere Augenblicke, fuhr langsam und betrachtete die Küste, die in Sicht kam.
Und dann sandte er seine geistigen Fühler tastend und sondierend zu ihr. Und fand ihre Mauer. Fühlte sie, eine baufällige Barriere. Mit seinem stärkeren Willen hätte er sie durchbrechen können, doch mit der Zeit würde ihre Verteidigung stärker werden.
„Sehr gut“, sagte er. „Wirklich nicht schlecht.“
Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Du versuchst mich mit diesem Unsinn zu verwirren.“
„Wirklich?“, fragte er. Dann konzentrierte er sich auf ihre Gedanken und teilte ihr in Gedanken mit: Wir sind nicht mehr weit vom Meer entfernt, Angelica. Siehst du es in der Ferne?
Er sah, wie sie erstarrte und sich zu ihm umdrehte, als hätte er laut gesprochen. Sah sie zusammenzucken, als sie feststellte, dass er die Lippen nicht bewegte. Sah sie in die Richtung blicken, die er im Geiste genannt hatte, und die Atlantikküste in sich aufnehmen.
„Das ist … ist unheimlich. Und unnatürlich“, flüsterte sie.
„Nein, für uns nicht. Und es kann verdammt praktisch sein. Besonders wenn man in einer Klemme steckt. Man kann seinen Hilferuf über Meilen senden und andere rufen.“
Sie senkte den Kopf, schüttelte ihn. „Ich würde lieber das Risiko eingehen, schönen Dank auch“, sagte sie.
„Und warum, Angelica?“
Sie hob Brauen und Schultern gleichzeitig. „Aus demselben Grund, warum es unklug ist, Geschäfte mit dem Teufel zu machen, Vampir“, sagte sie. „Man kann ihm nicht vertrauen. Nichts, das auf wahrem Bösen basiert, kann man vertrauen.“
„Also sind wir jetzt wie Satan persönlich, ja? Böse? Nicht vertrauenswürdig? Ich wusste gar nicht, dass du in so enger Verbindung mit dem Allmächtigen stehst, Angelica. Hat er dir das alles persönlich gesagt? Oder fällst du dein Urteil über mich ohne göttlichen Zuspruch?“
„Ich muss kein Urteil über dich fällen“, flüsterte sie. „Du hast dein wahres Ich schon gezeigt. Du hast dich als mein Retter ausgegeben und bist zu meinem Entführer geworden. Ich werde nicht den Fehler machen und deiner Art noch einmal vertrauen.“
„Wenn man mir nicht trauen kann, heißt das nicht zwangsläufig, dass man keinem Vampir trauen kann, oh Engel der Weisheit. Und da wir schon dabei sind, stellen wir doch mal einiges klar. Anfangs war ich dein Retter, das stimmt. Dann wurde ich dein Opfer, als du versucht hast, mich zu ermorden. Und dann, dunkler Engel, wurde ich dein Liebhaber.“ Er genoss das leise Stöhnen, das diese Bemerkung auslöste. Er lächelte sogar verhalten. „Sicher, es geschah nur in einem Reagenzglas, aber dennoch haben wir uns gepaart. Und jetzt, Angelica, bin ich dein Retter und Entführer, aber nur, um dich daran zu hindern, dass du auch noch zur Kindesentführerin wirst.“
Sie senkte den Kopf und machte die Augen zu.
„Wie kann man verabscheuen, was man selbst ist?“, fragte er halb sich selbst. „Du bist ein Vampir, Angelica. Wenn du uns verdammst, verdammst du auch dich.“
„Nicht ich habe dich verdammt“, flüsterte sie. „Das war Gott. Und nicht ohne Grund. Auch gegen mich hat er seinen Zorn gerichtet.“
Er legte den Kopf schief und sah ihren gequälten Gesichtsausdruck. „Du hältst das wohl für eine Art Strafe Gottes?“
„Es ist die Hölle“, sagte sie. „Ich bin in jener Gasse gestorben, und dies ist die Hölle.“
„Was für eine Gasse?“ Er wusste es … sie war in einer Gasse verwandelt worden, und offenkundig gegen ihren Willen. Aber er wollte mehr wissen. Wollte alles wissen.
Sie wandte das Gesicht ab, biss sich auf die Lippen, verweigerte ihm die Antwort.
