Keith
11. KAPITEL
Jameson lag bis zum Hals im eiskalten Wasser des rauschenden Bachs und kühlte seinen schmerzenden Körper. Die Kälte schien seine schrecklichen Empfindungen zu lindern. Schien zu verhindern, dass seine Haut weiter schwelte und Blasen warf. Es verlangsamte den Brand. Linderte sogar die Schmerzen ein klein wenig.
Verdammt, er musste so sehr leiden.
Obwohl er sich wünschte, die Kälte würde ihn vollends betäuben, wusste er doch genau, dass nur der Tagesschlaf ihn heilen konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen. Wenigstens musste er nicht lange leiden.
Und sobald die Sonne heute Abend unterging, würde er die Suche nach Angelica aufnehmen. Sie war inzwischen bestimmt längst über alle Berge. Er hoffte nur, dass sie das Baby nicht fand und verschleppte, ehe er sie einholen konnte. Er wollte Amber Lily sehen. Er wollte sie nur einmal in den Armen halten, sie an sich drücken, ehe er sich endlich mit dem DPI beschäftigte. Er musste sie fühlen und wissen, dass alles kein Traum war.
Er konnte Angelica nicht zum Vorwurf machen, dass sie keinen geeigneten Vater in ihm sah. Ein reueloser Vampir musste für sie ein reichlich seltsames Wesen sein. Einer, der liebte, was aus ihm geworden war. Der es genoss und nicht mehr sterblich werden wollte, selbst wenn er nur eine Pille dafür schlucken müsste. Während sie sich von ganzem Herzen nach nichts anderem sehnte. Und nicht zu vergessen sein gewalttätiges Naturell. Sein Hass auf das DPI und die Entschlossenheit, es zu vernichten. Sie glaubte doch nicht wirklich, dass er seiner Tochter diese finstere Seite seines Charakters zeigen würde? Er wollte sie doch nur lieb haben. Nur ganz kurz, bevor er tat, was er tun musste.
Aber vielleicht hatte das Schicksal bereits zugeschlagen, und er bekam nie mehr die Gelegenheit, seine Tochter zu liebkosen. Bis er sich genügend von den Brandwunden erholt hatte, war Angelica bestimmt schon auf und davon. Aber er würde sie wiederfinden. Niemand, keine Macht der Erde konnte ihn daran hindern, sie zu finden.
Als er ein leises Plätschern hörte, hob er hastig den Kopf. Und dann kniff er die Augen zu und öffnete sie wieder, um sich zu vergewissern, dass es keine Illusion war. Angelica kam durch das Wasser gewatet, ohne Rücksicht auf ihr schwarzes Kleid, das bis zu den Hüften nass war. An seiner Seite blieb sie stehen. In diesem Moment war er zu keiner Gemeinheit fähig.
Er sah in ihren Augen das ganze Maß ihrer Niedergeschlagenheit. Ihr Gesicht drückte unverhohlene Seelenqual aus. Sie krümmte den Rücken, die Schultern, erschauerte und kniff fest die Augen zu. Aber sie brach nicht in Tränen aus. Sie kämpfte dagegen an. Wehrte sich tapfer. Und gewann.
Und, verdammt, er kannte diese bittere Verzweiflung. Er verspürte sie auch. Als er das Baby schreien hörte, da hatte er zuerst gedacht …
Es wäre so schön gewesen, wenn die Suche ein Ende gehabt hätte. Und als er das Baby in den Armen hielt, obwohl er schon wusste, dass es nicht seins war … da fühlte er sich wie im Himmel und gleichzeitig wie in der Hölle.
Angelica holte vorsichtig Luft, richtete sich auf und stellte sich langsam wieder gerade hin. Eine Wassergöttin, die aus den Fluten emporstieg und sie bändigte. Ein feuriger Phönix, der aus der Asche erstieg. Trotz der Schmerzen richtete sie sich auf. „Kannst du aufstehen?“, fragte sie. „Gehen?“
Ihre Stimme klang spröde. Als würde eine steife Brise sie zerbrechen. Sie hasste ihn. Und nach dem kleinen Fiasko im Keller konnte er es ihr nicht verdenken. Aber, Herrgott noch mal, er war halb von Sinnen vor Verlangen nach ihr gewesen. Vor Sehnsucht. Von Fantasien geplagt. Wohl wissend, dass sie dasselbe empfand … und auch sich zugleich abgestoßen fühlte, weil sie ihn auf diese Weise wollte. Er widerte sie an. Sein Stolz hatte einen erheblichen Schaden erlitten.
Und er war so unglaublich scharf auf sie gewesen. An wem hätte er seine Unzufriedenheit über die ganze Situation auslassen sollen, wenn nicht an ihr? An ihr, die sich allein schon vor seiner Berührung ekelte. An wem?
Sie strich ihm mit den Händen über die Schultern und zog ihn auf die Füße. „Ich hab gefragt, ob du gehen kannst, Vampir. Antworte.“
„Ich kann gehen.“ Jameson stand auf, um es zu beweisen.
