Keith

8. KAPITEL

Etwas in seinen Augen hätte sie warnen sollen. Aber sie konnte ihre Wut einfach nicht im Zaum halten. „Das weiß ich längst. Du findest mich überhaupt nicht begehrenswert. Du möchtest eine, die aussieht wie ich, aber zaghaft und still und introvertiert ist. Du hast mich im Schlaf angefasst, Roland. Als mein Körper reagieren konnte, aber mein Verstand nicht.“ Sie schüttelte frustriert den Kopf „Du willst nicht mich.“

Roland hielt ihre Schultern nicht mehr ganz so fest umklammert und ließ die Hände an ihren Armen herabgleiten. Er durchbohrte sie regelrecht mit seinem Blick, als er sie an den Handgelenken hielt und ihre Arme an sich zog. Dann drückte er ihre Handflächen flach auf seinen Unterleib und rieb sie langsam auf seiner pochenden, harten Männlichkeit hin und her. „Da irrst du dich.“ Seine Worte waren kaum mehr als ein Knurren.

Rhiannon spürte das Beben rückhaltlosen Verlangens in sich. Sie musste die Augen schließen, so heftig war das Gefühl. Dann presste er den Mund auf ihren, drückte sie mit den Armen an sich, verdammte sie zur Reglosigkeit. Er spreizte ihre Lippen, schob ihr die Zunge in den Mund, leckte ihr den Gaumen, die Zähne, ihre Zunge.

Sie wollte die Arme um ihn legen, doch sein eiserner Klammergriff hinderte sie daran. Dennoch konnte sie ihm mit den Händen die Hose aufknöpfen. Augenblicke später hielt sie den samtweichen und doch harten Beweis dafür, wie sehr er sie wollte, in ebendiesen Händen. Sie drückte und rieb und strich mit dem Daumen über die Spitze.

Er stöhnte an ihrem Mund und riss ihr plötzlich die Bluse auf. Er war außer sich, ein Besessener, dachte sie, als er ihr den Büstenhalter vom Leib zerrte, sie nach hinten beugte und sich bückte, damit er an ihren Brüsten lutschen konnte. Er saugte und biss hemmungslos und tat ihren empfindlichen Brustwarzen Gewalt an, bis ihr die Knie zitterten und sie ihm die Hände ins Haar krallte, nur damit er nicht aufhörte.

Dann sank er auf die Knie und zog an dem Rock, bis die Nähte nicht mehr standhielten. Er drückte die Lippen auf ihren Slip, während er mit den Händen ihre Pobacken hielt, und sie spürte seinen Atem und die Feuchtigkeit seines Kusses durch den Stoff hindurch. Einen Moment später riss er den Slip weg und küsste die Stelle erneut.

Sie konnte nicht mehr stehen. Ihre Beine waren wie aus Gummi, die Knie völlig verschwunden.

Dann teilte er mit der Zunge ihre Lippen und leckte sich heiß einen Weg ins Innere. Sie fiel zu Boden, doch er folgte ihrer Bewegung. Mit einem tiefen kehligen Knurren drückte er die Handflächen auf die Innenseiten ihrer Schenkel und spreizte sie. Dann vergrub er das Gesicht dazwischen.

Es war eine Folter, eine süße, feuchte Folter, die er wie einen generalstabsmäßigen Angriff ausführte. Er kämpfte mit dem Mund, stieß mit der Zunge vor. Mit den Händen öffnete er das Tor ihrer Festung noch weiter und vertiefte seinen Vorstoß unerbittlich.

Sie schrie laut auf, als seine Eroberung abgeschlossen war, die Belagerung jedoch weiter fortdauerte und sie zu einer bebenden, keuchenden Gefangenen wurde. Als sie versuchte, seinen Kopf mit den Händen wegzustoßen, packte er ihre Handgelenke mit eisernem Klammergriff und machte weiter, bis die letzte Bastion vernünftigen Denkens zu Fall gebracht worden war.

Dann glitt er an ihrem Körper hinauf. Mit befreiten, zitternden Händen schob sie seine Hose nach unten, und er drang in sie ein, ohne eine Sekunde zu zögern.

