Keith
9. KAPITEL
„Also wirklich, Jameson“, seufzte Roland. Er wandte sich von der Tür ab, die Angelica gerade zugeschlagen hatte, und Jameson zu; sein schwarzes Satincape wirbelte dramatisch. „War das wirklich nötig?“
Jameson machte die Augen zu und schüttelte den Kopf. „Sie hält uns alle für Monster. Schlimmer als der Teufel selbst“, sagte er, doch er war müde. Und ihr einen Schrecken einzujagen bereitete ihm nicht die Freude, die er erwartet hatte. Dass sie so tat, als würde Sex mit ihm ihre unsterbliche Seele gefährden, nahm ihn nicht gerade für sie ein. Sie war so gierig nach ihm gewesen, so wunderbar leidenschaftlich in seinen Armen … und dann abgestoßen von ihrem eigenen Tun. Abgestoßen von ihm.
Das erboste ihn!
„Hat wirklich sie dich in jener Nacht angegriffen?“, fragte Tamara ihn mit hochgezogenen Brauen.
„Ja.“
„Aber warum, Jameson? Hat sie dir gesagt, warum?“
Er ging zum Sofa und ließ sich seufzend darauf nieder. „Nein. Aber ich kann es mir ziemlich gut vorstellen.“ Alle warteten und sahen ihn erwartungsvoll an. „Hört zu, das erklär ich euch später. Im Augenblick müssen wir nur Amber Lily finden und …“
„Amber Lily?“, fragte Tamara mit großen Augen und einem breiten Grinsen im Gesicht. „Oh Jamey, das klingt wunderbar.“
Er konnte nicht anders und erwiderte das Lächeln. „Ja, und so ist sie auch“, sagte er. „Angel sagt, ihre Augen sind groß und rund und dunkel, ihr Haar lockig.“
„Angel?“ Tamara runzelte die Stirn. „Ein seltsamer Name für eine Frau, auf die du so … wütend zu sein scheinst.“
Jameson wandte den Blick ab. Seltsam, wahrhaftig. Es war ein verdammter Kosename. Wann hatte er sich angewöhnt, sie so zu nennen? Anfangs hatte er es als sarkastischen Witz gemeint. Doch dann wurde etwas anderes daraus.
„Jamey?“ Tamara sah ihm ins Gesicht. „Bist du sicher, dass da nicht mehr zwischen euch ist als …“
„Schluss mit diesem sentimentalen Unsinn.“ Rhiannons Stimme hallte herrisch durch den Raum, Tamara verstummte sofort. „Ich glaube, wir haben hier eine Situation, um die wir uns kümmern müssen. Diese Frau im Nebenzimmer hat versucht, einen von uns zu ermorden. Unseren Jameson. Und ich für meinen Teil lasse so ein Verbrechen nicht ungesühnt.“
Sie machte einen Schritt auf das Schlafzimmer zu. Jamesons Magen verkrampfte sich. Herrgott, was hatte er da nur angerichtet? Sicher, er war wütend auf Angelica gewesen, aber warum musste er das alles sagen? Rhiannon war für ihr cholerisches Temperament bekannt … besonders wenn jemand zu Schaden kam, den sie mochte. Er sprang von dem Sofa hoch, stellte sich ihr in den Weg und hob die Arme. „Rhiannon, nein! Warte.“
„Warten?“ Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Diese Kreatur hat sich von dir ernährt. Wollte dich ermorden, und du sagst mir, ich soll warten?“
Jameson sah an ihr vorbei Hilfe suchend zu Roland. Der zuckte nur die Achseln. „Da hat sie nicht unrecht.“
„Natürlich nicht. Ich werde nie vergessen, wie wir dich gefunden haben, Jameson, dem Tode nahe, in dieser verfallenen Ruine! Das muss diese Frau büßen. Und jetzt geh beiseite, damit ich mich um sie kümmern kann.“
„Verdammt, Rhiannon, es war nicht so, wie du denkst!“
Sie kniff die Augen zusammen. „Du kannst freiwillig aus dem Weg gehen, oder ich schaff dich weg.“
„Nein. Hör mir zu, verdammt. Sie war gerade erst verwandelt worden und dachte, das würde sie zu einer Art Monster machen. Sie wollte keine Nahrung zu sich nehmen, weil sie es für eine Sünde hielt.“
Rhiannon zog die Brauen hoch. „Aber ihr Erzeuger hätte ihr doch sicher erklären können …“
„Sie war allein, Rhiannon, und hatte Todesangst. Als ich sie fand, war sie halb verhungert und praktisch nicht bei Sinnen. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt wusste, was sie tat.“
„Du kannst sie in Schutz nehmen, so oft du willst, Jameson. Sie hat dich angegriffen, und jetzt wird sie es bedauern.“ Rhiannon legte ihm eine Hand auf die Schulter und stieß ihn beiseite.
