Keith

12. KAPITEL

Hilary Garner floh. Sie hatte sie kommen sehen, als sie die Blockhütte umstellten, die ihr die einzige sichere Zuflucht für das Kind zu sein schien. Und Gott steh ihr bei, sie hatte das winzige Baby in White Plains direkt unter ihren Nasen gestohlen. Ob die Mutter des Kindes überhaupt noch lebte, wusste sie nicht. Aber der Vater lebte noch. Tamara hatte Hilarys rätselhafte Botschaft erhalten und ihr gesagt, dass Jameson auf dem Weg war.

Aber sie konnte nicht auf ihn warten.

Jeden Tag sah Hilary nach dem Neugeborenen. Die großen dunklen Augen, winzigen Hände und das satingleiche Haar verzauberten sie. Sie konnte nicht warten. Das DPI hatte den Plan für die Experimente aufgestellt und die ersten davon auf Rose Sverskys Terminplan gesetzt. Verdammt, Hilary konnte nicht mehr warten.

Und daher hatte sie das Baby genommen und hierhergebracht, zu diesem guten Versteck. Und die Dreckskerle fanden sie trotzdem. Einer musste auch bemerkt haben, wie sie sich aus der Blockhütte schlich, denn sie hörte sie näher kommen. Mit schweren Schritten zertrampelten sie Zweige auf dem Weg zu ihr.

Sie nahm das Bündel mit dem Baby fest in die Arme. „Keine Bange, Süße“, flüsterte sie. „Hilary kümmert sich um dich, Baby. Das hab ich deiner Mama versprochen. Und mir selbst. Ich werde auf dich aufpassen, Süße, bis dein Daddy dich holen kommt, ich schwöre es dir.“

Sie lief schneller, duckte sich und wich Bäumen aus. Aber die Schritte wurden immer lauter, kamen immer näher, und dann rief jemand.

„Nein. Bitte, lieber Gott, hilf mir, mein Versprechen zu halten!“

Schüsse hallten durch die Nacht, glühend heiße Stangen schienen sich in ihren Rücken zu bohren und brachten sie zu Fall.

„Herrgott noch mal“, rief ein Mann. „Du triffst das Kind, du Idiot!“

Sie versuchte, in Bewegung zu bleiben, sich weiterzuschleppen. Aber sie hatte kein Gefühl mehr in den Beinen. Erschöpft fiel sie auf die Knie. Und rutschte noch tiefer. Und sie hielt das Baby in den Armen, neigte den Kopf und gab ihm einen Kuss auf die pummelige Wange. „Ich halte mein Versprechen“, flüsterte sie.

Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da ragten die Männer über ihr auf und nahmen ihr das Kind aus den Armen. Ein Mann reichte das Baby an den nächsten weiter. „Hier. Whaley hat gesagt, wir sollen über Funk Bescheid geben, wenn wir sie haben, sie ins Fahrzeug schaffen und sofort zum Hauptquartier bringen. Kein Zwischenhalt. Keine Umwege. Verstanden?“

Hilary drehte erschöpft den Kopf und sah den anderen einmal nicken und gehen. Sie sah, wie das Baby weggebracht wurde. „Er … schafft es nicht … mit ihr zurück“, brachte sie heraus. „Das lasse ich nicht zu.“

„Sie können keinem mehr helfen, Garner.“

Er schüttelte den Kopf, ließ den Blick über ihren Körper schweifen und wandte sich angewidert ab. Er ließ sie liegen, während er den anderen zurief: „Hier ist alles vorbei. Gehen wir zurück ins Haus und schaffen wir die anderen zur Grube.“

„Aber eine ist noch auf der Flucht, Sir.“

„Mit einer werden wir fertig“, sagte er. „Später. Kümmern Sie sich als Erstes darum, dass die anderen versorgt werden.“

Hilary hörte, wie sich die Männer entfernten, wie ihre Schritte immer leiser wurden und dann ganz verstummten. Sie machte die Augen zu und legte den Kopf auf das Moos eines umgestürzten Baumstamms. „Bitte, lieber Gott“, flüsterte sie. „Es ist lange her, seit ich mich an dich gewandt habe … ich weiß. Aber … aber, es tut mir so leid.“ Sie presste vor Schmerzen ihre Lippen zusammen, holte Luft und zwang sich weiterzusprechen. „Ich weiß nicht, ob du mir vergeben kannst, dass ich so lange für diese … diese Monster gearbeitet habe. Aber ich hatte ja keine Ahnung, Gott. Ich hatte keine Ahnung.“

Der Wind schien durch die Pinienzweige zu wehen. Es schien, als riefe er ihren Namen.

„Vergib mir, Herr“, fuhr sie fort. „Und hilf mir. Ich brauche Hilfe, damit ich mein Versprechen halten kann.“ Sie schlug die Augen auf und sah zum dunklen Nachthimmel empor. „Schick mir ein Zeichen“, flüsterte sie. „Schick mir einen Engel, damit ich weiß, dass du mir vergibst. Ich weiß, dass du mich hörst, schick mir einen Engel.“

Jameson erwachte in Ketten. Sein Verstand war benebelt und schwach von der Droge, aber er kämpfte gegen die lähmende Wirkung, blinzelte und versuchte, seine Umgebung wahrzunehmen.

Er befand sich unter der Erde. Der Geruch von Erde drang deutlich wahrnehmbar hinter der runden Mauer riesiger Betonblocks hervor. Herrgott, er steckte in einer Art rundem Kerker. Er lag auf einem harten Boden, Beine an die Wand hinter sich gekettet, Arme in schweren Ketten und ausgestreckt. Er biss die Zähne zusammen und zog an den Ketten, aber sie klirrten nur. Er war zu schwach. Verdammt, er war zu schwach, sich zu befreien.