„Weißt du, Angel, du hast echt keine Ahnung. Du hast keinen blassen Schimmer, was es heißt, ein Vampir zu sein. Du ziehst Schlussfolgerungen ohne den Hauch eines Beweises. Ist dir eigentlich klar, wie selbstgefällig und arrogant das ist?“
„Ich bin eine der Verfluchten“, flüsterte sie mit einem dicken Kloß im Hals. „Glaubst du wirklich, mich interessiert, ob ich auf dich arrogant wirke?“
„Jesus Christus“, murmelte er.
Sie zuckte zusammen und drehte den Kopf weg. Jameson unterbrach das Schweigen nicht. Dann sah er im weißen Licht der Scheinwerfer ihr Ziel, nickte in die Richtung und dachte, er könnte das niederschmetternde Thema wechseln. „Hier bleiben wir vorerst. Unser Hauptquartier. Jedenfalls, bis sie uns auf die Spur kommen. Was vermutlich nicht allzu lange dauern dürfte.“
Sie betrachtete das Haus und schüttelte den Kopf. „Ich will da nicht sein. Ich will mich auf die Suche nach meinem Kind machen.“
Er betrachtete sie unwillkürlich mit erstaunter Miene. „Du kannst dich kaum aufrecht halten“, sagte er. „Und du denkst offensichtlich nicht klar. Du musst dich ausruhen und dir Zeit nehmen, wieder zu Kräften zu kommen. Vielleicht ein wenig über dein neues Dasein lernen. Du weißt offensichtlich gar nichts.“
„Ich will keinen Unterricht, ich will mein Baby!“
Er schluckte heftig, als er wieder die lodernden Flammen in ihren Augen sah. „Ich auch“, sagte er. „Aber es dämmert bald. In der kurzen Zeit der Dunkelheit, die uns noch bleibt, können wir gar nichts tun. Wir beginnen morgen bei Sonnenuntergang mit der Suche.“
Sie knirschte frustriert mit den Zähnen, öffnete aber dennoch ihre Tür. Jameson hielt sie am Handgelenk fest, ehe sie aussteigen konnte, und sie drehte sich wieder zu ihm um. „Und ich meine: wir“, gab er ihr zu verstehen. „Denk nicht mal dran, dass du vor mir aufwachen und dich davonschleichen könntest, Angelica. Das Haus sieht vielleicht verfallen aus, aber der Eindruck täuscht. Mein Freund Eric besteht auf den höchsten technischen Standard. Das ist eine Festung, Angelica, und ich habe den Schlüssel.“
„Ich verabscheue dich!“ Sie entriss ihm die Hand und wollte aus dem Auto aussteigen.
Jameson hielt sie mühelos fest und hinderte sie daran. „Mach die Tür zu. Wir sind noch nicht ganz da.“
Sie gehorchte mit finsterer Miene.
Das Haus erschien mir so Furcht einflößend, ich litt Todesängste. Allein mit einem Monster, das mehr über mich zu wissen schien als ich selbst. Ein Mann, der mich aus einem Gefängnis geholt hatte, nur um mich in ein anderes zu bringen. Dieses hier sah von außen aus, als gehörte es einer Bande Hexen im alten Salem. Aber das stimmte nicht. Stattdessen gehörte es einer Bande von Vampiren. Was vermutlich noch schlimmer war.
Wir fuhren durch ein hohes schmiedeeisernes Tor, das offen stand und nur noch an einem Scharnier zu hängen schien. Über uns sah ich in filigranen Metallbuchstaben den Namen Marquand. Abgebrochene Zweige, Unkraut, Ranken und Gestrüpp verunzierten die Einfahrt. Und dann ragte das Haus selbst vor uns auf wie ein gigantischer Dämon. Es handelte sich um einen Turm aus grauen Steinquadern, überwiegend mit Efeu bewachsen. Dicke Balken waren über die enorme Eingangstür genagelt. Das schmiedeeiserne Geländer war zerbrochen und beugte sich über die rissigen Steinstufen wie ein alter Mann auf einer Krücke. Unter jedem der hohen, schmalen Fenster befand sich ein Wasserfleck, was den garstigen Eindruck erweckte, als hätte das Haus geweint. Ich erschauerte bei dem Gedanken. Hinter dem Haus fiel eine Felsklippe fast senkrecht bis zum Meer ab. In der Ferne sah ich das schwarze tosende Wasser und hörte die Brecher an die Felsenküste donnern.