„Dann solltest du es auch. Und zwar schnell. Es dämmert bald.“
Er kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf zur Seite. „Wolltest du nicht auf eigene Faust losziehen, Angel? Ich dachte, du wärst inzwischen schon fast in Timbuktu.“
„Das bin ich nicht.“ Sie ging dicht neben ihm, die Hand in der Nähe seines Ellbogens, damit sie ihn auffangen konnte, sollte er fallen. Sie ging langsam und schleppte das Kleid durch das Wasser. Er fragte sich, warum sie ihn nicht im Stich gelassen hatte. Warum sie ihm half. Warum es ihn so verdammt wütend machte, dass er ihre wahren Gefühle kannte.
Zu seinem Entsetzen stolperte er in dem Moment, als er aus dem Wasser stieg. Ohne die eiskalte Berührung des Bachs spürte er die Schmerzen wieder ungemildert und mit der Wucht eines Hammerschlags.
Aber sein Engel, seine Angel, kam ihm zu Hilfe und machte dem Spitznamen, den er ihr gegeben hatte, alle Ehre. Sie legte einen seiner Arme über ihre Schulter und schlang ihren um seine Taille. Hielt ihn so dicht an sich gedrückt, als würde ihr wahrhaftig etwas an ihm liegen. Sie verzog jedes Mal, wenn seine Schmerzen aufloderten, das Gesicht, und er wusste, sie spürte sie auch.
Weit würden sie so nicht kommen. Das wusste er. Er hatte keine Kraft mehr und würde es nicht bis zu dem leer stehenden Farmhaus schaffen, wo sie den Tag verbringen wollten. Vielleicht, wenn er genügend Kraft zum Laufen hätte. Aber nicht so. Das würde er nie vor Morgengrauen schaffen. Sie sollte allein gehen. Er musste ihr das sagen …
Aber er machte sich ganz unnötige Sorgen. Es dauerte nur Minuten, bis sie einen Unterschlupf gefunden hatte in einem Felsüberhang. Sie half ihm ins Innere, zog ihn in die entlegenste Tiefe und ließ ihn dann auf den kühlen Felsenboden gleiten. Und schon verschwand sie wieder nach draußen und ließ ihn allein.
Diesmal wusste er, sie würde wiederkommen. Nein, allmählich kannte er sie gut genug und wusste, in diesem jämmerlichen Zustand würde sie ihn nicht seinem Schicksal überlassen. Sie hasste ihn vielleicht, war jedoch eine Frau mit moralischen Grundsätzen. Wahrscheinlich würde sie selbst ihren schlimmsten Feind nicht in so einer Situation zurücklassen.
Augenblicke später kehrte sie mit den Armen voller Pinienzweige zurück. Ein halber Baum, wie es aussah. Sie flocht eine dichte Abschirmung daraus und versperrte die Höhlenöffnung damit, um die Sonne fernzuhalten. Und dann kam sie wieder näher, kniete vor ihm, ließ den Blick über seinen Körper schweifen und kniff bei jeder roten Verbrennung, die sie sah, die Augen zusammen.
„Ich könnte ein Feuer machen und unsere Kleidung trocknen“, sagte sie.
„Im Augenblick möchte ich kein weiteres Feuer mehr sehen.“ Die Brandwunden waren nicht besonders groß und lagen überwiegend an den Waden, aber auch einige Stellen an Unterarmen und Rücken hatten Verbrennungen erlitten.
„Bringt dich das um?“, flüsterte sie ängstlich.
„Das Glück hast du nicht.“ Er konnte sich einfach nicht beherrschen und sah sofort, wie ihre Lippen dünner wurden. Die Qual in ihren Augen nahm zu.
„Du leidest.“
„Du auch“, sagte er, richtete sich ein wenig auf, um sie besser sehen zu können. Sie wandte sich schnell ab. Jedoch nicht schnell genug. Ihre Tränen hatte er bemerkt. „Meine Schmerzen sind verschwunden, wenn die Nacht wieder anbricht, Angel. Es sind nur noch ein paar Minuten bis zum Morgengrauen. Aber deine verfolgen dich in deine Träume, richtig?“
Ihre Schultern bebten; als sie sich wieder zu ihm wandte, waren ihre Wangen nass, und sie zitterte am ganzen Körper. „Ich dachte, sie wäre es“, flüsterte sie. „Als ich dieses Baby weinen hörte, dachte ich …“
„Ich weiß.“ Sein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an. „Ich weiß, Angel. Das dachte ich auch.“
Sie neigte den Kopf, als die Tränen sie überwältigten, und er konnte nicht anders. Er schlang die Arme um ihre zitternde Gestalt und zog sie dicht an sich. So hielt er sie fest und hielt seine eigenen Tränen der Verzweiflung zurück.
Zum Teufel mit seinem Hass. Er konnte sie auch später noch hassen. Jetzt strich er ihr über das seidige Haar, streichelte ihre bebenden Schultern und wiegte sie in den Armen, bis man hinter dem dichten Geflecht der Pinienzweige erahnen konnte, dass die Sonne aufging. Und ließ sie in seinen Armen liegen, als sie einschlief. Augenblicke später schlief auch er.
Er war kein Monster. Ich erwachte in seine Arme gekuschelt, den Kopf auf seiner Brust. Und ich wusste, ich hatte ihn so unglaublich falsch eingeschätzt. Ich hatte ihn vom ersten Augenblick an in die Defensive gedrängt, ihn angegriffen, ihm Vorwürfe gemacht, und im Gegenzug hatte er mir seine schlechtesten Seiten gezeigt. Wenn er mich verabscheute, wurde mir klar, dann nur, weil ich ihm allen Grund dazu gab.