Seine Größe und die Wucht seiner Stöße ließen sie aufstöhnen. Er presste abermals die Lippen auf ihre; der Rhythmus seiner Zunge in ihrem Mund entsprach dem Rhythmus seines Körpers, mit dem er sich in sie bohrte. Einmal drückte sie seine Schultern in die Höhe, ein Zeichen, dass er langsamer machen sollte. Das war nicht die Form von Liebe, die sie sich von ihm gewünscht hatte. Aber er hielt ihre Hände nur mit seinen fest und drückte sie auf den Boden. Sein Tempo wurde, wenn überhaupt, noch drängender.

Augenblicke später stemmte sie ihm als Reaktion auf sein Drängen die Hüften entgegen und ließ die Zunge in einem köstlichen Tanz um seine gleiten. Er ritt sie fester und fester, bis er ihren Mund freigab und mit den Lippen an ihrem Hals hinabwanderte. Sie legte den Kopf zurück, als er an ihrer Haut sog. Sie war kurz vor einem zweiten heftigen Höhepunkt und sehnte ihn mit jeder Faser herbei.

Sie wusste, dass auch er so weit war, als er sich in ihr aufbäumte und sie den heißen Pulsschlag seines Samens spürte. Dann biss er sie in den Hals und knurrte abermals. Sie stöhnte mit heiserer Stimme, während der Höhepunkt sie endlos zu schütteln schien, und erschauerte, als er schließlich nachließ.

Langsam entkrampften und entspannten sich ihre Muskeln. Er hielt den Mund auf ihren Hals gepresst. Sie spürte die Bewegung seiner Lippen und wusste, dass er noch trank. Ihre Essenz strömte in ihn ein, sie wurde schwächer. Der Rausch, der ihre Sinne lähmte, war verlockend und forderte sie auf, es geschehen zu lassen. Aber sie wusste, es würde nur von kurzer Dauer sein. Er würde jeden Moment aufhören und sie wieder einen klaren Kopf bekommen.

Aber er hörte nicht auf. Er tat sich immer weiter gütlich, und die Ekstase, die sie verspürte, bekam einen Beigeschmack von Angst.

Sie drückte gegen seine Schultern. „Roland …“

Er hob den Kopf. In seinen Augen stand noch die Leidenschaft, als er sie ansah. „Du bist köstlich“, flüsterte er. „Überall.“

Plötzlich spürte sie Verwirrung in sich. Sie dachte, sie müsste ihn anlächeln, aber stattdessen war ihr zum Weinen zumute. Warum? Um Gottes willen, warum? Hatte sie sich nicht genau das gewünscht?

Er rollte von ihr herunter, stand auf und zog die Hose hoch. Dann hielt er ihr die Hand entgegen. „Komm, es dämmert fast schon. Du spürst es bereits, nicht?“

Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Er hatte sich nicht einmal ganz ausgezogen. Seine Augen brannten vor Lust, waren jedoch bar aller Gefühle. „Ja, kann sein.“ Sie ließ sich an der Hand halten und in die Höhe ziehen. Aber ihre Beine trugen sie nicht, sie sackte von ihm weg. Sie stützte sich auf der Lehne eines Sofas ab und beugte sich wie eine Betrunkene darüber. Der Kopf kippte ihr nach vorn. Das Haar nahm ihr die Sicht wie ein dunkler Vorhang, durch den sie nichts erkennen konnte. Aber sie hörte, wie sein keuchender Atem langsam wieder einen normalen Rhythmus annahm. Und sie spürte, wie seine rasende Lust allmählich abebbte.

Roland hielt sie an den Schultern, zog sie in die Höhe und drehte sie zu sich um. „Was ist los?“

Sie hob den Kopf und sah die Verwirrung in seinen Augen. Mein Gott, er wusste es nicht einmal …

Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die frische Wunde an ihrem Hals. Schlagartig verschwand die hektische Röte aus seinem Gesicht. Sie hörte ihn laut fluchen, doch das war alles. Sie spürte, wie sie fiel, landete jedoch seltsamerweise nicht zu seinen Füßen. Es schien, als würde sie auf einer spiralförmigen Flugbahn in völlige Schwärze stürzen.