Ein leises Stöhnen weckte seine Aufmerksamkeit, und er sah die anderen, ebenso angekettet wie er. Eric und Roland, Tamara und Rhiannon, deren dunkles Haar ihr ins Gesicht hing. Aber nicht Angelica. Es hingen noch mehr Ketten an den Wänden, leer, ohne Gefangene. Angelica war nirgends zu sehen.

Gott sei Dank. Gott sei Dank, sie war entkommen.

Roland stand vor Jamesons Augen taumelnd auf. Er hob den Kopf, sie sahen sich in die Augen.

„Wo zum Teufel sind wir?“, fragte Jameson, obwohl er sicher war, dass Roland es so wenig wusste wie er.

„Ich bin nicht sicher. Vermutlich in einem der Häuser, die die Dreckskerle im ganzen Land verteilt haben. Ich könnte mir denken, dass die auf Verstärkung warten, bevor sie uns nach White Plains schaffen.“

Das schien Jameson plausibel zu sein. Bewaffnete Lastwagen, bewaffnete Soldaten. Und vielleicht gab es noch einen Grund, weshalb man sie noch nicht verlegt hatte. „Die wollen uns alle“, sagte er und merkte, dass er nuschelnd wie ein Betrunkener sprach. Roland runzelte die Stirn. „Angelica ist entkommen. Und sie ist die Einzige, die weiter versuchen wird, das Baby zu retten.“

„Ja“, sagte Roland und nickte langsam. „Sie wollen jede erdenkliche Möglichkeit ausschalten, dass ihnen das Kind genommen wird. Offenbar sehen sie es als ihren wertvollsten Gefangenen an.“

„Ich glaube nicht, dass sie es haben.“

Eric regte sich nun und erwachte. Und dann auch Tamara und Rhiannon.

„Wie kommst du darauf, Jamey?“, flüsterte Tam.

„Angelica“, sagte er. „Ich bin nicht sicher, was seither passiert ist, aber bis zu dem Moment, als wir in den Hinterhalt gerieten, war Angelica fest davon überzeugt, dass das Kind in Sicherheit ist. Sie glaubte ihnen nicht, als sie sagten, sie hätten es, und das gibt mir Hoffnung. Sie spürt das Baby. Und sie fühlte sich … fast überschwänglich. So sicher, dass Amber Lily in sicheren Händen ist.“

„Vielleicht“, flüsterte Tam. „Vielleicht ist Hilary entkommen, bevor sie die Blockhütte fanden. Vielleicht ist das Baby immer noch bei ihr in Sicherheit.“

„Ja“, ergänzte Eric, der sich kläglich anhörte. „Sie wussten, dass wir zu ihr in die Blockhütte kommen würden, also hätten sie dort auch dann auf uns gewartet, wenn sie sie nicht angetroffen hätten.“

„Da wir alle gefangen wurden, können sie jetzt sicher sein, dass wir das Kind nicht vor ihnen finden“, sagte Roland.

Rhiannon hob den Kopf, ihre Augen blitzten vor Zorn. „Gefangenschaft, Liebster, haben sie nicht für uns vorgesehen. Dazu sind sie zu schlau. Das würden sie nicht riskieren.“ Sie hob den Kopf und machte langsam die Augen zu. „Seht nach oben“, flüsterte sie.

Sie legten einer nach dem anderen die Köpfe in den Nacken. Jameson fühlte sich, als hätte er einen Tritt in den Magen bekommen. Es gab keine Decke über ihnen. Dies war kein Keller, kein Kerker, sondern eine Grube, deren Mauern aus Stein kreisrund in die Höhe verliefen. Hoch über ihnen spannte sich eine Decke. Eine Decke, die vollständig aus Glas bestand.

Jameson zog mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften an den Ketten. Verdammte Droge. Er fühlte sich so schwach wie ein Sterblicher! Schwächer. Er zog, bis ihm die Handschellen aus Eisen in die Gelenke schnitten, kam aber dennoch nicht frei.

„Herrgott, nein“, flüsterte Tamara, dann hörte Jameson sie leise weinen, sah ihre Tränen. Sie blickte zu Eric und stemmte sich gegen die Fesseln, damit sie ihn erreichen konnte, aber es lag zu viel Platz zwischen ihnen. „Ich liebe dich, Liebster“, flüsterte sie schluchzend. Du hast mir so viel Glück gegeben, so viel Freude …“

„Tamara …“, stöhnte Eric und bäumte sich in seinen Fesseln auf.

Rhiannon kniff die Augen zusammen. „Aufhören! Hört auf mit diesen Bekenntnissen auf dem Totenbett. Wir sind noch lange nicht am Ende!“ Ihre Stimme klang jedoch nicht so überzeugend wie sonst.

Denn sie wusste genau, wenn die Sonne aufging und ihr Licht in dieses Loch strahlen ließ, bedeutete dies das Ende für sie alle.

„Verdammt!“, brüllte Jameson. „Verdammt, ich hätte euch da nicht mit reinziehen dürfen. Ich wusste es. Ich wusste, dass ich euch allen nur Ärger machen würde.“

„Wir sind eine Familie, Jameson“, sagte Roland leise und gelassen. „Wir mussten uns da mit reinziehen lassen.“

„Wenigstens hat dein Kind noch eine Chance, Jamey“, flüsterte Tamara. „Angelica findet es und bringt es in Sicherheit.“

„Mein Kind wird nie eine Chance haben“, brüllte er, und die Wut erfüllte seine ganzen Eingeweide, „bis das DPI vernichtet ist. Verdammt, wann begreift ihr das endlich? Wir hätten sie schon vor langer Zeit vernichten müssen. Die geben erst Ruhe, wenn der Letzte unseres Volkes ausgerottet ist, ich weiß es. Und ihr auch.“

Sie sagten nichts. Sahen sich nur mit schuldbewussten Mienen an. Sie mussten ihm nicht sagen, dass er recht hatte. Vielleicht glaubten sie es ja immer noch nicht. Aber Jameson wusste es. Eines Tages würde sich jemand erheben. Jemand würde eine Revolte anführen, und das wäre das Ende des DPI. Er wollte derjenige sein. Doch jetzt sah es so aus, als würde die Aufgabe einem anderen zufallen.