Er wusste, dass das schreiende Kind nicht seins war. Das wusste er schon, bevor er in das umgestürzte Auto kroch. Daran bestand kein Zweifel. Und dennoch hatte er es getan. Er zog sich Verbrennungen zu, und ich wusste nur zu gut, ein Windhauch, ein falscher Schritt, und er hätte lichterloh brennen können. Jeden Moment hätte er denselben qualvollen Tod sterben können wie die Kreatur, die ich getötet hatte. Und er nahm das Risiko auf sich, um das Kind einer Fremden zu retten. Einer sterblichen Fremden obendrein.
Ich kannte sterbliche Männer, christliche Männer, die nie und nimmer getan hätten, was diesem dunklen Dämon eine Selbstverständlichkeit zu sein schien. Er war keine Verkörperung des Bösen. Kein Teufel, den man geschickt hatte, um mich zur Sünde zu verführen. Er war nur ein Mann. Ein Mann voller Wut und auf der Suche nach Rache, ja. Aber auch ein Mann mit einem guten Herzen, grenzenlosem Mut und selbstlosen Tugenden.
Und mit wunderschönen samtbraunen Augen, deren schwarze Tigerstreifen im Mondlicht glänzten.
Und einer gerechtfertigten Abneigung gegen mich.
Er schlug die Augen auf und sah mich an. „Du bist vor mir wach. Das ist ungewöhnlich.“
„Die Verbrennungen scheinen dich mehr geschwächt zu haben, als dir bewusst war.“ Ich richtete mich langsam auf, obwohl es mir nicht gefiel, mich von ihm zu lösen. Ein prächtiges Kissen, seine Brust, und selbst während er ruhte, hatte er mich in den Armen gehalten.
„Wahrscheinlich hast du recht. Ich fühle mich immer noch ein wenig kaputt.“
Ich drehte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. „Vielleicht musst du …“
Er warf nur einen ganz kurzen Blick auf meinen Halsansatz, dann kniff er die Augen zu und wandte sich ab. „Ich muss schnellstens aus dieser Höhle hinaus.“ Er richtete sich auf, ging zum Höhleneingang und schlug meinen Schirm aus Pinienzweigen mit einer einzigen Bewegung seines kräftigen Arms weg. Dann trat er ins Freie, legte den Kopf in den Nacken, inhalierte tief, wodurch sich seine atemberaubende Brust wölbte, und streckte die Arme über den Kopf. Ich blieb am Eingang und sah ihn einfach nur an. Bewunderte – nicht zum ersten Mal – die unglaubliche Schönheit dieses Mannes. Und mir wurde klar, dass ich vorher vielleicht gar nicht in der Lage gewesen war, das alles zu sehen. Weil ich mich an die Denkweisen der Sterblichen klammerte.
Höchste Zeit, mich an die Tatsache zu gewöhnen, dass ich keine sterbliche Frau mehr war.
Der Gedanke jagte mir einen Schauer der Angst – möglicherweise auch der Erregung – über den Rücken. Dann erst bemerkte ich noch etwas anderes, das meine ganze Konzentration erforderte.
Die Erkenntnis traf mich völlig unvorbereitet. Meine Tochter … sie war in der Nähe. Wohlbehalten und sicher. Warm, behütet und beschützt. Langsam erfüllte mich neue Hoffnung und die Gewissheit, dass ich diesen kleinen Menschen, noch ehe diese Nacht zu Ende ging, in Händen halten würde. Dieses Wissen – Gewissheit – machte mich fast schwindelig vor Aufregung.
Ich verließ die Höhle und stellte mich neben ihn. „Es geht ihr gut“, teilte ich ihm mit, da drehte er sich ganz langsam zu mir um und sah mich stirnrunzelnd an. „Amber Lily ist unversehrt und in Sicherheit und nicht weit von uns entfernt, Jameson. Ich kann sie spüren.“
Er betrachtete mich immer noch ungläubig, doch dann breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus. Es war so wunderbar. Seine in der Dunkelheit blitzenden weißen Zähne schienen mir der Inbegriff reinster Schönheit zu sein. Er rückte näherte und nahm meine Hände in seine. „Bist du sicher?“
„Ja. Ja, wir sind ganz in ihrer Nähe. Wir finden sie bald. Ich weiß es.“
Seine Erleichterung konnte ich fast greifen, er stieß die Nachtluft aus, die er eingeatmet hatte, und ließ dabei meine Hände los. „Gut. Die anderen müssten auch jeden Moment hier sein“, sagte er. „Wir treffen sie in dem leer stehenden Haus, wo das Auto steht.“
„Woher weißt du das?“
Er lachte, ein kehliger, sinnlicher Laut aus tiefster Brust. „Angelica, wir sind nicht die einzigen Vampire, die ohne Worte kommunizieren können. Aber … zwischen uns beiden scheint es viel stärker als bei anderen zu sein.“
Ich wandte mich nicht ab, als er mir tief in die Augen sah.
„Mach deine Amethystaugen zu, Angel“, sagte er leise und so zärtlich zu mir wie zu einer Geliebten. „Und denk an die anderen. Sprich mit ihnen.“
„Aber sie sind noch nicht einmal hier.“
„Versuch es“, drängte er mich.