Jameson fing sich und versperrte ihr wieder den Weg. „Du wirst ihr kein Haar krümmen, verdammt! Sie ist die Mutter meines Kindes, Rhiannon, und wenn du ihr etwas antun willst, musst du zuerst an mir vorbei.“
Rhiannon verschränkte die Arme vor der Brust und schenkte ihm ein kurzes, verschmitztes Lächeln. „Genau, wie ich dachte“, sagte sie. „Und ab jetzt, werter Jameson, solltest du stets an diesen kleinen Zwischenfall denken, bevor du diesem armen Geschöpf wieder Angst machst.“ Sie klopfte ihm mit einem langen, spitzen Fingernagel auf die Brust. „Denn wenn nicht, bekommst du es mit mir zu tun.“ Und dann drehte sie sich zu Roland um und blinzelte. „Danke, Liebling, dass du dich nicht eingemischt hast.“
„Ich wusste, dass du Jameson einen Streich spielst, Rhiannon. Und ich war sicher, dass du ihm eine Lektion erteilen wolltest.“
Eric senkte den Kopf, schüttelte ihn langsam und seufzte. „Ich hatte mir echt Sorgen gemacht“, gab er zu. „Ich dachte schon, es würde gleich zu Blutvergießen kommen.“
Tamara lachte laut auf. „Und ich dachte, du würdest einschreiten und alles ruinieren“, sagte sie zu Eric.
Jameson schüttelte nur den Kopf und entspannte die verkrampften Muskeln. Er hatte wirklich geglaubt, dass Rhiannon Angelica etwas antun wollte. Eigentlich kannte er sie besser. Die Hexe quälte ihn nur, um ihm die Realität vor Augen zu führen. „Der Teufel soll dich holen, Rhiannon.“
„Eines Tages bist du mir dankbar“, teilte sie ihm mit. „Und jetzt geh aus dem Weg, damit Tamara und ich mit der Frau sprechen können, für die du so bereitwillig dein Leben riskiert hättest.“
„Ich würde nicht sagen, dass ich mein Leben riskiert habe“, sagte er, machte aber Platz. Nun wusste er ja, dass Rhiannon Angelica nichts tun würde.
Rhiannon hob die königlichen Brauen. „Dann kennst du mich nicht besonders gut.“ Sie rauschte an ihm vorbei. Mit einem stechenden Blick zur Tür, der die Riegel einfach so öffnete, betrat sie, dicht gefolgt von Tamara, das Schlafzimmer.
„Und jetzt, Jameson“, sagte Roland, ging zu dem kleinen Kühlschrank und öffnete ihn. „Wo halten sie deine kleine Tochter versteckt?“
Rhiannon glich einer Königin der Antike. Sie trug ein hautenges scharlachrotes Kleid, das über den Boden streifte, mit einem dramatisch tiefen Ausschnitt. Ihre Nägel waren lang und spitz und blutrot lackiert.
Tamara sah wie eine ganz normale junge Frau aus. Sie trug Jeans, wie Jameson sie auch immer zu tragen schien, dazu einen türkisfarbenen Pullover mit aufgestickten Blumen. Sie war eine zierliche, sanftmütige Person mit einem herzlichen Lächeln. Von den beiden schien sie mir die Umgänglichere zu sein, jedenfalls die, vor der ich mich weniger fürchtete.
„Hab keine Angst“, sagte Rhiannon mit ihrer dunklen, vollen Stimme und lächelte sogar ein wenig. „Jameson hat uns alles erklärt. Du hast es gehört, nicht?“
Ich nickte, obwohl ich immer noch zitterte. „Mich überrascht … dass er mich überhaupt verteidigt hat.“
„Warum überrascht dich das, Kleines?“, fragte Rhiannon.