Und immer noch fuhr Jameson mit dem kleinen schwarzen Auto weiter. Er bog von der Einfahrt ab durch das Gebüsch, und da schien es, als hätte sich ein Weg aufgetan, wo vorher keiner gewesen war. Wir fuhren tief in einen Tunnel aus Hecken und Sträuchern, der so dicht war, dass man weder nach draußen noch hineinschauen konnte. Genial.
Und dann stellte Jameson den Motor ab. Den Schlüssel ließ er jedoch stecken. Im Falle einer hastigen Flucht, überlegte ich. „Jetzt“, sagte er und sah mich in der Dunkelheit an, wo ich für ihn und seine samtbraunen gestreiften Tigeraugen so deutlich erkennbar sein musste wie er für mich, „kannst du aussteigen.“
Ich schäumte innerlich vor Wut, dass ich diesem Mann gehorchen musste, doch blieb mir kaum eine andere Wahl. Ich öffnete die Autotür und stieg aus. Er stand so schnell neben mir, dass ich einen kurzen Aufschrei der Überraschung nicht unterdrücken konnte. Wieder hielt er mich am Handgelenk fest. Ich betrachtete seine kräftige Pranke und wusste, er hätte mir das Handgelenk so mühelos brechen können wie einen trockenen Zweig. Im selben Moment wurde mir bewusst, dass er mir nicht einmal wehgetan hatte. Er hätte es tun können und hätte es bei mehr als einer Gelegenheit vielleicht nur zu gern getan, dennoch war er sehr fürsorglich mit mir umgegangen. Wenn er es für geboten hielt, mich festzuhalten, dann hielt er mich mit festem, unerschütterlichem Griff. Einem unentrinnbaren. Aber keinem schmerzhaften.
Ich dachte an die furchtbare Grausamkeit des Vampirs, der mich in der Gasse überfallen hatte. Der mir wehgetan hatte, immer wieder, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.
Freilich wäre es ein Fehler gewesen, die beiden für so unterschiedlich zu halten. Sie waren beide gleich, beide verflucht, beide Monster, Dämonen, Diener von Satan persönlich. Von seiner trügerischen Sanftmut würde ich mich nicht täuschen lassen. Ich musste ihm entkommen. Und das würde ich.
Er führte mich noch tiefer in den Tunnel aus Gestrüpp bis zu einer regelrechten Mauer aus Ästen und Zweigen am Rande. Er schob einige Äste beiseite, ging weiter, abwärts, und zog mich mit sich.
Eine Treppe … die spiralförmig in die Erde selbst hinabführte. Einen Moment stellte ich mir vor, dass mich am unteren Ende das Höllenfeuer erwartete, und widersetzte mich.
Da drehte er sich mit zusammengekniffenen Augen zu mir um. „Schon gut, Angelica. Du musst hier keine Angst haben. Ich weiß, das alles wirkt absurd, aber glaub mir, es ist erforderlich. Für unsere Sicherheit. Komm jetzt.“
Ich unterdrückte meine Furcht und folgte ihm ins Innere der Erde und durch einen langen unterirdischen Tunnel. Schließlich ließen wir ihn hinter uns und betraten durch eine massive Tür einen größeren Raum … und ich war vollkommen fassungslos.
Damit hatte ich ganz und gar nicht gerechnet. Mit einem gruftähnlichen Verlies, ja. Aber nicht damit.
Der Raum war groß und wunderschön eingerichtet. Ein offener Kamin am anderen Ende, Anfeuerholz daneben. Daneben ein Stapel duftenden Kirschholzes. Die Wände waren in einem altrosa Ton gestrichen und von Gemälden gesäumt. Bezaubernde Bilder, und mir fiel gleich auf, dass verschiedene Landschaften und Meere sonnendurchflutet anmuteten. Perserteppiche lagen auf dem Boden, in einer Ecke stand ein samtbezogenes Sofa mit Kissen und Überwurfdecken. In einer anderen ein antiker Schaukelstuhl aus Kirschholz. In einer dritten ein Marmortisch, voll beladen mit Kunstgegenständen. Überall Petroleumlampen und Türen. Mehr Türen als die, durch die wir eingetreten waren.