Ich gehorchte. Ich schloss die Augen und dachte intensiv an Tamaras hübsches Gesicht. Meine Gedanken kamen langsam in Gang, und ich konzentrierte mich verbissen. Tamara? Bist du da? Kannst du mich hören?
Wir sehen uns in spätestens einer Stunde, Angelica. Ich hörte Tamaras Gedanken klar und deutlich und so sanft wie ihre gesprochenen Worte.
Ich riss vor Überraschung die Augen auf. Hast du etwas herausgefunden?, dachte ich hastig und voller Hoffnung.
Wir kennen die Lage der Blockhütte. Bis ihr beiden wieder bei Jameys Auto seid, sind wir auch dort. Das verspreche ich dir, Angelica.
Ich runzelte die Stirn und betrachtete den Vampir, der mich durchdringend fixierte. „Sie nennt dich Jamey“, sagte ich anzüglich. „Danach wollte ich schon die ganze Zeit fragen.“
„So wurde ich als Junge genannt. Tamara kann alte Gewohnheiten offenbar nur schwer abschütteln. Manchmal fällt es ihr schwer zu akzeptieren, dass ich kein Kind mehr bin.“
Mir war unbegreiflich, wie jemand diesen kräftigen, großen, schönen Mann als Kind betrachten konnte. Er hatte den Körper eines Gottes. Eines dunklen, gefährlichen, heidnischen Gottes, in dessen Augen erotische Versprechen leuchteten. Und je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto verzweifelter wünschte ich mir, dass er diese Versprechen einlösen würde.
Er schaute mich durchdringend an, seine Augen weiteten sich.
„Was?“, fragte ich ihn erschrocken.
Er blinzelte und schüttelte den Kopf. „Nichts. Vergiss es. Komm, wir sollten uns auf den Rückweg machen.“
„Kein Grund zur Eile. Ich kann laufen wie der Wind.“
Er sah mich ein wenig seltsam an. „Ja, das stimmt wohl.“
„Das war mir vorher gar nicht bewusst.“ Ich drehte mich beim Gehen zu ihm um. „Was kann ich sonst noch, Vampir?“
Er zog die Brauen hoch, sein Kiefer zuckte hin und wieder. Und er schien mir nie sehr lange in die Augen sehen zu können. „Na ja, das mit dem Springen hast du ja schon erlebt.“
„Fast wie fliegen“, sagte ich, legte den Kopf in den Nacken und sah zum hohen, breiten Ast eines Ahornbaums hinauf. „Wie hoch ich wohl springen kann?“
„Angelica, nicht jetzt.“
Aber da duckte ich mich schon, sprang himmelwärts und segelte hinauf in die Nacht. Ich landete nicht auf dem Ast, bekam ihn aber zu fassen, hielt mich fest und baumelte daran. Sie konnten mir meine Tochter nicht wegnehmen, überlegte ich, während ich da oben hin-und herschwang. Niemand konnte das. Ich war stärker. Mächtiger. Und zum ersten Mal ließ ich zu, dass diese Kraft durch mich strömte.
Ich sah hinab auf den Vampir, der ein bisschen ratlos zu mir aufblickte. Dann ließ ich los und schlug einen Salto, während ich fiel. Bei der Landung stürzte ich und landete ungeschickt vor seinen Füßen. Er sah mich nur an und schüttelte den Kopf.
„Alles in Ordnung, Angelica? Du drehst mir doch jetzt nicht durch, oder?“
Ich stand auf und strich Zweige und trockenes Laub vom Kleid. „Wir werden sie finden. Ich spüre es.“
Er nickte mir zu. „Ich glaube dir.“
Ich sah zum Himmel. „Und ich habe mit Tamara gesprochen. Die noch Meilen entfernt ist, aber ich habe im Geist mit ihr gesprochen, Jameson. Weißt du, wie unglaublich das ist?“
Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. „Ja. Ich weiß es.“
„Was gibt es noch?“ Ich stand vor ihm und sah ihm in die Augen. „Was habe ich noch übersehen an meinem neuen Dasein?“
Er zog die Brauen zusammen und sah mir lange ins Gesicht. „Hör zu“, sagte er leise. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er hielt einen Finger hoch, damit ich schwieg. Also schwieg ich und horchte. Zuerst hörte ich nur die normalen Geräusche des Waldes. Wind in den Piniennadeln, hier und da das Lied eines Nachtvogels. Aber dann stimmten nach und nach mehr Stimmen in den Chor ein. Ein Zweig knackte, dann mehrere. Das Geräusch eines Eichhörnchens, das durch das abgefallene Laub huschte. Das ferne Klopfen eines Spechts. Das blubbernde Gelächter des Bachs. Jedes einzelne Geräusch klar und deutlich. Kein chaotisches Durcheinander, wie ich es vorher gehört hatte. Verstärkt, ja, aber individuell. Ich hörte Wild laufen. Den Flügelschlag eines Vogels. Einen Pinienzapfen, der von einem Meilen entfernten Baum zu Boden fiel.
„Erstaunlich“, flüsterte ich.