„W-weil … er mich hasst.“
Rhiannon warf Tamara einen vielsagenden Blick zu. Tamara blinzelte. „Zweifellos möchte er, dass du das denkst“, sagte sie. „Aber jetzt weißt du es doch besser, oder nicht?“
Ich schloss die Augen, senkte den Kopf und kämpfte mit den Tränen, die gleich hervorbrechen würden. „Ich weiß überhaupt nichts mehr. Nicht, wer ich bin … oder was ich bin. Oder was ich empfinde.“
„Oh …“ Tamara kam zu mir, legte mir einen Arm um die Schulter und drückte mich wie eine Schwester. „Oh Angelica, du weinst ja! Aber, bitte. Alles wird gut. Ich verspreche es dir.“
Ich schniefte und blickte zu ihr auf. Und sah, wie Rhiannon hinter ihr die Augen verdrehte und auf und ab ging. „Wie kannst du nicht wissen, was du bist, Kleines? Du bist eine Unsterbliche! Und dieses Geplapper ist reine Zeitverschwendung. Du solltest dein neues Dasein genießen. Es zelebrieren!“
„Rhiannon, für manche ist das nicht so einfach. Hab Geduld.“ Tamara drehte sich wieder mit sehr großen und sehr gütigen Augen zu mir um. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Verdammte solche gütigen Augen haben könnten. „Es braucht Zeit, Angelica. Aber du wirst bald feststellen, dass du dieselbe Frau bist wie vorher. Die Veränderungen sind rein körperlich. Du nimmst andere Nahrung zu dir und bist jetzt kräftiger. Deine Sinne sind verbessert, und du wirst nie an diesen lästigen ‚natürlichen Ursachen‘ sterben, denen so viele Sterbliche zum Opfer fallen. Du alterst nicht. Aber tief im Innern, wo es zählt, bist du noch dieselbe.“
Ich sah diese Vampirin mit dem reizenden Gesicht und schämte mich mehr denn je. Ich schüttelte den Kopf. „Aber das bin ich nicht.“
„Aber klar doch. Ich beweise es dir. Sag mir, was du getan hast, bevor du verwandelt worden bist.“
Ich blinzelte die Tränen weg. „Ich habe … ich habe bei einem Orden studiert. Noch eine Woche, dann hätte ich das feierliche Gelübde abgelegt und …“ Ich verstummte, als die beiden Frauen sich verblüfft ansahen.
„Du warst …“, flüsterte Rhiannon, „eine Nonne?“
„Fast“, sagte ich.
„Großer Gott, kein Wunder, dass du so durcheinander bist!“ Rhiannon ging auf und ab. „Ganz sicher keine Kandidatin für die Unsterblichkeit“, tobte sie. „Jedenfalls nicht diese Form davon. Wer hat dich geschaffen? Er hat es mit Gewalt getan, nicht? Du hast ihn sicher nicht darum gebeten! Nenn mir seinen Namen, dann gebe ich ihm eine Lektion, die er nicht mehr …“
„Er … er ist tot.“
Rhiannon blieb mitten im Schlafzimmer wie vom Donner gerührt stehen.
Ich hob den Kopf, sah ihr in die Augen und war bereit, jede Strafe zu akzeptieren, die sie verhängen würde, wenn ich mein dunkles Geheimnis verriet. Ich hatte nicht nur ihren Freund angegriffen und dem Tode nahe einfach liegen gelassen, sondern obendrein einen ihrer Art getötet. Doch das würde ich nicht bestreiten. „Er hat einen unschuldigen Mann vor meinen Augen getötet“, sagte ich. „Und dann wollte er mich zwingen, dasselbe mit einem Knaben zu machen. Einem ängstlichen Jungen. Und ich konnte es nicht. Also habe ich …“ Ich machte die Augen zu und schluckte, weil ich fast an dem Kloß in meinem Hals erstickte.
Rhiannon kam näher und fixierte mich. „Du hast ihn getötet, richtig?“
Ich betrachtete meine Hände im Schoß und nickte knapp. Ich konnte sie nicht ansehen. Die beiden Frauen schwiegen; als ich endlich wagte hochzublicken, verzog Rhiannon die Lippen zu einem rätselhaften Mona-Lisa-Lächeln.