Er schloss die enorme Tür hinter uns, und da bemerkte ich zum ersten Mal die digitale Anzeige daneben. Er drückte einige Knöpfe, ein rotes Licht ging an. Also stimmte es, was er sagte. Ich saß hier drinnen in der Falle.
„Du siehst“, sagte er und drehte sich wieder zu mir um, „nichts zu befürchten. Wir haben ein voll funktionsfähiges Bad, und in den Schränken findest du Kleidung in unterschiedlichen Größen. Du kannst baden und dir frische Sachen anziehen. Damit solltest du dich nach Monaten in dieser Folterkammer viel besser fühlen.“ Bei diesen Worten berührte er das dünne weiße Nachthemd, das ich trug, und strich mir mit der Hand über die Schulter. Ich erschauerte.
Er zog seine Hand schnell wieder zurück und wandte den Blick ab. „Hier ist alles, was du brauchst. Aus jedem Zimmer gibt es Ausgänge. Tunnel wie der, durch den wir gekommen sind. Jeder führt zu einem anderen Teil des Anwesens. Wenn wir fliehen müssen, können wir es. Und hier“, er deutete auf ein kleines, in die Wand eingebautes Gerät, einen Kühlschrank, „haben wir ausreichend Nahrung.“
Ich sah erschrocken zu der kleinen Tür. „Was … was meinst du damit?“
Er öffnete die Tür mit einer ausholenden Geste. Ich bin nicht sicher, was ich erwartet hatte. Ein langes, schmales Gewölbe mit den Kadavern seiner Opfer oder etwas ähnlich Grässliches, nehme ich an. Stattdessen sah ich stapelweise Beutel, wie sie in Blutbanken und Krankenhäusern verwendet wurden. Sicher hatte er mir den Schock angesehen, denn er legte den Kopf schief und sah mich wissend an. „Siehst du, wie wenig du weißt, Angelica? Wir ernähren uns nicht von Lebenden. Das gibt es nur in Monsterfilmen. Warum sollten wir unschuldige Menschen überfallen, wo es überall Blut in Hülle und Fülle gibt?“ Und er schlug die Tür zu und schüttelte angewidert den Kopf. „Ich schlage vor, du nimmst etwas zu dir. Ich geh mich duschen und umziehen. Versuch nicht, zu gehen. Die Türen öffnen sich nur mit dem richtigen Code. Und selbst wenn du den durch Zufall treffen würdest, wird ein Alarm ausgelöst. Und sollte das alles doch versagen und dir die Flucht gelingen, dann wärst du ohne Schutz im Freien, und der Morgen graut bald. In der Sonne würdest du verbrennen.“ Er wandte sich ab, als wollte er mich tatsächlich allein hier zurücklassen.
„Und die Sonne würde mich töten?“, fragte ich. Ich musste es wissen. Ich lebte seit neun Monaten als verderbte Vampirin und wusste nicht das Geringste über mich. Auf seine ungehobelte Weise hatte er mir deutlich vor Augen geführt, wie wenig ich wusste. Nicht einmal, was tödlich für mich sein könnte. Aber das alles musste ich wissen. Die Fragen, die ich mir anfangs selbst stellte – und die ich in der närrischen Gewissheit ignoriert hatte, dass ich eines Tages wieder ein Mensch sein würde –, gingen mir mit neuerlicher Dringlichkeit durch den Kopf. Ich gehörte einem Volk an, von dem ich nichts wusste. Wie ein Neugeborenes, das seinen eigenen Körper nicht kennt. Aber ich wollte alles erfahren.
Er erstarrte, aber als er sich wieder zu mir umdrehte, schien seine strenge Miene sanfter zu sein. Er runzelte bestürzt die Stirn. „Ja. Natürlich. Mein Gott, Angelica, weißt du nicht einmal das?“
Ich senkte den Kopf, wandte mich ab, von diesen Augen, die alles über mich zu wissen schienen. Ich hatte schon zu viel preisgegeben. Ich wusste, was ich dieser Kreatur verriet, würde gegen mich verwendet werden.