Vielleicht seiner Tochter.

Jameson senkte den Kopf, schloss die Augen und konzentrierte sich mit aller Anstrengung auf Angelica. Finde sie, Angel. Mein wunderschöner dunkler Engel. Finde sie und bring sie in Sicherheit. Ich kann nicht für sie da sein. Für mich ist es vorbei. Aber du kannst es. Du musst es. Rette sie, Angel, und erzähl ihr von mir. Erzähl ihr von ihrem Vater. Erzähl ihr … dass er sie geliebt hat.

Ich blieb stehen. Ich war nicht sicher, warum, doch ich spürte etwas. Ein Gefühl. Und dann strömte Jamesons Stimme in meinen Geist. Sein Abschied. Sein Lebewohl. Und mir brach das Herz. „Nein!“, schrie ich und schüttelte die Faust zum Nachthimmel. „Mach das nicht, Vampir! Verlass mich nicht!“

Aber es kam keine Antwort mehr. Ich versuchte, ihn mit meinen geistigen Fähigkeiten zu orten, doch es gelang mir nicht. Ich schluchzte, bis ich mich durch und durch geschwächt fühlte.

Ich musste ihn finden. Und meine Tochter. Und das würde ich. Verdammt, das würde ich! Ich lief durch den Wald, streckte die geistigen Antennen aus, suchte, sondierte.

Jemand war in der Nähe.

Ich beendete meinen panischen Lauf und ging langsam im Kreis. Und dann hörte ich es. Ein leises Stöhnen, kehlig und gequält. Und einen Moment erinnerte ich mich an jene Nacht, die eine Lebensspanne zurückzuliegen schien. Die Nacht, als mich ein ähnliches Geräusch in eine Gasse lockte, wo ein Albtraum auf mich wartete.

Jeder Nerv in mir erwachte zum Leben. Hellwach wandte ich mich der Quelle des Geräuschs zu. Und sah nur einen umgestürzten Baumstamm. Das Stöhnen ertönte wieder.

Ich machte die Augen zu, ließ meine Sinne gleiten, erspürte die Luft um mich herum. Es musste eine Person in der Nähe sein. Eine sehr schwache Sterbliche mit großen Schmerzen. Lautlos trat ich näher. Und dann sah ich sie. Sie lag reglos inmitten der Büsche, Blut umgab sie.

Ohne zu zögern lief ich hin. Braune Augen blickten mir entgegen, als ich zu ihr trat, und ich kannte sie. Das war die dunkelhäutige Frau mit den gütigen Augen. Die dabei gewesen war, als meine Tochter zur Welt kam. Die ohne ein Wort zu sagen versprochen hatte, meinem unschuldigen Baby zu helfen.

Hilary Garner. Sie lag reglos da und war dem Tode nahe. Ihr Körper war von Kugeln durchlöchert, und aus jedem Einschussloch floss Blut.

„Sie“, flüsterte sie, als koste es sie enorme Anstrengung zu sprechen.

„Ich bin hier“, sagte ich und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Reden Sie nicht, ich helfe Ihnen. Alles wird gut.“

„Nein.“ Sie schüttelte schwach den Kopf. „Sie können … nichts mehr tun. Es genügt … dass Sie hier sind.“

Und doch drückte ich die Hände auf die Wunden in ihrer Brust und versuchte, die Blutungen zu stillen.

„Ich habe …“, krächzte sie, „Gott gebeten … mir einen Engel zu schicken. Und … er hat Sie geschickt.“

Ich war schockiert über ihre Worte. Engel. Angel. So nannte Jameson mich immer. Aber ganz gewiss hatte Gott keinen Einfluss mehr auf mein Leben. Sicher hatte er meine Schritte nicht geleitet. Ganz bestimmt gehörte ich nicht mehr zu seinem Plan.

Oder doch?

„Sie … haben sie geholt. Sie haben … das Baby …“

„Ich hole sie mir wieder“, sagte ich, riss Stoffstreifen von meinem Kleid ab und drückte sie auf die Verletzungen.

„Er … beschützt sie“, sagte sie leise. „Er hat es versprochen … ich habe es versprochen.“

„Ich schulde Ihnen mehr, als ich Ihnen je vergelten kann, Hilary Garner“, flüsterte ich.

„White Plains“, sagte sie und wurde immer schwächer. „Die wollen versuchen, sie … dorthin zurückzubringen.“

„Ich hole sie. Keine Bange, ich finde sie.“

Sie hielt mein Handgelenk mit ihrer zarten Hand, als ich gerade eine weitere Blutung stillen wollte. „Die … anderen … zuerst.“

Ich sah sie stirnrunzelnd an.

„Route … 10“, keuchte sie und biss sich auf die Lippe. „Zwölf Meilen nördlich. Eine alte … Holzfällerstraße … zweigt nach Osten ab.“

„Und was ist da, Hilary? Werden die anderen dort festgehalten?“

Sie nickte, die Augen fielen ihr zu. Doch dann riss sie sie verzweifelt wieder auf. „Die Grube“, flüsterte sie. „Tot im Morgengrauen … alle …“

Ich hielt inne und spürte Eiseskälte in mir. „Im Morgengrauen?“ Mein Gott, wie sollte ich das anstellen? Wie sollte ich allein die anderen vor Sonnenaufgang retten? Unmöglich.