„Ach je“, sagte sie. „Du scheinst aus einem härteren Holz geschnitzt zu sein, als es auf den ersten Blick scheint.“
„Er bekam, was er verdiente“, sagte Tamara leise. „Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Angelica. Es ist keine Sünde, wenn man in Notwehr tötet.“
„Ich habe nicht in Notwehr gehandelt, als ich Jameson fast umgebracht hätte, oder?“ Ich wandte mich ab und entfernte mich niedergeschlagen und kläglich von den beiden. Sie wirkten so gütig, so selbstsicher. Anmutig und weise und irgendwie im Reinen mit sich und ihrem Dasein. Warum kann ich nicht wie sie sein?, fragte ich mich.
„Na ja“, sagte Rhiannon, „auch da könnte etwas mehr im Spiel sein.“
„Ja“, bestätigte ich. „Ich hatte Hunger. Ein egoistischer Grund, jemandem wehzutun.“
„Irgendwie bezweifle ich, dass du ihm sehr wehgetan hast.“ Rhiannon sah Tamara in die Augen, ihre schienen zu funkeln. „Blut von einem Lebenden zu nehmen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme, Liebes. Wie du in jener Nacht sicher erfahren hast. Es hat etwas ausgeprägt Sexuelles. Jedenfalls dann, wenn schon vorher eine gewisse Sympathie besteht.“
Ich errötete.
„Das muss dir nicht peinlich sein“, sagte Tamara. „Man muss sich erst daran gewöhnen, Angelica. Das alles muss ziemlich schwer für dich gewesen sein. Aber glaub mir, wenn du noch … Gefühle für Jameson hast, ist das ganz normal. Wenn man von einem Mann trinkt, dann wird die vorhandene Zuneigung irgendwie … na ja, verstärkt.“
„Von wegen verstärkt, sie explodiert“, fügte Rhiannon hinzu. „Aber es tröstet dich vielleicht, dass es ihm nicht anders ergeht.“ Sie lächelte jetzt unverhohlener. „Und so, wie er sich mir entgegengestellt hat, um dich zu beschützen, Kleines, nehme ich an, dass ihr inzwischen mehr als nur Blut gewechselt habt.“
„Bitte, ich ertrage es nicht mehr, darüber zu reden!“ Ich drehte ihnen beiden den Rücken zu und verbarg das Gesicht in den Händen.
„Rhiannon“, schimpfte Tamara. „Siehst du denn nicht, dass ihr das alles eine Todesangst macht? Sie war eine Nonne, Herrgott. Die leben im Zölibat.“
„Dann, kann ich nur sagen, ist sie ja um Haaresbreite davongekommen. Sie ist offensichtlich nicht geschaffen für die … Keuschheit.“ Sie verzog das Gesicht beim letzten Wort. „Je schneller sie das überwindet, desto besser. Es ist die Reaktion einer Sterblichen! Wir aber sind Vampire, Kleines. Wir fühlen, wie keine anderen Geschöpfe fühlen können. Das ist der beste Teil unseres Daseins, begreifst du das nicht? Ein Geschenk. Eigentlich ein Segen.“
Ich fuhr zu ihr herum, da mich eine solche Ketzerei mit Entsetzen erfüllte. „Wie kannst du über Segen und Gaben reden? Ist dir nicht klar, dass du verflucht bist? Wie wir alle!“
Rhiannon sah mir direkt in die Augen und blinzelte überrascht. „Erstens, Kleines – und das solltest du dir für alle Zeiten in deinem rechtschaffenen kleinen Hirn speichern –, schrei mich niemals an. Niemals. Ich bin älter als zehn deiner Lebensspannen. Ich bin Rhiannon aus Ägypten …“
„Jetzt geht’s los“, murmelte Tamara.
„Tochter des Pharao, Prinzessin des Nils“, fuhr Rhiannon fort. „Von Männern angebetet. Eine Göttin unter den Frauen. Von allen beneidet …“
„Das reicht, Rhiannon. Sie hat verstanden. Könntest du bitte zu Punkt Nummer zwei kommen, ja?“
Rhiannon warf Tamara einen bösen und zugleich schelmischen Blick zu. „Ich wollte nur sicherstellen, dass sie alle Fakten kennt“, sagte sie und wandte sich wieder an mich. „Zweitens, was bildest du dir ein, zu bestimmen, wer verflucht ist? Kennst du etwa die Gedanken des Allmächtigen? Woher weißt du, dass nicht Er uns geschaffen hat? Würde ein barmherziger Gott jemanden nur verfluchen, weil er anders ist?“
Ich blinzelte schockiert. Tamara setzte nun das Gespräch fort. „Du scheinst dir so sicher zu sein, dass du böse bist, Angelica. Aber woher weißt du das? Weil wir in Gruselfilmen so dargestellt werden? Das reicht als Argument sicher nicht aus.“ Sie nahm meine Hand. „Es gibt Gute und Böse unter uns, wie bei allen Völkern. Sieh uns an, Angelica. Was wir sind. Was haben wir, das uns böse macht? Wir tun keinem weh. Wir töten nicht …“
„Jedenfalls keinen, der es nicht herausfordert“, sagte Rhiannon. Dann blinzelte sie mir zu.