Das Wissen, was er getan hatte, glich einer Messerklinge, die ihm durch den Nebel der Leidenschaft mitten ins Herz gebohrt wurde, als er sie in den Armen auffing und hochhob. Ihr Kopf sank nach hinten, das lange, satingleiche Haar fiel an seinen Beinen herab, als er sie ins Schlafzimmer trug und auf das Bett legte. Er strich ihr die ebenholzfarbenen Locken aus dem Gesicht und zog die Decke über ihren blassen Körper. Das Brennen, das er spürte, veranlasste ihn, die Augen zu schließen. Tränen waren das gewiss nicht. Er hatte keine mehr. Seit Jahrhunderten nicht. Was nützten einer Bestie Tränen?

Herrgott, dass er wirklich geglaubt hatte, er könnte den blutrünstigen Dämon in sich eines Tages überwinden, war ein Witz. Aber dass er den Beweis so drastisch vor Augen geführt bekam …

Er rief im Geiste nach Eric. Sie würde nicht sterben. Als er Sekunde für Sekunde rekapitulierte, wie er sie genommen hatte, wurde ihm klar, dass er nicht genügend Blut genommen hatte, sie zu töten. Aber möglicherweise hätte er es getan, wenn sie ihn nicht zur Vernunft gebracht hätte. In diesem Moment hatte sein Gehirn keiner Vernunft mehr gehorcht. Nur noch animalischen Instinkten. Das Gefühl, wie er sie mit seinem Körper besessen hatte, wie auf dem Höhepunkt sein Samen in sie einströmte, wie er sich an ihrem Blut gütlich tat – das alles hatte jegliches Moralgefühl aus seinem Denken verbannt und das Monster in seinem Innern befreit.

Er hörte, wie die Tür quietschend aufging, drehte sich aber nicht um. Stattdessen hielt er ihre reglose, schlanke Hand zwischen seinen und führte sie an die Lippen. „Es tut mir leid, Rhiannon. Herrgott, es tut mir leid.“

„Roland, was …“ Eric näherte sich schnellen Schrittes von hinten und blieb stehen. Roland ließ ihre Hand los und drehte sich zu seinem Freund um. Aber Eric sah nicht ihn an. Er richtete den Blick auf Rhiannons blasses Gesicht, dann auf die beiden Wundmale an ihrem Hals. „Was zum Teufel hast du getan?“

Roland machte den Mund auf, brachte jedoch keinen Ton heraus. Dann wurde er grob zur Seite gestoßen, als Eric zum Bett ging, sich darüberbeugte und Rhiannons Gesicht berührte. Roland wandte sich ab. Scham erfüllte ihn. Reue durchdrang jede Faser seines Wesens. „Ich wollte nicht – ich habe die Beherrschung verloren, Eric. Beinahe hätte ich …“

Eric packte Roland am Arm und zog ihn aus dem Raum. Er machte die Schlafzimmertür zu. Seine Wut glich einer Faust, und Roland konnte es ihm nicht verübeln. „Was hast du dir nur dabei gedacht? Wie konntest du zulassen, dass …“

„Ich weiß es nicht, verdammt!“ Roland ließ den Kopf hängen und drückte eine Handfläche an die Stirn. „Geht es ihr gut?“

Eric seufzte schwer. „Sie dürfte schwach sein, wenn sie aufwacht, und sich höchstwahrscheinlich beschissen fühlen. Sie sollte sich dann umgehend Nahrung zuführen. Alles in allem würde ich sagen, dass sie momentan in einer besseren Verfassung ist als du.“ Er schüttelte den Kopf. „Sag mir, was passiert ist, Roland. Das sieht dir gar nicht ähnlich.“

„Oh, keineswegs. Es sieht mir sogar sehr ähnlich.“

„Das ist lächerlich. Du bist der Mann mit der größten Selbstbeherrschung, den ich kenne.“

„Wirklich?“ Roland ging zum Kamin. Er sah in die glühenden Kohlen, atmete den stechenden Geruch des schwelenden Holzes ein. „Hast du dich nie gefragt, warum ich so ein stiller, zurückhaltender Zeitgenosse bin? Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass ich die diabolische Seite in mir verberge?“

„Ich weiß nicht, was du damit meinst.“ Eric kam näher.