„Ich … wusste es nicht“, fuhr die geschwächte Frau fort. „All die Jahre … für sie gearbeitet … wusste nicht … ich schwöre …“

„Das weiß ich. Sie sind eine anständige Frau, Hilary. Eine gütige, fürsorgliche Frau.“

„B-beten Sie für mich … Schwester … beten Sie … für mich …“

Ich schloss die Augen, da ich die Qualen dieser Frau spürte. Und wegen ihrer Bitte. „Ich kann nicht …“

„Doch. Sie können. Gott hat Sie geschickt … damit Sie mich finden. Er … hört Sie noch.“

Tränen brannten in meinen Augen. Ich wollte so sehr glauben, dass es stimmte. Aber es war nicht wichtig in diesem Moment, ich durfte ihr diesen kleinen Trost nicht verweigern. Ich senkte den Kopf. „Vater unser“, flüsterte ich, „der du bist im Himmel …“

Eine Zeit lang formte sie die Worte mit dem Mund, doch schon vor dem Ende hörte sie damit auf. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, dann öffnete sie die großen, glänzenden Augen. „Danke.“ Und dann sah sie an mir vorbei und streckte die Hand nach etwas aus, das ich nicht sehen konnte. „Ja“, flüsterte sie. „Ja … jetzt halte ich mein Versprechen.“ Sie entspannte sich und schloss die Augen. Ihre Hand fiel zu Boden. Und einen Augenblick schien mir, als wäre ihr lebloser Körper von einem weißen Leuchten umgeben. Einem Leuchten, das wie Nebel von regennassem Boden aufzusteigen schien. Aber da war nichts, als ich wieder hinsah. Und ich dachte an das verlassene Farmhaus nicht weit von hier.

Ich begrub Hilary Garner in einem flachen Grab, das ich mit den bloßen Händen aushob. Dann sammelte ich die Steine in der Nähe ein und errichtete eine Art Grabhügel daraus. Ich wusste, das genügte. Nichts würde dieses Grab stören. Ich spürte es.

Dann stand ich mit wackeligen Beinen auf und wandte mich in die Richtung, die mich zur Straße führen würde.

Stiles fuhr, während Special Agent Keller – der Grünschnabel, der mit dem Baby in den Armen verstört aus dem Wald gekommen war – auf dem Rücksitz saß. Er saß mit gezückter Waffe neben dem Baby und sah mit großen Augen in den dunklen Wald. Er hatte Angst. Stiles sah es den Leuten an, wenn sie Angst hatten, und dieser Grünschnabel zeigte alle Symptome.

Eigentlich konnte er mit einem verstörten Grünschnabel bei so einem Unternehmen nichts anfangen. Wenn er das Kind wieder verlor, würde Whaley ihm den Kopf abreißen.

Sie hatten Petersville fast erreicht. Stiles blickte automatisch in den Rückspiegel und sah nach seinen Passagieren, und dann vergewisserte er sich nochmals, denn er konnte die Kleine im Spiegel nicht besonders gut erkennen. Sie hatte die Decke weggestrampelt und lutschte am Daumen wie jedes normale Baby auch.

Sein Magen verkrampfte sich ein wenig, als sich sein Gewissen zu Wort meldete. Was, wenn das Mädchen … normal war? Wenn sie nicht nach diesen Tieren geriet, deren Nachkomme sie war?

Er sah wieder hin, und da nahm sie die winzige Hand vom Mund. Die großen dunklen Augen schienen im Spiegel direkt in seine hineinzusehen. Stiles’ Hals wurde trocken. Er musste sich abwenden.

Im selben Moment stieß er eine Verwünschung aus und riss das Lenkrad herum. Das Auto schlingerte, schmierte seitlich weg und schleuderte Kies und Sand vom Fahrbahnrand hoch, bis es schließlich halb im Straßengraben zum Stillstand kam.

„Was zum Teufel machen Sie denn?“, schrie Keller, richtete sich auf und hob die Waffe vom Boden hoch. „Wollen Sie uns umbringen?“

Stiles blinzelte und sah auf die Straße. „Da war was …“, murmelte er. Er stieg aus dem Auto aus, ging ein paar Schritte auf dem Feldweg zurück, blieb stehen und sah nach rechts und links.

Keller trat mit der Waffe in der Hand hinter ihn. „Haben Sie was gesehen?“

„Ja“, flüsterte Stiles. „Aber …“ Er schüttelte den Kopf und drehte sich zu Keller um. „Ich nehme an, Sie haben nichts gesehen, oder?“

„Ich hab rein gar nichts gesehen“, antwortete Keller. „Was war es? Ein Reh? Oder … hey, Stiles, es war doch keiner von denen, oder?“

Stiles schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Verdammt, Keller, Sie dürfen keinem was davon erzählen, okay? Wenn uns einer hier stehen sieht, sagen wir, wir haben einen Platten gehabt. Kapiert?“

Keller nickte. „Klar. Wenn Sie mir verraten, was Sie gesehen haben.“

„Was ich zu sehen glaubte“, verbesserte Stiles ihn. „Denn es war nicht real.“

„Und was glauben Sie denn, gesehen zu haben?“, fragte Keller und steckte die Waffe wieder weg.

Stiles schüttelte den Kopf und sah auf seine Füße. „Da war dieses Licht. Und als wir näher kamen, sah es aus wie …“

„Wie was?“, drängte Keller.

Stiles seufzte. „Ein Engel. Weißes Kleid und Flügel und das ganze Drum und Dran. Alles von weißem Licht umgeben und mitten auf der verdammten Straße.“ Wieder schüttelte er den Kopf, diesmal mit einem nervösen Lachen. „Und dann war es verschwunden. Albern, was? Ich glaube, ich muss mich mal ausschlafen, ein paar Tage freinehmen …“

„Oder … vielleicht auch nicht.“ Keller begann jetzt schon zu stottern.