„Warum sollten wir verflucht sein, nur weil wir Blut trinken und nachts wach sind? Sterbliche essen Fleisch, oder nicht?“
Ich neigte den Kopf zur Seite und sah sie an. Zwei gütige, wunderschöne Frauen. Vampire. Die mir sagten, dass sie nicht die Diener Satans waren. Nur Menschen. Menschen wie du und ich.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Ich schüttelte langsam den Kopf und versuchte, sie aus dieser Perspektive zu betrachten. Nur als Menschen. „So habe ich das noch nie gesehen. Seit der Nacht, als ich verwandelt wurde, habe ich nur darüber nachgedacht, wie ich wohl wieder werden könnte, was ich einst war.“
„Du bist immer noch, was du vorher warst“, sagte Rhiannon. „Nur besser.“
„Angelica“, sagte Tamara, „wir sind hergekommen, um dir zu helfen, dein Baby zu finden. Aber … ich will noch mehr. Ich will deine Freundin sein … wenn du mich lässt.“
Ich sah nur Aufrichtigkeit in Tamaras Augen. Dann schaute ich zu Rhiannon, ob sie dasselbe empfand.
Rhiannon schüttelte den Kopf. „Das erinnert mich allmählich an eine Szene aus Magnolien aus Stahl“, sagte sie mit sarkastischer Stimme. „Nimm das Angebot unserer Freundschaft an, Angelica, bevor sie anfängt zu weinen.“
Aber hinter den frivolen Worten sah ich, dass auch sie mir wirklich helfen wollte. Warum, wusste ich nicht. Ich hatte vorschnelle und vernichtende Urteile über sie gefällt. Dabei zeigten sie mehr gottgleiche Eigenschaften als ich.
„Akzeptiert“, sagte ich. „Und mir tut leid, was ich vorhin gesagt habe. Dass ihr verflucht seid. Ihr habt recht, ich bin nicht Gott. Es ist nicht richtig, dass ich mir ein Urteil anmaße.“
Tamara lächelte, kam näher und breitete die Arme für mich und Rhiannon aus.
Rhiannon hielt eine Hand hoch. „Gruppenumarmungen sind nichts für mich“, sagte sie leise. „Und ich finde, wir haben schon genug Zeit vergeudet. Da draußen ist ein Kind, das unsere Hilfe braucht. Und wenn einer dieser Dreckskerle ihm etwas getan hat, dann kann vermutlich nicht einmal Gott höchstpersönlich ihn vor Jamesons Zorn beschützen.“ Sie senkte den Kopf. „Und wenn Er es doch kann, dann sollte Er sich nächstens besser vor meinem hüten.“
„Ich glaube, Amber Lily ist in Sicherheit … jedenfalls vorerst.“
Beide Frauen sahen mich an und zogen fragend die Brauen hoch.
„Deine Freundin“, sagte ich zu Tamara. „Diese Hilary Garner. Wir glauben, sie hat das Baby und versteckt sich irgendwo damit.“
Tamara seufzte schwer. „Wenn das so ist, hast du recht. Das Kind könnte nicht sicherer sein. Hilary ist ein guter Mensch.“ Rhiannon kniff die Augen zusammen. „Ist sie“, beharrte Tamara.
„Wir finden sie, Kleines. Dass da keine Zweifel aufkommen. Und jetzt solltest du dir vielleicht ein Paar Schuhe anziehen.“ Sie schaute mit einem vielsagenden Blick auf meine bloßen Füße.