Er betrachtete lange meinen Rücken und wartete auf eine Antwort. Eine Antwort, die ich ihm nicht zu geben wagte. Daher versuchte ich, das Thema zu wechseln. „Wo schlafe ich?“
„Ah, noch eins von Erics Wundern. Ich zeige es dir.“ Er ging an mir vorbei zu einer anderen Tür und stieß sie auf. Dann winkte er mit der Hand, damit ich vor ihm eintreten konnte. „Das ist natürlich nicht meine erste Wahl“, sagte er, als ich den Raum betrat. „Aber wenn du siehst, wie sicher die sind, wirst du es verstehen. Eric ist ein Genie, was so etwas anbelangt. Er installierte … Angelica?“
Ich konnte mich nicht rühren. Wie angewurzelt stand ich da und betrachtete von Grauen erfüllt die beiden Särge, die in der Dunkelheit glänzten. Ich konnte nicht atmen, so groß war mein Entsetzen. Schon bei ihrem Anblick fühlte ich mich darin gefangen, spürte die Enge, hörte meine Schreie und sah mich vergeblich gegen den Deckel hämmern.
Jameson berührte mich an der Schulter, und da war es um meinen Stolz geschehen. Ich wirbelte zu ihm herum, ließ mich auf die Knie fallen, ergriff seine Hand, und es war mir egal, dass ich vor einem Dämon kniete. Ich senkte zwar den Kopf, damit er meine Tränen nicht sehen sollte, doch das änderte nichts daran, dass meine Worte durch das Schluchzen abgehackt klangen. „Ich … flehe dich … an“, bat ich mit erstickter Stimme. „Steck mich nicht in diesen Sarg. Bitte …“
Jameson blieb fast das Herz stehen, als er bemerkte, was er dieser Frau in seiner Gedankenlosigkeit angetan hatte. Sie kniete auf dem Boden, hielt seine Hand und schlotterte. Sie war kalt wie Eis. Verdammt. Wie konnte er so grausam sein und vergessen, wo er sie gefunden hatte? In einen winzigen Sarg eingesperrt, wo sie weiß Gott wie viel Zeit verbracht hatte. Wo man sie zum Sterben entsorgen wollte.
Er bückte sich, legte einen Arm um ihre schlanke Taille und zog sie hoch, bis sie wieder aufrecht stand. Als er ihren Kopf hob, sah er das verweinte Gesicht und fluchte. „Herrgott, Angel, natürlich nicht. Was hab ich mir nur gedacht …“ Er ließ den Arm um ihre Taille liegen und führte sie so schnell er konnte wieder aus dem Raum hinaus. Sie zitterte immer noch wie ein ängstliches Kaninchen. „Herrgott, du hältst mich wirklich für ein Monster, was? Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich zwingen, dich in so einen Sarg zu legen, und ihn absperren wie diese Drecksäcke des DPI? Wie kannst du so etwas nur denken?“
Sie schloss die Augen; er sah, wie sie gegen die Panik ankämpfte, die über sie gekommen war. „Was sollte ich sonst denken? Du hast gesagt, ich bin deine Gefangene. Du hast gesagt, du würdest mich hierbehalten, bis wir sie gefunden haben.“
„Ich habe nur an unsere Sicherheit gedacht. Eric hat diese Särge verändert, sie ausgerüstet, damit sie … Vergiss es, spielt keine Rolle. Ich hätte nachdenken müssen, bevor ich dich da reinführte. Ich wollte dich nicht so erschrecken.“
Er drehte sich um, ging quer durch das Zimmer und öffnete eine Tür auf der anderen Seite. Diesmal trat er zuerst ein, und Angelica folgte ihm zögerlich. Er ging zum Nachttisch, bückte sich und entzündete eine alte Petroleumlampe. Zum Sehen brauchten sie sie nicht, doch er fand, das bernsteinfarbene Licht sorgte für eine gemütlichere, heimeligere Atmosphäre. Nicht ganz so beängstigend.
Sie trat langsam und argwöhnisch ein. Herrgott, wie sehr sie ihm misstraute. Er blieb stehen und sah zu, wie sie den Blick durch das ganz „menschliche“ Schlafzimmer schweifen ließ. Ein riesiges Himmelbett dominierte den kleinen Raum. Rhiannons Einfluss. Ihr galt Luxus stets mehr als Vorsicht. Schon immer.