Roland wandte sich ihm zu und zeigte mit einem ausgestreckten Finger zum Schlafzimmer. „Das passiert, wenn ich meine Selbstbeherrschung vergesse, Eric. Ob im Kampf oder in der Liebe, dann überkommt mich ein Blutrausch. Du musst endlich erfahren, dass dein bester Freund nichts anderes als das fleischgewordene Böse ist.“

Eric runzelte die Stirn. Er berührte Roland an der Schulter und drückte sie fest. „So habe ich dich noch nie gesehen.“

„Bisher hast du immer nur meine Maske gesehen, teurer Freund. Heute habe ich sie zum ersten Mal abgenommen. Vielleicht wäre es am besten, wenn du deinen Grünschnabel und den Jungen nimmst und so schnell es geht das Weite suchst, bevor ich euch alle anstecke.“

„Sei nicht albern.“ Eric ließ die Hand sinken. „Wir unterhalten uns heute Nacht weiter. Die Sonne berührt schon den Horizont. Du solltest nach unten gehen.“

Roland schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Ich habe deinen Trank eingenommen.“

Erics Miene wurde noch finsterer. „Wann?“

Roland zuckte die Achseln. „Vor einer Stunde. Vielleicht weniger. Was spielt das für eine Rolle?“

„Aber begreifst du denn nicht … Roland, setz dich. Vergiss deinen Selbsthass und hör mir zu.“ Eric wartete nicht auf Rolands Zustimmung, sondern schubste ihn zu einem Sessel.

Roland setzte sich, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum, was Eric gesagt hatte. Worte konnten nichts an der Wahrheit ändern.

„Das warst nicht du, du Narr“, brüllte Eric fast. „Das war die Droge. Wenn jemand an diesem Debakel die Schuld trägt, dann ich.“ Er zog einen Stuhl zu Roland und setzte sich ebenfalls. „Die Droge verstärkt aggressives Verhalten. Jedenfalls bei den Tieren, an denen ich die ersten Versuche durchgeführt habe. Als diese Wirkung sich bei mir nicht einstellte, ging ich davon aus, dass Unsterbliche gegen die Nebenwirkung immun wären. Was offensichtlich ein schwerer Fehler war.“

Roland schüttelte langsam den Kopf. „Du bist ein wahrer Freund, da du versuchst, die Schuld an meinem wahren Charakter auf dich zu nehmen. Es war nicht das Mittel, Eric. Es liegt an mir.“

„Nein. Roland, denk nach und hör mir zu. Mir hätte klar sein müssen, dass alte Vampire anfälliger für Nebenwirkungen sind als jüngere. So wie sie anderen Elementen gegenüber empfindlicher sind. Sonnenlicht. Schmerz. Begreifst du nicht? Die Droge hat das verursacht.“

Roland sah Eric starren Blickes an. „Du willst mich wahrlich nicht so sehen, wie ich wirklich bin. Wenn die Droge überhaupt eine Wirkung hatte, dann die, dass sie mich um das letzte bisschen Selbstbeherrschung brachte. Für die Bestie in meinem Innern bin ich allein verantwortlich. Ich kenne sie gut.“

„Du bist ein verdammter Narr, wenn du das glaubst.“

Roland stand auf. „Diese Unterhaltung ist sinnlos. Geh nach unten und ruh dich aus, bevor dir die Sonne den Verstand noch mehr austrocknet.“

„Ich war unten. Ich habe Tamara vor nicht einmal dreißig Minuten runtergebracht. Aber ich habe, wie du, bei Morgengrauen diese Droge genommen. Ich hatte gedacht, wir wechseln uns mit den Tagschichten ab. Und dieses Gespräch ist nicht sinnlos. Es ist durchaus sinnvoll, und wenn du nicht so verbohrt wärst, würdest du das auch einsehen.“

Roland ertrug Erics Erklärungsversuche nicht mehr. Er wollte in den großen Saal gehen. Aber sein hartnäckiger Freund folgte ihm auf dem Fuß. Bei der ausgetretenen Treppe angekommen, drehte Roland sich um. „Wenn du mein Schloss bewachen willst, jederzeit gern. Aber hör auf, mir auf Schritt und Tritt zu folgen, Eric. Ich muss eine Weile allein sein.“

Roland lief die Treppe hinauf. Zum Glück blieb Eric unten.