Stiles hob den Kopf und sah in das aschfahle Gesicht des Grünschnabels. Er blickte mit aufgerissenen Augen und ausgestrecktem Zeigefinger zum Auto. Stiles folgte seinem Blick und sah gerade noch, wie ein weißes Licht aus jedem Fenster des Fahrzeugs strömte. Es leuchtete ganz unwirklich hell, aber nur einen Augenblick, dann erlosch es wieder.

Er schüttelte den Kopf, als könnte er ihn so wieder klar bekommen, und zwang sich dann, zum Auto zu gehen. Er hoffte inständig, seine Befürchtungen würden sich nicht bewahrheiten.

Er beugte sich zu dem Fahrzeug, warf einen Blick hinein und sah dann wieder zu Keller, der immer noch wie angewurzelt an derselben Stelle stand.

„Das Baby?“

Stiles war vollkommen geschockt. Und dann schüttelte er nur noch den Kopf. Fort. Das Kind war einfach fort, wie vom Erdboden verschluckt.

Keller atmete plötzlich schwer. „Wir müssen hier weg“, murmelte er und lief zum Auto. „Es könnte wiederkommen … und diesmal unseretwegen.“

Stiles packte ihn an den Schultern und zog ihn zu sich. „Hören Sie zu, Keller, und hören Sie gut zu. Niemand wird je erfahren, was wir heute Nacht hier gesehen haben, ja? Wenn wir das erzählen, sperren die uns irgendwo in eine Gummizelle. Verdammt, wir werden vielleicht selbst zu Studienobjekten des DPI.“

Keller stöhnte, als er das hörte. „Wir hatten einen Platten“, sagte er langsam. „Wir sind ausgestiegen, um den Reifen zu wechseln, und da hat sich jemand das Baby geschnappt. Wir haben nichts gesehen.“

Stiles nickte und schluckte heftig.

Es war ein Wunder, dachte Susan Jennings immer wieder. Vor vierundzwanzig Stunden erst war sie mit dem Auto von der Straße abgekommen, weil sie einem Reh ausweichen musste. Gott im Himmel, sie würde nie die Angst vergessen, die sie verspürte, als ihr das Lenkrad aus den Händen glitt und das Auto die Böschung hinunterraste.

Und dann das unvorstellbare Grauen, als sie aufstehen wollte und feststellte, dass die kleine Alicia immer noch im Auto festsaß.

Und dann kamen wie aus dem Nichts diese beiden Fremden. Wie zwei Engel, dachte sie wieder und lächelte, während sie auf dem Schaukelstuhl saß, Alicia in den Armen hielt und ihr das Fläschchen gab. Sie hatten dem Baby das Leben gerettet. Und dann verschwanden sie in der Nacht, ehe sie die Möglichkeit hatte, ihnen zu danken.

Alicia saugte immer träger, hörte auf, ihre blauen Babyaugen fielen zu. Susan stand vorsichtig auf, schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer und legte das Baby ins Bett. Behutsam steckte sie die Decke fest.

An der Eingangstür wurde leise geklopft.

Susan drehte sich um, runzelte die Stirn und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Wer um alles in der Welt kam um diese Zeit zu Besuch? Sie ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und sah in die gütigsten braunen Augen, die sie je gesehen hatte.

Ich raste mit Jamesons Auto, das ich dort fand, wo er es abgestellt hatte, auf der Route 10 Richtung Norden. Und ich tat das, was er getan hätte. Verbarg mich vor den wachsamen Blicken des DPI. Ich sah die Straße, die nach Osten abzweigte, fuhr jedoch daran vorbei, parkte das Auto in einem Wäldchen abseits der Straße und ging zu Fuß zurück.

Und als ich den Holzfällerpfad wiederfand, nahm ich nicht ihn, sondern ging im Schatten, im Schutz der Bäume. Heute Nacht war die Dunkelheit mein Freund wie noch niemals zuvor. Und je näher ich kam, desto mehr Wolken zogen vor den tief stehenden Mond, malten ihre schwarzen Pinselstriche darüber und machten die Nacht noch finsterer.

Ich sah eine Kuppel im Boden, wie ein Dom aus Glas. Rings um das Glasdach standen vier Mann Wache, die anscheinend einen kostbaren Schatz hüteten. Alle bewaffnet, das war klar. Ich konnte es unmöglich mit allen gleichzeitig aufnehmen. Einer würde mich bestimmt mit diesen tödlichen kleinen Pfeilen treffen.

Was sollte ich tun?

Vielleicht konnte ich sie weglocken. Einen nach dem anderen, falls erforderlich. Aber, großer Gott, die Sonne würde bald aufgehen. Und jetzt wurde mir auch klar, warum der Sonnenaufgang den Gefangenen den Tod bringen würde.

Ich ergriff den untersten Zweig der Pinie, unter der ich kauerte, und brach ihn mit einer knappen Handbewegung entzwei. Das Geräusch klang erstaunlich laut in der stillen Nacht, sämtliche Wachtposten erstarrten.

„Was war das?“, fragte einer. „Wer ist da?“ Er hob die Waffe.

„Vermutlich nur ein Tier“, sagte ein zweiter.

„Glaub ich nicht.“

„Dann geh nachsehen.“

Der erste Mann schüttelte den Kopf. „Whaley hat gesagt, wir sollen alles paarweise unternehmen. Du weißt, wie arglistig die sind.“

„Dann komm. Wir gehen beide.“

Die beiden Männer drehten sich in meine Richtung und setzten sich langsam und mit gezückten Waffen in Bewegung. Einer nahm eine Taschenlampe in die freie Hand, hielt sie in meine Richtung und drückte auf den Knopf. Ich stieß mich vom Boden ab und sprang auf einen Pinienast in Sicherheit, ehe mich der Lichtstrahl erfassen konnte. Einer nach dem anderen, das war mein Plan gewesen. Nicht zwei auf einmal. Egal, ich würde nicht aufgeben. Das war unmöglich. Jameson, mein rachsüchtiger Vampir, saß da unten in der Falle, und wenn die Sonne aufging …!