„Ja.“
Ich seufzte. „Weißt du, was noch erstaunlicher ist?“, fragte ich ihn. „Dass ich Mutter bin.“ Ich senkte den Kopf und schüttelte ihn traurig, als ich fortfuhr: „Das hat mein Plan nicht vorgesehen, weißt du. Nichts lag mir ferner, aber das war falsch. Und ich glaube langsam, vielleicht … vielleicht hat mir dieser Dreckskerl in jener Nacht einen Gefallen getan.“ Ich zitterte, als ich das sagte und mir die grässlichen Erinnerungen in den Sinn kamen. Aber ich verdrängte das Bild auf der Stelle. „Ich bin jetzt eine Mutter und kann mir gar nicht mehr vorstellen, keine zu sein.“
Er legte mir die Hände auf die Schultern und blickte mir suchend ins Gesicht. „Du … hast dich verändert, Angelica.“
Ich nickte. „Ja. Sehr verändert. Und es ist höchste Zeit, dass ich aufhöre zu jammern und mich damit abfinde, meinst du nicht auch?“
Ich löste mich nicht von ihm, sah ihm nur in die Augen.
„Du hast mir nie etwas erzählt.“ Wir drehten uns um und setzten unseren Marsch durch den Wald fort, wobei er sich bei mir unterhakte, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
„Worüber?“
„Über dich. Ich habe dir all meine Geheimnisse preisgegeben, Angel. Aber ich weiß immer noch nichts über dich. Also erzähl es mir.“
Und ich nickte. Es wurde Zeit. Vielleicht brauchten dieser Mann und ich einen Neuanfang. Wenn ich ihn einfach wie einen Mann behandelte, nicht wie ein Monster, konnten wir uns vielleicht einigen. Vielleicht sogar Frieden schließen.
„Ich war neun, als meine Mutter mich in St. Christophorus ablieferte“, erzählte ich ihm.
„Warum hat sie das getan?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Man sagte mir, sie war sehr arm, unverheiratet und möglicherweise heroinsüchtig, aber daran kann ich mich natürlich nicht erinnern. Ich nehme an, das sollte ich. Vielleicht habe ich es verdrängt. An ihr Gesicht erinnere ich mich. Schmal und blass, mit dunklen Ringen unter den Augen und Haar wie meins, nur kurz geschnitten. Und ich entsinne mich an ihre Stimme. Barsch. Niemals sanft. Niemals zärtlich. Ich weiß noch, dass ich Wochen und Monate weinte, als sie mich dort ausgesetzt hatte. Aber genützt hat es nichts.“
Er schob einen Pinienzweig aus meinem Weg; ich ging daran vorbei und beugte mich ein wenig dichter zu ihm hinüber, als notwendig gewesen wäre. Ich genoss seine Wärme.
„Also haben sich die Schwestern um dich gekümmert?“
„Ja. Sie zogen mich auf. Ich setzte mir in den Kopf, dass ich etwas Schlimmes getan haben musste, weil meine Mutter mich verlassen hatte. Und entschied, wenn ich mir nur allergrößte Mühe gab, gut zu sein, würde sie eines Tages wiederkommen.“
„Aber sie kam nicht.“ In seinem Blick lagen Traurigkeit und Schmerz. Für mich. Spürte er meinen Schmerz? Oder war es nur das Wissen darum?
„Nein. Sie kam nicht. Und ich muss gestehen, ich war nicht besonders gut darin, gut zu sein.“
„Nein?“, fragte er, Fassungslosigkeit heuchelnd.
„Ich war reichlich abenteuerlustig. Schlich mich nachts raus und zog durch die Straßen. Erforschte den Glockenturm, schaukelte an den Seilen dort.“
„Die armen Nonnen müssen mehr als einen Herzinfarkt bekommen haben.“
„Gesagt haben sie es jedenfalls oft genug.“
„Und doch wolltest du ihnen beitreten?“
„Ja.“ Ich dachte zurück, gab mir große Mühe, suchte tief in meiner Seele. „Ich glaube, ich bin nie über den Irrglauben hinweggekommen, dass ich nicht gut genug für meine Mutter war. Dass ich gut sein müsste. Und mir fiel keine bessere Möglichkeit ein zu beweisen, wie gut ich tatsächlich war, als mich dem Orden anzuschließen.“
„Das ergibt irgendwie einen Sinn.“
„Aber ich war da nie wirklich zufrieden. Ich wollte immer nur raus. Doch unsere Ausflüge außerhalb der Mauern der Abtei waren stark eingeschränkt. Ich konnte es daher stets kaum erwarten, wenn ich an der Reihe war, mit Schwester Rebecca im Obdachlosenasyl zu arbeiten.“ Ich schaute zu ihm auf, und seine Augen wirkten dunkel, als wüsste er, welche Ängste diese Erinnerungen in mir weckten. „Besonders in jener letzten Nacht. Es hatte geschneit, weißt du. Und ich habe Schnee immer geliebt.“
Er blieb stehen und sah mich durchdringend an. „Und was ist dann passiert, Angel?“
Ich senkte den Kopf. „Rebecca war krank. Ich setzte mich über die Vorschriften hinweg und ging allein. Und ich verpasste den Bus und beschloss, zu Fuß zu gehen.“
„Allein?“, fragte er mit großen Augen. „Spätabends?“
Ich nickte nur.
„Und dann ist es passiert?“, fragte er und drängte mich fortzufahren.