Er passierte den zweiten Stock und den Eingang von Jameys Zimmer. Und ging weiter, am dritten Stock und den verfallenen Kammern vorbei, die seit seinen Tagen als Sterblicher nicht mehr benutzt wurden. Die Treppe endete an einer schweren Holztür, die Roland öffnete. Er betrat die Waffenkammer, einen großen runden Raum ohne Fenster. Drinnen herrschte undurchdringliche Schwärze, aber er konnte deutlich sehen.

Rüstungen standen wie verstaubte Gespenster an der Wand und schienen ihn mit ihren leeren Gesichtern vorwurfsvoll anzusehen. Wohlverdient, dachte Roland. Schwerter, deren rostige Klingen deutlich zeigten, wie sehr der Zahn der Zeit an ihnen genagt hatte, hingen an den Steinen. Ihre kostbar geschmückten Scheiden konnte man im Staub kaum erkennen. In einem Abschnitt säumten inzwischen vermutlich unbrauchbar gewordene Armbrüste den Boden. In einem kleinen Holzkästchen standen die zugehörigen Pfeile. Hunderte, dicht gedrängt wie die Borsten eines Stachelschweins. Schilde, deren Oberflächen das verblasste Wappen der Familie Courtemanche zeigten, lehnten an den Wänden.

Roland verspürte die bittere Ironie, als er den schwarzen angreifenden Löwen mit den gebleckten Zähnen auf rotem Grund erblickte.

Die Bestie und das Blut. Wie passend.

Er riss den Blick von den grimmigen Zeugen seiner Vergangenheit, seiner Familie los und ging zu der Leiter am anderen Ende des Raums. Oben angekommen, öffnete er eine Falltür und kletterte ins Turmzimmer. Er fand die langen Streichhölzer auf dem Tisch, wo er sie zurückgelassen hatte, und entfachte eines an der rauen Steinmauer. Dann zündete er Kerzen an, bis der ganze Raum erhellt war.

Die Kammer war rund, wie die darunter. Einst hatten Scharten die Mauern gesäumt, von denen Bogenschützen alter Zeiten auf Eindringlinge schießen konnten, sollte das Schloss belagert werden. Roland hatte diese Scharten erst kürzlich schließen lassen. Manchmal ruhte er tagsüber hier statt in den Kerkern unter der Erde.

Das würde er nicht wieder tun. Der Kerker war für einen Mann wie ihn durchaus angemessen.

Einen Moment blieb er in der Mitte des Raums stehen und drehte sich langsam um. Ringsum standen seine Gemälde. Alle, die er als Knabe gemalt hatte, von der Zeit verunstaltet. Einst waren sie bunte Darstellungen von Drachen und Rittern und heroischen Träumen gewesen. Dann waren da die Porträts, die viel später kamen. Die Gesichter seines Vaters und seiner Mutter. Die vorwurfsvollen Blicke seiner Brüder.

Das unvollendete Porträt Rhiannons auf der Staffelei zog ihn an.

Er war in dieses Zimmer gekommen, um es zu vernichten, um sie alle zu vernichten. In Stücke wollte er sie reißen. Er war kein Maler, kein Künstler. Das Herz eines Dichters besaß er nicht, nur das eines Schurken. Welches Recht hatte er, sich an diese Erinnerungen eines Menschen mit einer Seele zu klammern? Sie waren falsch. Lügen, allesamt.

Er zog den Dolch aus der Scheide an der Hüfte und hob ihn hoch. Langsam näherte er sich dem Porträt.

Aber etwas hinderte ihn. Er wusste nicht, was genau, doch es war eine Kraft. Stärker als sein Zorn. Er betrachtete das Bild, wenig mehr als ein Durcheinander vager Formen und Umrisse. Darin sah er Rhiannon, deren Mandelaugen ihn voller Wärme und Herzlichkeit ansahen. Mit einem erstickten Schluchzen ließ er den Dolch auf den Steinboden fallen.

Er wandte dem Gemälde den Rücken zu und stand vor dem kleinen Tisch, wo Farben und Paletten und Pinsel warteten. Daneben befand sich eine weitere Leiter. Er sah hinauf zu einer zweiten Falltür. Darüber lag die Turmspitze.

Als Kind war er oft dort hinaufgegangen und hatte zu der Stelle gesehen, wo die beiden Flüsse sich vereinigten. Tordu, munter und rauschend, die stilleren Wasser der Loire. Vereint setzten beide Flüsse als funkelndes Band ihre endlose Reise nach Süden fort.