Tamara kroch in den Schrank und kam mit zwei zierlichen schwarzen Halbschuhen wieder heraus. „Die passen prima zu dem Kleid.“ Sie gab sie mir. „Und das Kleid steht dir. Jamey dürften die Augen aus dem Kopf fallen.“
„Jamey“, flüsterte ich und lächelte verhalten über den niedlichen Spitznamen, den ihm seine Freunde gegeben hatten. Bestimmt hasste er ihn. „Ihm ist doch vollkommen egal, wie ich aussehe.“
„Da irrst du dich aber gewaltig, Kleines“, wandte sich Rhiannon an mich. Aber sicher war sie diejenige, die sich irrte.
Es klopfte an der Tür, dann wurde sie geöffnet. Jameson kam herein und machte einen besorgten Eindruck.
„Ist hier drin alles in Ordnung?“, fragte er, wandte seine Augen von mir ab und sah zu Tamara und Rhiannon.
„Da du in diesem Jahrhundert geboren wurdest, Jameson“, sagte Rhiannon, ging an ihm vorbei, verweilte jedoch einen Moment neben ihm, „weißt du offensichtlich sehr wenig über Ehre und Ritterlichkeit. Ich würde vorschlagen, dass du dich darüber informierst.“ Sie sah ihm durchdringend in die Augen. „Und zwar schnell.“
„Und ich schlage vor, Rhiannon, Göttin unter den Frauen, dass du dich darüber informierst, wie man sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert.“
Sie hob die Hand, und ich hielt den Atem an. Doch anstatt ihn zu schlagen, tätschelte sie zärtlich seine Wange. „Du kannst von Glück sagen, dass ich so einen Narren an dir gefressen habe.“
„Genug Zeit vergeudet“, mischte sich nun der Mann im Cape ein, kam näher und legte besitzergreifend einen Arm um Rhiannon. Sie rieb sich an seiner Seite, fast wie eine Katze. „Jameson hat Grund zu der Annahme, dass sich Hilary Garner mit dem Kind abgesetzt hat. Wir müssen sie schnellstens aufspüren. Sie kann sich nicht allzu lange vor dem DPI verstecken.“
„Ja, Angelica hat es uns gesagt.“ Tamara ging ins Nebenzimmer. „Hilary hat Verwandte im Norden. Sie hat früher immer von Besuchen dort gesprochen. Eine Hütte in den Bergen.“
„Das ist zu vage“, gab ich zu bedenken. „Wie sollen wir die finden? Und selbst wenn, was ist, wenn sie gar nicht dorthin geflohen ist?“
„Wenn du von dieser Hütte weißt, Tamara“, sagte Eric, „dann dürfte das DPI höchstwahrscheinlich auch davon wissen.“
„Wenn, dann steht es in Hilarys Personalakte. Eric, wenn wir einen Computer hätten …“
„Könnten wir uns in die Datenbank des DPI hacken, uns alle Infos über Hilary beschaffen und das als Ausgangspunkt nehmen“, sagte Eric und nickte heftig.
Während sie mit schnellen Worten über ihre Pläne diskutierten, überkam mich so plötzlich eine Niedergeschlagenheit, dass mir schwindelig wurde. Ich drückte die Handfläche auf die Brust, sank gegen die Wand und bekam fast keine Luft mehr.
„Was ist denn, Angel?“ Jameson – der Einzige von ihnen, der mich zu verabscheuen schien –, stand sofort neben mir. „Was ist?“, fragte er noch einmal.
„Ich weiß nicht. Ich spüre nur … wir müssen zu ihr. Jetzt. Wir dürfen nicht mehr warten.“
Er sah mir durchdringend in die Augen. Ohne sich abzuwenden, sagte er zu den anderen: „Sie fühlt … es besteht eine Verbindung zu dem Baby. Sie spürt etwas. Wir sollten augenblicklich nach Norden aufbrechen.“ Er unterbrach den Blickkontakt schließlich. „Tamara, hast du noch irgendwelche Hinweise? Egal welche.“
Tamara schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. „Hilary fuhr immer mit dem Zug in einen Ort namens Petersville. Ich glaube, dort hat sie ein Auto gemietet und ist weitergefahren.“
„Dann ist das unser erstes Ziel“, sagte Jameson. Er nahm meinen Arm und zog mich recht unsanft hoch.
„Vielleicht sollten Tamara und ich mit Angelica nach Norden aufbrechen“, sagte Rhiannon, und zu meiner Überraschung hörte ich einen Hauch Sorge um mich in ihrer Stimme. „Ihr Männer könntet versuchen, mehr Informationen zu bekommen, und uns dann folgen.“
„Im Leben nicht“, fauchte Jameson.