„Sagt dir das mehr zu?“, fragte er.
Sie trat weiter in das Zimmer, drehte den Kopf, nahm den Gesamteindruck in sich auf.
„Schau mal … das Bad ist dort.“
Sie sah hin, nickte und blickte dann gleich wieder zu dem Bett. Jameson hatte den Eindruck, als würde sie sich ein wenig entspannen. Sie schniefte und rieb sich die Augen.
Ihr Atem entwich als zitternder Stoßseufzer, und sie schloss die Augen. „Ja“, hauchte sie schließlich. „Das ist viel besser.“
Jameson ging einige Schritte zurück und schüttelte verwirrt den Kopf, denn nun ging sie zum Bett und schlug die Satindecke zurück. Dann nickte sie anerkennend.
„Du solltest Nahrung zu dir nehmen, Angelica“, sagte er im Tonfall eines Vaters, der ein unwissendes Kind berät. „Es dämmert bald, und du brauchst die Stärkung, bevor wir schlafen.“
Sie schaute ihn an, speicherte diese Information. „Ja, gut.“ Und ging wieder an ihm vorbei aus dem Raum hinaus. Er hörte, wie sie den Kühlschrank öffnete, hörte Gläser klirren, als sie das Kristall im Schrank darüber fand. Hörte sie einschenken.
Wie um alles in der Welt, fragte er sich, sollte er eine Frau hassen, die ihn so sehr brauchte? Sie wusste gar nichts. Nichts über ihre Stärke, nichts über ihre übersinnlichen Fähigkeiten. Nicht einmal, wie man sich ernährte oder was einen umbringen konnte! Unheimlich. Er brauchte sie, damit sie ihm half, seine Tochter zu finden, aber zuerst musste er ihr helfen. Damit sie lernte, was sie jetzt war, was aus ihr geworden war.
Er konnte unmöglich eine Frau hassen, die so sehr auf ihn angewiesen war.
Er würde also versuchen, ihr zu helfen. Doch die nächste Frage auf seiner stetig wachsenden Liste lautete, wie sollte er einer Frau helfen, die ihn verabscheute? Sie hasste ihn und seine Art. Sie hasste sich selbst, so wie es aussah. Sie hasste, was sie war. Sie wollte nichts über ihr neues Dasein lernen, wollte es nicht kennenlernen, wollte seine Hilfe nicht.
Dennoch hatte seine Beharrlichkeit Erfolg gehabt. Sie hatte die mentale Barriere um ihren Verstand errichtet. Sie hatte ihm sogar eine oder zwei Fragen gestellt.
Vielleicht hatte er ja doch Glück. Und vielleicht begriff sie einmal, dass er und seine Art nicht so abstoßend waren, nicht schlechter als die Sterblichen. Und vielleicht gab sie dann auch die lächerliche Absicht auf, ihm seine Tochter wegzunehmen. Vielleicht wurde ihr klar, dass sie sein Kind nicht vor dem eigenen Vater beschützen musste.
Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.
Es gab so viel, worüber er nachdenken musste. Aber nicht jetzt. Es würde ihm nicht gelingen, das Rätsel Angelica jetzt auf der Stelle zu lösen. Vorerst würde er nur das Kaminfeuer entfachen und dafür sorgen, dass sie genügend Nahrung zu sich nahm, damit sie wieder zu Kräften kam. Aber er musste ihr auch mitteilen, dass das richtige Maß wichtig war, damit ihr nicht schlecht würde. Danach musste sie ausruhen, während er sich überlegen konnte, wie sie am besten vorgingen.
Morgen. Wenn sie kräftiger und vermutlich fester entschlossen denn je erwachen würde, ihm zu entkommen. Natürlich war sie morgen auch besser für eine Flucht gerüstet. Wie sollte er dann mit ihr umgehen?
Einen Vorteil hatte das Ganze allerdings. Wenn sie nicht mehr so hilflos war, würde es ihm bestimmt leichter fallen, sie zu hassen.
Und das war gut. Gerade begriff er, wie gefährlich es sein könnte, diese Frau nicht zu hassen. Denn ansonsten überwog die Begierde. Und je schneller er diese Begierde vergaß, desto besser.