„Er wartete auf mich.“ Ich erschauerte ein wenig und legte die Arme um den Oberkörper. „Er zerrte mich runter in den Abfall. Ich dachte … ich dachte an alles, nur nicht die Wahrheit. Ich konnte mich nicht gegen ihn wehren. Er war ein Vampir mit den Kräften, die ich jetzt habe. Ich nur eine sterbliche Frau. Natürlich habe ich es versucht. Ich habe ihn blutig geprügelt, aber das störte ihn nicht im Geringsten.“
„Er … er hat dir die dunkle Gabe aufgezwungen?“
Ich nickte, konnte Jameson jedoch nicht in die Augen sehen.
„Und dann ließ er dich allein und hat dir nichts über dein neues Dasein beigebracht?“
„Nein. Nein, er wollte mir etwas beibringen. Du hast mir gesagt, dass jeder Vampir ein Band zu einem bestimmten Menschen hat. Ich glaube, möglicherweise war ich sein Mensch. Er sagte, er habe mich mein Leben lang beobachtet. Aber er war krank … irgendwie verderbt. Als erste Lektion sollte ich einen obdachlosen Jungen ermorden. Natürlich zeigte er mir erst, was ich zu tun hatte, indem er selbst einen ängstlichen alten Mann tötete. Und dann suchte er mein Opfer für mich aus.“ Da hob ich den Kopf und sah ihn an. „Ich nahm ein brennendes Stück Holz aus einem Fass und schlug ihn damit, so fest ich konnte. Durch den Schlag ging er in die Knie, aber das Feuer hat ihn getötet.“
„Du hast ihn getötet“, murmelte er und sah mich bestürzt an. Dann schüttelte er den Kopf. „Gut. Das erspart mir die Mühe.“
„Ich dachte“, fuhr ich fort, „dass Gott mich verflucht hätte. Ich glaubte, ich könnte nur durch Töten überleben und schwor mir, nie so zu werden. Darum versteckte ich mich und wartete auf den Tod. Ich hatte keine Ahnung, dass die Gier nach Blut so alles beherrschend werden könnte.“
„Du hast überhaupt keine Ahnung gehabt“, sagte er.
Ich nickte zustimmend. „Aber ich habe beschlossen zu lernen.“
„Das sehe ich.“
„Weil ich weiß, dass sie in Sicherheit ist“, ließ ich ihn wissen. „Ich weiß, es geht ihr gut, und zum ersten Mal seit jener schrecklichen Nacht fühle ich mich … wohl.“
Das war eine Lüge. Es war nicht das erste Mal. Ich hatte mich schon einmal wohlgefühlt. Als er mich die … höchste Ekstase spüren ließ.
Ich wandte das Gesicht ab, denn ich spürte, dass er meine Gedanken lesen wollte. Und dann lief ich schnell zu dem verlassenen Haus, wo wir Jamesons Auto abgestellt hatten. Er holte mich im Handumdrehen wieder ein und war mir nun stets einen Schritt voraus. Ich ging zügiger, wollte die Führung wieder übernehmen, und da machte er es ebenso.
Ich warf ihm einen schelmischen Blick zu, sah das Funkeln in seinen Augen und sprintete so schnell ich nur konnte. Er nahm die unausgesprochene Herausforderung an, und wir lieferten uns ein Wettrennen bis zu dem alten Farmhaus.
Dort ließ ich mich im Gras auf den Rücken fallen, blickte zu den Sternen und dachte, dass ich bis zu dieser Nacht die ätherische Schönheit der Nacht noch nie richtig gewürdigt hatte. Nicht ein Mal.
Er stand da und sah auf sie hinab. Ja, sie war regelrecht außer sich wegen all der neu gewonnenen Einsichten, die ihr offenbar im Schlaf gekommen waren. Diesem sechsten Sinn, der ihr versicherte, dass ihre Tochter wohlauf und sicher und ganz in der Nähe war. Vielleicht akzeptierte sie ihr neues Dasein ja so langsam. Sah ihre neue Realität und setzte sich damit auseinander.
Und je mehr Ängste und Unsicherheiten beseitigt wurden, desto klarer kam die Frau zum Vorschein, die sie gewesen war. Er spürte es, wusste es, wie er so vieles über sie wusste. Selbst unter ihren Schwestern war sie eine Rebellin gewesen. Hatte stets das Schicksal herausgefordert und Witze gemacht und Streiche gespielt. Im Herzen immer noch ein Kind. Das sah er so deutlich, als sie ihm ihre Geschichte erzählt hatte.
Die ängstliche, verzweifelte Frau, die er kennengelernt hatte, war nicht einmal ein Schatten der wahren Angelica. Herrgott, wie falsch er sie doch eingeschätzt hatte. Die Wahrheit kam einer Offenbarung gleich.
Jetzt lag sie im Gras, das dunkle Haar wie eine Aura um sich, und das Licht der Sterne spiegelte sich in ihren Augen. Er stöhnte fast, so stark erfüllte ihn das Verlangen nach ihr. Am liebsten hätte er sich auf sie gelegt, gleich hier und jetzt, und …
„Ähem“, machte Roland vielsagend.
Jameson drehte sich um, sah seinen Freund hinter sich stehen und fragte sich, wie viel von seinen unkeuschen Gedanken er mitbekommen haben mochte. „Ihr seid hier. Gut.“
Rhiannon ging zu Angelica, breitete die Arme aus und ließ sich ebenfalls ins Gras fallen. Angelica lachte.