Tamara und Rhiannon wechselten amüsierte Blicke.
„Vergesst, was ihr euch da überlegt habt. Ich nehme an, mein dunkler Engel hat euch nicht in seine Pläne eingeweiht, oder?“ Er sah mich finster an. „Nein, das hatte ich auch nicht erwartet. Sie möchte bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vor mir fliehen, weil ich ein Monster bin. Amber Lily mit ihrer übersinnlichen Verbindung finden und sie vor mir in Sicherheit bringen, bevor ich sie in meine von Gott verfluchten Finger bekomme. Ist es nicht so, Angelica?“
„Wenn du das immer noch glaubst, dann bist du wirklich ein Monster“, flüsterte ich, als ich den Hass in seinen Augen sah. „Und mir wird erst allmählich klar, dass das nichts mit der Tatsache zu tun hat, dass du ein Vampir bist. Du musst schon als Sterblicher ein Monster gewesen sein.“ Ich befreite mich aus seinem Griff und ging ins Schlafzimmer, wo die Schuhe noch auf dem Bett lagen.
„Sie geht mir keinen Schritt aus den Augen“, hörte ich ihn mit schroffer und herrischer Stimme sagen. „Nicht einen Augenblick. Ich traue ihr nicht weiter, als ich sie sehen kann.“
„Jameson, um Himmels willen“, sagte Roland.
„Junge, du musst noch eine Menge lernen“, meinte Eric. „Ich dachte, wir wären dir bessere Lehrer gewesen. Weißt du eigentlich selbst, was du da sagst?“
„Ach, lass ihn doch“, unterbrach Rhiannon ihn. „Siehst du es denn nicht, liebster Eric? Er denkt, er macht jemandem was vor – außer sich selbst, meine ich.“
„Verdammt, Rhiannon.“
„Ach, halt den Mund. Nimm deinen Schützling und geh nach Norden, Jameson. Wir finden hier raus, was wir können, und folgen euch dann.“ Dann fuhr sie mit verschwörerisch gedämpfter Stimme fort. Weshalb die Mühe, begriff ich nicht. Sie muss gewusst haben, dass ich sie dennoch klar und deutlich hören konnte. Vielleicht machte sie es nur der dramatischen Wirkung wegen. „Und gib gut auf sie acht, Jameson. Gib sehr gut auf sie acht. Wenn ihr ein Leid geschieht, musst du dich vor mir rechtfertigen.“
„Was soll das?“, fragte er erstaunt. „Bist du plötzlich ihre beste Freundin?“
„Ich … mag sie“, antwortete Rhiannon. Ich hörte ihre leisen Schritte näher kommen. Ich saß auf dem Bett und betrachtete die hübschen Schuhe, die Tamara in dem Schrank gefunden hatte, als sie das Schlafzimmer betrat. „Lass dir keine Frechheiten von ihm gefallen, Angelica. Vergiss nicht, du gehörst dem überlegenen Geschlecht an.“
„Ich kann mich nur schwer überlegen fühlen, wenn ich irgendwie doch seine Gefangene bin.“ Ich wusste zwar, dass Jameson mich hören konnte, wenn er wollte. Aber es war mir egal.
„Gefangene, pah!“, meinte Rhiannon. „Hast du schon versucht, ihm zu entfliehen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“
„Ich bezweifle, dass er dich gegen deinen Willen festhalten könnte, Angelica. Bei unserer Art ist Stärke überwiegend eine Frage des Alters. Und er ist nicht älter als du. Sogar jünger, wenn auch nur ein paar Tage.“
Ich betrachtete sie fragend mit aufgerissenen Augen. „Du meinst … ich bin so stark wie er?“
„Höchstwahrscheinlich, Liebes. Vergiss das nicht, wenn er dich rumkommandiert. Und vergiss nicht, wenn du keinen Fluchtversuch unternimmst, bist du aus freien Stücken hier. Ganz gleich, was er dir erzählt.“
Diese Frau machte mir Mut. „Danke, Rhiannon.“
Sie lächelte zurückhaltend, dann verließ sie den Raum. Als sie an Jameson vorbeiging, zischte sie: „Gefangene, also wirklich! Haben wir dir denn gar nichts beigebracht?“ Aber sie wurde nicht langsamer. Sie marschierte direkt zur Tür hinaus, und die anderen folgten ihr Sekunden später, sodass ich wieder allein mit dem Mann war, den ich so gern abgrundtief hassen würde.