Ich erschauerte beim Gedanken daran, wie qualvoll er sterben würde. Spürte eine eigentümliche Leere in mir, wenn ich es mir ausmalte, und mein Magen verkrampfte sich. Ich verweilte ganz still und wartete. Die beiden gingen nicht so dicht nebeneinander, wie ich gehofft hatte. Aber auch nicht weit genug voneinander entfernt, dass es mir recht gewesen wäre. Einer blieb direkt unter mir stehen.

Der andere stand vielleicht vier Schritte entfernt und wandte mir den Rücken zu. Ich musste schnell und schlau handeln. Schneller und schlauer, als diese Männer es erwarteten. Das sollte nicht allzu schwer sein, sagte ich mir. Ich war ein Vampir.

Ich ließ mich von dem Baum fallen und landete auf dem Mann, der darunterstand. Er gab ein lautes Grunzen von sich, als ich die Faust auf seinen Schädel niedersausen ließ und er bewusstlos zusammensackte … wirklich nur bewusstlos? Der andere fuhr herum, als er das Geräusch hörte, und richtete die Waffe auf mich. Mit meiner ganzen Schnelligkeit warf ich mich auf die Seite, sodass der Pfeil aus seiner Waffe mich zwar streifte, aber sich nicht ins Fleisch bohrte, sondern in dem Baum hinter mir stecken blieb. Ich betete, dass ich nichts von der Droge abbekommen hatte. In dem Sekundenbruchteil, den der Mann brauchte, um mich wieder ins Visier zu nehmen, hatte ich den Pfeil aus der Baumrinde gerissen und nach ihm geschleudert.

Der Pfeil bohrte sich tief in den Hals meines Angreifers. Er ließ die Waffe zu Boden fallen und verdrehte die Augen. Dann kippte er um und bewegte sich nicht mehr.

Doch ich war nicht so leise, wie es nötig gewesen wäre. Die beiden anderen Wächter hatten den Kampf mitbekommen, einer hob das Funkgerät zum Mund. Ich schnappte mir die Waffe vom Boden und drückte ab. Aber außer einem gedämpften „Klick“ passierte gar nichts. Die Waffe war nicht nachgeladen worden. „Etwas geht hier vor“, brüllte der Wachtposten in das Funkgerät. Und ich warf die leere Waffe mit aller Kraft nach ihm. „Schickt uns Verst… nnnnnnnnnh“ Das Pfeilgewehr traf ihn mitten im Gesicht; er wurde so heftig nach hinten geschleudert, dass er durch die Glaskuppel hinter sich krachte. Ich hörte ihn tief unten aufschlagen, dann nichts mehr.

Ich stand ohne Deckung da und sah dem letzten Wachtposten in die Augen. Er streckte mir die Hände entgegen und schüttelte den Kopf. „Bitte … nehmen Sie sie einfach mit, okay?“

Ich schien für diesen armen Sterblichen einen beängstigenden Anblick zu bieten. Das Haar verfilzt und zweifellos voller Piniennadeln und Blätter. Hände blutig, weil ich das Grab für Hilary ausgehoben hatte. Kleid nach dem langen Lauf durch den Wald zerrissen, Arme und Brust mit dem Blut von Hilary und mir besudelt.

Vielleicht hatte sie ja recht gehabt. Vielleicht lenkte Gott meine Schritte. Irgendwie.

Ich brauchte nur zu der Waffe in seinen Händen zu nicken, da ließ er sie schon fallen. Mit einer Hand zeigte ich auf das Funkgerät an seinem Gürtel, und auch das warf er weg. Und dann ging ich auf ihn zu. Ich sah die Angst in seinen Augen, und er tat mir fast leid. Er wich zurück, aber bevor er durch die geborstene Kuppel stürzen konnte, hatte ich ihn bereits ergriffen und am Hemd gepackt.

„T-t-töten Sie mich nicht“, flüsterte er. „B-bitte …“

Ich legte die Arme fest um ihn und sprang in die vermeintliche Todeskammer. Er heulte den ganzen Sprung über, aber ich hielt ihn fest, bis wir auftrafen, und ich landete sogar elegant auf meinen Füßen.

Um mich herum spürte ich die fassungslosen Gesichter der anderen. Ich vergewisserte mich kurz, dass sie alle da waren und lebten. Jameson sah ich einen Moment in die Augen. Er zerrte vergeblich an den Ketten, mit denen seine Handgelenke an die Wand gefesselt waren. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Wut verspürt. Eine Wut auf diejenigen, die ihm das angetan hatten, die ihn hier sterben lassen wollten. Doch jetzt musste ich mich zusammenreißen.

„Wo ist mein Kind?“ Ich schüttelte den Wachtposten.

„Ich … ich weiß nicht … ich schwöre es.“ Er sah sich furchtsam in dem engen Raum um. Als er die zornigen Mienen der anderen Vampire sah und er den anderen Wachtposten erblickte, der durch die Glaskuppel gefallen war, wuchs seine Angst noch. Der Körper des Mannes lag zerschmettert am Boden.