Hinter dieser Falltür lag jetzt das Tageslicht. Die warmen Strahlen der Sonne und nichts mehr darüber, das sie abhalten konnte. Er setzte sich in Bewegung und berührte die Sprossen mit den Händen.

Dann hielt er inne und blickte wieder zu dem Gemälde. Er bewegte sich wie ein Blinder, den unsichtbare Hände führten. Und griff nach den Pinseln und einer Palette.

Ihr Kopf schmerzte pochend, und ihr Magen schien zum Leben erwacht zu sein, so wie er sich drehte und kribbelte. Sie fühlte sich aber schon ein wenig stärker als unmittelbar nach dem Erwachen, als sie eine besorgte Tamara neben sich sah. Als sie Nahrung zu sich genommen hatte, kam sie langsam wieder zu Kräften.

„Wo ist er?“ Sie sah, wie Tamara das Gesicht verzog, als sie die Frage stellte.

„Ich weiß es nicht. Eric sagt, er habe sich den ganzen Tag im Turmzimmer verschanzt. Als es dunkel wurde, ist er fortgegangen, aber bisher nicht wiedergekommen.“ Das junge Mädchen sah Rhiannon in die Augen. „Du hast gehofft, er würde hier sein, wenn du erwachst.“

Rhiannon zuckte mit den Schultern und hoffte, dass man ihr ihre Enttäuschung nicht anmerkte. „Ich war nur neugierig.“

Tamara berührte ihre Hand. „Sei nicht zu enttäuscht von ihm, Rhiannon. Eric sagt, was passiert ist, hat ihn vollkommen aus der Fassung gebracht.“ Sie runzelte die Stirn und verzog die hübschen Lippen zu einem Schmollmund. „Nicht dass er es nicht verdient hätte.“

„Ach, hör auf, Tamara, mir geht es gut. Und erzähl mir nicht, dass du in der Hitze der Leidenschaft nicht auch gern einmal ein oder zwei Schlückchen zu dir nimmst.“

Tamara errötete. „Na ja, schon, aber …“

„Mir gefällt der Gedanke, dass er überwältigt von Verlangen nach mir war und nicht mehr klar denken konnte. Eigentlich ist das sehr schmeichelhaft.“

Tamara schüttelte den Kopf. „Eric glaubt, dass die Droge daran schuld ist. Er fühlt sich ganz schrecklich deswegen.“

Rhiannon neigte den Kopf auf eine Seite. „Ich verstehe wenig von Chemie. Glaubst du, er hat recht?“

„Oh ja. Eric ist ein Genie in solchen Dingen.“ Sie sah Rhiannon an, dann senkte sie den Blick. „War es denn … sehr schön?“

Fast hätte Rhiannon gelächelt. Fast, wäre da nicht der hartnäckige Schmerz mitten in ihrer Brust gewesen, für den sie keine Erklärung hatte. Sie hatte noch nie eine Vampirin kennengelernt, der es so peinlich war, über Sex zu reden, wie Tamara. „Mein Körper wäre fast explodiert, als er mich berührte“, sagte sie unverblümt. „Ich wollte ihn schon sehr lange, weißt du.“

Da wandte sich Tamara ihr ganz zu. „Und warum sehe ich dann diese Traurigkeit in deinen Augen?“

Rhiannon blinzelte und wandte sich ab.

„Komm schon, Rhiannon. Wenn du nicht mit mir redest, mit wem dann?“

Sie sah der jungen Frau abermals in die Augen. Nur ehrliche Fürsorge ging von ihr aus. „Mein Körper wurde befriedigt.“

„Aber?“

Rhiannon seufzte. „Es war fast, als wäre er allein, als er in mich eindrang. Fast so, als wäre ich gar nicht da.“

Tamara nickte weise. „Du wolltest Zärtlichkeit, ein wenig kuscheln und reden. Ich verstehe.“

Rhiannon zog die Brauen hoch. „Kuscheln? Wie kommst du denn auf so etwas, Kleines? Sehe ich für dich wirklich wie der Typ Frau aus, der kuscheln möchte?“

Tamara grinste. „Er kommt schon noch darauf. Lass ihm Zeit.“

Rhiannon hatte den Unsinn der jungen Frau satt, schlug die Decke zurück und stand auf. Ihr entging nicht, wie Tamaras Augen plötzlich groß wurden, ehe sie ihr den Rücken zudrehte. Unglaublich, dass jemand in Gegenwart einer anderen Frau so verlegen sein konnte. Rhiannon jedenfalls sah keinen Grund, verlegen zu sein. Sie ging zur Kommode, zog ein Paar Designerjeans heraus und schlüpfte hinein. Sie kramte eine Seidenbluse in leuchtendem, elektrisierendem Blau hervor und streifte sie über. Als sie die Onyxknöpfe zumachte, wandte sich Tamara ihr wieder zu.