Zum ersten Mal, wurde Jameson verblüfft klar, hörte er sie tatsächlich lachen.
„Du siehst besser aus, Kleines“, begutachtete Rhiannon Angelica, als sie neben ihr auf dem Boden lag.
Angelica richtete sich lächelnd auf. „Sie ist in der Nähe. Ich spüre es. Bald haben wir sie gefunden.“
„Und?“, drängte Rhiannon.
„Und … das Wissen, dass sie unversehrt und in Sicherheit und glücklich ist, gab mir … ich weiß auch nicht. Eine Verschnaufpause von all den Sorgen um sie, denke ich. Und da habe ich deinen Rat befolgt, Rhiannon. Ich … erfreue mich an dem, was ich geworden bin.“
„Das solltest du auch, Kleines.“
Jameson löste den Blick von ihrem wunderschönen Gesicht und wandte sich an Roland. „Wo sind Eric und Tamara?“
„Sie beobachten die Hütte und warten auf uns. Wir hielten es für das Beste, schnellstens jemanden in Position zu bringen, falls das Kind wieder weggeschafft werden sollte.“
Jameson nickte. „Wo liegt die Hütte?“
„Nur wenige Meilen von hier“, teilte Roland ihm mit.
Angelica trat zwischen sie. „Beeilen wir uns, Vampir“, bat sie und sah Jameson so flehentlich an, dass ihm schwer ums Herz wurde. Verdammt, warum konnte er die Freundschaft nicht akzeptieren, die sie ihm anzubieten schien, und es dabei bewenden lassen? Warum verlangte ihn nach so viel mehr? „Ich will sie in den Armen halten“, bedrängte sie ihn weiter. „Sie an mich drücken. Bitte.“
Er nickte und wandte sich ab. Den Ausdruck der Liebe in ihren Augen konnte er kaum ertragen. Liebe für ihr Kind. Sie brachte ihr ganzes Gesicht zum Strahlen. Er ging mit Angelica zum Auto, blieb jedoch stehen, als er merkte, dass Roland ihm nicht folgte.
„Worauf wartest du?“
Roland nickte zu Jamesons Auto. „Du weißt, was ich von den Dingern halte“, sagte er. „Die Fahrt hierher war schon schlimm genug. Rhiannon und ich folgen euch. Wir können quer durch den Wald laufen und sind vermutlich noch vor euch dort.“
Angelica sah Roland zweifelnd an. „Du bist schneller als ein Auto?“ Roland nickte. „Dann musst du sehr alt sein“, sagte sie.
Jamesons bester Freund grinste breit. „Mylady, ich bin steinalt. Doch meine teure Gefährtin ist mehrere Jahrhunderte älter.“
„Kind, als ich sagte, dass ich die Tochter eines Pharao bin, war das kein Witz“, Rhiannon kam näher und ergriff Rolands Arm. „Ich lebte schon, als die Pyramiden erbaut wurden.“
Jameson sah den ehrfürchtigen Ausdruck in Angelicas hübschem Gesicht.
„Eines Tages erzähle ich dir davon“, sagte Rhiannon und blinzelte.
„Ich komme darauf zurück.“ Dann drehte Angelica sich um und lief eilig zum Auto. Roland gab Jameson derweil eine Wegbeschreibung, er verabschiedete sich von seinen Freunden und setzte sich ans Steuer.
„Beeil dich“, flüsterte sie und funkelte ihn wieder mit den aufregendsten Augen an. Es war ihr Ernst. Sie spürte etwas. Spürte es ausgesprochen stark.
„Mach ich.“
Wir parkten in einiger Entfernung und schlichen durch den nächtlichen Wald zu der Hütte. Sie stand auf einer Anhöhe in einem Pinienwäldchen, deren Bäume einander Geheimnisse zuflüsterten und die Luft mit ihrem Duft schwängerten, wenn der Wind durch ihre Nadeln strich.
Jameson hielt mich mit einer Hand am Ellbogen, während wir lautlos durch den Wald schritten und uns der Hütte näherten. Ich sah Lampenschein in den Fenstern und eine helle, graue Rauchfahne aus dem Kamin aufsteigen. Ich roch brennendes Holz.
Aber etwas … stimmte nicht.
Jameson drehte sich zu mir um und runzelte die Stirn. „Tamara und Eric sind nicht hier“, sagte er.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf meine Tochter. Die Ruhe und Sicherheit ihrer Umgebung empfing ich immer noch, genau wie ihre Nähe.
Aber sie schien nicht so nahe zu sein, wie ich gedacht hatte.
Tiefe Niedergeschlagenheit erfüllte mich. Das Hochgefühl entwich aus mir wie Luft aus einem defekten Ballon und ließ mich schwach und niedergeschmettert zurück. „Sie ist nicht in dieser Blockhütte“, flüsterte ich. „Jameson, wir sind zu spät. Wir haben sie verpasst.“
Er sah mir in die Augen und schüttelte schnell und heftig den Kopf. „Nein. Vielleicht ist Hilary nur Vorräte einkaufen gegangen. Vermutlich sind Eric und Tam ihr gefolgt.“
Hoffnung schien von seinen Augen in meine zu fließen und ließ mein Herz überströmen. „Meinst du?“
„Ich vermute es, Angel. Gehen wir nachsehen, okay?“
Ich nickte, trocknete meine Tränen und kroch weiter, aus der Deckung der Bäume ins offene Gelände. Das Haus schien unbewohnt und vollkommen verlassen zu sein.