Ich schüttelte ihn wieder so heftig, dass sein Kopf hin-und hergeschleudert wurde. „Hör mir gut zu, du kleiner Lügner“, brüllte ich ihn an. „Wo ist meine Tochter? Wo ist mein Baby?“

„Sie wollten sie zurückbringen zum … Hauptquartier“, stammelte er. „A-aber sie hatten unterwegs einen Platten. Sie stiegen aus, um den Reifen zu wechseln, und … und … und …“

„Und was, Sterblicher?“

„Das Kind war fort!“, stieß er jetzt schluchzend hervor. Seine Nase lief, Tränen quollen ihm aus den Augen. „E-einfach fort. J-jemand hat sie aus dem Auto geholt. Es w-wurde Funkalarm gegeben. Wir dachten, Sie wären es!“

Ich glaubte ihm. Der Mann sagte mir die Wahrheit, jedenfalls soweit er sie kannte. Natürlich konnte es sich nicht wirklich so zugetragen haben, wie er es schilderte. Die Einzigen, die mein Baby hätten retten können, waren hier bei mir. Außer Hilary natürlich, aber Hilary war tot. Ich hatte sie unter Piniennadeln, im Schatten der duftenden Bäume begraben.

„Aber ich dachte … ich dachte, Hilary hätte das Kind“, ertönte Tamaras sanfte Stimme und erfüllte die Grube mit ihrer Wärme.

Ich drehte mich zu ihr um und sah sie an. „Es tut mir so leid, Tamara. Die … die haben Hilary getötet.“

Sie schrie auf, als ich das sagte, dann ließ sie den Kopf auf die Brust sinken und weinte stumm.

„Ich fand sie im Wald. Sterbend. Und sie erzählte mir, wo ihr seid und dass ihr bei Tagesanbruch sterben würdet, wenn es mir nicht gelänge, euch zu helfen.“

„Was für ein gütiger Mensch sie war, wir sollten Gott für diesen Menschen danken“, flüsterte Tamara.

„Das habe ich“, antwortete ich. „Ich habe sie da im Wald begraben, an einem wunderschönen Plätzchen, Tamara. Dort hat sie ihren Frieden.“ Sie nickte, und in ihren Augen lag stummer Dank.

„Und jetzt hat das DPI meine Tochter schon wieder in den Händen.“

„Die haben sie nicht“, meldete sich der Wachtposten zu Wort. „Ich sagte doch …“

„Das hat man Ihnen zweifellos als Täuschungsmanöver erzählt. Falls ich hierherkomme und Sie zum Reden zwinge.“ Doch jetzt musste alles schnell gehen. Ich sah über mich zum Himmel, der bereits fahl wurde. Dann schüttelte ich ihn wieder. „Die Schlüssel.“

„R-rechte vordere T-t-tasche.“

Ich riss dem Mann die Schlüssel aus der Tasche und zerrte ihn mit zu Jameson, der so blass und zerbrechlich aussah mit seinen blutunterlaufenen Augen. Mit einer Hand hielt ich den Wachtposten fest, mit der anderen öffnete ich die Handschellen des Vampirs. Jameson sah mich an. „Du solltest nicht hier sein, Angelica. Verdammt, kannst du denn nie das machen, was man dir sagt?“

„Ich rette dir gerade das Leben, Vampir“, fuhr ich ihn an. „Ist dir das noch nicht aufgefallen?“

Jameson war frei, ich stieß meinen Gefangenen gegen die Wand und legte ihm die leeren Handschellen um die Gelenke. Dann lief ich nacheinander zu den anderen und befreite sie ebenfalls.

Rhiannon rieb sich die Gelenke und schenkte mir einen schwachen Abklatsch ihres verhaltenen Lächelns. „Das war hervorragend, Angelica. Vielleicht kann ich noch eine Göttin unter den Frauen aus dir machen.“

„Danke“, sagte Tamara, lief zu mir, nahm mich in die Arme und drückte mich so fest, wie sie in ihrem geschwächten Zustand nur konnte. „Ich dachte, das wäre das Ende. Danke, Angelica!“

„Manche Leute können ihre Dankbarkeit nicht so gut zeigen wie andere“, begann Eric. „Aber auch ich danke dir, Liebste.“ Das sagte er mit einem vielsagenden Blick zu Jameson. Und dann nahm er Tamara in die Arme, hielt sie fest, schloss die Augen, küsste ihr Haar.

„Sei nicht so vorschnell mit der Dankbarkeit, Eric. Noch sind wir nicht hier raus.“ Jameson sah nach oben, während er das sagte. „Keiner von uns ist kräftig genug, um aus dieser Grube klettern oder springen zu können.“

„Außer mir, meinst du.“ Ich klopfte Tamara auf die Schulter. Als sie sich zu mir umdrehte, schlang ich die Arme um sie, drückte die Knie durch und sprang mit aller Kraft. Und wir segelten durch die geborstene Kuppel und landeten wohlbehalten am Boden. „Versteck dich“, flüsterte ich. „Einer konnte einen Funkspruch absetzen, ehe ich ihn ausgeschaltet habe. Vielleicht rückt Verstärkung an.“ Dann sprang ich wieder hinunter, um die anderen zu holen, und schaffte einen nach dem anderen nach oben.

Jameson bestand darauf, als Letzter sein Gefängnis zu verlassen. Rhiannon akzeptierte meine Umarmung nur widerstrebend. „Das muss man sich vorstellen“, sagte sie. „Ich bin darauf angewiesen, dass ein Neuling mich rettet.“

„Schlimmer“, sagte ich. „Du bist zu einer engen Umarmung gezwungen.“

Sie sah mich finster an, als wir nach oben schnellten. Aber ich erblickte eine große Zuneigung hinter dieser finsteren Miene. Und ich fragte mich, wie ich eine Frau in so kurzer Zeit lieben konnte wie eine Schwester.

Schließlich blieb nur noch Jameson übrig. Wir sahen einander einen Moment an. „Du hättest nicht kommen sollen“, sagte er. „Ich hatte dir befohlen, das Baby zu retten.“

„Mit eurer Hilfe habe ich eine viel größere Chance, sie zu finden“, ließ ich ihn wissen.