„Du gehst aus, nicht?“

Rhiannon nickte. „Ja, und es nützt nichts, wenn du mir sagst, dass ich bleiben und mich ausruhen sollte. Ich bin unsterblich. Zugegeben, ich fühle mich gerade, als könnte eine steife Brise mich umwerfen, aber das geht vorbei.“ Sie kniete vor einem Schrank nieder und suchte nach einem Paar geeigneter Schuhe.

„Eric und Roland sind in den Wald gegangen, gleich jenseits der Mauer.“

Rhiannon drehte sich um. „Liest du meine Gedanken?“

„Das muss ich nicht. Ich bin eine Frau.“

Sie hatte zu lange geruht, sagte sich Rhiannon, während sie über die Wiese ging, wo Tau den Saum ihrer Jeans nässte. Ein kühler feuchter Wind strich ihr über das Gesicht, der Vollmond leuchtete ihr den Weg. Sie hatte nicht vor, Roland zu rufen oder ihn aufzuspüren, indem sie ihre Sinne auf seine einstimmte. Bestimmt würde er alles auf sich nehmen, ihr aus dem Weg zu gehen, wenn er wusste, dass sie nach ihm suchte.

Am Wiesenrain sprang sie über die Mauer und betrat den dunklen Wald. Verkrümmte Bäume mit dunkler Rinde und Dornengestrüpp umgaben sie, aber sie ging unablässig weiter und war fest entschlossen, ihn zu finden. Was sie zu ihm sagen wollte, wusste sie nicht, nur dass sie etwas sagen musste. Tamara hatte unrecht! Sie wollte nicht kuscheln, aber sie wollte reden. Sie musste mit Roland reden. Noch wichtiger war: Er musste mit ihr reden.

Der Geruch der Flüsse wurde umso stärker, je näher sie ihnen kam; ein zarter silberner Nebel reichte ihr bis zu den Knien. Verfaulende Zweige und Blätter verwandelten den Boden unter ihren Füßen in eine Art Schwamm. Sie sank mit jedem Schritt darin ein.

Sie ließ sich Zeit, schlenderte langsam dahin, atmete tief durch und genoss jedes Aroma, das die Nacht zu bieten hatte. Nach und nach klang das Schwindelgefühl in ihrem Kopf ab, bis sie schließlich zu einem ausgetretenen Trampelpfad kam, der sich zwischen den Bäumen erstreckte. Sie folgte ihm und dem abstrakten Muster, das das Mondlicht auf den Boden malte. Die Ulmen schwankten in einem plötzlichen Windstoß und schienen zu stöhnen vor Qual … oder Ekstase. Ihr tiefer Tenor harmonierte mit der Sopranstimme der Brise, die hoch droben durch die dünneren Äste strich.

Sie näherte sich einem schmiedeeisernen Tor mit einem verschnörkelten C zwischen den Gitterstäben. Es quietschte, als sie es öffnete. Der Wind schwoll an. Gewaltige Gliedmaßen teilten sich und tauchten den kleinen Friedhof in Mondlicht. Grabsteine, meist alt und verfallen, bildeten unregelmäßige Reihen. Fünf große und reich verzierte standen etwas abseits.

Roland stützte sich mit einer Hand an einem Obelisken ab, der größer war als er. Ein Wappen unter zwei überkreuzten Schwertern zierte die Oberfläche.

Er sprach sie an, ohne sich umzudrehen. „Du hast mich also gefunden.“

„Sieht so aus.“ Sie kam näher. Das Wappen auf dem Stein kannte sie gut. Denselben Löwen hatte sie auf Rolands Schild gesehen, als sie ihn vor so vielen Jahren dem Tode nahe auf einem Schlachtfeld fand. „Ein Verwandter?“, fragte sie leise.