Bis mich ein greller Scheinwerfer blendete und eine laute Stimme befahl: „Noch einen Schritt weiter, und wir töten das Kind!“
In meiner Panik blieb ich wie angewurzelt stehen. Nicht so Jameson. Er stellte sich hastig vor mich, was mich schwer beeindruckte.
„Geh langsam rückwärts“, flüsterte er.
Ich folgte seinen Anweisungen, denn ich wusste, er wollte in den Schutz der Bäume zurück. Aber ich hielt mich an seiner Taille fest und versuchte, ihn mit in Sicherheit zu ziehen.
„Ich sagte, stehen bleiben. Keine Bewegung, oder das Kind stirbt!“
„Lügner!“, schrie ich. „Sie haben das Baby nicht!“ Aber meinen tapferen Worten zum Trotz blieb ich stehen. Ich traute meinen Instinkten nicht.
„Nicht hier“, ertönte die Antwort. „Aber wir haben es. Na los doch, fliehen Sie, dann werden Sie schon sehen.“
Als ich mit zusammengekniffenen Augen in das grelle Licht sah, erkannte ich die Umrisse mehrerer Männer. Und dann trat einer vor und lenkte unsere Aufmerksamkeit auf ihn, denn er hielt Tamara umklammert. Ihr Kopf hing leblos herab, und es schien, als würde sie sich nur auf den Beinen halten, weil ihr Peiniger sie festhielt.
„Tam!“, brüllte Jameson und setzte sich in Bewegung, blieb jedoch sofort wieder stehen, als der Mann ihr ein Messer an die Kehle hielt.
„Stehen bleiben, oder du kannst zusehen, wie sie wie ein Schwein verblutet!“
Er gehorchte, aber ich spürte seine Verzweiflung. Teilte sie. „Tun Sie ihr nichts“, sagte er mit kräftiger und klarer Stimme. Ich war überzeugt, dass nur ich das Beben darin heraushören konnte. Er vergötterte Tamara. Ich hatte gewusst, dass sie Freunde waren, aber das wahre Ausmaß dieser Freundschaft war mir bis zu diesem Moment verborgen geblieben. Er würde für sie sterben. Ohne zu zögern. „Lassen Sie sie gehen“, fuhr er fort, machte zaghaft einen Schritt vorwärts und hielt die Arme seitlich ausgestreckt. „Lassen Sie sie gehen, verdammt, und nehmen Sie mich stattdessen.“
Ich stöhnte erschrocken auf. Bitte, Jameson, nicht!
„Wir nehmen euch alle mit.“ Der Schläger des DPI hob eine Waffe, die ich kannte, und die Angst vor dem Betäubungsmittel, das sich darin befand, erwachte in mir. Aus meinem Blickwinkel sah ich nun auch die reglosen Gestalten von Eric und Roland am Boden liegen. Bewusstlos … oder gar tot. Und gleich dahinter Rhiannon, die königlichste aller Vampirfrauen, deren leblosen Körper die Männer auf einen Lastwagen verluden.
Ich ging einen Schritt vorwärts und verspürte eine unvorstellbare Wut in mir.
Lauf, Angelica, schrie Jameson mich im Geiste an. Du kannst entkommen. Geh das Baby suchen und schaff es so weit von ihnen weg wie möglich!
„Ich kann dich nicht so zurücklassen“, flüsterte ich und sprach automatisch laut, da ich in meiner Angst nicht klar denken konnte. „Ich kann nicht.“
Geh! Du bist die einzige Chance, die unsere Tochter noch hat! Wenn sie uns alle fangen, gehört sie für immer ihnen, Angel. Tu es. Lauf!
Ich zitterte von Kopf bis Fuß, als ich herumwirbelte und zu den Bäumen rannte. Ich hörte den Schuss, drehte mich um und sah, wie Jameson, der Mann, den ich einmal für ein Monster gehalten hatte, sich in die Bahn des Pfeils warf, der für mich bestimmt war. Ich sah, wie sich der Pfeil in seine Brust bohrte, sah ihn zu Boden sinken. Ich schrie.
Lauf … Seine Gedanken wurden schwächer, als die Droge zu wirken begann. Lauf, bei der Barmherzigkeit Gottes, lauf …
Und ich lief.
Ich rannte durch den Wald und achtete nicht auf die Richtung. Zweige schlugen mir ins Gesicht und verfingen sich in meinem Kleid und dem Haar. Ich rannte und mobilisierte all meine vampirischen Kraftreserven, um ihnen zu entkommen. Jameson hatte recht. Ich musste in Freiheit bleiben, ich musste Amber Lily finden und sie diesen Bestien wegnehmen! Aber noch ein anderer Gedanke wirbelte durch mein panisches Gehirn, während ich durch die Wildnis der Wälder floh. Ich musste in Freiheit bleiben, damit ich zurückkehren konnte. Zu ihm. Ich musste zurück und diesen arroganten Vampir retten. Wenn er durch deren Hände starb, könnte auch ich nicht weiterleben. Und die anderen, die meine Freunde geworden waren. Auch sie musste ich retten.