Er sah mich eine ganze Weile schweigend an.
„Sie sind … gar nicht so, wie ich erwartet hatte“, gab ich zum ersten Mal zu.
„Nein. Weil du eine Bande Monster wie aus einem alten Horrorfilm erwartet hast.“
Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht. Ich bin nicht sicher, was ich wirklich erwartet habe.“
Er nickte. „Sie sind die anständigsten Leute, die ich kenne, ob Mensch oder sonst was.“ Er drehte sich um und blickte zu der Tür, durch die sie gerade hinausgegangen waren. „Sie haben mir mehr als einmal das Leben gerettet und ihres dafür riskiert. Sie sind wie eine Familie für mich.“
„Und sie haben dich zu einem der ihren gemacht, als ich dich fast getötet hätte“, flüsterte ich.
„Ja.“
„Und doch hassen sie mich nicht dafür.“
Er zuckte mit den Schultern und streckte die Hand aus, als wollte er meinen Arm nehmen. Aber ich schüttelte ihn ab. Zu sehr hatten mich seine Bemerkungen zu den anderen getroffen.
„Hatte ich ganz vergessen.“ Jameson schien mich mit seinen Blicken zu durchbohren. „Du ekelst dich ja vor meiner Berührung … selbst wenn du ausdrücklich darum bittest. Ich will versuchen, von jetzt an daran zu denken, Angelica.“
„Das ist nicht fair“, sagte ich. „Du verstehst nicht …“
„Ich verstehe, Teuerste. Ich werde nie wieder auf deinen Zauber reinfallen, auch dann nicht, wenn du mich darum bittest.“
„Ich würde nie …“
„Vergiss es“, unterbrach er mich unwillig. „Man wird sehen, Angel. Ich wollte dir nur im Voraus sagen, dass ich deine schneeweiße Haut nicht wieder mit meinen verfluchten Händen beflecken werde. Also warte lieber nicht mit angehaltenem Atem darauf.“
Mein Zorn auf ihn war gewaltig. Ich hatte mich nicht vor ihm geekelt, warum glaubte er das? Jetzt aber ekelte ich mich. „Ist dir jemals in den Sinn gekommen, Vampir, dass ich dir durch meine Tat dein wertloses Leben gerettet habe?“
„Und dafür hast du meine unsterbliche Dankbarkeit“, sagte er mit vor Sarkasmus blitzenden Augen. „Wenn ich dich das nächste Mal vor Blutverlust dem Tode nahe finde, erwidere ich den Gefallen. Ich gebe dir was von meinem Blut ab, und wenn ich schon dabei bin, vögle ich dich gleich noch dumm und dämlich dabei. Das würde dir doch gefallen, oder etwa nicht?“
Ich stieß blitzschnell mit der Hand zu und gab ihm eine schallende Ohrfeige. So fest, dass ein roter Umriss auf seiner Wange sichtbar wurde.
Er packte meine Hand mit unbarmherzigem Griff und zog mich dicht an sich heran. Er drückte die harte, flache Brust gegen meine erigierten Brustwarzen und ließ seinen warmen, wütenden Atem über mein Gesicht streichen, während er mit glühenden Augen auf mich herabsah. Und obwohl ich ihn in diesem Moment mit jeder Faser meines Körpers hasste, wollte ich ihn zugleich. Und er wusste es. Verdammt noch mal, er wusste es.
„Ja“, flüsterte er. „Das würde dir gefallen.“ Und dann ließ er mich unvermittelt los, wandte sich ab und ließ mich allein zurück. Er nahm den Ausgang, der zum Auto in seinem Versteck aus Sträuchern und Hecken führte. Und ich verschlang seine kräftigen Schritte, seine Anmut, seine eiserne Beherrschung mit meinen gierigen Augen.
Der Dreckskerl wusste es, er wusste, dass ich ihn wollte. Und mich hätte dieses Wissen um meine animalische Wollust demütigen sollen.
Das Gegenteil war der Fall. Aber ich war nicht allein in das Elend meiner Begierden verstrickt. Er mochte mein verborgenes Verlangen sehen, aber ich sah das seine ebenso deutlich. Ich hatte gesehen, was in seinen Augen loderte, ehe er sich abwandte, auch wenn es ihm nicht passte.
Er wollte mich auch.