„Du bist stur und töricht.“

„Und du ein arroganter Pascha!“, fuhr ich ihn an.

„Du hättest beim Versuch, uns zu retten, sterben können.“

„Und du wärst mit Sicherheit gestorben, wenn ich es nicht versucht hätte“, flüsterte ich. „Ich musste es tun, Jameson. Den Gedanken hätte ich nicht ertragen.“ Ich legte einen Arm um seine Taille. „Halt dich fest.“

Er hielt sich mit den Händen an meinen Schultern fest, ich sah ihm in die Augen. „Nein.“ Meine Stimme bebte. „Drück dich fest an mich.“

Er blickte mich einen Moment lang an, dann zog er mich dicht an sich, beugte den Kopf herab und küsste mich auf den Mund. Wie im Fieber küsste er mich. Verzweifelt. Und ich klammerte mich an ihn und erwiderte den Kuss ebenso inbrünstig. Als wir unsere Münder endlich voneinander lösten, erschauerte ich vor Verlangen nach diesem Mann, der doch nur Verachtung für mich empfand. Ich sehnte mich nicht nach der Berührung eines Monsters oder eines sündigen Mannes, den ich hasste. Ich sehnte mich nach diesem Mann, zu dem ich Zuneigung entwickelt hatte. Und darin sah ich keine schreckliche Sünde mehr.

Wir beugten die Knie und sprangen gemeinsam. Allerdings war er mir in seinem geschwächten Zustand keine große Hilfe. Wir landeten immer noch eng umschlungen auf dem Boden. Er stand auf, zog mich auf die Füße und hielt aus einem Grund, den ich nicht verstand, immer noch meine Hand, als wir in den Wald liefen, den anderen hinterher. Wir wechselten kein Wort. Ich sah Lichter in der Ferne und hörte die Stimmen von Sterblichen, als Männer des DPI den Wald wie Soldaten durchforsteten und nach uns suchten. Zweifellos hatten sie den Befehl, uns zu töten, sollten sie uns sehen. Wir gingen lautlos und schnell, und als wir das Auto erreichten, zwängten wir uns alle hinein. Sogar Roland.

Der Himmel hellte zunehmend auf und wurde purpurn, während ich zu dem einzigen Versteck raste, das mir einfiel. Das leer stehende Haus, wo Jameson und ich die erste Nacht verbringen wollten. Aber als ich anhielt und ausstieg, ergriff Jameson meinen Arm.

„Wir lassen das Auto hier. Wenn sie es finden, denken sie, dass wir in dem Haus festsitzen, das lenkt sie vielleicht ab. Aber ich glaube, wir sollten lieber in deine Höhle gehen.“

„Dafür ist keine Zeit“, gab ich zu bedenken.

„Im Wald ist es dunkler“, mischte sich Rhiannon hastig ein. „Wir haben genügend Zeit, wenn wir uns beeilen.“

Wir beeilten uns tatsächlich, aber die anderen waren viel langsamer. Zweimal bat mich Tamara, dass ich vorauslaufen und bei der Höhle auf sie warten sollte, doch ich weigerte mich, meine neuen Freunde im Stich zu lassen. In der kurzen Zeit, seit ich sie kannte, waren sie mir erstaunlich ans Herz gewachsen. Sie kamen mir wie die Familie vor, die ich nie hatte. Die Belohnung dafür, gut zu sein, die ich mir als Kind immer gewünscht hatte. Alle riskierten sie ihr Leben, um meiner kleinen Tochter zu helfen. Und ich hätte für jeden einzelnen von ihnen mein Leben hingegeben.

Doch auch ohne meine Zuneigung für Tamara und Rhiannon hätte ich Jameson nicht verlassen können. Wäre in dem Moment die Sonne aufgegangen und hätte mir die Haut versengt, es wäre mir egal gewesen.

Er war der Vater meines Kindes, redete ich mir ein, während ich an seiner Seite durch die zunehmend schwindende Nacht lief. Ich war durch das Baby mit ihm verbunden. Das musste es sein.

Da drehte er sich um, sah mir in die Augen, und ich wusste, dass das nicht alles war. Es existierte ein Band zwischen uns. Und für meinen Teil war nicht nur unsere Tochter die Ursache dafür.

Da war noch etwas. Etwas, das ich nicht begriff.

Du liebst ihn, Kleines, flüsterte Rhiannons Stimme in meinen Gedanken.

Ich drehte erschrocken den Kopf in ihre Richtung und merkte erst jetzt, dass jeder meine Gedanken lesen konnte.

Sie lächelte mir zu und blinzelte. Und ich spürte, dass sie mit mir allein sprach und unsere Gedanken so leitete, dass Jameson sie nicht hören konnte. Noch ein Trick, den ich lernen musste. Ich wusste es natürlich schon, als er das erste Mal von dir sprach. Du bist gut für ihn, Angelica. Genau das, was unser arroganter junger Jameson braucht. Ihr Lächeln wurde breiter, als sie ihm einen Blick zuwarf. Dann sah sie mich wieder mit einem schalkhaften Ausdruck in den Augen an. Aber sag es ihm noch nicht, Kleines. Ich glaube, es schadet nichts, wenn er noch eine Weile leidet.

Leidet? Oh, Rhiannon mochte weise sein, aber was Jameson anbetraf, hatte sie keine Ahnung. Er musste meinetwegen nicht leiden. Seine einzige Qual war die Sorge um unser Kind und seine Rache am DPI. Er begehrte mich vielleicht mit der Leidenschaft eines Wahnsinnigen. Aber darüber hinaus gab es nichts. Und auch für mich war die Sache klar.

Die Frau, die sich in einen Mann verliebte, der sie verabscheute, wäre wirklich und wahrhaftig töricht.