„Mein Vater.“ Er richtete sich auf und zeigte mit einer Handbewegung zu dem mannsgroßen Kruzifix daneben. „Und meine Mutter.“

Rhiannon kam näher, bis sie dicht neben ihm stand. Er sah sie nicht an. Sie betrachtete den Grabstein, die feine Steinmetzarbeit der Figur des Erlösers, dessen Gesicht man in allen Einzelheiten in Marmor gemeißelt erkennen konnte. „Der Stein ist wunderschön.“

„Als Anerkennung für ihre Hingabe.“ Er schüttelte den Kopf. „Mir graut bei dem Gedanken, was sie sagen würde, könnte sie sehen, was aus mir geworden ist.“

Sie wollte widersprechen, spürte aber, dass es besser wäre, diese Diskussion auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben. In der nächsten Reihe sah sie drei identische Steine, nach oben spitz zulaufende Quader aus schwarzem vulkanischen Gestein. Lediglich die darauf befindlichen Szenen unterschieden sich.

Roland trat hinter sie und berührte das stolze Schlachtross auf dem ersten mit der Hand. „Albert, der Jäger“, sagte er leise.

Sie spürte den Schmerz, der wie greifbare Wellen von ihm ausging, als er zum nächsten Grabstein ging und den Ritter auf dem scheuenden Pferd berührte. „Eustace, der Krieger“, ließ er sie wissen. Dann sah er zum dritten, mit einem Schlachtschiff unter vollen Segeln auf einer aufgewühlten See. „Pierre, der Seefahrer. Meine Brüder. Dies ist Rhiannon, das jüngste Opfer meiner Grausamkeit.“

„Roland, nicht …“

„Ah, aber du möchtest doch den Rest der Geschichte hören, oder nicht?“ Er sah sie mit bitterer Qual in den Augen an. „Ich glaube, ich habe da aufgehört, als die Bestie, die in meiner Seele wohnt, zum ersten Mal ans Licht gekommen ist. Erinnerst du dich, wie ich die Männer abgeschlachtet habe, die Sir Gareth ermordet hatten?“

„Du warst kaum mehr als ein Knabe und außer dir vor Kummer.“

Er nickte. „Das sagtest du schon. Zweifellos hast du diese Meinung geändert, nachdem du meine Brutalität aus erster Hand erlebt hast.“

Sie betrachtete sein Gesicht, bemerkte die aufgedunsenen Tränensäcke unter seinen Augen, die hageren Züge, den verkrampften Kiefer. „Eric glaubt, es war eine Nebenwirkung der Droge.“

„Eric würde alles der Wahrheit vorziehen.“ Er wandte sich von ihr ab. „Kannst du den Rest der Geschichte ertragen, Rhiannon, oder möchtest du lieber gleich gehen? Ich habe keine Ahnung, wieso, aber irgendein Dämon treibt mich dazu, sie dir zu erzählen. Ganz. Jedes einzelne Detail. Vielleicht muss ich dein Gesicht sehen, wenn du endlich begreifst, was ich bin.“

„Ich weiß, was du bist. Wenn du es mir erzählen willst, will ich es hören.“

Er kniff die Augen zusammen und ergriff sie mit einer Hand blitzschnell am Oberarm. „Du solltest dir ganz sicher sein, Rhiannon. Wenn ich erst einmal angefangen habe, bekommst du alles zu hören, ob du willst oder nicht.“

Sie sah ihm ins Gesicht und erkannte den Schmerz, der ihn quälte. „Möchtest du mir Angst machen, Roland? Mich vertreiben, damit du den Schmerz nicht herauslassen oder die Dämonen beschwören musst?“

„Man kann diese Dämonen nicht beschwören. Sie sind ein Teil von mir. Und wenn du nach allem, was ich getan habe, keine Angst vor mir hast, bist du eine Närrin.“

Sie riss sich von ihm los und richtete sich zu voller Größe auf. „Dann bin ich eben eine Närrin.“ Sie ging an ihm und den Grabsteinen vorbei zu einer kleinen Rasenfläche unter einem gigantischen Baum. Dort setzte sie sich hin und lehnte sich mit dem Rücken an die raue Rinde. „Fang an.“